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Florian Mundhenke Zufall und Schicksal - Möglichkeit und Wirklichkeit Erscheinungsweisen des Zufalls im zeitgenössischen Film

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Florian Mundhenke

Zufall und Schicksal - Möglichkeit und Wirklichkeit

Erscheinungsweisen des Zufalls im zeitgenössischen Film

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Inhalt

I. Einführung in das Thema

1. Vorbemerkung 122. Problemstellung und methodische Vorgehensweise 122.1. Über eine Arbeit zum Thema ‚Zufallsdarstellungen im Film’ – Herangehensweisen und Ziele der Untersuchung 122.2. Forschungsstand zum Thema 152.3. Darstellung des fi lmischen Untersuchungskorpus und Begründung der Auswahl – Einige Bemerkungen zum hermeneutischen Verfahren 173. Das Panorama der Zufallsdiskurse 183.1. Die horizontale Perspektive: Überblick über verschiedene Interpretationsansätze des Problemkomplexes ‚Zufall’- Zum Modus der Perzeption von Ereignissen als zufällig 183.2. Die vertikale Perspektive: Abriss der entwicklungsgeschichtlichen Genese des Zufallsbegriffes 233.3. Der Zufall als Methode der Subversion gegen kulturelle Ordnungen bei Odo Marquard und Umberto Eco – Das Problem der diegetischen Geschlossenheit im formalen System des Films nach David Bordwell und Kristin Thompson 28

II. FilmanalysenA. Vorstellung der fi lmischen Motivbereiche 40B. Einzelanalysen 42

1. Der Entweder-Oder-Film – Die fi lmischen Schaltstellen 42I. Das narrative ‚binary digit’ bei Umberto Eco und die Idee der Kardinalfunktionen der Erzählung bei Roland Barthes 44II. Die fi lmischen Ausformungen 48

1.1. Der Zufall möglicherweise (1981, Krzysztof Kieślowski) 53I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 53II. Die Zufallskonzeption 55a. ‚Let’s try again’: Witeks sinnloser Laufe gegen die Determinismen der Zeitgeschichte 55b. Das Netz aus Koinzidenzen, Zufällen und Wahlmöglichkeiten – Diskurse über die Komplexität des Wirklichen 61c. Persönliche Geschichte und Zeitgeschichte 67III. Resümee und Sinndeutung 72

1.2. Lola Rennt (1998, Tom Tykwer) 76I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 76II. Die Zufallskonzeption 80a. Die Hierarchie der Schaltstellen und ihre zeitliche Abfolge im Geschehen 88

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b. Intertextualität und postmoderne Ästhetik als Elemente einer Spielwirklichkeit – Der abstrakte Wirklichkeitsentwurf Tykwers als Bestandteil einer fi lmischen Offenheit 89c. Die Spiegelung der gesellschaftlichen Unsicherheit in den Manifestationen von privatem Chaos – Die Überwindung von Raum und Zeit im Imaginationsraum der Liebe 94III. Resümee und Sinndeutung 102

1.3. Smoking / No Smoking (1993, Alain Resnais) 106I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 106II. Die Zufallskonzeption 108a. „Der Garten der Wege, die sich verzweigen“: Strukturen, Labyrinthe und multiple Schaltstellen im ‚Webmuster der Zeiten’ 108b. Der kinematografi sche Blick auf das Theater: Künstlichkeit, Dekor und Stil – Der Rückverweis auf die Realität hinter Film- und Bühnengeschehen 116c. Die Figuren zwischen Schicksalhaftigkeit und eigenen Wahlmöglichkeiten– Von Determinismus, Selbstverwirklichung und der Unveränderlichkeit der eigenen Lebenssituation 122III. Resümee und Sinndeutung 131

1.4. Fazit 134I. Die differente Verhandlung der Schaltstellen 134II. Die Auseinandersetzung mit dem Determinismus 135III. Der multioptionale Erzähler in der parallelen Zeitlichkeit 136

2. Der Reigenfi lm – Das Internet der Schicksale 138I. Vom Improvisationscharakter der Commedia dell’arte zur panoramatischen Sozialkritik in Arthur Schnitzlers Reigen 139II. Die fi lmischen Ausformungen 145

2.1. Short Cuts (1992, Robert Altman) 152I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 152II. Die Zufallskonzeption 155a. Der fi lmische Reigen und seine dramatische Verdichtung – Aufbau, Strukturierung und Verklammerung des Geschehens 155b. Der Mikrokosmos als Makrokosmos – Gesellschaft, soziale Desorganisation und Geschlechterdifferenz 163c. Innere und äußere Resolutionslosigkeit, Offenheit und fi lmische Improvisation 169III. Resümee und Sinndeutung 179

2.2. So sind die Tage und der Mond (1990, Claude Lelouch) 182I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 182II. Die Zufallskonzeption 185a. Verbindungen und Trennungen – Das Figurenpanorama als offener Wirkraum von Zufälligkeit 185b. Die paradigmatische Parallelisierung von Erzähleinheiten –

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Motivik, Stilisierung und narrative Verdichtung 190c. Regellosigkeit versus Strukturierung – Diegetische Brüche, Mondsymbolik und der Umgang mit der Dichotomie von Leben und Tod 197III. Resümee und Sinndeutung 205

2.3. Magnolia (1999, Paul Thomas Anderson) 208I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 208II. Die Zufallskonzeption 211a. Dramatische Verschränkung und emotionale Parallelisierung – Die Idee der erzählerischen Atembewegung 211b. Die Schuld der Väter und die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit – Das Schicksal ist zyklisch 219c. Surreale Interferenz und Zufallsdekonstruktion – Das Entstehen sinngebender Strukturen aus dem Chaos des Lebenspuzzles 227III. Resümee und Sinndeutung 236

2.4. Fazit 238I. Konvergenz der Schicksale in der Reigensituation 238II. Äußere und innere fi lmische Offenheit 239III. Die heterodiegetisch-intradiegetische Narration als erzählerische Bündelung des Zufallsnetzes 240

3. Der Zufall als unbewusstes Wirkprinzip – Die ‚Rückseite der Wirklichkeit’ 241I. Die Welt als implizite Ganzheit bei David Bohm – Das Unbewusste als komplementäre Ergänzung zum bewussten Verstand bei Sigmund Freud und das Kunstwerk als indirekte Darstellung des Gesamtgefüges bei Anton Ehrenzweig 242II. Die fi lmischen Ausformungen 253

3.1. Mein Onkel aus Amerika (1981, Alain Resnais) 255I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 255II. Die Zufallskonzeption 257a. Lebenslinien und Lebenswege – Die Ganzheit des menschlichen Handlungsspielraums 257b. Gesellschaftlich verursachte versus unbewusst bedingte Handlungsmuster und ihre Einschränkung in der Diskursvielfalt 262c. Die Distanz des Ironischen und die fi lmische Gestaltung als surreale Neuverkettung 274III. Resümee und Sinndeutung 278

3.2. Ein Z und zwei Nullen (1985, Peter Greenaway) 281I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 281II. Die Zufallskonzeption 283

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a. Die Arbitrarität menschlicher Ordnungssysteme und die bizarre Willkür des Natürlichen 283b. Symmetrie, Komplementarität und Ganzheit – Der Triumph der ewigen Wiederkehr über die lineare Progression 294c. Die äußere Gestaltung zwischen ‚informellem Chaos’ und der Affi rmation einer Offenheit im Denken 300III. Resümee und Sinndeutung 308

3.3. Die Liebenden des Polarkreises (1999, Julio Medem) 310I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 310II. Die Zufallskonzeption 313a. Die Relativität der linearen, geschichtlichen Zeitentwicklung im Hinblick auf die Unvergänglichkeit von Familien- und Traditionsgefügen 313b. Anas intuitives Vertrauen in die Macht des Zufalls gegenüber Ottos Glaube an die Zirkularität – Die zwei Perspektiven als Komplemente 321c. Die unterschiedlichen Blickwinkel als ganzheitliche Weise der Betrachtung – Spiegelung, Ergänzung und Korrelation als Faktoren einer umfassenden Narration 331III. Resümee und Sinndeutung 337

3.4. Fazit 339I. Die Herstellung einer geschlossenen innerfi lmischen Totalität 339II. Die Kritik an naturwissenschaftlichen Ordnungszusammenhängen und gesellschaftlichen Zuschreibungen 340III. Der Zufall und sein Platz im ganzheitlichen Wirkgefüge 341

4. Lebenswege und Beziehungsgefl echte – Der Zufall als Schnittstelle zwischenmenschlicher Begegnungen im Sozialraum 343I. Die neue Unbestimmtheit der rationalen Systeme bei Ulrich Beck und die Idee des transzendenzbefreiten Subjekts nach Zygmunt Bauman – Die heutige Gesellschaftssituation zwischen latenter Unwägbarkeit und individueller Selbstschöpfung 344II. Die fi lmischen Ausformungen 353

4.1. 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (1994, Michael Haneke) 357I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 357II. Die Zufallskonzeption 360a. Das zwischenmenschliche Mikadospiel – Entfremdung, gesellschaftliche Desintegration und Diskursvermittlung als Prozesse der Aufl ösung von Gemeinschaftlichkeit 360b. Von der Fraktalisierung des Subjekts – Beobachtung der Medien oder Beobachtung durch die Medien: Realität und Virtualität als Möbiusband 369c. Die vereinigende Krise – Die Chronologie einer Welt ohne kausale Zusammenhänge und die Rückkehr des Kontingenten im Zentrum des funktionalisierten Kollektivs 377III. Resümee und Sinndeutung 385

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9 Inhalt

4.2. Chungking Express (1994, Wong Kar-Wai) 386I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 386II. Die Zufallskonzeption 389a. Die ‚Psychogeografi e des Raums’ – Das Durchstreifen der Urbanität auf der Suche nach akzidentiellen Episoden und die poetische Subversion des umfassenden Funktionalismus 389b. Die Kunst des Handelns als Versuch der Rückgewinnung des Raums und das Problem der Fraktalisierung der Handlungslogiken – Die eigenständige Wiedererschaffung des abwesenden Anderen 397c. Die subjektivistische Perspektivierung des Geschehens – Der selbstbewusste Umgang mit dem kulturellen Pastiche und die Stilisierung durch Auslassung und Motivationslosigkeit 409III. Resümee und Sinndeutung 413

4.3. Amores Perros (2000, Alejandro González Iñárritu) 416I. Handlungskonzept und Einordnung in das Gesamtwerk 416II. Die Zufallskonzeption 418a. Querschnitte durch die Sozialstruktur der gewalttätigen Gesellschaft – Die verselbstständigte Machtkontrolle des Systems und ihre stabilisierenden Außenfaktoren in Raum und Gemeinschaft 418b. Das perspektivische Gleichgewicht im Personengefl echt – Die ‚demokratische Erzählstruktur’ als Bestandteil einer Relativierung von sozialen Gegensätzen 429c. Amores Perros oder ‚Amor Esperros’? Von der sozialen Differenz zu Einheitlichkeit der emotionalen Konstellationen – Die Rückgewinnung der Menschlichkeit im fraktalisierten Lebensraum 434III. Resümee und Sinndeutung 443

4.4. Fazit 444I. Funktionalisierung und Vermitteltheit des Lebensalltags – Die Rückkehr der Fremdbestimmung nach der Etablierung der allseitigen Freiheit 444II. Der Zufall als Schnittstelle von Begegnungen sowie Störfaktor der Routinen und systemischen Entwicklungsgänge 445III. Die verschiedenen Fraktalisierungsentwicklungen als Faktoren der Zersetzung des Etablierten und der alternativen Neugestaltung 446

III. Ergebnisse und Integration

1. Wege der Zufallsdarstellung im Film 4471.1. Merkmale des Zufallsfi lms im Handlungszusammenhang 4471.2. Merkmale des Zufallsfi lms im Produktionszusammenhang 4492. Möglichkeiten der Deutung der fi lmischen Zufallsphänomene im Hinblick auf motivgeschichtliche Tendenzen 451

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2.1. Annäherungen an den Handlungszusammenhang 4532.1.1. Strukturen gesellschaftlicher Determination und ihre Subversion: Der Zufall als Wirkmoment bei der Dynamisierung und Individualisierung sozialer Prozesse 453I. Einführung 453II. Formen natürlicher und gesellschaftlicher Determination und das Konzept der individuellen Artikulation bei Henri Lefèbvre 454III. Die Heterogenese durch Komplexität und fortwährende Reproduktion der kontingenten Situation in der Systemtheorie Niklas Luhmanns 459IV. Fazit 473 2.1.2. Die menschliche Freiheit und ihr Ursprung in den Strukturen des Geistes – neurophysiologische und psychologische Überlegungen 474I. Einführung 474II. Die Verfl echtung neuronaler und umweltlicher Beeinfl ussung des Menschen als Grundlage sinnvoller Handlungen und Entscheidungen: Das Gehirn als ‚ganzheitlicher Operator’ in den Untersuchungen von Gerhard Roth 475III. Fazit 487

2.2. Annäherungen an den Produktionszusammenhang 4882.2.1. Thematische und motivische Kontexte: Das Zufallsthema als Berührungspunkt des aktionsfokussierenden Bewegungs-Bildes mit dem zerebralen Zeit-Bild nach der Filmtheorie von Gilles Deleuze 4892.2.2. Der kognitive Realismus als Modell der Umformung von Gestaltungsweisen im Zufallsfi lm 496I. Der traditionelle Realismus und sein Bezug zum Zufallsfi lm 496II. Mentale Organisation wirklicher und narrativ-fi ktionaler Prozesse 501III. Ansatzpunkte einer Öffnung und Subversion des formalen Systems der fi lmischen Diegese durch die Merkmale des Zufallsfi lms 504IV. Der kognitive Realismus des Zufallsfi lms als Funktionsweise einer alternativen Wirklichkeitsrepräsentierung 5112.2.3. Rezeptionsästhetische Konsequenzen der fi lmischen Zufallserscheinung 5142.2.4. Fazit 519

3. Schlussbetrachtung 5203.1. Die Zugriffsmöglichkeiten auf den Zufallsdiskurs 5203.2. Zur Konstruktion von Wirklichkeit und menschlichem Dasein im zeitgenössischen Film – Der Versuch einer Differenzierung 5253.3. Ausblick 531

IV. Bibliografi e 532V. Filmografi e 549

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I. Einführung in das Thema

1. VorbemerkungDie vorliegende Arbeit Erscheinungsweisen des Zufalls im zeitgenössischen Film beschäf-tigt sich mit unterschiedlichen Darstellungen von Zufälligkeit im Handlungsgefüge von narrativen Spielfi lmen der Jahre 1980 bis 2000.1 Die breite Diskussion um Zufall und die damit verbundenen Topoi wie Kontingenz und Unbestimmbarkeit, die sich erst in den letzten fünfzig bis achtzig Jahren etabliert hat und die von den Naturwissenschaften über die Philosophie bis hin zur Psychologie und Geschichtswissenschaft zahlreiche Umdenk-prozesse in Gang gesetzt hat, fand in den letzten zwei Jahrzehnten auch einen Widerhall in der Gestaltung fi lmischer Entwürfe, die den Rahmen wissenschaftlich-künstlerischer Ideen aufgenommen und mit den Mitteln fi lmisch-fi ktionaler Refl exion weiterentwickelt haben. Dabei berührt das Thema Zufall ein offenes Wirkgefüge von verwandten und art-gleichen Problemen wie Schicksalhaftigkeit, Koinzidenz, Determination, Wahrscheinlich-keit und Geschichtlichkeit, die als Hintergrundfolie für die folgenden Analysen hinzuge-zogen werden müssen. Zunächst einmal scheinen die bedeutungsschaffende, intentionale Konstruktion des (narrativen) Films und das in jeder Beziehung motivlose Ereignis des Zufalls inkompatibel zu sein. Trotzdem hat sich der Spielfi lm in den letzten Jahren dem Unbestimmten auf verschiedene Weise immer wieder angenähert. Deshalb soll in dieser Untersuchung auch der Frage nach dem Zweck und der Bedeutung des Einsatzes von Zu-fallsmustern in der fi lmischen Darstellung nachgegangen werden. Diese Arbeit verspricht insofern erste Antworten über das Wirkungsmuster des Zufalls im fi lmischen Kontext, welches bisher noch keine systematische Erforschung erfahren hat.

2. Problemstellung und methodische Vorgehensweise2.1. Über eine Arbeit zum Thema ‚Zufallsdarstellungen im Film’ – Herangehens-

weisen und Ziele der UntersuchungDer Zufall hat als Thema – ähnlich anderer diskursübergreifender Phänomene wie Cha-os, Entropie und Wiederholung – einen immer größeren Platz bei der Darstellung und Elaborierung künstlerischer Werke gewonnen, gerade auch im audiovisuellen Medium Film. Verwunderlich ist deshalb, dass sich noch keine wissenschaftliche Untersuchung mit den reizvollen fi lmischen Spielen um Zufall, Prädestination und Koinzidenz, seien es spielerische Entweder-Oder-Spekulationen oder Versuche der Bestimmung eines Menschheitsschicksals, näher auseinandergesetzt hat. Vielleicht mag es daran liegen, dass die systematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erscheinungen des Zufalls noch zu jung und heterogen ist, um über einen festen Theoriekorpus zu einer Betrach-tung der künstlerischen Ausarbeitungen zu verfügen. Hier sind es gerade die Naturwis-

1 Zur völlig differenten Bedeutung des Zufälligen im Experimental- und Avantgardefi lm vgl. Mund-henke, Florian: Wirkungsweisen und Einsatzmöglichkeiten des Zufalls im experimentellen und me-dienrefl exiven Filmschaffen. In: Christian Hißnauer, Andreas Jahn-Sudmann (Hg.): Medien-Zeit-Zei-chen. Beiträge des 19. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums. Marburg 2006. S. 187-194.

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13 Einführung in das Thema

senschaften und die Psychologie – eher Randgebiete in der geisteswissenschaftlichen Her-meneutik –, die interessante Ansatzpunkte bieten, deren Thematisierung in Bezug auf die fi lmischen Werke aufschlussreich zu sein verspricht. Gerade weil der Zufall heutzutage im Alltag als Gegebenheit akzeptiert ist und im allgemeinen Sprachgebrauch seinen Platz gefunden hat, wird die eigentliche Bedingungsebene dieser unbestimmbaren Fehlleistung menschlichen Handelns bzw. Wahrnehmens, die sich jenseits ursächlichen Verständnisses abspielt, oftmals nicht weiter hinterfragt. Jean Baudrillard bezeichnet den Zufall in einem Aphorismus – in Anspielung auf Alfred Jarrys Ubu Roi – als „Pataphysik der Tatsachen“2: Es handelt sich also um eine Subversion der geregelten Ordnung, in der unbestimmbare, indefi nite Prozesse zum Ausdruck kommen. Dies macht den Faktor Zufall für die künst-lerische, hier speziell die fi lmische Spekulation als eine Herausforderung des Etablierten attraktiv und soll als erster Anstoßpunkt zu einer Beschäftigung mit unterschiedlichen Zufallsdarstellungen anregen.

Das Panorama der Auseinandersetzung mit dem Zufallsphänomen ist gerade in den letzten Jahrzehnten stetig erweitert worden. Zufall taucht als Bestandteil philosophischer Spekulationen auf, als Prozess in den scheinbar exakten Naturwissenschaften, als Ele-ment der künstlerischen Gestaltung und als Einfl ussmoment in psychologischen und ge-schichtswissenschaftlichen Analysen. Gerade als Wirkfaktor bei der Öffnung der starren Systeme, sei es durch die Entdeckung einer neuen Relativität in den Naturwissenschaften oder beim Abschied von den großen Denksystemen in Philosophie und Soziologie, ge-winnt der Zufallsfaktor an Bedeutung. Dort, wo zuvor die cartesianische Logik von Kau-salität und Determination gewirkt hat, wird immer mehr der Sinn und der Einfl uss von Zwischenräumen und Lücken deutlich, welche offenen und unbestimmbaren Prozessen Platz machen. „Zufälligkeit“, so der Literaturwissenschaftler Ernst Nef, „tritt jeweils nur innerhalb einer geltenden Ordnung zutage, das heißt, jeder Zufall ist nur in Bezug auf ein bestimmtes Ordnungsprinzip zufällig; er ist stets die Negation einer vorgegebenen Ordnung.“3 Selbst größere menschliche Sinnkonstruktionen, wie die geschichtlichen Beschreibungszusammenhänge und die vergleichsweise starren Systeme der Ideologien und Denksysteme, müssen sich im Verlaufe ihrer weiteren Ausdifferenzierung mit aleato-rischen Faktoren auseinandersetzen. Somit erhält der Zufall eine Bedeutung jenseits blo-ßer alltäglicher Unbestimmbarkeit, er wird vielmehr in die Gesamtheit der menschlichen Vorstellungssysteme integriert und muss von unterschiedlichen Sinngebungsverfahren kontrolliert und beobachtet werden, wenn diese bestehen wollen.

Als kleiner Vorgriff auf die Analysen sei hier zur Verdeutlichung der multipolaren Vernetzung und Anschlussfähigkeit des Zufallsphänomens im Film ein Seitenblick auf Tom Tykwers Lola Rennt (1998) gestattet. Dieser exemplifi ziert in einer straff struktu-rierten, fast mathematischen Weise die aus der populären Chaosphysik bekannte ‚emp-fi ndliche Abhängigkeit vom Urzustand’, indem sich drei ganz verschiedene Handlungs-entwürfe von demselben Punkt aus entfalten – angestoßen und beeinfl usst werden diese höchst differenten Ausgestaltungen durch minimale Veränderungen in der Ausgangs-situation. Auf formalisierte Weise werden so mehrere unterschiedliche Entwicklungen

2 Baudrillard, Jean: Cool Memories. München 1989. S. 45.3 Nef, Ernst: Der Zufall in der Erzählkunst. Bern 1970. S. 5.

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14Einführung in das Thema

einer Grundkonstellation beschrieben. Dies wird aber so dargestellt, als würden sich die Episoden aufeinander beziehen und die handelnden Figuren aus dem vorangegangen Durchlauf lernen. Die rasante Inszenierung und die stakkatoartige elektronische Musik erinnern an das ‚Try again’ populärer Videospiele. Durch den Rhythmus des Films und die rekurrierenden Momente des Innehaltens weicht der Film auffallend von den eta-blierten Handlungsschemata des modernen Unterhaltungsfi lms ab. Auch die Personen, die Lola bei ihrem Lauf trifft und deren Leben man dann in kurzen Vorausblenden in Form von Polaroidaufnahmen und Boulevardzeitungsausschnitten sieht, lassen ein Bild der Invarianz und Kontingenz menschlicher Seinserfahrung entstehen, da sich scheinbar die möglichen Lebenswege – von einem unbedeutenden Schnittpunkt ausgehend – ganz unterschiedlich entwickeln können.

Eine Grundfrage der Arbeit soll deshalb sein, welche Gedankengänge man mit aleato-risch beeinfl ussten Geschichten in Gang bringen und welche Aussagen man formulieren kann. Es werden in den Filmen schließlich auch grundlegende Fragen nach Sinn, Zweck-bestimmtheit und Schicksalhaftigkeit des menschlichen Werdegangs gestreift. Dabei ist der Zufall im fi lmischen Diskurs auf drei Ebenen angesiedelt: Erstens fi ndet er sich bei der Organisation des eigentlichen Handlungsentwurfes – so beispielsweise in der Ver-mittlung der zufälligen Begegnung zweier Figuren – zweitens äußert er sich in der Wahl des Themas, indem der Regisseur durch das Sujet und die Formulierung der Intention dem Unbestimmten im Plot breiten Raum gibt und so eine Aussage über die Zufallsin-duzierung der menschlichen Existenz machen kann und damit seine Ansicht von der Bedeutung des Ungewissen formuliert. Drittens spielt das Zufällige aber auch eine Rolle bei der gestalterischen Konzeption des Films, indem Regisseure vermehrt auch die Werk-genese in Abhängigkeit dieser Erscheinung stellen, also das Willkürliche als Bestandteil der eigentlichen gestalterischen Arbeit ansehen. Der Zufall wirkt damit sowohl auf der Ebene der künstlerischen Modellierung innerfi lmischer Realität im Handlungsentwurf des Regisseurs/Drehbuchautors, der den Zufall in der Logik seines erzählerischen Ganzen zum Thema macht – sei es durch zufällige Erlebnisse von Figuren oder die Refl exion eines Handelnden über sein Schicksal –, im Sinne der Vermittlung einer Weltsicht (Welt als zufallsinduziert oder schicksalhaft), als auch auf der Ebene der Produktion/Gestaltung des Films, indem sich der Regisseur beispielsweise während der Montage vom Unbewussten leiten lässt und so einen Anteil der absichtsvollen Organisation des entstehenden ästhe-tischen Produkts an nicht planbare Prozesse abgibt. Es geht also in den folgenden Unter-suchungen damit sowohl um den Aspekt der bewussten und absichtsvollen Thematisie-rung des Zufälligen innerhalb des fi lmischen Realitätsentwurfs durch den Filmemacher, als auch um die unbeabsichtigten, intuitiv wirkenden Effekte des Zufälligen, die aus der außerfi lmischen Realität auf das entstehende Produkt einwirken, deren konkrete Spuren dem Rezipienten aber zumeist verborgen bleiben. Da sich in den meisten Filmen diese drei Ebenen – die eigentliche Handlung des Films, die übergeordnete Themenwahl bzw. die leitende Intentionsgebung sowie die äußere Gestaltung – vom Zufall beeinfl usst zei-gen, sollen sie in den Filmen zunächst für sich untersucht werden, um schließlich ihre Berührungspunkte und Verbindungen erfassen zu können.

Die für die Arbeit ausgewählten Filmbeispiele stammen alle aus Werkkomplexen von Regisseuren, die sich in den meisten ihrer künstlerischen Beiträge mit Akzidentialität,

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15 Einführung in das Thema

Transzendenz, Komplementarität, Identität, Erinnerung und Bewusstseinsphänomenen beschäftigt haben. Sie begreifen in ihren Entwürfen den Zufall nicht als rein formales Spiel mit Möglichkeiten oder als narrativen Behelf, sondern stellen das Unkategorisierbare im Handlungsgerüst in einen übergeordneten Kontext, der die menschliche Seinserfahrung im Zusammenhang von Zufall bzw. Schicksalhaftigkeit neu beleuchtet. Dabei knüpft die Verhandlung auf der narrativen Ebene an weitergehende Diskurse an, die über den Plot hinausgehen und so eine Refl exion über die Zufallsabhängigkeit der menschlichen Existenz an sich einleiten können. Außerdem haben die meisten der hier vorgestellten Regisseure die Wirkkraft und die Bedeutung von Zufälligkeit so verinnerlicht, dass sie dem Phänomen nicht nur einen breiten Raum lassen, sondern das Unbestimmte in ihren Werken auch wiederkehrend thematisieren und so zeigen, dass das Potential dieses erra-tischen Elements als nicht deterministische, ungefähre und unbewusste Strukturkompo-nente auch auf Dauer ihren Reiz für fi lmisches Erzählen jenseits geübter Konventionen nicht verliert.

Die Zielsetzung der Arbeit ist es also, die Relevanz und das Interesse der unterschied-lichen Zufallsdarstellungen in den Filmwerken zu untersuchen. Die eingehende Betrach-tung der verschiedenen Motivationen ermöglicht eine systematische Analyse – von der Idee des Filmbildes als Methode der Veranschaulichung unterschiedlicher Entwicklungen von einem Ausgangspunkt über philosophische Überlegungen der Wiederholung, In-varianz und Wahrscheinlichkeit bis hin zur Idee des fi lmischen Reigens, die Zufallsbe-gegnungen und Koinzidenzen in einem Handlungsgefüge erst ermöglicht. Dabei sollen schließlich Defi nitionen gefunden werden, die Auskunft über die Anziehungskraft der stark unterschiedlichen fi lmischen Ausarbeitungen geben, wobei die Einzelwerke schließ-lich in einen übergeordneten Kontext gestellt werden, welcher das Interesse am Thema des alle menschlichen Handlungen hinterlaufenden Ereignisses Zufall erklären hilft. Da-bei soll die Analyse der fi lmischen Primärfolie in ihrer fi nalen Kontraktion durchaus Aus-künfte über Kontexte geben, die über den Rahmen des fi ktiven Werkentwurfs ins Grund-sätzliche hinausreichen. Auf Abbildungen aus den Filmen wurde verzichtet, da sich der Zufall eher auf der Ebene der narrativen Konzeption als in den Bildern selbst zeigt. Wird aus Gründen der Lesbarkeit in dieser Arbeit die männliche Form verwendet, so sind doch stets beide Geschlechter gemeint.

2.2. Forschungsstand zum ThemaIn der Filmfachliteratur über die Regisseure, mit denen sich die Arbeit beschäftigt, gibt es keine dezidierte Auseinandersetzung mit den Zufallstrukturen in ihren Filmen. Her-vorzuheben ist hierbei, dass sich Marcel Oms in seiner Untersuchung des Schaffens von Alain Resnais am Rande mit der Wirksamkeit der Zufallsbeziehungen beschäftigt.4 Auch Margarete Wach geht in ihrer Analyse des Gesamtwerkes von Krzysztof Kieślowski en passant auf die Wirksamkeit und Beschaffenheit des Zufalls in den Filmen des polnischen Regisseurs ein.5 Ihre einträgliche Recherche und die zahlreichen Eigenaussagen des Fil-memachers verdeutlichen, warum sich Kieślowski so eingehend mit Zufälligkeit beschäf-

4 Vgl. Oms, Marcel: Alain Resnais. Paris 1988.

5 Vgl. Wach, Margarete: Krzysztof Kieślowski. Kino der moralischen Unruhe. Marburg 2001.

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16Einführung in das Thema

tigt und diese häufi g in den Mittelpunkt seiner fi lmischen Elaborationen gestellt hat. In der Literatur über die anderen Regisseure fi nden sich nur marginale Hinweise auf die Zufallstrukturen und deren mögliche Deutungen.

Die Filmtheorie von Gilles Deleuze bietet einen weiterreichenden Ansatzpunkt, der eine Brücke von der fi lmischen Analyse zur philosophischen Refl exion schlägt.6 Auch hier wird der Zufall nur am Rande erwähnt, doch der von Deleuze formulierte Übergang vom traditionellen Bewegungs-Bild zu den aufbrechenden Strukturen des Zeit-Bildes lässt ei-nen Raum für die unbestimmbaren und offenen Formationen des Zufallsgefüges entste-hen. Weitere stimulierende Ansätze für die vorliegende Arbeit kommen aus Bereichen, die sich nicht explizit mit fi lmischen Werken beschäftigen. So ist der Gegensatz von konstan-ter menschlicher Ordnungsstiftung auf der einen Seite und Chaos bzw. naturgesetzlicher Selbstorganisation auf der anderen Seite ein Darstellungsprinzip, das viele Theoretiker im 20. Jahrhundert beschäftigt hat; dieses Prinzip fi ndet sich implizit auch in den fi lmischen Materialen und soll mithilfe der theoretischen Perspektivierungen expliziert werden. Das Oszillieren zwischen diesen zwei Polen hat schon den Tiefenpsychologen und Psychoa-nalytiker C.G. Jung beschäftigt.7 Er fasste unter dem Begriff der Synchronizität ein Raum, Zeit und Kausalität ergänzendes Prinzip der menschlichen Psyche, welches die bloße Er-eignishaftigkeit der Zufallsphänomene transzendiert und sie innerpsychischen Disposi-tionen zuordnet, so dass diese scheinbar unkategorisierbaren Einmaligkeiten vor dem Auge des einzelnen Beobachters wieder sinnhaft erscheinen können. Nur wenig später kam es zu einer umfassenden Erschütterung der Vorstellungssysteme der modernen Na-turwissenschaften durch ein Einbeziehen der Phänomene Chaos, Zufall und Wahrschein-lichkeit, vor allem in der Kernphysik mit der Unschärferelation von Werner Heisenberg8 sowie durch die Idee der transspezifi schen Evolutionstheorie, die den Faktor Zufall expli-zit als Wirkgesetz bei der Entstehung des natürlichen Lebens begreift.9 Gerade auf diese Störungen und Herausforderungen der menschlichen Ordnungen durch das Zufällige nehmen die Filme Bezug, indem hier oft eine kreativ-fi ktionale Neuperspektivierung und Verortung der naturwissenschaftlichen Umbrüche geleistet wird, die auch die Analyse durch ein Befragen der außerfi lmischen Kontexte und Denkmodelle leiten soll. Auch die Gesellschaftswissenschaften und die Neurobiologie haben sich zuletzt sehr intensiv dem Zufallsfaktor und dem Antagonismus von (sozialer, neuronaler) Determination und (in-dividueller) Selbstbestimmung bzw. Heterogenität gewidmet, die hier als roter Faden bei der Analyse des Handlungszusammenhangs dienen soll.10 An dieser Nahtstelle zwischen

6 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main 1998. Ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/Main 1999.

7 Vgl. Jung, C.G.: Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. In: Ders.: Synchronizität, Akausalität und Okkultismus. München 1997. S.9-97.

8 Vgl. Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie. Frankfurt/Main 1990.9 Vgl. Wesson, Robert: Chaos, Zufall und Auslese in der Natur. Frankfurt/Main 1995.10 Vgl. zur übergreifenden Natur des Zufallsphänomens in Naturwissenschaft, Sozialtheorie und Gei-

steswissenschaften: Küppers, Günter (Hg.): Chaos und Ordnung. Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft. Stuttgart 1996. Zur aktuellen neurobiologischen Debatte: Geyer, Christian (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt/Main 2004.

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theoretischer Auseinandersetzung mit dem Zufallsphänomen und textimmanenter Ana-lyse der Filme soll mit dieser Arbeit die diskursübergreifende Bedeutung dieser Erschei-

nung herausgearbeitet werden.

2.3. Darstellung des fi lmischen Untersuchungskorpus und Begründung der Aus-wahl – Einige Bemerkungen zum hermeneutischen Verfahren

Zunächst werden die Filme im Einzelnen untersucht, wobei der Fokus auf der Struktur der zufälligen Handlungsmuster und ihrer Wirkungen liegt. Wie oben angedeutet, gilt es hier die drei Ebenen der thematischen Fragestellung, der eigentlichen Erzählhandlung und der schöpferischen Gestaltung für sich isoliert zu analysieren und danach ihre Ver-bindungen zueinander darzustellen.

Der Arbeit liegt ein Korpus von zwölf Spielfi lmen zugrunde, der in vier Problembe-reiche zu jeweils drei Werken gegliedert ist. Zu diesen thematischen Verwendungen des Zufalls gehört zunächst die Idee des fi lmischen ‚Entweder-Oder’-Spiels, welches primär auf der Handlungsebene mit den Auswirkungen zufälliger Prozesse operiert. Bei diesen Filmen steht die Spekulation über die Unwägbarkeit des Lebensweges im Vordergrund, die sich aus der Handlungsungewissheit in verschiedenen Durchläufen vom gleichen Ausgangspunkt ergibt. Zumeist kommt es zu einem völlig differenten Handlungsablauf in jedem der dargestellten Entwicklungen. Das zweite Muster ist der fi lmische Reigen, der ein bezugsintensives Netz aus Handlungsfäden und Figuren vorstellt, zwischen denen sich Zufallsbegegnungen und unvorhersehbare Interaktionen ergeben. In diesen Filmen kommt es zu einem Übergang vom rein narrativen Spiel mit der Aleatorik zur Konstitu-ierung eines Raum und Zeit relativierenden Gefl echts, welches Aussagen über die Kontin-genz des menschliches Daseins und die Unbestimmbarkeit von Lebenswegen formulieren will. In Anknüpfung daran begreifen einige Filme den Zufall in stärkerem Maße als ele-mentaren Bestandteil einer geschlossenen Einheit der gesamten Handlung. Man kann bei diesen ganzheitlich operierenden Filmen davon sprechen, dass der Zufall als ‚Rückseite der Wirklichkeit’ fungiert, also als unbewusstes, die Realität und die Wahrnehmung instinktiv hinterlaufendes und stützendes bzw. konterkarierendes Muster auftritt. In dieser drit-ten Kategorie von Filmen ist die Handlung oft weniger an der bloßen Exemplifi zierung von Zufallsprozessen interessiert, sondern es wird vermehrt versucht, die metaphysischen und in der Wirklichkeit nicht konkret erfassbaren Auswirkungen der Dramaturgie des Zufalls zu deuten und sinnhaft im Handlungsgefüge zu verorten. Ein vierter und letzter Bereich von Spielfi lmen konzentriert sich auf die Darstellung von Umbruchprozessen in der transzendenzbefreiten, entfesselten und von isolierten Einzelwesen belebten heutigen Gesellschaft. Hier wird der Zufall nicht mehr gedeutet und narrativ begründet wie in den ganzheitlichen Konzeptionen, sondern er wird mit all seiner spontanen und unkategori-sierbaren Energie von den Individuen als Potential zur Rückgewinnung des Lebensraumes im Sinne der Wiedererschaffung einer persönlichen Erlebnissphäre eingesetzt.

Nach der eingehenden Kontextualisierung und Analyse der Filme werden die vorge-fundenen Ergebnisse mit einigen ideengeschichtlichen Erklärungsmodellen für Zufalls-, Kontingenz- und Schicksalsfragen zusammengebracht und auf diese Weise der Hand-lungszusammenhang von Figureninteraktion und erzählter Geschichte bzw. vermittelter

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Intention zu deuten versucht. Diese Modelle sollen dazu dienen, die zuvor herausgearbei-teten Strukturen zu transzendieren und ihre Relevanz – auch jenseits des rein Filmischen – zu exemplifi zieren. Abschließend wird mithilfe von einigen fi lmtheoretischen Modellen der Produktionszusammenhang, also der Herstellungs- und der Rezeptionskontext der analysierten Filme, beleuchtet und so die Relevanz des Zufalls speziell für die Erscheinung der Filmkunst zu bestimmen versucht.

3. Das Panorama der Zufallsdiskurse3.1. Die horizontale Perspektive: Überblick über verschiedene Interpretations-

ansätze des Problemkomplexes ‚Zufall’ – Zum Modus der Perzeption von Ereignissen als zufällig

Zunächst sollen hier kurz einige Defi nitionen geliefert werden, die die Grundaussage der Begriffe umschreiben, mit denen im Folgenden sehr oft operiert werden muss. Hierzu sollen vorderhand einige populäre Konversationslexika befragt werden, die die Begriffe jenseits von Einordnungen spezieller Fachgebiete prägnant charakterisieren. Sie para-phrasieren schon die Heterogenität der Zufallsauffassungen und werden in den motivge-schichtlichen Analysen um fachliche Begriffsbestimmungen ergänzt. Eine einfache, aber treffl iche Defi nition liefert die Internetquelle wissen.de:

„Der Zufall ist ein Begriff für alles, was nicht notwendig oder beabsichtigt geschieht; das Zusammentreffen von nicht absehbaren Ereignissen. Setzt man die absolute Gül-tigkeit des Kausalitätsprinzips voraus, d.h. einen Weltmechanismus, nach dem alle Ge-schehnisse vorausbestimmt sind, so wird das Zufällige zur bloßen Erscheinungsform des Notwendigen.“11

Das Unbeabsichtigte, Unberechenbare ist also eine Dimension des Zufälligen. In dieser Interpretation wird überdies versucht, den Zufall aus dem Blickwinkel eines Determinan-zprinzips zu erklären, aus einem zielgerichteten Weltmechanismus heraus, welcher dem Zufall einen eingeschränkten Platz als Randphänomen in der notwendigen Ordnung aller Dinge einräumt.

Der Brockhaus nennt den Zufall in diesem Sinne „das, was ohne erkennbaren Grund und ohne Absicht eintreten kann, aber nicht eintreten muss (Koinzidenzen, Synchronizi-täten); das Mögliche, was eintreten kann, aber nicht muss“12. In dieser Defi nition wird die Idee der Akausalität, das scheinbare Nicht-Vorhandensein eines Grundes im Zufälligen, herausgestellt. Daran schließt auch die Defi nition an, die Meyers Weltlexikon liefert:

„[Ä]ußerer Zusammenhang von Dingen und Erscheinungen, der zwar im einzelnen kausal bedingt ist, aber aus dem Wesen der Gesetzmäßigkeit der Prozesse heraus nicht notwendig in dieser Weise erfolgen musste. Zufällig ist, was auch anders hätte sein oder geschehen können. Zufall ist eine [...] Ergänzung der Notwendigkeit.“13

11 www.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&SEARCHTYPE=topic&query=zufall (15.04.2005).

12 Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden. Leipzig, Mannheim 1995. Band 24. S. 636.13 Meyers neues Lexikon (15 Bände), hg. von Meyers Lexikonredaktion. Mannheim 1997. Band 15. S.

474f.

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19 Einführung in das Thema

Hier wird eine gegebene Kausalität beschrieben, die aber nicht den von Menschen pos-tulierten Gesetzen entspricht oder zumindest nicht vollständig von ihnen erfasst werden kann. Außerdem erscheint der Zufall als Ergänzung, als bleibender Rest, der dem Begriff der Notwendigkeit gegenübersteht. Es gibt notwendige, dass heißt erklär- und begründ-bare, unter gegebenen Voraussetzungen in jedem Fall geschehende, und zufällige Ereig-nisse, also Begebenheiten, die im Voraus unbestimmbar erscheinen, deren Eintreffen als solches aber durchaus nicht ausgeschlossen werden kann; Zufall ist insofern eine bedin-gungsentbundene Erscheinung, deren Ursachenkomplex sachlich nur begrenzt zu erfas-sen ist und der so eine gewisse Willkürlichkeit oder Unbegreifl ichkeit der natürlichen Abläufe zum Ausdruck bringt.

Demgegenüber wird der Begriff der Koinzidenz verstanden als „das Zusammenfallen mehrerer Ereignisse“14 im Gegensatz zur Kontingenz, die einen Möglichkeitsspielraum begreift, in dessen Bereich Dinge wahrscheinlich eintreffen können; es geht dabei um den Rahmen, der zwischen dem „nicht Notwendige[n] und nicht Unmögliche[n]“15 ge-spannt ist. Koinzidenz ist also das Wirkgesetz, das den mechanischen Ablauf des Zufalls beschreibt, das Kollidieren von unabhängigen Ereignisreihen, welches dann als zufälliges Ereignis bezeichnet wird, während Kontingenz den Rahmen beschreibt, in dem sich die Möglichkeit eines Zufalls einstellen kann. Koinzidenz wird oft als Synonym für den Begriff ‚Zufall’ verstanden, was nur bedingt richtig ist. Es handelt sich eher um den Begegnungs-punkt zweier Entwicklungen, es ist also der Prozess der physikalischen Konfrontation eines Individuums oder eines Objekts mit einem anderen (z.B. während eines Unfalls). In den Naturwissenschaften wird dieser Begriff auch bei der Untersuchung atomarer Teil-chen in der Physik oder symbiotischer Verhältnisse in der Natur verwendet.16 Schicksal wird hingegen defi niert als „das, was dem Menschen (ohne sein Wollen und Handeln) widerfährt, [...] [was] ihm von außen auferlegt ist.“17 Der Begriff des Schicksals versucht, an das fundamentale Fehlen eines Grundes bei der Beschreibung des Zufalls anzuknüp-fen und die Bedingungen des Zufälligen zumindest durch das Wirken metaphysischer In-stanzen zu begründen, entweder traditionell bedingt durch eine Gottheit, hier erscheint das Schicksal als „die Macht, die den Lebensweg des Menschen lenkt, [...] als Verfügung numinoser Kräfte“, oder, in säkularisierter Ausdruckweise, kann es als „Bestimmtheit des Menschen durch seine biologischen, gesellschaftlichen oder psychischen Bedingungen“18 defi niert werden. In beiden Fällen wird bei der Bezeichnung des ‚Zufälligen’ als etwas ‚Schicksalhaftes’ durch den Menschen das Sinn- und Motivlose des Unbestimmten wie-der mit Gründen und Wirkkräften belegt, auch wenn diese sich durch die Behauptung transzendenter Kräfte zumeist einem ausdrücklichen Nachweis entziehen.

Will man diese unterschiedlichen Auffassungen integrierend zusammenfassen, so kann man allgemein vier Zugriffsarten auf das Zufallsphänomen als handhabbare Pri-märkategorien defi nieren, die jeweils zweimal die Differenz der Betrachterstandpunkte

14 Brockhaus. A.a.O. Band 12. S. 168.15 Ebenda. S. 331.16 Vgl. ebenda. S. 168.17 Ebenda. Band 19. S. 288.18 Ebenda.

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20Einführung in das Thema

und Herangehensweisen refl ektieren und zweimal das zufällige Ereignis als solches näher charakterisieren: Die ersten beiden Erscheinungen könnte man als verständnisbezogene, auf den Beobachter bezogene Kategorien bezeichnen; sie weisen auf die Perspektive der den Zufall beobachtenden Instanz hin, sei es ein einzelner Mensch, ein Kollektiv bzw. eine Gruppe von Forschern oder der Erzähler einer Geschichte.

1.) Der Zufall als offensichtliche Absichtslosigkeit: Der Mensch ordnet sein Leben nach Absichten und Motiven. Können diese nicht mehr eindeutig bestimmt werden, so redet man von einem Zufall. Der Stiftung eines gemeinsamen Sinnes in jeder mensch-lichen Kollektivität (eine Kultur, eine Gesellschaft) liegt die Annahme zugrunde, dass jede Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbringt oder anders: „Jede Ursache tendiert dazu, ihren naturgemäßen Effekt zu produzieren.“19 Das ist – so die Unterstellung des Men-schen – der Grund für alle Regelmäßigkeit in der Natur. Zufälle sind nun aber Phänomene der Regellosigkeit und lassen sich nicht bestimmen. Sie liegen nicht in der „Tendenz, der Intention“20 der Natur, sie entstehen durch das Zusammentreffen von Ereignissen, die na-türlich nicht vorgesehen sind. Werden also die ‚Programmierungen’ des Menschen, also die Kondensate aller Beobachtungen der zumeist regelmäßigen Natur und die Ansichten einer folgerichtigen Totalität im Gesellschaftszusammenhang, überschritten und können die wahrgenommen Ereignisse dort nicht mehr sinngemäß eingebunden werden, spricht der Mensch von Zufall. Zufall ist also das Ereignis, das weder in der Natur noch in der Fundierung der sozialen Sphäre vorgesehen ist und diese Ordnungszusammenhänge mo-menthaft überschreitet bzw. durchkreuzt.

2.) Der Zufall als aus den Beschreibungszusammenhängen ausgeschlossene Erschei-nung: Der Zufall bezeichnet einen aus menschlicher Sicht objektiven Zustand von Un-regelmäßigkeit, wobei man unterscheiden muss, ob es sich bei dem betrachteten Zufall-sphänomen tatsächlich um eine Koinzidenz faktisch beliebiger Ursachen handelt oder nur um eine Wechselwirkung von Motiven, die sich dem menschlichen Sinnverständnis im Moment noch entziehen. In der Alltagssprache wird der Zufall oft leichtfertig verwen-det, so beispielsweise wenn man bei einem Fehlverhalten im Straßenverkehr oder Natur-ereignissen (eine Lawine, die aber jedes Jahr an dieser Stelle auftreten kann) von Zufall redet, obwohl generell bekannt ist, dass solche Ereignisse bei den gegebenen Grundbedin-gungen möglicherweise eintreffen können. Hier wird deutlich, dass der Mensch sich ein vereinfachtes Bild von der Welt macht und die Komplexität und Wechselwirkungsinten-sität bestimmter Prozesse aus seinen Betrachtungen ausklammert. Bei genauerer Analyse und Untersuchung des Zufallsphänomens und aller in ihm wirkenden Kräfte stellt sich die Erkenntnis einer rein ursächlichen Verknüpfung ein, in der aber sehr heterogene oder unmessbare Kräfte wirken. So kann ein Flugzeugabsturz als unglücklicher Zufall bezeich-net werden, ist aber bei Bekanntheit der primären Kraftquellen beispielsweise auf einen kleinen technischen Defekt zurückzuführen, dessen Wirkung sich im weiteren Verlauf exponentiell gesteigert hat.

19 Erbrich, Paul: Zufall – Eine naturwissenschaftlich-philosophische Untersuchung. Münchener philo-sophische Studien, Neue Folge 2. München 1988. S. 13

20 Ebenda.

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Eine andere Herangehensweise besteht bei den ereignisbezogenen Kategorien. Hier wird das Zufallsereignis in seinem Sosein dargestellt; es wird eine objektive Kenntnis der in der Situation wirkenden Kräfte vorausgesetzt. Bei diesen Erscheinungen verläuft die Trennli-nie in vertikaler Richtung, es geht primär um die Unterscheidung des schon Wirklichkeit gewordenen und des Möglichen, aber im Moment noch nicht Realisierten.

1.) Der Zufall als Koinzidenz zweier unverbundener Kausalketten: Begegnen sich zwei von unabhängigen Intentionen bestimmte Menschen zufällig auf der Straße, so tref-fen in der Realität die jeweiligen Situationsfelder und ihre Bedingungen (die Absicht, der zurückgelegte Weg, die räumlichen Umstände) zusammen, ohne dass dies vorgesehen ist. Es kommt also zu einer Schöpfung neuer Wirklichkeit aus dem Möglichen einer Begeg-nung, wobei man verschiedene Grade von Wahrscheinlichkeit eines solchen Treffens an-geben kann. Durch das Zufallsereignis werden die Ziele und Bestrebungen der sich Tref-fenden momentan unterbrochen (z.B. durch ein Gespräch) und die Wirklichkeit in eine andere Richtung gelenkt (indem man beispielsweise zu einer anvisierten Verabredung zu spät erscheint oder den geplanten Weg unterbricht). Man kann sagen, die Elemente der menschlichen Bewegung durch Zeit und Raum sind vom Willen der Individuen abhän-gig, es gibt dabei aber auch immer Momente der zufallsinduzierten Devianz, die zu einer Neuerschaffung von Realität beitragen; diese sind von Korrelationen der differenten Ab-sichtsformulierungen verschiedener Subjekte abhängig, aber auch von alltagsgesetzlichen und mechanistischen Interferenzen (so das Umstürzen eines Baumes auf dem selben Weg).

2.) Der Zufall als Möglichkeitsspielraum vor einer Entscheidung oder Alternation: Auf der gegenüberliegenden Seite des Wirklichen, sich in die Realität Einschreibenden steht die gedankliche Antizipation von Möglichkeiten im Vorfeld einer Entscheidung oder Handlung. So wägt der Mensch beispielsweise vor dem Antreten des Weges durch die Stadt viele Alternativen ab, die der tatsächlich realisierten Bewegung nicht entspre-chen müssen. Er nimmt gedanklich mögliche Begegnungen, Umstände (wie Baustellen und Hindernisse) und Verknüpfungen (an einem Ort kann man mehrere Dinge erledi-gen, auch wenn dieser weiter entfernt liegt) vorweg und reiht diese in eine ganzheitliche Absichtsvorstellung ein, in der auch unbewusste, intuitive Muster und Anhaltspunkte wirken. Trotzdem kann der geplante Ablauf, der dem Einzelnen als kontingentes Mög-lichkeitsspektrum erscheint, immer noch vom realitätsschaffenden Zufall der Außenwelt unterbrochen werden. In der zeitlichen Reihenfolge steht also zuerst die Abschätzung der Möglichkeiten, bevor in einem zweiten Schritt die gewählte Alternative mit den denk-baren Koinzidenzsituationen der Wirklichkeit konfrontiert wird. Diese zwei beobachterimmanenten und zwei ereignisbezogenen Kategorien tauchen in den Filmen wiederholt und in Wechselwirkung miteinander auf. Die hier skizzierte Sche-matisierung soll als eine Folie dienen, die unterschiedlichen Perspektiven und Wahrneh-mungsweisen des Zufallsphänomens in den Filmen leichter einordnen zu können. Man kann sagen, dass Zufall stärker als viele andere Phänomene eine subjektive Kategorie ist und vom Einbeziehen der zugrundeliegenden Faktoren und der gewählten Sichtweise abhängt. Das Spiel mit dieser individuellen Erscheinung wird durch die scheinbar ob-jektivierte Sicht der Filme verdoppelt und kann so mehrdeutig interpretiert werden. Die Frage, ob es sich bei einem Ereignis um einen Zufall oder eine schicksalhafte Verkettung

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22Einführung in das Thema

handelt, kann man eigentlich nur sinnvoll beantworten, wenn man die Auffassung, Rea-litätserfahrung und die Kenntnisse des gesamten beobachtenden Wesens in die Betrach-tung des relevanten Wirklichkeitsausschnittes mit einbezieht. Somit ist die Unterschei-dung von Zufall oder Schicksal kein objektiver Dualismus, der in einem Fall so und im nächsten anders entschieden werden kann, sondern diese Festschreibung hängt mit der eingenommenen Einstellung und der Disposition zur Wirklichkeitsauslegung zusam-men. Träumt man von einem Menschen in der Nacht und begegnet ihm am nächsten Tag mehrere Male wirklich, obwohl dieses Zusammentreffen eher unwahrscheinlich ist, so ist man eher dazu geneigt, von einer schicksalhaften Fügung zu sprechen und diesen Sachverhalt auch dementsprechend zu deuten, indem man beispielsweise annimmt, dass man sich mit dieser Person verstärkt beschäftigen muss. Auch zufällige Ereignisse der Alltagswelt – oder Ereignisse, deren Ursachenkomplex zu unübersichtlich ist – werden vom Menschen auf diese Weise zu deuten versucht. Die unabhängigen Implikationen der Begegnung mit einer schwarzen Katze und dem Erhalten des Sitzplatzes mit der Nummer 13 lassen eine abergläubische Person, die in einem Flugzeug sitzt, das in einen schweren Sturm gerät, vielleicht von einem Unsegen reden, der sich zuvor schon angekündigt hat und in den man in der Folge nicht ganz unschuldig geraten ist. Dabei sind die Ereignisse, die zu dem Unwetter führen und die Vergabe der Sitzplatznummern zwei völlig unab-hängige Vorgänge zwischen denen kein kausaler Zusammenhang besteht. Es geht also bei der Kategorie des Schicksals darum, aus der – oftmals undurchschaubaren – Wirklichkeit eine sinnhafte, geschlossene und verbindliche Ordnung zu generieren. Gelingt dies nicht einwandfrei, werden auch unzulässige und objektiv nicht vorhandene Verbindungen her-gestellt. Zwar gibt es durchaus einen Zusammenhang von psychischen und realen In-halten, wie Jung in seinen Überlegungen zur Synchronizität ausgeführt hat21, aber eine Beziehung zwischen völlig unabhängigen Problembereichen des Wirklichen, wie eben das Wahrnehmen einer Katze und die Verwicklung in ein Gewitter, sind auszuschließen und nur auf die sinnkonstruierenden, eine Schließung bewirkenden mentalen Kräfte der betroffenen Person zurückzuführen. Somit ist das weite Spektrum von Zufälligkeit und Schicksalhaftigkeit, welches in den Filmen gezeichnet wird, sozusagen an den beiden En-den dieser Pole miteinander verknüpft und wird auf verschiedene Weise von den beo-bachtenden und beschreibenden Instanzen – Figuren wie Erzählern – auf dieser Strecke arretiert: So zeigen Filmemacher die Vielschichtigkeit von Ursachen, die einem Zufall zugrunde liegen, nur dem Zuschauer, während die im Film handelnde Figur eher von ei-ner schicksalhaften Entwicklung ausgeht. Umgekehrt kann der Regisseur auch durch die allmähliche Herstellung einer Ganzheit seiner fi lmischen wie handlungstragenden Mittel einen schicksalhaften Zusammenhang behaupten, der beispielsweise die Beziehung zwei-er Liebender als planmäßige, gewollte und notwendige Verkettung erscheinen lässt; hier bleibt es dann dem Zuschauer überlassen, einen entgegengesetzten Standpunkt einzu-nehmen und das Treffen des Paares als bloßen Zufall anzunehmen, indem er das Gefl echt von Verknüpfungen, dass der Filmemacher in seiner Konstruktion zu weben versucht, hinterfragt und teilweise wieder aufl öst.

21 Vgl. Fußnote 8.

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Die Frage nach Schicksal oder Zufall kann und will diese Arbeit also nicht beantwor-ten: Sie hängt nicht nur mit der Dichotomie von einem subjektiven und vermeintlich objektiven Standpunkt zusammen, sondern auch mit den Mitteln, die eingesetzt werden, um den betreffenden Moment der Wirklichkeit zu beschreiben; die Tendenz einer Schlie-ßung kann man dabei genauso auf der Ebene der im Film agierenden Figuren beobachten wie auf einer übergeordneten Stufe in den schöpferischen Leistungen des Filmemachers wie auch zuletzt beim Zuschauer selbst, der eine Situation je nach Einstellung als völlig unbestimmbar oder als notwendig beschaffene Einheit auffassen kann. Die Deutung des Zufallsphänomens selbst ist also von der Wahrnehmung des Ereignisses durch den Beob-achter und seine Maßnahmen zur Sinnherstellung abhängig. Es gilt also in der Analyse immer zu beobachten, welche semantische Folie im Hintergrund ausgebreitet und als Bezug zugrunde gelegt wird, um das im Vordergrund sich einstellende Zufallsphänomen plausibel beschreiben zu können.

3.2. Die vertikale Perspektive: Abriss der entwicklungsgeschichtlichen Genese des Zufallsbegriffes

Man kann von einer allmählichen Verbreitung der Zufallsidee im 20. Jahrhundert spre-chen: Nachdem der Zufall innerhalb des Denksysteme zunächst im Verlaufe der Moderne bei den Singularitäten der Geschichte von Bedeutung gewesen ist, waren es die Natur-wissenschaftler, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Relativität, Unschärfe und Chaos gesprochen haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Zufallsphänomen auch im philosophischen Kontext einer Neubewertung unterzogen, was dazu führte, dass das Ak-zidentielle auch in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und soziale Prozesse – gerade in systemtheoretischen und ideologiekritischen Ansätzen seit den 60er Jahren – wieder an Einfl uss gewinnen konnte. Zuletzt standen der Mensch und seine innerpsychischen Pro-zesse in einigen neurobiologischen Veröffentlichungen zur Diskussion, die gerade in den letzten Jahren Anstoß zu einer Debatte um Determination und Zufallsinduzierung im neuronalen Binnensystem des Einzelnen gegeben haben. Der Zufall vermag eine Art Brü-ckenschlag zwischen den verschiedenen Bedeutungszusammenhängen herzustellen: Er ist genauso virulent für künstlerische Gestaltungsprozesse wie als Element theoretischer Refl exionen oder als Operationsweise natürlicher Prozesse.22 Der Begriff des Zufalls ist „für alle Erfahrungsschichten des Individuums gleichermaßen von Bedeutung [...]; seine Funktion für die Erfahrung durchquert und verbindet unterschiedliche Disziplinen der Philosophie“23, so Hans Zitko. Das gemeinsame Moment dieser angedeuteten Interdiszi-plinarität ist die Vorstellung des Einnehmens einer kritischen Distanz, der Refl exion der

22 So konnte sich die interdisziplinäre Veranstaltung der „Frankfurter Positionen“ im Jahre 2003 unter dem Titel „Warum nicht würfeln?“ dem Zufallsphänomen von ganz verschiedenen Seiten her wid-men: Mithilfe von Zufallskunstwerken, durch die Aufführung aleatorischer Kompositionen wie auch durch Vorträge von Naturwissenschaftlern und Philosophen, die diese Kategorie theoretisch durch-leuchteten. Vgl. Jochen Volz, Portikus Frankfurt/Main (Hg.): Warum nicht würfeln? Frankfurter Po-sitionen 2003. Frankfurt/Main 2003.

23 Zitko, Hans: Die aufgehobene Offenbarung. Zum Begriff des Zufalls in der Philosophie Friedrich Nietzsches. In: Hilmes, Carola, Dietrich Mathy (Hg.): Spielzüge des Zufalls. Zur Anatomie eines Sym-ptoms. Bielefeld 1994. S. 39-54. Hier S. 40.

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eigenen Sinngebung und des Hinterfragens von gegebenen Ordnungen: „Hier gewinnt der Zufall seine Funktion als Medium des Einspruchs gegen die Sphäre einer auf Siche-rung und Stabilität abzielenden Kultur.“24 Aus diesem Grunde haben alle Disziplinen auf unterschiedliche Weise zeitlich abgesetzt ihre Erfahrung mit dem Unbestimmbaren ge-macht, das langsam alle Bereiche der Sinnstiftung durchlaufen und dabei teilweise neu geordnet hat.

Aus einer historischen Sicht spielte der Zufall zunächst als Element der Untersuchung von Schicksals- und Prädestinationsvorstellungen der klassischen Philosophie eine Rolle, die im Laufe der Jahre das Geschick immer mehr in die Hände der Menschen verlegte. Im antiken Griechenland und bei den Römern war der Zufall als Schicksal von Bedeutung, auch personifi ziert in einer Gottheit (tyche bzw. fortuna).25 Die ersten Debatten um den Zufall wurden im Zusammenhang mit der Vorherbestimmung des menschlichen Lebens geführt, wobei die klare und aufgeklärte Weltsicht der Deterministen den Zufall als sol-chen generell ausschloss (z.B. bei Augustinus, De Spinoza, Hume). Dieser tauchte jedoch parallel immer wieder als Faktor bei der Deutung der Weltwerdung auf, so bei den Epiku-reern und bei Anaxagoras. Während die christliche Vorstellung, wie die der meisten Reli-gionen, den Zufall aufgrund ihrer teleologischen und von Gottes Wohlwollen abhängigen Weltsicht ausschließt, räumten Philosophen diesem Phänomen allmählich einen eigenen Platz im diskursiven Denken ein. Hegel untersuchte das Rittertum und seinen Lebensstil, der von Abenteuerlust und einer tendenziell ‚akzidentiellen Lebensweise’ geprägt war. Er brachte dies mit der Vorstellung der sicheren und engen Ordnung des modernen bürger-lichen Staates in Verbindung, die als Gegenpol zu dem zufälligen, offenen Leben der no-madischen Reisenden fungierte.26 Michael Nerlich weist in Bezug auf Ritterromane und die dort exemplifi zierte Abenteuerlust auf den Experimentiertrieb des Menschen hin, der ihn immer wieder auch Dinge tun lässt, die nicht den Konventionen – und damit der Notwendigkeit – entsprechen, die aber unter Umständen eine sinnvolle Neuerung in der Lebensgestaltung mit sich bringen können.27 Er stellt eine Verbindung zum „exploratory behavior“28 der Tiere her, das auch von einer Dichotomie zwischen Furcht und Neugier geprägt ist. Genauso akzeptiert der Mensch, so Nerlich, den „Drang nach dem Nicht-Systemischen“29, er öffnet sich dem Zufall, der selbst bei bewusst getroffenen Entschei-dungen eine Rolle spielen kann. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz beschäftigte sich bereits im 18. Jahrhundert intensiv mit der Kontingenzerfahrung des menschlichen Daseins.30 Er versuchte, die Welt in Serien zu fassen, die sich aufbauen und konvergieren. Der Mensch,

24 Ebenda. S. 41.25 Vgl. die geschichtlichen Hintergründe in Brockhaus. A.a.O. Band 24. S. 636.26 Vgl. Nerlich, Michael: Abenteuer: oder vom praktischen Umgang mit dem Zufall. In: Eifl er, Günter,

Manfred Moser und Andreas Thimm: Zufall. Mainzer Universitätsgespräche (Studium Generale WS 94/95). Mainz 1995. S. 127-160. Hier S.127ff.

27 Vgl. ebenda.28 Ebenda. S. 131.29 Ebenda. S. 134.30 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm Freiherr von: Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des

Menschen und dem Ursprung des Übels. Dritter Teil, zweiter Band. Darmstadt 1985. [Erstpublikation in französischer Sprache 1710]

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so Leibniz, bringe dann die regelmäßigen und sich immer neu bildenden natürlichen Prozesse durcheinander, dadurch komme es zu Brüchen und Dissonanzen. Menschliche Selbstdefi nitionsprozesse und die Einzigartigkeit des Abenteuers können damit als Inter-ferenzen in die vorgegebene göttliche oder natürliche Ordnung verstanden werden: So wurden die zufälligen Ereignisse zu Marksteinen in der Emanzipation des Menschen von den ihn determinierenden Mächten. An anderer Stelle in seiner Theodizee beschäftigte sich Leibniz auch schon mit der Idee der kontingenten Zukunft, also mit der Menge von Möglichkeiten, die sich verzweigend an einem Punkt ergeben können. Die Ideen um den Komplex Teleologie, Zweckgerichtetheit und die Schicksalhaftigkeit des menschlichen Daseins sind seit jeher Kategorien der philosophischen Betrachtung gewesen.31 Doch ei-gentlich erst mit den Existentialisten und der von Albert Camus ausgerufenen Befreiung des Menschen von Gott und Geschichte wurde dem Akzidentiellen als Wirkfaktor im alltäglichen Miteinander ein unverrückbarer Raum geschaffen.32

Die andere Seite der aktiven Nutzbarmachung und ergo auch Bestimmung des Zufalls ist seine Beschwörung während der kreativen Tätigkeit. So wurde das schöpferische Po-tential des Zufalls schon recht früh entdeckt: Leonardo Da Vinci rief zu einem Studium der zufälligen Naturereignisse wie Gewitter und Wolkenformationen auf, weil diese die künstlerische Einbildungskraft befl ügeln könnten.33 Aber erst im 20. Jahrhundert wur-de der Zufall durch die Hinwendung zum Unbewussten, Symbolischen und Abstrakten, das sich bewusst von der Realitätswiderspiegelung löste, als eigenes Stilprinzip erkannt und verstärkt heraufbeschworen. Die Dadaisten ließen sich oft ausschließlich vom Zu-fall leiten, sie inszenierten ihn als solchen, so beispielsweise in spontanen Aktionen und ungeplanten Performances. Zufall war nicht mehr das, was einem zustieß, sondern der gesamte künstlerische Prozess war von Absichtslosigkeit geprägt: Der Künstler konnte zu Anfang nicht sagen, wie nach Abschluss des schöpferischen Handelns das Ergebnis ausse-hen würde. Dies kann einerseits ein Ausschalten jeden gestalterischen und bewussten Bil-dens beinhalten, aber auch einen kreativen Freiraum öffnen, der bisher unerreicht schien. Zufall wird damit auch zu einem Sinnbild für die absolute Freiheit aller Möglichkeiten in der Kunst. Vor allem die Surrealisten mit ihrer Idee einer umfassenden Affi rmation der Spontaneität sahen den Zufall als bedeutenden Wirkfaktor an. Bei der Kunst des Auto-matismus ließ man sich vom Zufall leiten (z.B. auch in der von André Breton geprägten Kunst des Schreibens aus dem Unbewussten, der ‚écriture automatique’). Das Unvorher-gesehene wurde aber auch in den meisten anderen Stilarten der modernen Kunst als ein-fl ussreiche Wirkmethode begriffen: in der Fluxus-Bewegung, bei den Happenings, in den abstrakten, aus Farbspritzern bestehenden Bildern des Actionpainters Jackson Pollock

31 Vgl. Hörz, Herbert: Zufall – eine philosophische Untersuchung. Berlin (Ost) 1980.32 Vgl. Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. Reinbek 1992.33 „[D]as aufmerksame Studium“ von Naturphänomen dient da Vinci zufolge dazu, „künstlerische

Erfi ndungen zu befl ügeln“ und fungiert mithin als „Katalysator für schweifende Phantasien.“ Vgl. Holeczek, Bernhard: Zufall als Glücksfall. Die Anfänge eines künstlerischen Prinzips der Avantgarde. In: Holeczek, Bernhard, Lida von Mengden (Hg.): Zufall als Prinzip. Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 1992. S. 15-24. Hier S. 17f.

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bis hin zur Anwendung bei computergesteuerten Aleatorikprozessen heutiger Künstler.34 In der Musik war es primär John Cage, der mit seinen Compositions of Chance Aufsehen erregte.35 Manche seiner Stücke waren nach Würfelergebnissen oder dem I Ging kompo-niert, andere Stücke überließen die gesamte Ausgestaltung und Einspielung der Willkür natürlicher Prozesse (wie dem Wetter oder den Windrichtungen). Cage fasste den Zu-fall als eine Art ‚terra incognita’ auf, welche sich der menschlichen Kenntnis im Moment des künstlerischen Schaffens noch entzieht. Für ihn war der Zufall stark an Disziplin ge-bunden. Diese entstehe durch die Vorschrift, nicht nach Vorlieben und bekannten, ange-nehmen Klangfolgen zu spielen, sondern sich völlig dem Unbestimmten zu überlassen. Gerd Zacher spricht davon, „die routinierten Wege auf disziplinierte Weise zu verlassen [und...] absichtliche Eingriffe [...] in das musikalische Geschehen [zu vermeiden]“36. Dies gelinge dann am besten, wenn mehrere Interpreten interagierten, da so individuelle Vor-lieben und persönliche Neigungen zurückgedrängt werden könnten.

In der künstlerischen Praxis beinhaltet der Zufall nicht nur die Möglichkeit einer subversiven, die traditionellen Ordnungsprinzipien hinterfragenden Gestaltungsweise, sondern er kann auch als Moment einer von der Realitätskonstruktion völlig gelösten alternativen Wirklichkeitsrekonstruktion angesehen werden. Der Romanist Erich Köhler begreift den Zufall deshalb in einer literaturgeschichtlichen Abhandlung auch als Ele-ment einer differenten Refl exion des Realen:

„Die moderne Literatur hat das klassische Mimesis-Konzept revolutioniert, indem sie die Künste nicht mehr auf die Nachahmung der einen (notwendigen) Wirklichkeit verpfl ichtet. Kunst ist nicht die Wirklichkeit noch einmal, sie gibt im Gegenteil den Blick auf die historische Zufälligkeit und den Möglichkeitsreichtum dessen frei, was wir jeweils als wirklich und alternativlos unterstellen.“37

Infolgedessen weist der Zufall auf das hin, „was in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation der Gesellschaft zugleich möglich und notwendig war.“38 Es wird also vom Zufall innerhalb einer die Wirklichkeit refl ektierenden, abbildenden Darstellungsweise von Kunst nicht nur das Gewesene oder aktuell Vorhandene affi ziert, sondern auch das Mögliche, welches sich tatsächlich aber nicht eingestellt hat und sich vielleicht sogar nie einstellen wird. Insofern hat der künstlerisch eingesetzte Zufall auch die Rolle „einer Ins-tanz der Vermittlung“39 zwischen dem faktisch Existierenden und dem nur Vorgestellten, Imaginären, aber durchaus Wahrscheinlichen – dieser Brückenschlag kann mithilfe des Zufälligen in der Kunst ausgeleuchtet werden.

34 Einen Überblick zum Thema bietet: Reck, Hans-Ulrich: Aleatorik in der bildenden Kunst. In: Gendol-la, Peter, Thomas Kamphusmann (Hg.): Die Künste des Zufalls. Frankfurt/Main 1999. S. 158-195.

35 Vgl. Zacher, Gerd: Über den Zufall in der Musik: ‚Chance Operation und Discipline’ (John Cage). In: Moser, Thimm: Zufall. A.a.O. S. 209-216.

36 Ebenda. S. 211.37 Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. Frankfurt/Main 1993.

Klappentext.38 Ebenda. S. 14.39 Ebenda. S. 15.

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27 Einführung in das Thema

Nach der Etablierung von Begriffen wie Chaos, Absichtslosigkeit und Unschärfe kann man davon sprechen, dass es zu einer Qualitätsveränderung der Zufallsinterpre-tation kam. Vor allem durch die Ausweitung der einmal gefundenen Erkenntnisse der Naturwissenschaften auf andere Bereiche ergab sich eine durchgreifende Verschiebung und erneute Begriffsbestimmung in den verschiedenen Wirklichkeitsauffassungen. Es kommt dabei zu einem „Säkularisierungsprozess des Zufalls“, in dem das „metaphysische Dunkel“ des Zufälligen, das anfänglich Ausdruck eines versteckten Sinns gewesen ist, sich – so Ernst Nef – allmählich zu einer Bezeichnung für die überall enthaltene „profane Kompliziertheit der Welt“40 verwandelt. Dabei ergibt sich auch eine Vermischung und Erweiterung des Begriffi nstrumentariums der einzelnen Disziplinen bei ihrer Berührung. So ist im Verlaufe der theoretischen Ausdifferenzierung die Theorie zufälliger Entstehung und notwendiger Fixierung von Merkmalen bei Lebewesen aus der Darwin’schen Evolu-tionstheorie auch auf literaturwissenschaftliche und geistesgeschichtliche Entwicklungen bezogen worden.41 Auch die in der Chaostheorie vorausgesetzten Ideen von Fraktalität, deterministischem Chaos und Selbstorganisation fanden eine Resonanz bei den Neuro-wissenschaften und der Sozialtheorie.42 Gerade Niklas Luhmann hat in seinen Überle-gungen über die ‚doppelte Kontingenz’ der menschlichen Begegnung und in seiner rigo-rosen Unterscheidung von Außendiskurs und abgeschlossenem Binnensystem dem Zufall eine Rolle beim Aufbau neuer Zusammenhänge eingeräumt, wobei er durchweg natur-wissenschaftliche Termini zur Beschreibung sozialer Konstellationen anwendet.43 Durch das Potential des Zufalls, seine ihm inhärente Energie, werde das System ausgeweitet; es baue auf den Erweiterungsangeboten des noch Unbestimmten auf und kann sich auf diese Weise auf eine höhere Ebene befördern. So wird das Differente, Unkategorisierbare und damit Zufällige verstärkt auch als Möglichkeit aufgefasst, die mittlerweile etablierten Ordnungen der menschlichen Kulturgemeinschaft zu erweitern und so aus dem Unbe-stimmbaren neue Sinnstiftungsvorschläge zu beziehen. Galt es in der Zeit der Aufklärung und der Emanzipation des Menschen von Gott und Natur, eine möglichst verlässliche und feststehende, von Menschenhand geschaffene Ordnung als verbindlichen Rahmen zu konsolidieren – auch gegen die Willkür der göttlichen bzw. natürlichen Hand –, so wird dieser heute durch die Integration und Befragung des Zufälligen wieder verstärkt aufzulösen versucht, es wird Kritik geübt und nach Möglichkeiten einer Flexibilisierung gesucht, die das Werden des Wirklichen im Sinne einer auch zufallsinduzierten natür-lichen Entwicklung begreift.

40 Nef: Der Zufall in der Erzählkunst. A.a.O. S. 109.41 Vgl. Lem, Stanisław: Philosophie des Zufalls. Zur Erkenntnis literaturwissenschaftlicher Theorie. 2

Bände. Frankfurt/Main 1986. Preyer, Gerhard (Hg.): Strukturelle Evolution und Weltsystem. Theori-en, Sozialstruktur und evolutionäre Entwicklungen. Frankfurt/Main 1998.

42 Vgl. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen 1997.

43 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main 1987. Kap. 3 „Doppelte Kontingenz“. S. 148-190.

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28Einführung in das Thema

3.3. Der Zufall als Methode der Subversion gegen kulturelle Ordnungen bei Odo Marquard und Umberto Eco – Das Problem der diegetischen Geschlossenheit im formalen System des Films nach David Bordwell und Kristin Thompson

Abschließend soll nun eine sukzessive Präzisierung der hier zunächst eingenommenen umfassenden Perspektive vorgenommen werden: Vom Fokus auf den Zufall in den all-gemeinen gesellschaftlichen Ordnungen wird der Betrachtungswinkel auf die verschie-denen künstlerischen Gestaltungsformen verkleinert, bevor abschließend ein Blick auf das spezifi sche Kunstsystem des Films und seinen Umgang mit dem Unbestimmten erfolgt. Die hier im Anschluss refl ektierten theoretischen Positionen weisen zwar keine direkten Anknüpfungspunkte untereinander auf, können jedoch als grundlegende Per-spektivierungen angesehen werden, die den oben schon angedeuteten Aspekt einer von den Menschen immer als sinnvoll ‚programmierten’ Lebenswirklichkeit aufgreifen und spezifi sch zu erklären versuchen. Damit wird also zunächst die den Systemen eigene Her-meneutik der Bedeutungskonstitution bezeichnet und im Anschluss daran auf das jewei-lige kontextspezifi sche Verhalten bei der Konfrontation des Systems mit dem Element des Unbestimmten eingegangen. Es zeigt sich dabei, dass gleichermaßen das grundsätz-liche kulturell-gesellschaftliche Gefüge, wie auch der etablierte traditionelle Kunstdis-kurs und zuletzt auch die Weise der konventionellen Spielfi lmgestaltung als relativ starre Ordnungszusammenhänge begriffen werden können, die – im Einklang mit der oben skizzierten Weise der inneren Subversion ihrer Strukturen – durch die Erscheinung des Zufallsphänomens herausgefordert und damit auch erneuert werden können.

In einem ersten Schritt geht es um den Zufall und sein Wirken in der alltäglichen Lebenssphäre des Einzelnen. Wie werden überhaupt Zufälligkeit und Freiheit, Wahl und Fremdbestimmung im Kontext der gewöhnlichen und festgegründeten Wirklichkeit von einem Subjekt wahrgenommen? Hierzu bietet sich ein Blick in die Schrift Apologie des Zufälligen des Philosophen Odo Marquard an.44 In diesem Aufsatz etabliert Marquard eine Perspektive, die gleichermaßen metaphysisch-philosophische Spekulationen wie auch alltagsweltliche Überlegungen des heute handelnden Menschen integrierend zusam-menbringt. Im Gegensatz zu den zahlreichen Annahmen der Philosophie, die von einem ‚Menschen an sich’ reden, der von der soziohistorischen Sphäre gelöst erscheint, kapri-ziert sich Marquard auf das alltägliche Individuum, welches sich mit der kontingenten Zufälligkeit des Daseins immer wieder von Neuem auseinandersetzen müsse. Marquard zufolge nimmt der Mensch nur durch seinen fortwährenden Bezug auf das Zufällige an der Wirklichkeit teil, „das Zufällige entfernen: das hieße, zum Beispiel, aus dem Menschen das Allzumenschliche zu entfernen.“45 Das Zufällige sei Quelle der Freiheit des Einzelnen und der Vielgestaltigkeit des Wirklichen. Aus diesem Blickwinkel mute es befremdlich an, dass die menschlichen Denksysteme seit jeher versuchen, jene Zufälligkeit und Nicht-Planbarkeit der Lebenswelt auszulöschen und zwar durch das „Programm der Absolut-machung des Menschen“46, wie Marquard es nennt. Von Platon über Augustinus bis zu

44 Vgl. Marquard, Odo: Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Schriften. Stuttgart 1986. S. 117-139.

45 Ebenda. S. 117.46 Ebenda. S. 118.

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Descartes und verschiedenen heutigen Ausprägungen – Marquard erwähnt hier Apel und Habermas – komme es zur Verabsolutierung der menschlichen Wahl als Ausdruck der menschlichen Freiheit; das Programm der Absolutmachung „dekretiert: die Menschen sind nicht ihre Zufälle, sondern ihre Wahl und zwar ihre absolute Wahl.“47 Diese Fest-schreibung, die notwendiger Bestandteil der Emanzipation von der natürlichen Ordnung ist, könne aber immer nur teilweise gelingen, denn „wir Menschen sind nicht nur unsere – absichtsgeleiteten – Handlungen, sondern auch unsere Zufälle.“48 Allein schon die To-desnotwendigkeit jedes Individuums stehe einer völligen Absolutsetzung des Einzelwe-sens entgegen, der Mensch bleibe bis zu einem gewissen Grad ein Element innerhalb der ihn bedingenden Naturgesetze. Aus diesem Grund, so Marquard, können die absoluten Programme der Philosophie auch nur im Bereich der hypothetischen Spekulation funk-tionieren und haben dort auch ihre Daseinsberechtigung: „[D]ie verzögerte Liberalität im Realen wird kompensiert durch die Absolutheit im Philosophischen.“49 Zwar wählt der Mensch alltäglich und trifft zahlreiche vermeintlich freie Entscheidungen, doch diese bleiben an einen Rahmen gebunden, den die Üblichkeiten – „Traditionen, Sitten, Usan-cen des Wissens und Handelns“50 – repräsentieren. Der Versuch einer programmierten Universalisierung des Wirklichen verleugne den Einfl uss und auch die Nützlichkeit dieser Konventionen: „Das Programm der Absolutmachung des Menschen negiert vorsorglich das wirkliche Leben, soweit es das Ensemble der Üblichkeiten ist.“51 Und um die Dar-stellung dieses wirklichen Lebens – freilich in einer Situation der fi ktionalen Widerspie-gelung – geht es in den zu betrachtenden Spielfi lmen, weshalb auch hier danach gefragt werden muss, wie der Zufall in der Gesamtheit des alltäglichen Seins verortet wird. Mar-quard zufolge müsse der Nutzen der rahmenden Gewohnheiten in die Erwägung einer alltagsweltlichen Entscheidungs- und Handlungskompetenz des Menschen einbezogen werden. Die Beständigkeit des Wirklichen hänge von diesen Übereinkünften ab; diese dienen auch als „kompensierende Stabilitäten“52 beim Umgang mit der Realität. Der Mensch kann also weder seine Lebensumstände grundlegend verändern, noch kann er die naturgesetzlichen Begrenzungen elementar erweitern oder gar verlassen; er hat eben nicht die Möglichkeit der absoluten Wahl. Damit wird aber die Frage aufgeworfen, welche Rolle der menschlichen Entscheidungsmacht letztlich in der Wirklichkeit zukommt. Odo Marquard trifft hierfür die Unterscheidung zwischen dem Beliebigkeitszufälligen einer-seits und dem Schicksalszufälligen andererseits. Der erste Terminus meint jene Alterna-tiven, die „durch uns änderbar [sind] [...], ‚das was auch anders sein könnte’ und durch uns änderbar ist, [...] eine beliebig wählbare und abwählbare Beliebigkeit“53. Es handelt sich beispielsweise um die Entscheidung, am Morgen den Zug oder das Auto zu nehmen, wobei die grundlegende Intention, nämlich, die Arbeitsstelle zu erreichen, um Geld zu verdienen, immer dieselbe bleibt. Trotzdem kann sich auch durch eine solche, scheinbar

47 Ebenda. S. 120.48 Ebenda. S. 119.49 Ebenda. S. 121.50 Ebenda. S. 125.51 Ebenda. S. 123.52 Ebenda. S. 126.53 Ebenda. S. 128.

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marginale, beliebig erscheinende Entscheidung in der Korrelation des Wirklichen eine schwerwiegende Veränderung des individuellen Lebensweges ergeben. Demgegenüber stehe das Schicksalszufällige, das, was „gerade nicht durch uns änderbar ist“54, aber den äußeren Rahmen der menschlichen Wirklichkeitskonstruktion ausmacht. Dazu gehörten kollektive Organismen wie gesellschaftliche Zusammenhänge und natürliche Grenzen, aber auch das Leben des Einzelnen determinierende Ereignisse und grundlegend verän-dernde Weichenstellungen wie ein Verkehrsunfall oder eine Krankheit; diese Begeben-heiten würden dem betreffenden Subjekt dann wohlmöglich als Teile eines individuellen Schicksals erscheinen. Beide Elemente, das Beliebigkeitszufällige und das Schicksalszufäl-lige, träten in der Wirklichkeit in Abhängigkeit, Wechselwirkung und Interaktion mitein-ander auf. Das „Schicksalszufällige ist die Wirklichkeit unseres Lebens, weil wir Menschen ‚stets in Geschichten verstrickt’ sind“55, so Marquard. Die menschlichen Planungen und Intentionen seien immer an Erlebnisse, Zufälle und eintreffende Begebenheiten gebun-den, die die Absichten und Entwürfe der Forderung nach Ordnung wiederholt durch-kreuzen können und so das individuelle Leben als originäre, aus verschiedenen Quellen herrührende Geschichte hervorbringen, wie es auch gleichermaßen in der Fiktion des Romans bzw. des Films refl ektiert wird:

„Eine Geschichte ist eine Wahl, in die etwas Zufälliges – etwas Schicksalszufälliges – einbricht: deshalb kann man Geschichten nicht planen, sondern muss sie erzäh-len. Unser Leben besteht aus diesen Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen, die die Ge-schichten sind: ebendarum überwiegt in ihm das Schicksalszufällige.“56

Die Geschichte eines Lebens werde damit also vom agierenden Menschen wie von der ihn umgebenden und ihn beeinfl ussenden Wirklichkeit in einer unaufl öslichen Kooperation beharrlich fortgeschrieben; genau aus diesem Grunde sei Leben nicht plan- oder vorher-sehbar. Hätte der Mensch eine absolute Wahl, so könnte man das Leben schon im Voraus perfekt organisieren, wäre er nur an die Naturgesetze gebunden, so würde er ein Leben führen wie es die Tiere tun – ohne größere Beeinfl ussung des Wirklichen und ohne signi-fi kante Spuren zu hinterlassen. Gerade die Korrelation der Willensautorität des Menschen mit der Zufälligkeit seines Daseins lassen das menschliche Leben in hohem Maße als vari-abel und unbestimmt erscheinen. Dies werde auch gerade aus der subjektiven Binnensicht des Einzelnen in dieser sehr ausgeprägten Weise deutlich; Marquard wirft deshalb den all-gemeinen philosophischen Betrachtungen Ungenauigkeit vor, weil sie den Zufall übereilt ausklammern, ohne die Perspektive dessen einzunehmen, „dem da durch Schöpfung und andere Zufälle mitgespielt wird.“57 Der Mensch sollte also immer als Begegnungspunkt des Zufälligen und Unwägbaren begriffen werden, da in seiner Entwicklung sich das Spiel von Intentionen, Konventionen, also äußeren wie inneren Bedingungen, immer wieder von Neuem einstellt und anders entschieden wird, „denn der Zufall ist keine misslun-

54 Ebenda.55 Ebenda. S. 129.56 Ebenda.57 Ebenda. S. 130.

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gene Absolutheit, sondern [...] unsere geschichtliche Normalität.“58 Deshalb resultiere die Freiheit des Menschen auch nicht aus seiner Möglichkeit, absolut zu wählen, sondern „zu seiner Freiheit gehört die Anerkennung des Zufälligen.“59 Marquard redet von einem „Determinantengedrängel“, das die Vielschichtigkeit des Wirklichen im subjektiven Blick ausmache: Kein Mensch sei völlig frei und niemand – zumindest aus der Perspektive der hier zu betrachtenden fi ktionalen, befriedeten Subjekte – sei völlig determiniert und ge-bunden. Es sei notwendig, dass „stets nicht nur eine, sondern – pluralistisch konkur-rierend, einander durchkreuzend und dadurch sich wechselseitig einander balancierend – eine Mehrzahl solcher Potenzen wirkt“, daraus ergibt sich die „bescheidene, durchaus endliche, begrenzte je eigene (individuelle) Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden.“60 Aus diesem Grund sei die Apologie – die uneingeschränkte und nicht zu nivel-lierende Anerkennung und Einbeziehung – des Zufälligen in seiner ganzen Multipolarität für die Betrachtung des Menschen in seiner alltäglichen Lebenswelt immens wichtig:

„Der Umstand, dass das Zufällige, das dem Menschen zustößt, nicht ein einziger – un-geteilter – Zufall ist, sondern aus Zufällen im Plural besteht: dieser – selbst schick-salszufällige – Umstand macht es, dass – in der Form von Freiheiten im Plural – den Menschen ihr Zufall ‚Freiheit’ zufällt.“61

Es lässt sich aus den Betrachtungen Odo Marquards also zusammenfassend folgern, dass der Mensch weder seine alleinige Wahl und Bestimmung ist, noch erscheint er nur au-ßendeterminiert und damit fremdbestimmt. Der Mensch in der heutigen gewöhnlichen Umwelt ist an ‚die Programmierungen des Wirklichen’, an die Bindungen der Realität wie etwa Gesellschaft, Naturgesetzlichkeit und kollektive Interaktion gebunden; er kann durch diese Realitätsbeschreibungen den Zufall auch nivellieren – wie in philosophischen Betrachtungen. Doch bei Integration des subjektiven Willens, der innerhalb der rah-menden und ordnungsstiftenden Zusammenhänge seinen Einfl uss und seine Absichten wirklichkeitsverändernd einbringt, kommt es zu einer Wechselwirkung, die als zufällige Bedingung der Weltwerdung behandelt werden muss. Die Handlungsebene gerät immer wieder in Konfl ikt mit der Ebene des Widerfahrens und bloß automatischen Geschehens von Begebenheiten. Diese zweite, vom einzelnen Willen gelöste Stufe wird durch die Ge-stalt des aktuell Wirklichen, durch die derzeitigen mechanistischen Verknüpfungen und aus den Intentionen der anderen Handelnden als letztlich ‚absolute Sphäre’ gebildet, die – zumindest aus der Sicht des einzelnen Menschen – die Erfahrung einer überwiegend zufälligen Realität herstellen. Komplementär zu dieser Binnenperspektive der menschlichen Wahrnehmung sollen sich einige Bemerkungen zur ästhetischen Leistung selbst anschließen. Umberto Eco hat in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts versucht, die neuesten Erscheinungen der mo-dernen Kunst, die sich immer weiter in Richtung auf eine Abstraktion und intentionale Offenheit zu verändern schienen, zusammenfassend zu betrachten und sie unter dem

58 Ebenda. S. 131.59 Ebenda. S. 132.60 Ebenda. S. 133f.61 Ebenda. S. 134.

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32Einführung in das Thema

Terminus des offenen Kunstwerkes zu beschreiben.62 Obwohl er damit – im Gegensatz zu Marquard, der vom Menschen in seiner gewöhnlichen Lebenssphäre ausgegangen war – unter einer ganz anderen Perspektivierung an die Wirklichkeit herantritt, nämlich von der ästhetischen geprägten Vorstellung einer Integration des Zufälligen, Unbewussten und Unabsichtlichen in den Kunstdiskurs, so läuft seine Untersuchung auf einen ähn-lichen Fluchtpunkt hinaus: Auch bei Eco erscheint der Zufall letztlich als Störfaktor der Routinen und etablierten Ordnungen des nunmehr erstarrten, da bisher eher abbildend operierenden schöpferischen Zusammenhangs. In seiner verstärkten Affi zierung durch den Künstler wirke der Zufall – wie auch in der alltäglichen Umwelt – als multiplizieren-de, Heterogenität bewirkende singuläre Erscheinung, die Planbarkeit und Organisation der Realität durch den Menschen – hier im künstlerischen Schaffen – grundsätzlich zu-rückweise. Das erste Merkmal des offenen Kunstwerkes, welches Eco in seinen Ausfüh-rungen darstellt, ist die veränderte Situation, die sich zwischen Künstler und Rezipient einstellt. Durch die Offenheit verschiedener möglicher Ausführungen eines Werkes – Eco denkt hier Durchführung des Kunstwerkes durch einen Interpreten und die Betrachtung durch einen kunstinteressierten Laien zusammen – würde sich eine größere Freiheit und damit einhergehend eine größere Einfl ussmöglichkeit auf der Rezeptionsseite ergeben. Eco führt über moderne Musikkompositionen aus:

„[D]iese neuen Musikwerke hingegen bestehen nicht aus einer abgeschlossenen und defi niten Botschaft, nicht aus einer eindeutig organisierten Form, sondern bieten die Möglichkeit für mehrere, der Initiative des Interpreten anvertraute Organisations-formen; sie präsentieren sich folglich nicht als geschlossene Kunstwerke, die nur in einer einzigen gegebenen Richtung ausgeführt und aufgefasst werden wollen, sondern als ‚offene’ Kunstwerke, die vom Interpreten im gleichen Augenblick, in dem er sie vermittelt, erst vollendet werden.“63

Daraus ergebe sich aus einer vorgegebenen Linearität des Wirklichen, die in der abbilden-den und die Realität ungefi ltert wiedergebenden Kunst ihren Höhepunkt gefunden habe, eine multipolare, heterogene Anwendung der künstlerischen Schöpfungen, bei denen der Interpret seine eigene Perspektive gestaltend einbringen könne: „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation“, das offene Kunstwerk bewirkt mithin „Akte bewusster Freiheit“64 für den Interpreten, er ist „am Machen des Werkes beteiligt.“65 Die traditionelle Kunst weise eine Tendenz zur Vereinheitlichung auf, diese wird durch die Rückgewinnung des Möglichen abgewehrt und die Vielfalt der Perspektiven und Sicht-weisen so wiederhergestellt. An anderer Stelle in seiner Untersuchung vertieft Eco diese Entwicklung, in dem er von einem „fortschreitenden Übergang vom Idealen zum Realen, vom Realem zum Abstrakten und vom Abstrakten zum Möglichen in der westlichen Kul-tur“66 spricht, in dem das Kunstwerk weder die Wirklichkeit idealisiere noch abbilde, auch keine grundlegende Anti-Realität als nur in der Kunstwelt erreichbare Abstraktion errei-

62 Vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 1977. [Zuerst Mailand 1962]63 Ebenda. S. 28f.64 Ebenda. S. 30f.65 Ebenda. S. 41.66 Ebenda. S. 162.