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5 4 Schwerpunkhema Schwerpunkhema ZUKUNFT DER DIGITALEN NEPHROLOGIE STEFAN BECKER/ KLEMENS BUDDE/ KAROLINE KOISAR/ LAURA WAMPRECHT/ MARKUS MÜSCHENICH Abstract: Auch wenn man es im klinischen Alltag nicht immer glauben mag: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und auch der Nephrologie in Deutschland schreitet schnell voran. Nahezu täglich werden neue Teilprozesse in der Versorgung digitalisiert. Angefangen vom Onlinemanage- ment für Arzttermine, patienten- bezogene Mobilapplikationen zur Therapieadhärenz hin zu Alert- und Decision-Support-Systemen in Krankenhausinformationssys- temen. Abstract: Although one might not always believe it in everyday clinical practice, the digitization of healthcare and also of nephro- logy is making rapid progress in Germany. New sub-processes in care are being digitized almost daily, from online management of appointments with physicians, to mobile, patient-based applications for adherence to therapy, to auto- mated alert and decision-support systems in hospital information systems. Digitalisierung in der Nephrologie = Telemedizin? Bisher wurde unter Digitalisierung in der Inneren Medizin vielfach eine von vielen unterschiedlichen Spiel- arten von Telemedizin verstanden. In der Nephrologie wurden überwie- gend in großen Flächenländern, wie den USA, Kanada und Australien, telemedizinische Projekte in der Nephrologie und Dialyse eingesetzt und evaluiert [1]. Allerdings ist bisher eine schnelle Einführung von Telenephrologie in den Vereinigten Staaten durch mehrere Faktoren ausgebremst worden. Die Kostener- stattung durch Medicare und priva- te Versicherungsanbieter für diese Angebote sind minimal, da keine kontrollierten, randomisierten Stu- dien durchgeführt worden sind, die verbesserte klinische Resultate und/ oder eine Kostensenkung darlegen. Die Kostenträger sind daher eher besorgt, dass eine übermäßige Nut- zung von elektronischen Behand- lungsangeboten die Kosten in die Höhe treiben könnte – ohne mehr Behandlungserfolge zu erzielen. Digitalisierung als „Game Changer“ in der Medizin Der Durchbruch der digitalen Me- dizin auch für die Nephrologie steht also noch bevor. Sie wird das Ge- sundheitswesen und die klinische Arbeit am Patienten grundlegend verändern. Um zu sehen, in wel- che Richtung die Reise geht, hilft ein Blick auf die technologische Entwicklung in anderen Bereichen. Was verhilft einer technologischen Erfindung zum Durchbruch? Hier spricht man auch von Killerappli- kationen. Sie finden zahlreiche Käufer und entscheiden, was sich in der Gesellschaft durchsetzt [2]. Das Beispiel Gameboy aus der Unterhal- tungselektronik zeigt: Erst durch das Spiel Tetris trat der Gameboy seinen Siegeszug an [3, 4, 5]. Die Killerapplikation war also in diesem Fall eine Software. Diskutiert wer- den derzeit Onlinespiele, die eine große Bandbreite benötigen, als Kil- lerapplikation für den Ausbau des Breitbandinternet [6, 7]. Was ist die treibende Kraft bei der Nutzung? Welche Bedürfnisse des Menschen werden angesprochen? Bedürfnis nach Kommunikation Betrachtet man die Erfolgsgeschich- te von Whatsapp gegenüber der SMS [8, 9], wird deutlich, dass meist elementare Bedürfnisse ausschlag- gebend sind. In diesem Fall war es der Wunsch nach Kommunikation. Diese liefert Whatsapp kostenlos und uneingeschränkt. Auch im digitalen Gesundheitswesen ist das Bedürfnis nach Kommunikation der entscheidende Treiber [10]. Momentan herrscht in der Arzt- Patienten-Kommunikation ein Ungleichgewicht. Während manche Menschen im Zweifel einen auf- wändigen Arztbesuch vermeiden möchten, wünschen sich andere mehr Zeit beim Arztgespräch. Viele Besuche in der Arztpraxis sind tat- sächlich medizinisch nicht zwin- gend notwendig und so fehlt Zeit für intensive Beratung bei anderen Fällen [2]. Gesundheitsbezogene Mobil- Applikationen An dieser Stelle könnte digitale Medizin Abhilfe schaffen. Neue Medizinprodukte in Form von Ge- sundheitsapps treffen schon heute wissenschaftlich fundierte Aussa- gen, ob ein Arztbesuch nötig ist. Die App „Femisphere“ des Start-ups Onelife Health GmbH z. B. hilft bei der Dokumentation von Vitalwer- ten und Symptomen der Schwan- geren und gibt an, ob konkreter Handlungsbedarf besteht. Plötzlich auftretende Ängste in der Nacht oder am Wochenende können durch so eine App direkt adressiert werden [2]. Natural Language Processing Ein weiterer Bereich ist das soge- nannte Natural Language Proces- sing, zu dem man auch Chatbots rechnet. Diese Computerprogram- me können über Textein- und -ausgabemasken eine natürliche Un- terhaltung führen. Dabei greifen sie auf große Datenbestände zurück. Der erste Chatbot namens ELIZA wurde bereits 1966 entwickelt und in der Psychotherapie eingesetzt [11]. Jahrzehntelang gab es jedoch kaum weitere Entwicklung auf die- sem Gebiet. Durch den großen Fort- schritt in der Leistungsfähigkeit von IT-Systemen erfolgte eine Wieder- belebung der Chatbots über Apps, Messenger-Programme oder SMS. Eine Kontaktaufnahme für den Pa- tienten ist so extrem niederschwellig und kostengünstig [2]. Dies zeigt der Erfolg des Chatbot GYANT der Firma Gyant.com, Inc. aus dem Sili- con Valley. Innerhalb weniger Mona- te erreichte sie mit dem „Zika-Che- cker“ weit über 300.000 User, die die Fragen des Chatbots beantworteten und eine Einschätzung erhielten. Auch in den Tagen danach blieb der Chatbot mit ihnen in Kontakt und konnte so klären, ob der Arzt die Diagnose bestätigt hatte und wie sich die Symptome der Patienten entwickelt hatten. So wurde der Algorithmus immer wieder validiert und optimiert und gleichzeitig eine enorme Datenbank zum Thema „Zika-Virus“ aufgebaut [12, 13]. Dieses Start-up arbeitet laufend an Algorithmen für weitere Krank- heitsbilder und hat das Ziel, einen vollständigen Triagealgorithmus zu entwickeln. Statt die Fragen schrift- lich zu beantworten, existieren auch Systeme, bei denen der Mensch mit dem technischen Apparat spricht. Solche Sprachassistenten sind vor allem aus der Konsumwelt bekannt: Siri von Apple oder Amazons Alexa. Diese Systeme werden ebenfalls mit jeder Anwendung kontinuierlich verbessert. Der nächste Schritt ist durch Science-Fiction-Filme be- kannt. Avatare existieren schon. Die virtuelle Krankenschwester „Molly“, entwickelt von Sense.ly und dem britischen National Health Service (NHS), gibt der App ein Gesicht und Dr. Stefan Becker Universitätsklinikum Essen, Klinik für Nephrologie, Essen Prof. Dr. med. Klemens Budde Charité - Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Klinik m. S. Nephrologie und Inten- sivmedizin Berlin Karoline Koisar Universitätsklinikum Essen, Klinik für Nephrologie, Essen Laura Wamprecht Flying Health Incubator Berlin Dr. Markus Müschenich Flying Health Incubator Berlin ermöglicht eine niedrigschwellige, 24/7 Kontaktaufnahme mit dem britischen Gesundheitswesen [14]. Deep Learning Ersetzt die Software den Arzt? Basierend auf dem Deep-Learning- Ansatz lässt sich die Forschung vom menschlichen Gehirn inspirieren. Mit einer riesigen Anzahl an Da- tensätzen trainiert man künstliche neuronale Netzwerke. So lassen sich verborgene Muster erkennen und evidenzbasierte Rückschlüsse zie- hen. Dieses Wissen wird wiederum bei neuen Datensätzen angewandt und führt zu einer stetigen Verbes- serung. In der Medizin wird diese Methode vorrangig bei der Bildge- bung und Pathologie angewandt. Das Training der Software erfolgt mithilfe von CT-Aufnahmen, deren Diagnose schon gesichert ist. Die Software lernt, Muster zu erkennen und wendet dieses Wissen dann bei neuen Aufnahmen an. Beim Lern- prozess müssen hochwertige Da- tensätze mit gesicherten Diagnosen vorliegen [2]. Beispielsweise zeigte die Arbeitsgruppe um Sharma et al., dass sich über einen solchen Ansatz das Nierenvolumen von ADPKD- Patienten mit hoher Sicherheit berechnen lässt [15]. Im Bereich der Onkologie hilft Deep Learning bei der Erkennung neuer Tumore in der Leber [16] und bei der Identifikation des Primärtumors in der Leber [17]. Die Tendenz zeigt, dass in einzelnen Forschungsprojekten die Software dem Arzt überlegen ist [16]. Meis- tens sind die Ergebnisse von Mensch und Maschine ähnlich [18]. Ein an- deres Beispiel ist die Identifikation von Melanomen. Erste Forschungs- ergebnisse belegen, dass Fotos eines guten Smartphones komplexe

ZUKUNFT DER DIGITALEN NEPHROLOGIE · Changer“ in der Medizin Der Durchbruch der digitalen Me-dizin auch für die Nephrologie steht also noch bevor. Sie wird das Ge-sundheitswesen

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Schwerpunktthema Schwerpunktthema

ZUKUNFT DER DIGITALEN NEPHROLOGIE

STEFAN BECKER/ KLEMENS BUDDE/ KAROLINE KOISAR/ LAURA WAMPRECHT/ MARKUS MÜSCHENICH

Abstract: Auch wenn man es im klinischen Alltag nicht immer glauben mag: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und auch der Nephrologie in Deutschland schreitet schnell voran. Nahezu täglich werden neue Teilprozesse in der Versorgung digitalisiert.

Angefangen vom Onlinemanage-ment für Arzttermine, patienten-bezogene Mobilapplikationen zur Therapieadhärenz hin zu Alert- und Decision-Support-Systemen in Krankenhausinformationssys-temen.

Abstract: Although one might not always believe it in everyday clinical practice, the digitization of healthcare and also of nephro-logy is making rapid progress in Germany. New sub-processes in care are being digitized almost daily, from online management of appointments with physicians, to mobile, patient-based applications for adherence to therapy, to auto-mated alert and decision-support systems in hospital information systems.

Digitalisierung in der Nephrologie = Telemedizin?

Bisher wurde unter Digitalisierung in der Inneren Medizin vielfach eine von vielen unterschiedlichen Spiel-arten von Telemedizin verstanden. In der Nephrologie wurden überwie-gend in großen Flächenländern, wie den USA, Kanada und Australien, telemedizinische Projekte in der Nephrologie und Dialyse eingesetzt und evaluiert [1]. Allerdings ist bisher eine schnelle Einführung von Telenephrologie in den Vereinigten Staaten durch mehrere Faktoren ausgebremst worden. Die Kostener-stattung durch Medicare und priva-te Versicherungsanbieter für diese Angebote sind minimal, da keine kontrollierten, randomisierten Stu-dien durchgeführt worden sind, die verbesserte klinische Resultate und/oder eine Kostensenkung darlegen. Die Kostenträger sind daher eher

besorgt, dass eine übermäßige Nut-zung von elektronischen Behand-lungsangeboten die Kosten in die Höhe treiben könnte – ohne mehr Behandlungserfolge zu erzielen.

Digitalisierung als „Game Changer“ in der Medizin

Der Durchbruch der digitalen Me-dizin auch für die Nephrologie steht also noch bevor. Sie wird das Ge-sundheitswesen und die klinische Arbeit am Patienten grundlegend verändern. Um zu sehen, in wel-che Richtung die Reise geht, hilft ein Blick auf die technologische Entwicklung in anderen Bereichen. Was verhilft einer technologischen Erfindung zum Durchbruch? Hier spricht man auch von Killerappli-kationen. Sie finden zahlreiche Käufer und entscheiden, was sich in der Gesellschaft durchsetzt [2]. Das Beispiel Gameboy aus der Unterhal-tungselektronik zeigt: Erst durch das Spiel Tetris trat der Gameboy seinen Siegeszug an [3, 4, 5]. Die Killerapplikation war also in diesem Fall eine Software. Diskutiert wer-den derzeit Onlinespiele, die eine große Bandbreite benötigen, als Kil-lerapplikation für den Ausbau des Breitbandinternet [6, 7]. Was ist die treibende Kraft bei der Nutzung? Welche Bedürfnisse des Menschen werden angesprochen?

Bedürfnis nach Kommunikation

Betrachtet man die Erfolgsgeschich-te von Whatsapp gegenüber der SMS [8, 9], wird deutlich, dass meist elementare Bedürfnisse ausschlag-gebend sind. In diesem Fall war es der Wunsch nach Kommunikation. Diese liefert Whatsapp kostenlos und uneingeschränkt. Auch im

digitalen Gesundheitswesen ist das Bedürfnis nach Kommunikation der entscheidende Treiber [10]. Momentan herrscht in der Arzt-Patienten-Kommunikation ein Ungleichgewicht. Während manche Menschen im Zweifel einen auf-wändigen Arztbesuch vermeiden möchten, wünschen sich andere mehr Zeit beim Arztgespräch. Viele Besuche in der Arztpraxis sind tat-sächlich medizinisch nicht zwin-gend notwendig und so fehlt Zeit für intensive Beratung bei anderen Fällen [2].

Gesundheitsbezogene Mobil-Applikationen

An dieser Stelle könnte digitale Medizin Abhilfe schaffen. Neue Medizinprodukte in Form von Ge-sundheitsapps treffen schon heute wissenschaftlich fundierte Aussa-gen, ob ein Arztbesuch nötig ist. Die App „Femisphere“ des Start-ups Onelife Health GmbH z. B. hilft bei der Dokumentation von Vitalwer-ten und Symptomen der Schwan-geren und gibt an, ob konkreter Handlungsbedarf besteht. Plötzlich auftretende Ängste in der Nacht oder am Wochenende können durch so eine App direkt adressiert werden [2].

Natural Language Processing

Ein weiterer Bereich ist das soge-nannte Natural Language Proces-sing, zu dem man auch Chatbots rechnet. Diese Computerprogram-me können über Textein- und -ausgabemasken eine natürliche Un-terhaltung führen. Dabei greifen sie auf große Datenbestände zurück. Der erste Chatbot namens ELIZA wurde bereits 1966 entwickelt und

in der Psychotherapie eingesetzt [11]. Jahrzehntelang gab es jedoch kaum weitere Entwicklung auf die-sem Gebiet. Durch den großen Fort-schritt in der Leistungsfähigkeit von IT-Systemen erfolgte eine Wieder-belebung der Chatbots über Apps, Messenger-Programme oder SMS. Eine Kontaktaufnahme für den Pa-tienten ist so extrem niederschwellig und kostengünstig [2]. Dies zeigt der Erfolg des Chatbot GYANT der Firma Gyant.com, Inc. aus dem Sili-con Valley. Innerhalb weniger Mona-te erreichte sie mit dem „Zika-Che-cker“ weit über 300.000 User, die die Fragen des Chatbots beantworteten und eine Einschätzung erhielten. Auch in den Tagen danach blieb der Chatbot mit ihnen in Kontakt und konnte so klären, ob der Arzt die Diagnose bestätigt hatte und wie sich die Symptome der Patienten entwickelt hatten. So wurde der Algorithmus immer wieder validiert und optimiert und gleichzeitig eine enorme Datenbank zum Thema „Zika-Virus“ aufgebaut [12, 13]. Dieses Start-up arbeitet laufend an Algorithmen für weitere Krank-heitsbilder und hat das Ziel, einen vollständigen Triagealgorithmus zu entwickeln. Statt die Fragen schrift-lich zu beantworten, existieren auch Systeme, bei denen der Mensch mit dem technischen Apparat spricht. Solche Sprachassistenten sind vor allem aus der Konsumwelt bekannt: Siri von Apple oder Amazons Alexa. Diese Systeme werden ebenfalls mit jeder Anwendung kontinuierlich verbessert. Der nächste Schritt ist durch Science-Fiction-Filme be-kannt. Avatare existieren schon. Die virtuelle Krankenschwester „Molly“, entwickelt von Sense.ly und dem britischen National Health Service (NHS), gibt der App ein Gesicht und

Dr. Stefan Becker

Universitätsklinikum Essen,

Klinik für Nephrologie,

Essen

Prof. Dr. med. Klemens

Budde

Charité - Universitätsmedizin

Berlin, Medizinische Klinik

m. S. Nephrologie und Inten-

sivmedizin

Berlin

Karoline Koisar

Universitätsklinikum Essen,

Klinik für Nephrologie,

Essen

Laura Wamprecht

Flying Health Incubator

Berlin

Dr. Markus Müschenich

Flying Health Incubator

Berlin

ermöglicht eine niedrigschwellige, 24/7 Kontaktaufnahme mit dem britischen Gesundheitswesen [14].

Deep Learning

Ersetzt die Software den Arzt? Basierend auf dem Deep-Learning-Ansatz lässt sich die Forschung vom menschlichen Gehirn inspirieren. Mit einer riesigen Anzahl an Da-tensätzen trainiert man künstliche neuronale Netzwerke. So lassen sich verborgene Muster erkennen und evidenzbasierte Rückschlüsse zie-hen. Dieses Wissen wird wiederum bei neuen Datensätzen angewandt und führt zu einer stetigen Verbes-serung. In der Medizin wird diese Methode vorrangig bei der Bildge-bung und Pathologie angewandt. Das Training der Software erfolgt mithilfe von CT-Aufnahmen, deren Diagnose schon gesichert ist. Die Software lernt, Muster zu erkennen und wendet dieses Wissen dann bei neuen Aufnahmen an. Beim Lern-prozess müssen hochwertige Da-tensätze mit gesicherten Diagnosen vorliegen [2]. Beispielsweise zeigte die Arbeitsgruppe um Sharma et al., dass sich über einen solchen Ansatz das Nierenvolumen von ADPKD-Patienten mit hoher Sicherheit berechnen lässt [15]. Im Bereich der Onkologie hilft Deep Learning bei der Erkennung neuer Tumore in der Leber [16] und bei der Identifikation des Primärtumors in der Leber [17]. Die Tendenz zeigt, dass in einzelnen Forschungsprojekten die Software dem Arzt überlegen ist [16]. Meis-tens sind die Ergebnisse von Mensch und Maschine ähnlich [18]. Ein an-deres Beispiel ist die Identifikation von Melanomen. Erste Forschungs-ergebnisse belegen, dass Fotos eines guten Smartphones komplexe

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gibt es in der Psychotherapie, z. B. bei Angststörungen wie Flugangst [21]. Studien belegen, dass teilweise die virtuelle Exposition im Vergleich zur In-vivo-Exposition nachhaltiger wirkt [22]. Des Weiteren wird der Aufwand für Therapeut und Patient minimiert [2]. Andere Anwendungs-gebiete finden sich in der Neurolo-gie zur Behandlung von multipler Sklerose [23] und Alzheimer [24] oder in der Nachsorge bei Schlagan-fallpatienten [25]. Weitere klinische Studien zur medizinischen Evidenz und sinkende Hardwarekosten wer-den Virtual Reality den Weg in den medizinischen Alltag ebnen [2].

Ausblick auf die Digitalisierung in der Medizin

Es wird uns dank dem Einsatz digi-taler Technologien in der Medizin besser gehen. Weitere klinische Va-lidierung liefert die nötige Evidenz für ihren Einsatz. Die Gesetzgeber werden auf diese Entwicklung mit eindeutigen Zulassungsverfahren reagieren. Somit wird der Sorge um den Datenschutz Rechnung getra-gen, da nur seriöse Produkte auf den Markt gelangen. Wir erhalten bessere Diagnosen und eröffnen uns virtuelle, individualisierte Therapi-emöglichkeiten. Patienten werden selbstständiger agieren und mehr Eigenverantwortung tragen. Für den Arzt-Patienten-Kontakt bleibt mehr Zeit, wenn es nötig und sinnvoll ist [2]. KontaktDr. med. Stefan Becker, M.B.A.Klinik für NephrologieUniversitätsklinikum EssenHufelandstr. 5545147 [email protected]

medizinische Bildaufnahmen ersetzen. Hautkrebs kann so mittels künstlicher Intelligenz diagnosti-ziert werden [19]. Deep Learning hält ebenfalls Einzug in der Patho-logie: Eine jüngst publizierte Arbeit demonstrierte Daten eines Systems, das die automatisierte Erkennung von Glomeruli und Zuordnung von Pathologien erlaubt [20].

Im Bereich der Dialyse ist von industriellen Anbietern bekannt, dass sie systematisch mit ähnlichen Instrumenten ihre Datenbestände analysieren. Dabei werden Algorith-men entwickelt, die es erlauben bei Patienten Vorhersagen zu machen hinsichtlich möglicher Komplika-tionen an der Dialyse. Die Überle-gungen gehen soweit, nicht nur die Patienten mit bestimmten Proble-men zu identifizieren, sondern ggf. auch automatisiert und individuali-siert Therapievorschläge zu machen. Wie solche Systeme in die klinische Realität integriert werden können und wie effektiv diese sind, bleibt abzuwarten.

Die medizinische Versorgung kann sich durch diese Art von Software in zweierlei Hinsicht verbessern. Eine automatisierte Zweitmeinung sorgt für mehr Qualitätskontrolle. Darüber steht dem Arzt mehr Zeit zur Verfügung für das Patientenge-spräch. Die Diagnose wird sicherer und der Arzt hat genügend Zeit, dem Patienten den Umgang mit der Diagnose zu erklären [2].

Virtual Reality

Virtual Reality (VR) ist ein weiteres Gebiet, das in der medizinischen Forschung und Versorgung an Be-deutung gewinnt. Anwendungsfälle

Literatur[1] Rohatgi R, Ross MJ, Majoni SW. Telenephrology: current perspectives and future directions. Kidney Int 2017; 92(6): 1328-33[2] Müschenich M, Wamprecht L. Ge-sundheit 4.0 – Wie gehts uns denn mor-gen? Bundesgesundheitsblatt, Springer 2018 https://doi.org/10.1007/s00103-018-2702-6. Zugegriffen: 11.05.2018[3] WinFuture (2009) Nintendos Game Boy feiert seinen 20. Geburtstag. http://winfuture.de/news,46647.html. Zuge-griffen: 11.05.2018[4] Ganguin S, Hoblitz A. High Score & High Heels –Berufsbiografien von Frauen in der Games-Industrie. 2014 Springer VS, Wiesbaden, S. 229[5] Spiegel Online (2015) 25 Jahre Gameboy in Deutschland: Matsch-Screen statt Touchscreen. http://www.spiegel.de/fotostrecke/25-jahre-game-boy-in-deutschland-fotostre-cke-130710-3.html. Zugegriffen: 11.05.2018[6] Cult of Mac (2011) What is the iPad’s killerapp? The app store. https://www.cultofmac.com/93894/what-is-the-ipads-killer-app-the-appstore/. Zugegriffen: 11.05.2018[7] Chang S, Lee H, Middleton C (2003) The deployment of broadband Internet in Australia: areas for attention and implications from Canada and Korea. International Telecommunications Society Asia-Australasian Regional Conference, Perth. http://digital.library.ryerson.ca/islandora/object/RULA%3A88. Zugegriffen: 11.05.2018[8] Dialog Consult/VATM (2015) 17. TK-Marktanalyse Deutschland 2015, S. 30[9] Süddeutsche Zeitung (2016) Whats-app hat mehr als eine Milliarde Nutzer. http://www.sueddeutsche.de/digital/messenger-whatsapphat-mehr-als-eine-milliarde-nutzer-1.2845262. Zugegrif-fen: 11.05.2018

[10] Potts HW. Is e-health progressing faster than e-health researchers? J Med Internet Res 2006; 8(3): e24[11] Weizenbaum J. ELIZA–a compu-ter program for the study of natural language communication between man and machine. Commun ACM 1966; 9(1): 36-45[12] GYANT.com Inc. (2017) Startseite. http://gyant.com/deutsch/. Zugegriffen: 11.05.2018[13] Youtube Kanal von KSVN TV (2016) Pascal Zuta demos @I_AM_GY-ANT @SFNewTech on 14 Dec2016 #SFNT. https://www.youtube.com/watch?v=D7qhCXFDBw0. Zugegriffen: 11.05.2018[14] Sensely UK Limited (2017) Intro-ducing ‘Ask NHS’ powered by Sensely. http://www.sensely.com/asknhs/. Zuge-griffen: 11.05.2018[15] Sharma K, Rupprecht C, Caroli A et al. Automatic Segmentation of Kidneys using Deep Learning for Total Kidney Volume Quantification in Au-tosomal Dominant Polycystic Kidney Disease. Sci Rep 2017; 7(1): 2049

[16] Vivanti R, Szeskin A, Lev-Cohain N et al. Automatic detection of new tumors and tumor burden evaluation in longitudinal liver CT scan studies. Int J Comput Assist Radiol Surg 2017; 12(11): 1945-57[17] Ben-Cohen A, Klang E, Diamant I et al. CT image-based decision support system for categorization of liver meta-stases into primary cancer sites. Acad Radiol 2017 https://doi.org/10.1016/j.acra.2017.06.008. Zugegriffen: 11.05.2018[18] Cha KH, Hadjiiski L, Chan H-P et al. Bladder cancer treatment response assessment in CT using radiomics with deep-learning. Sci Rep 2017; 7(1): 8738 [19] Esteva A, Kuprel B, Novoa R et al. Dermatologist-level classification of skin cancer with deep neural networks. Nature 2017; 542:115–118[20] Simon O, Yacoub R, Jain S et al. Multi-radial LBP Features as a Tool for Rapid Glomerular Detection and Assessment in Whole Slide Histopatho-logy Images. Sci Rep 2018; 8(1): 2032[21] Efrat C, Asaf C, Michal L et al. A

Schwerpunktthema Schwerpunktthema

novel treatment of fear of flying using a large virtual reality system. Aerosp Med Hum Perform 2016; 87(4):411-16[22] Bouchard S, Dumoulin S, Robil-lard G et al. Virtual reality compared with in vivo exposure in the treatment of social anxiety disorder: a threearm randomized controlled trial. Br J Psych-iatry 2017; 210(4): 276-83[23] Kalron A, Fonkatz I, Frid L et al. The effect of balance training on pos-tural control in people with multiple sclerosis using CAREN virtual reality system: a pilot randomized controlled trial. J Neuroeng Rehabil 2016; 13:13[24] Serino S, Pedroli E, Tuena C et al. A novel virtual reality-based traning protocol for enhancement of the “men-tal frame syncing” in individuals with alzheimer’s diseases: a development-of-concept trial. Front Aging Neurosci 2017; 9: 240[25] Pedeira da Fonseca E, Ribeiro da Silva NM, Pinto EB. Therapeutic effect of virtual reality on post-stroke pati-ents: randomized clinical trial. J Stroke Cerebrovasc Dis 2017; 26(1): 94-100

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Schwerpunktthema

NEUE ARBEITSZEITMODELLE IN DER NEPHROLOGIE

SYLVIA STRACKE

Prof. Dr. Sylvia Stracke

Universitätsmedizin Greifs-

wald, Klinik für Innere

Medizin A,

Bereich Nephrologie,

KfH-Nierenzentrum

Greifswald

Abstract: Ab 2030 wird jede fünfte ärztliche Stelle unbesetzt bleiben. Umfragen ergeben, dass familien-bewusste Arbeitsstrukturen der wichtigste Attraktivitätsfaktor für den Beruf als Ärztin und als Arzt sind. Nephrologie in Klinik und ambulanter Versorgung hängt zu-künftig davon ab, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Lebensziele hier ver-wirklichen können. Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit ist ein politisches Ziel der Bundesre-gierung, Indikatoren sind „Gender Pay Gap“ und „Gender Care Gap“. Der nötige Kulturwandel zeigt sich vor allem beim Modell der Teilzeit-arbeit in Führungspositionen und als selbständig Niedergelassene in der ambulanten Nephrologie. Beruf und Familie ist ein Innova-tions-thema.

Abstract: From 2030 onwards, one in five jobs for physicians will remain vacant. Surveys have shown that family-oriented work structures are the most important factor for the attractiveness of the physician’s profession. Nephrology in hospitals and outpatient care will depend in future on physi-cians being able to realize their goals in life. The reconcilability of work and private care is a policy objective of the Federal German government, with gender pay gap and gender care gap being the key indicators. The cultural change

that is needed is manifested above all in the model for part-time work in leadership positions and as self-employed physicians in outpatient nephrological practice. Combining profession and family life is an area where innovations are called for.

Gründe für neue Arbeitszeitmo-delle in der Nephrologie – partner-schaftliche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit

Laut einer Studie des Wirtschafts-forschungsinstituts WifOR und PricewaterhouseCoopers aus dem Jahr 2010 werden ab 2020 jede zehnte und ab 2030 jede fünfte ärztliche Stelle unbesetzt bleiben [1]. Eine Umfrage des Hartmann-bundes von 2012 [2] und eine weitere des Marburger Bundes von 2017 [3] ergaben, dass familienbe-wusste Arbeitsstrukturen der wich-tigste Attraktivitätsfaktor für den Beruf als Ärztin und als Arzt sind. In der Umfrage des Hartmannbun-des nennen 85% die Unterstützung von Familie und Beruf und 78% ge-regelte Arbeitszeiten als wichtigste Faktoren [2]. In der Umfrage des Marburger Bundes hielten 71% der Befragten mehr Zeit für Privat-/Familienleben für „sehr wichtig“ (40%) oder „am wichtigsten“ (31%). Knapp zwei Drittel (60%) beklag-ten, dass ihnen nicht ausreichend Zeit für ihr Privat- bzw. Famili-enleben bleibe, und 70% gaben an, dass ihr Arbeitgeber nicht ausreichend Möglichkeiten bietet, Familie und Beruf zu vereinbaren (z.B. durch flexible Arbeitszeiten und Kinderbetreuung) [3]. Die hohen Prozentangaben in beiden Umfragen machen deutlich, dass die vorgetragenen Wünsche nach Änderungen der Arbeitskultur

nicht ausschließlich durch Frauen, sondern ebenso durch Männer getragen sind. Der steigende Fachkräfteman-gel macht eine familienbewusste Arbeitswelt zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor sowohl aus Sicht der Kliniken als auch aus Sicht der ambulant tätigen Neph-rologinnen und Nephrologen. Die demografische Entwicklung und neue Lebensmodelle der Menschen sind Gründe für den Wandel.

In der Nephrologie sind neue Arbeitszeitmodelle also deshalb nötig, weil sie in der Gesamtgesell-schaft nötig sind, weil die Arbeits-wirklichkeit der Menschen nicht mehr ihrer Lebenswirklichkeit entspricht. Ein wichtiges Argu-ment für neue Arbeitszeitmodelle ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – von Erwerbs- und Sor-gearbeit, wie es im zweiten Gleich-stellungsbericht der Bundesregie-rung für die 18. Legislaturperiode heißt. Neben der „Gender Pay Gap“ existiert auch eine „Gender Care Gap“, welche die ungleiche Vertei-lung der unbezahlten Sorgearbeit beschreibt und einen Haupthinde-rungsgrund für die Vereinbarkeit darstellt. Die Bundesregierung nennt als Leitidee für das Gutach-ten [4], eine Gesellschaft anzustre-ben, in der Frauen und Männer die gleichen Verwirklichungschancen haben. Gleichzeitig erkennt sie an, dass dies aktuell noch nicht der Fall ist. Die Bundesregierung möchte Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass eine partner-schaftliche Verteilung sowohl der Erwerbs- als auch der Sorgearbeit für Frauen und Männer gleicher-maßen attraktiv ist [4]. Für die Zielerreichung werden gleichstel-

lungspolitisch relevante Indika-toren genannt, anhand derer die Wirksamkeit politischer Maßnah-men überprüft werden kann (siehe Tabelle 1).

Das Gutachten enthält auch ver-schiedene zeitpolitische Vorschläge wie die Einführung einer Wahlar-beitszeit, eine öffentliche Debatte über Vorstellungen von Vollzeit, die Einführung einer Vaterschafts-freistellung, die Einführung einer Familienarbeitszeit, erweiterte Freistellungsoptionen für pflegen-de Angehörige und den grundle-genden Ansatz von Zeitbudgets für Sorgearbeit. Die Idee eines Zeit-budgets beinhaltet, dass diejeni-gen, die sich ein solches Zeitbudget erarbeitet haben, später selbst ein Anrecht haben, es zurückzuerhal-ten, also z.B. selbst unterstützt zu werden, dann von jemandem, der sich selbst noch ein eigenes Zeit-budget erwerben möchte.

Die Sachverständigenkommission, die mit der Erstellung des Gutach-tens [4] beauftragt wurde, schlägt weiterhin einen Anspruch auf öffentliche Förderung von Zeitbud-gets dann vor, wenn Einkommens-verluste zu kompensieren sind, die auf gesellschaftlich notwendige Sorge für andere Personen zurück-geht.

In der Nephrologie müssen wir uns also sowohl Gedanken um die Erwerbs- als auch um die Sorgear-beit machen bzw. müssen in unsere Überlegungen zu neuen Arbeits-zeitmodellen beides mit einbezie-hen. Aktuell glauben Ärztinnen nicht daran, dass sie im Beruf als Ärztin dieselben Verwirklichungs-chancen haben wie Männer als

Ärzte. Sie glauben, dass nach wie vor eine fehlende Bereitschaft zur Veränderung eingespielter Struktu-ren vorherrsche, starre und fami-lienunfreundliche Arbeitsbedin-gungen und Hierarchiestrukturen vorliegen und dass unverändert auf traditionelle Rollenmuster zurück-gegriffen wird [5].

Nephrologie auf dem Prüfstand der Ärztinnen und Ärzte – „work life balance“ und Burnout

Bei einer US-amerikanischen Umfrage aus dem Jahr 2016 unter Nephrologinnen und Nephrolo-gen, die über 55 Jahre alt waren, fand sich zunächst scheinbar kein Anhalt für Besorgnis [6]: 94% der über 55-jährigen Nephrologinnen und Nephrologen berichteten über eine gute Gesundheit. Eine andere Umfrage, die alle Altersgruppen umfasste, zeichnete jedoch ein an-deres Bild [7]: 50% der Nephrologin-nen und Nephrologen berichteten Symptome eines Burnouts (höchste Werte bei der Notfallmedizin 59%; geringste Werte bei der Psychia-trie mit 42%). Als Symptome für Burnout galten Verlust an Freude bei der Arbeit, zynische Gefühle, Gefühl eines geringen Grades an persönlicher Leistungserfüllung. Nur 26% der Nephrologen und 23% der Nephrologinnen waren bei der Arbeit glücklich. Generell stieg das Risiko für Burnout-Symptome bei Tätigkeiten in freier Praxis und bei häufiger direkter Patientenversor-gung – vor allem bei akuten oder komplexen Erkrankungszuständen. Diese Faktoren finden sich häufig in der Nephrologie: über 93% der Nephrologinnen und Nephrologen sind klinisch aktiv und ca. 40% in freier Praxis tätig. Auch der öko-

nomische Druck, die zunehmende Bürokratie, Erfüllung und Doku-mentation der Qualitätsstandards, ungünstige Randarbeitszeiten in der Dialyse (früher Arbeitsbe-ginn und spätes Arbeitsende) und schließlich der Verlust an eigenen Gestaltungs- und Einflussmöglich-keiten durch Industrialisierung der privaten Dialysen begünstigen Burnout-Situationen [8]. 30% der Nephrologinnen und Nephrologen erwogen in der Umfrage von 2016 [6] trotz berichteter guter Gesund-heit eine Teilzeittätigkeit.

Neue Arbeitszeitmodelle sind also nötig sowohl aufgrund von Verän-derungen der Arbeitswelt als auch aufgrund von Veränderungen der persönlichen Lebensgestaltung im partnerschaftlichen Ansatz.

Neue Arbeitszeitmodelle in der Klinik

Die Deutsche Krankenhausge-sellschaft (DKG) empfiehlt, dass Beschäftigte ihre Vertragsarbeitszeit rückholbar lebensphasenorientiert im vollzeitnahen Bereich variieren können [9]. Dienstzeiten sollen so verlässlich und planbar wie mög-lich ausgestaltet werden. Bei der Abdeckung der Besetzungsanfor-derungen gilt es, zeitliche Gestal-tungsspielräume in Teamabsprache und auf Basis eines fortlaufenden Ausgleichs von Geben und Neh-men zu eröffnen. In der klinischen Medizin wurden im Verbundprojekt TransferGenderMed an den Univer-sitäten Leipzig, Lübeck und Ham-burg neue Arbeitszeitmodelle in die Praxis umgesetzt [10]. Prinzipiell stehen folgende Arbeits-zeitmodelle und Vorgehensweisen zur Verfügung:

Schwerpunktthema

Page 4: ZUKUNFT DER DIGITALEN NEPHROLOGIE · Changer“ in der Medizin Der Durchbruch der digitalen Me-dizin auch für die Nephrologie steht also noch bevor. Sie wird das Ge-sundheitswesen

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Verlässliche Dienstzeiten sowie Flexi-DiensteWichtig ist, dass Ärztinnen und Ärzte pünktlich und ohne schlech-tes Gewissen nach Dienstende gehen können. In Abhängigkeit vom Umfang der Flexibilitätsanforde-rungen können vorab sog. „Flexi-Dienste“ in einer gewissen Bandbrei-te und Zeitumfang definiert werden und es kann dann kurzfristig verkürzt oder verlängert gearbeitet werden. Die für einen Flexi-Dienst eingeteilten Beschäftigten können sich darauf einstellen, ggf. länger zu arbeiten, während alle anderen zuverlässig pünktlich nach Hause gehen können.

Stand-by-DiensteDiese ermöglichen einen kurzfristig höheren Bedarf oder unvorherge-sehene Personalausfälle geplant zu kompensieren und für möglichst viele Beschäftigte stabil arbeitsfreie Tage sicherzustellen.

VertrauensarbeitszeitVertrauensarbeitszeit kann für Beschäftigte eingesetzt werden, die in der Gestaltung ihrer Arbeit individuelle Spielräume haben – zum Beispiel bei Oberärztinnen und Oberärzten, die pauschal vergütet werden und bei denen der Arbeitgeber auf die Kontrolle der Einhaltung der Vertragsarbeitszeit verzichtet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen ihre Ver-tragsarbeitszeit eigenverantwortlich und können flexibel beginnen und beenden und zum Teil auch von zu Hause Arbeiten erledigen.

Team-Servicezeiten/ModulsystemeBei diesem Modell formuliert die Führungskraft die zunächst

unpersonalisierten Besetzungs-anforderungen und die Teammit-glieder schreiben den Dienstplan dann selbst und stimmen dazu ihre individuelle Arbeitszeitverteilung untereinander ab. Der Besetzungs-bedarf kann in einem Modulsystem im Dienstplan vorgegeben werden. Die Module können unterschied-lich lang sein, z.B. zwei oder vier Stunden. Die Beschäftigten können so die Länge ihrer Tagesarbeitszeit variieren.

AbwesenheitsplanungAbwesenheitsplanung bedeutet die verlässliche Planung arbeitsfreier Tage. Abwesenheitszeiten sollen in unterschiedlichen Stufen und Wer-tigkeiten geplant werden. Auf die Urlaubs- und Dienstreisen/ Fort-bildungsplanung folgt zumeist die Planung anderer arbeitsfreier Tage. Auch die Minimal- und Maximal-abwesenheiten pro Tag müssen für das Team definiert werden, um eine verlässliche, gleichmäßige Beset-zung im Jahresverlauf zu gewähr-leisten.

WahlarbeitszeitBei Wahlarbeitszeitmodellen können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Vertragsarbeitszeit innerhalb einer festgelegten Band-breite (zumeist zwischen 75 bis 100% der Vollarbeitszeit) ohne An-gabe von Gründen frei wählen – mit vorher bestimmten Fristen immer wieder neu, so dass in jeder Lebens-phase den wechselnden Zeitbedürf-nissen Rechnung getragen werden kann. Als zumeist vollarbeitszeit-nahes Modell ist Wahlarbeitszeit sowohl für weibliche als auch für männliche Beschäftigte und auch für Führungskräfte beiderlei Ge-schlechts interessant.

SabbaticalSabbaticals werden zumeist zwi-schen einem und sechs Monaten realisiert und eingesetzt z.B. für den Schulbeginn eines Kindes, für die vorübergehende Pflege einer oder eines Angehörigen oder für eine längere Fortbildung. Das Arbeitsver-hältnis bleibt aufrechterhalten. Die Zeiten für ein Sabbatical können über längere Zeit angespart werden. Bespielhaft seien hier Mehrarbeit im Rahmen von Teilzeitarbeitsverhält-nissen, Entnahme aus einem Lang-zeitarbeitskonto oder unbezahlter Urlaub genannt. Bei Sabbaticals ist das Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absi-cherung flexibler Arbeitszeitregelun-gen (Flexi-II-Gesetz) zu beachten.

Individuelle Jahresarbeitszeit-kontingenteDieses Modell ist interessant für Beschäftigte, die im Jahresverlauf (meist aus familiären Gründen/ für Sorgearbeit) über unterschiedliche Zeitbudgets verfügen. Die Vertei-lung der Arbeitszeitkontingente wird individuell zwischen Mitarbei-terin bzw. Mitarbeiter und Klinik vereinbart.

Teilzeitarbeit in FührungspositionenTeilzeitarbeit in Führungspositio-nen ist noch innovativ und wenig verbreitet. Prinzipiell sind hier die Modelle des Jobsharings („Top-Sha-ring“) und sog. qualifizierte Vertre-tungsregelungen zu nennen. Der nötige Kulturwandel zeigt sich vor allem bei diesem Modell der Teil-zeitarbeit in Führungspositionen. Beruf und Familie ist kein Problem-, sondern ein Innovationsthema. Ein aktuelles Beispiel findet sich im Deutschen Ärzteblatt 2018 [11]: Die

Schwerpunktthema

Würzburger Universität besetzte den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin mit zwei Professorinnen, die sich seit Januar 2018 die Aufgaben in Forschung und Lehre teilen.

VäterbeauftragteEinen Väterbeauftragten gibt es z.B. an der Universitätsklinik Essen. Seine Aufgabe umfasst die Beratung und Unterstützung von Männern, die Sorge- und Familienarbeit leis-ten möchten. Viele Väter sehen dies als wesentlichen Teil ihrer Lebens-gestaltung an, finden aber häufig nicht das Unternehmensklima vor, welches ihnen die Teilhabe an der Sorgearbeit nachteilsfrei ermöglicht. Solange dieser Wunsch, den Väter vorbringen, nicht akzeptiert und verwirklichbar wird, kann keines der oben genannten Arbeitszeitmodelle sinnvoll umgesetzt werden. Neue Arbeitszeitmodelle betreffen nicht exklusiv Frauen. Auch der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesre-gierung sieht beide Geschlechter im Fokus. Ziel ist eine geschlechterge-rechte, mit politischen Maßnahmen flankierte und unterstützte Auftei-lung von Erwerbs- und Sorgetätig-keit.

Neue Arbeitszeitmodelle in der ambulanten Nephrologie

Seit Inkrafttreten des Vertragsarzt-rechts-Änderungsgesetzes im Jahr 2007 sind die Arbeitsmöglichkeiten auch in der ambulanten Nephrolo-gie vielfältiger und die Niederlas-sungsoptionen breiter geworden. Neben der klassischen Einzelpraxisgibt es immer mehr Praxisformen, die eine stärkere Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen oder eine Tätigkeit an mehreren Standorten erlauben. Auch eine Tätigkeit in Teil-

zeit oder im Angestelltenverhältnis ist möglich. Die folgenden Informa-tionen sind der Seite der Kassenärzt-lichen Bundesvereinigung (KBV) entnommen [12].

Selbständig in der EinzelpraxisEinzelpraxis ist nicht gleichbedeu-tend mit Einzelkämpfertum – zu-mal nicht in der Nephrologie, wo zur Betreuung von chronisch und ter-minal nierenkranken Patientinnen und -patienten zumeist mindestens zwei (häufig auch fünf und mehr) Nephrologinnen und Nephrologen erforderlich sind. Kooperationen sind als (1) Praxisgemeinschaft, (2) Gemeinschaftspraxis oder (3) Job-sharing-Praxis mit Teilzulassungen möglich. Die Übernahme eines Ver-tragsärztinnen- oder Vertragsarztsit-zes verpflichtet dazu, mindestens 20 Stunden wöchentlich für Patientin-nen und Patienten in der Praxis zur Verfügung zu stellen. Arbeitsbeginn und -ende können selbst festgelegt und somit flexibel gestaltet werden. Auch ein freier Tag in der Woche ist möglich. Die Residenzpflicht gilt seit 2011 nicht mehr. Der Wohnort muss nun also nicht mehr so ge-wählt werden, dass die Praxis auch außerhalb der Sprechstundenzeiten in angemessener Zeit zu erreichen ist. Bestimmte Verwaltungsaufga-ben und Dokumentationen müs-sen nicht zwingend in der Praxis, sondern können zum Teil auch von zu Hause ausgeführt werden. Vertragsärztinnen und -ärzte sind zur Teilnahme am ärztlichen Not- bzw. Bereitschaftsdienst verpflichtet, welcher von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) organisiert wird. Die Regelungen unterscheiden sich zwischen den KVen zum Teil deutlich. In Berlin und im Allge-meinen auch in Schleswig-Holstein

kann auf eine Dienstverpflichtung verzichtet werden und die Teilnah-me am Bereitschaftsdienst ist hier freiwillig. In mehreren Bundeslän-dern sind Bereitschaftsdienstpraxen etabliert. Aus schwerwiegenden Gründen kann auch ganz, teilweise oder vorübergehend eine Freistel-lung von den Bereitschaftsdiensten erfolgen. Nach der Geburt eines Kindes können sich Mütter und Väter für bis zu 36 Monate befrei-en lassen. In der Schwangerschaft erfolgt ebenfalls eine Befreiung von den Diensten. Um als Selbständige oder Selbstän-diger nach einer Pause wieder in den Beruf einsteigen zu können, ist das Ruhen der Zulassung eine Mög-lichkeit. Auch ein hälftiges Ruhen der Zulassung ist möglich. In dieser Zeit können dann keine bzw. nur in einem hälftigen Umfang vertrags-ärztliche Leistungen erbracht und abgerechnet werden. Nach der Geburt eines Kindes haben Eltern die Möglichkeit, sich für bis zwölf Monate in der eigenen Praxis vertreten zu lassen. Für die Erzie-hung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen kann zeitlich befristet für bis zu 36 Monaten eine Entlastungsassistentin bzw. ein Entlastungsassistent beschäftigt werden. Die Genehmigung erteilt die jeweilige KV. Das 2007 von der Bunderegierung eingeführte Eltern-geld wird an Mütter und Väter für maximal 14 Monate gezahlt. Beide können den Zeitraum frei unterein-ander aufteilen. Auch wer nach der Geburt des Kindes wieder arbeitet, hat Anspruch auf Elterngeld, wenn die Teilzeittätigkeit nicht mehr als 30 Wochenstunden in Anspruch nimmt. Als Berechnungsgrundlage für das Elterngeld gilt bei Selbstän-digen der letzte Steuerbescheid als

Schwerpunktthema