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354 9. Zurn Mechanismus elektrochemischer Vorgdnge; von Max Reinyawnurn. Eine vorhergehende Arbeit beschaftigte sich damit, den Abstand der Ionenladungen auf den Molekulen der GroBen- ordnung nach zu bestimmen. Hierbei wurde die vereinfachende Annahme eingefiihrt , daB jedes Molekul nur eii Ladungspaar enthalte. DaB diese Annahme nur fur bestimmte Zwecke zulassig ist und in gewissen anderen Fallen versagt, sol1 an dieser Stelle kurz gezeigt werden. Nach v. Helmholtz, welcher derartige Betrachtungen zu- erst einfuhrte, sind die Atome eines Salzsauremolekiiles durch eine positive und eine negative Ladung miteinander verbunden. l) Aufliisung der Salzsaure in Wasser bewirkt Dissoziation eines Teiles der Molekule in H und 61 (Arrhenius). Die Elektro- lyse wird von v. Helmholtz so aufgefaBt, daS von den Wasser- stoff ionen, welche nach der Kathode wandern, nur die Halfte ihre Ladungen abgibt, und dafur negative Ladungen empfangt. Diese nunmehr negativ geladenen Wasserstoffionen vereinigen sich mit den positiv gebliebenen zu neutralem Wasserstoff von der Konstitution HH. In analoger Weise wird an der Kathode ClCl gebildet. Will man sich den KreisprozeB ver- vollstandigt denken, so kann man noch die beiden gasformigen + +- +- Produkte aufeinander wirken lassen, wobei sich geht: hH + 6161 = 2&1. Diese Auffassung, nach der nur die die Umsetzung vor Halfte der Ionen ihre Ladungen abgibt, wird wohl allgemein fur wenig be- friedigend gehalten. Dies tritt noch mehr hervor, wenn 1) H. v. Helmholtz, Vorlesungen iiber theoretische Physik 6. p. 319-321. Leipzig 1897.

Zum Mechanismus elektrochemischer Vorgänge

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9. Zurn Mechanismus elektrochemischer Vorgdnge; von Max Reinyawnurn.

Eine vorhergehende Arbeit beschaftigte sich damit, den Abstand der Ionenladungen auf den Molekulen der GroBen- ordnung nach zu bestimmen. Hierbei wurde die vereinfachende Annahme eingefiihrt , daB jedes Molekul nur e i i Ladungspaar enthalte.

DaB diese Annahme nur fur bestimmte Zwecke zulassig ist und in gewissen anderen Fallen versagt, sol1 an dieser Stelle kurz gezeigt werden.

Nach v. He lmho l t z , welcher derartige Betrachtungen zu- erst einfuhrte, sind die Atome eines Salzsauremolekiiles durch eine positive und eine negative Ladung miteinander verbunden. l) Aufliisung der Salzsaure in Wasser bewirkt Dissoziation eines

Teiles der Molekule in H und 61 (Arrhenius) . Die Elektro- lyse wird von v. He lmho l t z so aufgefaBt, daS von den Wasser- stoff ionen, welche nach der Kathode wandern, nur die Halfte ihre Ladungen abgibt, und dafur negative Ladungen empfangt. Diese nunmehr negativ geladenen Wasserstoffionen vereinigen sich mit den positiv gebliebenen zu neutralem Wasserstoff von der Konstitution HH. I n analoger Weise wird an der

Kathode ClCl gebildet. Will man sich den KreisprozeB ver- vollstandigt denken, so kann man noch die beiden gasformigen

+

+ - + -

Produkte aufeinander wirken lassen, wobei sich geht:

hH + 6161 = 2&1.

Diese Auffassung, nach der nur die

die Umsetzung vor

Halfte der Ionen ihre Ladungen abgibt, wird wohl allgemein fur wenig be- friedigend gehalten. Dies tritt noch mehr hervor, wenn

1) H. v. Helmholtz , Vorlesungen iiber theoretische Physik 6. p. 319-321. Leipzig 1897.

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man versucht , nach dieser Vorstellung die Elektrolyse eines Metallsalzes zwischen Elektroden desselben Metalles zu be- schreiben. Hier ist es vie1 einfacher anzunehmen, daB alle Metallionen ihre positiven Ladungen an der Kathode abgeben, und an der Anode sich ebensoviele positiv geladene Metall- ionen losen, wahrend die Anionen ihre Ladungen ungeandert behalten. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, daB die Elek- trolyse in diesem und dem vorher betrachteten Falle in prin- zipiell so ganz verschiedener Weise vor sich gehen sollte.

Diese Schwierigkeiten verschwinden, wenn wir dem Salz- sauremolekul nicht ein, sondern zwei Ladungspaare zuschreiben.

Die Dissoziation im Wasser ist dann aus dem Grunde eine elektrolytische, weil entweder eine positive Ladung von dem Chloratom auf das Wasserstoffatom, oder eine negative Ladung von dem Wasserstoffatom auf das Chloratom iiber- gegangen ist. Letzterer Fall ist der wahrscheinlichere, da sowohl aus der Elektrizitatsleitung der Metalle, wie aus dem Zeeman- phanomen und der Kathodenstrahlung bekannt ist, daB negative Ladungen von den Metallatomen weniger festgehalten werden.

Hiernach liege sich die Gleichung der elektrolytischen Dissoziation schreiben :

+- +- H C l = h +bT

Die Elektrolyse besteht jetzt darin, dal3 alle sich aus- scheidenden Chlorionen ihre uberzahligen negativen Ladungen

abgeben und sich gasfiirmiges C1 C1 bildet. An der Kathode wird die gleiche Zahl negativer Ladungen

von dem Metall an die Wasserstoffionen H abgegeben, sodaB

gasformiger H H ent5teht.l) Der KreisprozeB wird durch die Reaktion vervollstandigt:

+- +-

+ +- +-

+-+- +-+- -I-+- H H + C1Cl = 2 H C1.

1) Das Wesentliche der ErklSruug bleibt offenhar bestehen, wenn nur das Wasserstoffmolekul (mindestens) zwei Ladungspaare enthalt. Dann kommt man fur das HC1-Molekiil mit einem Ladungspaar aus, nnd hatte dem C1, - Molekul uberhaupt kein Lsdungspaar zuzuschreiben. Unsere Festsetzung, daB auch das Chlor Ladungspaare enthalt, also HC1 mindestens ewei Ladungspaare besitzt, geschieht im Sinne der vorhergehenden Arbeit.

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Die Elektrolyse von Silbernitrat zwischen Silberelektroden

wiirde in folgender Weise zu denken sein. Die NO,-Tonen geben an der Anode ihre uberzahligen negativen Ladungen ab.

An der Kathode erhalten die Ag-Ionen negative Ladungen und

scheiden als festes Ag aus. Ferner verbinden sich an der

Anode die hier restierenden NO,-Gruppen mit den Ag-Atomen

der Elektrode zu Silbernitrat AgNO, und gehen, sich zum Teil sogleich elektrolytisch dissoziierend, in die Losung.

Es laBt sich also jetzt die Elektrolyse bei Ausscheidung der Produkte und bei AuflGsung einer Elektrode von dem- selben einfachen Gesichtspunkte aus betrachten.

Unsere Vorstellung lafit sich aber noch in anderer Hin- sicht vervollstandigen.

Verbindungen zwischen Metallen und Metalloiden oder zwischen Basen und Sauren zeigen bekanntlich Eigenschaften, welche den beiden Komponenten vorher nicht zukamen, weshalb diese Verbindungen, im Gegensatz zu denen der Metalle oder Nichtmetalle unter sich , als die eigentlichen chemischen Ver- bindungen betrachtet werden.

Es liegt nun nahe anzunehmen, daB der Ubergang der negativen Ladung von der Basis zur Saure nicht erst im Augenblick der Dissoziation stattfindet, sondern schon in dem neutralen Molekul vor sich gegangen ist. Die Dis- soziationsgleichung des Salzsauremolekules ist dann genauer zu schreiben:

f =

f

f -

f - +- +- f -

f = f + =+ HC1= H + C1

und allgemein, wenn wir mit B die Basis und mit S die Saure bezeichnen:

+ f = f =+ B S = B + S .

Es ist also deshalb die Dissoziation eine elektro{ytische, weil der ii6ergang der negativen Ladung schon auf dem neutralen Molekul stattgefunden hat.

Dies erklart uns dann, weshalb diese Verbindungen nicht mehr die speziellen Eigenschaften der Metalle zeigen. Denn

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letztere werden, namentlich in optischer und elektrischer Hin- sicht , sehr wahrscheinlich durch die beweglichen negativen Ladungen bedingt. Diese sind jedoch jetzt auf den negativen Rest iibergegangen.

Qerbindungen von Basen und Sauren sind ferner im all- gemeinen durch besonders groBe Warmetonungen ausgezeichnet. Dieses laBt sich verstehen, wenn der Hauptteil der Warme- tonung in der Arbeit besteht, welche beim Ubergang der negativen Ladung auf den Saurerest gewonnen wird.

Es ware hiernach nur von einer geringen Warmetonung folgender Vorgang begleitet :

+-+- f-t- f- f- H H +ClCl=2HCl ,

wahrend die Hauptwarmetonung der Salzsaurebildung durch den hierauf stattfindenden Vorgang entsteht :

+-+- + = + 2HC1= 2HCl .

Die Affinitat einer Verbindung ist hiernach offenbar als um so groBer zu betrachten, je entschiedener der Ubergang der negativen Ladung stattfindet. Hierfiir ist aber ein MaB die durch den Ubergang gewonnene Arbeit oder (angeniihert) die Warmetonung. Da aber die Gelegenheit zur Bildung einer Ver- bindung nicht nur durch diese zu gewinnende Arbeit , sondern auch durch die Mengenverhaltnisse und die stereochemischen Verhaltnisse bedingt ist, so erklart sich, daB die Warme- tonung zwar in vielen Fallen, aber durchaus nicht immer fur die Bildung einer Verbindung maBgebend ist. Immerhin sehen wir, wie der richtige Kern, welcher, wie auch Nerns t hervor- hebt I), dem sogenannten Prinzip von B e r t h e l o t innewohnt, e rk lk t werden kann.

Es mussen aber auch die Bedingungen der elektrolytischen Dissoziation um so mehr erfiillt sein, j e weitgehender der Ubergang der negativen Ladung auf den Saurerest stattgefunden hat. Es erklart sich also, daB auch die Dissoziationskonstante ein Mag fur die Affinitat sein wird, ein Umstand, welcher be-

1) W. Nernst , Theoret. Chemie 3. Aufl. p. 634-635 und p. 655. Stuttgart 1900.

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kanntlioh die physikalische Chemie von ganz anderem Stand- punkt aus zum quantitativen Vergleich von Affinitaten heran- gezogen hat.

Auch die angenaherte Gleichheit von olektromotorischer Kraft und Wiirmetijnung , welche in vielen Fallen vorhanden ist, la& sich von unserem Standpunkt aus verstehen.

Bei der Elektrolyse der Salzsaure wird die uberzahlige

negative Ladung des C1 durch das Metal1 auf das H-Ion trans- portiert. Es ist also diejenige Arbeit zu leisten, welche wir gemaB der letzten Gleichung in vielen Fallen als gleich der Warmetonung ansehen konnen. Da ferner anzunehmen ist, daB diese Ubergangswiirme der negativen Ladung von der Temperatur ziemlich unabhangig ist, so wird in den Fallen, in welchen die elektromotorische Kraft allein durch diese Ubergangsarbeit gegeben ist , die elektromotorische Kraft un- abhangig von der Temperatur sein.

Dann ist aber auch in der allgemein gultigen Gleichung

i= i

worin E die elektromotorische Kraft, Q die Warmetonung und T die absolute Temperatur bedeutet,

J!$= Q zu setzen, woraus in der Tat streng folgt:

Wo die Gleichheit von E und Q nicht vorhanden ist, ist immer d Eld T von Null verschieden. In diesen Fallen diirften meistens elektromotorische Krafte osmotischer Natur wirksam sein, da osmotische Arbeiten einen Temperaturkoeffizienten besitzen.

Diese Auffassung schlieBt natiirlich nicht aus, daB man, wie es von Nerns t geschehen ist, durch denBegriff der Losungs- tension alle elektromotorischen Kriifte auf osmotische Arbeiten zuruckfuhrt, ein Weg, der auch thermodynamisch begrundet ist.

Dennoch vermag vielleicht die angedeutete Vorstellung niitzliche Gesichtspunkte zu bieten.

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So diirfte es, um ein Beispiel zu geben, aussichtsvoll sein, den EinfluB positivierender und negativierender Radikale auf die Affinitatskonstanten (Dissoziationskonstanten) von dem Stand- punkte aus zu betrachten, ob dieselben auf den Ubertritt der negativen Ladungen hemmend oder begunstigend wirken. Aus den hier an einem reichen Beobachtungsmaterial gefundenen Ge- setzmaBigkeiten l) konnten vielleicht auf diese Weise neue Auf- schliisse iiber den Bau des Molekules erhalten werden. Anderer- seits ist die Frage von Interesse, wie der Ubergang der nega- tiven Ladungen wieder auf die GroBe der Molekularlrrafte zuruckwirkt.

Miinster i. W., November 1902.

1) Vgl. die Ubersicht von W. Nernst , 1. c. p. 468-471.

(Eingegangen 27. November 1902.)