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Zum Rechtsgrund von Versuch und Rücktritt Zum Rechtsgrund von Versuch und Rücktritt Von Professor Dr. Volker Haas, Heidelberg I. Einleitung Die Lehre von Versuch und Rücktritt gehört zu den umstrittensten und unge- klärtesten Kapiteln des Allgemeinen Teils des Strafrechts. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Theorien, die heute insbesondere zum Rechtsgrund des Rücktritts vertreten werden. Schon im 19. Jahrhundert sind entsprechende Kon- troversen geführt worden, wenngleich die Meinungsvielfalt nicht durch jene Unübersichtlichkeit geprägt war, die gegenwärtig zu konstatieren ist. Ziel des Aufsatzes ist es, unter Einbeziehung der Dogmengeschichte zu überprüfen, ob dem geltenden Strafgesetz ein konsistentes Regelungskonzept zugrunde liegt bzw. zugrunde gelegt werden kann, das in der Lage ist, beide Regelungen gerade auch in ihrem Verhältnis zueinander zu erklären. Dabei geht es primär darum, Versuch und Rücktritt als Rechtsfiguren dogmatisch zu erfassen, und nur sekun- där um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Staat überhaupt berechtigt ist, den Versuch unter Strafe zu stellen. Beide Fragestellungen sind sachlich voneinander zu trennen – ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht völlig unabhängig voneinander beantwortet werden können. Die Untersuchung beginnt mit einer Analyse, ob die dogmatische Begrün- dung, die der Gesetzgeber des 1975 in Kraft getretenen 2. Strafrechtsreformge- setzes der Versuchs- und Rücktrittsregelung zugrunde gelegt hat, eine tragfähige Grundlage der §§ 22 ff. StGB bietet. Denn für die Auslegung eines Gesetzes ist in erster Linie der Wille des Gesetzgebers maßgebend. Es gibt keinen objektiven Zweck. Nur sofern der vom Gesetzgeber autorisierte Rechtsgrund einer Vor- schrift inkonsistent sein, der Gesetzgeber ihren Rechtsgrund offengelassen haben sollte oder die tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen, von denen der Gesetzgeber ausgegangen ist, in der Zwischenzeit entfallen sind 1 , ist es metho- disch legitim, der Vorschrift im Wege einer Rekonstruktion nachträglich einen Sinn zu unterlegen. Es wird sich zeigen, dass die Vorstellungen des Gesetzgebers nicht tragfähig oder unvollständig sind, sodass methodisch Anlass besteht, auch auf die gegenwärtig vertretenen gängigen Theorieansätze einzugehen, die von außen an das Gesetz zu seiner Erklärung herangetragen werden. Da jedoch auch diese Einwänden ausgesetzt sind, wird ein Blick auf die Rechtsgeschichte gewor- fen und in Auseinandersetzung mit den so genannten Rechtstheorien ein Vor- schlag unterbreitet, der möglicherweise in der Lage ist, Versuch und Rückritt als Strafbarkeitsvoraussetzungen in sich stimmig zu deuten. Allerdings bedarf es abschließend der kritischen Überprüfung, ob der Vorschlag tatsächlich als schlüs- 1 Die letzte Möglichkeit spielt allerdings im Bereich der §§ 22 ff. StGB keine maßgebliche Rolle. ZStW 123 (2011) Heft 2 Bereitgestellt von | provisional account Angemeldet | 155.69.4.4 Heruntergeladen am | 03.06.14 04:47

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Zum Rechtsgrund von Versuch und RücktrittZum Rechtsgrund von Versuch und Rücktritt

Von Professor Dr. Volker Haas, Heidelberg

I. Einleitung

Die Lehre von Versuch und Rücktritt gehört zu den umstrittensten und unge-klärtesten Kapiteln des Allgemeinen Teils des Strafrechts. Davon zeugen nichtnur die zahlreichen Theorien, die heute insbesondere zum Rechtsgrund desRücktritts vertreten werden. Schon im 19. Jahrhundert sind entsprechende Kon-troversen geführt worden, wenngleich die Meinungsvielfalt nicht durch jeneUnübersichtlichkeit geprägt war, die gegenwärtig zu konstatieren ist. Ziel desAufsatzes ist es, unter Einbeziehung der Dogmengeschichte zu überprüfen, obdem geltenden Strafgesetz ein konsistentes Regelungskonzept zugrunde liegtbzw. zugrunde gelegt werden kann, das in der Lage ist, beide Regelungen geradeauch in ihrem Verhältnis zueinander zu erklären. Dabei geht es primär darum,Versuch und Rücktritt als Rechtsfiguren dogmatisch zu erfassen, und nur sekun-där um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Staat überhauptberechtigt ist, den Versuch unter Strafe zu stellen. Beide Fragestellungen sindsachlich voneinander zu trennen – ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht völligunabhängig voneinander beantwortet werden können.

Die Untersuchung beginnt mit einer Analyse, ob die dogmatische Begrün-dung, die der Gesetzgeber des 1975 in Kraft getretenen 2. Strafrechtsreformge-setzes der Versuchs- und Rücktrittsregelung zugrunde gelegt hat, eine tragfähigeGrundlage der §§ 22 ff. StGB bietet. Denn für die Auslegung eines Gesetzes ist inerster Linie der Wille des Gesetzgebers maßgebend. Es gibt keinen objektivenZweck. Nur sofern der vom Gesetzgeber autorisierte Rechtsgrund einer Vor-schrift inkonsistent sein, der Gesetzgeber ihren Rechtsgrund offengelassen habensollte oder die tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen, von denen derGesetzgeber ausgegangen ist, in der Zwischenzeit entfallen sind1, ist es metho-disch legitim, der Vorschrift im Wege einer Rekonstruktion nachträglich einenSinn zu unterlegen. Es wird sich zeigen, dass die Vorstellungen des Gesetzgebersnicht tragfähig oder unvollständig sind, sodass methodisch Anlass besteht, auchauf die gegenwärtig vertretenen gängigen Theorieansätze einzugehen, die vonaußen an das Gesetz zu seiner Erklärung herangetragen werden. Da jedoch auchdiese Einwänden ausgesetzt sind, wird ein Blick auf die Rechtsgeschichte gewor-fen und in Auseinandersetzung mit den so genannten Rechtstheorien ein Vor-schlag unterbreitet, der möglicherweise in der Lage ist, Versuch und Rückritt alsStrafbarkeitsvoraussetzungen in sich stimmig zu deuten. Allerdings bedarf esabschließend der kritischen Überprüfung, ob der Vorschlag tatsächlich als schlüs-

1 Die letzte Möglichkeit spielt allerdings im Bereich der §§ 22 ff. StGB keine maßgebliche Rolle.

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siges Erklärungsmodell der lex lata herangezogen werden kann oder ob nichtdurchschlagende Bedenken dagegen sprechen.

II. Die gegenwärtig vertretenen Erklärungsansätze zum Versuch

1. Die objektive und subjektive Theorie

Was die dogmatische Erfassung des Versuchsstrafbarkeit anbetrifft, so opponie-ren bekanntlich im Wesentlichen zwei Theorien miteinander: Es ist auf der einenSeite der Skala die subjektive Theorie, die den Strafgrund des Versuchs auf dieBetätigung des rechtsfeindlichen Willens zurückführt2. Und es ist auf der ande-ren Seite der Skala die objektive Theorie, die auf die Gefährdung des Rechtsgutsdurch den Versuch rekurriert3. Diese Gegenüberstellung, die vermittelnde Leh-ren bewusst ausblendet4, lässt sich schon Anfang des 19. Jahrhunderts beobach-ten5: Während Kleinschrod die Versuchsstrafbarkeit allein auf den bösen Willenzurückführte, sofern sich dieser durch äußerliche Handlungen zeigt6, verlangteFeuerbach, dass die Versuchshandlung gefährlich sein müsse. Die Absicht alleingebe keiner Handlung das Merkmal der Rechtswidrigkeit. Die bürgerliche Straf-barkeit setze eine dem äußeren Recht widersprechende Handlung voraus, die dasgeschützte Recht gefährde oder verletze. Andernfalls werde das Moralische mitdem Rechtlichen verwechselt7. Auch Mittermaier war der Auffassung, dass das

2 Spendel, ZStW 65 (1953), S. 129 ff.; ders., NJW 1965, 1881 ff.; ders., Festschrift für Stock, 1966,S. 89 ff.; Hirsch, Festschrift für Roxin, 2001, S. 711, 723 f.; ders., Festschrift für Lüderssen, 2002,S. 257 ff.; ders., JZ 2007, 494 ff.; Weigend, in: Hirsch/Weigend, Strafrecht und Kriminalpolitikin Japan und Deutschland, 1989, S. 113.

3 Fischer, StGB, 57. Aufl. 2010, § 22 Rdn. 2 b; Herzberg, in: Münchener Kommentar, Bd. 1, 2003,Vor § 22 Rdn. 13 ff.; 47 ff.; Hillenkamp, in: LK, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Vor § 22 Rdn. 60 ff.; Kühl,Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2008, § 13 Rdn. 39.

4 Siehe zum Beispiel die auf der Lehre vom Anerkennungsverhältnis beruhende Versuchstheoriebei Rath, JuS 1998, S. 1006, 1008; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1987, S. 126 ff.;ders., Festschrift für Maiwald, 2010, S. 885 ff.; siehe ferner die von Roxin, Festschrift fürNishihara, 1998, S. 157 ff., ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, 2003, § 29 Rdn. 10 ff.,vertretene Vereinigungstheorie, die den Strafgrund des Versuchs sowohl auf die Gefährdungwie auch auf den rechtserschütternden Normbruch im Falle des untauglichen Versuchs zu-rückführt.

5 Siehe Seminara, in: Seminara/Hirsch, Die Versuchslehre im 19. und 20. Jahrhunderts, 2008,S. 4 ff.

6 Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des pein-lichen Rechts, 1. Theil, 3. Aufl. 1805, § 32, S. 74; ebenso Bauer, Lehrbuch des Strafrechts,2. Aufl. 1835, § 70, S. 108; Bar, Zur Lehre vom Versuch und der Theilnahme am Verbrechen,1859, § 2, S. 3; Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, 1. Theil, 1823,§ 40, S. 254; Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 1. Bd., 1827, § 32, S. 216;Köstlin (Anm. 6), § 83 Rdn. 226; Krug, Die Lehre vom Versuche des Verbrechens, 1854, S. 8;Luden, Handbuch des teutschen gemeinen und particularen Strafrechts, 1. Bd., 1847, § 63,S. 379; Schröter, Handbuch des peinlichen Rechts, 1. Bd., 1818, § 82, S. 124; Tittmann, Hand-buch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, 1. Bd., 2. Aufl. 1822,§ 96, S. 190.

7 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 4. Aufl. 1808,

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von der absoluten Straftheorie vorausgesetzte Unrecht in der Gefährlichkeit desVersuchs liege. Nur eine relative Strafgerechtigkeit, die künftigen Ausbrüchenverbrecherischer Neigungen entgegenwirken wolle, könne an das Dasein derbösen Gesinnung anknüpfen8. Die heute herrschende, überwiegend auf general-präventive Erwägungen gestützte Eindruckstheorie, der zufolge die Willensbetä-tigung das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltung der Rechtsordnung er-schüttern und damit das Gefühl der Rechtssicherheit und den Rechtsfriedenbeeinträchtigen muss9, existierte damals als eigener Theorieansatz noch nicht.Man war sich allerdings weitgehend einig, dass es einer äußerlich erkennbarenUmsetzung des Willens bedürfe10. Man hielt eine Störung des Rechtsfriedens füreine unabdingbare Voraussetzung strafbaren Verhaltens. Das nicht nach außentretende forum internum liegt außerhalb staatlicher Regulierungsmacht: cogita-tionis poenam nemo patitur.

Nachdem das Reichsgericht seit seinen Anfängen unter dem Einfluss vonBuris11 der subjektiven Theorie gefolgt war12 – ohne seine Rechtsprechung zuändern, als sich von Liszt als einflussreicher Strafrechtswissenschaftler Ende des19. Jahrhunderts für die objektive Versuchstheorie aussprach13 – und der Bundes-gerichtshof diese Judikatur fortgesetzt hatte14, übernahm schließlich der Gesetz-geber des 2. Strafrechtsreformgesetzes diesen Standpunkt15. So wurde im zwei-ten Bericht des Sonderausschusses die fakultative Strafmilderung als logischeKonsequenz der im neuen StGB ausdrücklich anerkannten subjektiven Ver-suchstheorie bezeichnet16. Im Strafgesetzbuch ist dieser Standpunkt vor allemin der Regelung des § 23 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekommen, der zufolge derRichter beim grob unverständigen Versuch nach seinem Ermessen die Strafe

§ 42, S. 42 ff.; ebenso Abegg, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, 1836, § 96, S. 155; Berner,GS 17 (1865), S. 81, 82; Temme, Lehrbuch des Preußischen Strafrechts, 1853, § 61, S. 283.

8 Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts, 1. Bd. (1817), S. 163, 167 ff.9 Eser, in: Schönke/Schröder, 28. Aufl. 2010, Vor § 22 Rdn. 23; Gropp, Strafrecht Allgemeiner

Teil, 3. Aufl. 2005, § 9 Rdn. 48 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil,5. Aufl. 1996, S. 514 ff.; J. Meyer, ZStW 87 (1975), S. 599, 603, 618; Rudolphi, in: SK StGB, Vor§ 22 Rdn. 14; Schünemann, GA 1986, 309, 323; Streng, ZStW 109 (1997), S. 862, 865; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 40. Aufl. 2010, Rdn. 954; vgl. ferner die von Jakobs,Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 25/15, vertretene Lehre, die das Expressiv-Werdendes Normbruchs für entscheidend erachtet.

10 Bauer (Anm. 6), § 71, S. 109; Geib, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Bd., 1862, § 99,S. 280; Henke (Anm. 6), § 40, S. 254; Luden (Anm. 6), § 65, S. 389; Marezoll, Das gemeinedeutsche Strafrecht, 3. Aufl. 1856, § 33, S. 116.

11 Siehe von Buri, GS 19 (1867), S. 60 ff.; ders., GA 25 (1877), S. 265 ff.; ders., ZStW 1 (1881),S. 185 ff.; ebenso Finger, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1914, § 58, S. 298 ff.; Allfeld,Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 9. Aufl. 1934, Neudruck 1971, § 35, S. 188; § 36, S. 194.

12 RGSt. 1, 439, 441; 8, 198, 223; 17, 158; 38, 423; 42, 92; 47, 189; 49, 20; 50, 35; 58, 303; 60, 138; 70,199; 76, 94, 96.

13 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 3. Aufl. 1888, § 44, S. 191; ebenso Robert vonHippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, 1930, Neudruck 1971, § 20, S. 405.

14 BGHSt. 2, 74, 76.15 Hillenkamp, in: LK (Anm. 3), Vor § 22 Rdn. 60 ff.; ebenso Safferling, ZStW 118 (2006), S. 682,

687, mit einem interessanten Überblick über das europäische Strafrecht und Völkerstrafrecht.16 BT-Drs. V/4095, S. 11.

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mildern oder von Strafe sogar absehen kann. Mehr als bedenklich ist jedoch,wenn als Strafgrund des Versuchs der verbrecherische Wille und damit die Ge-fährlichkeit des Täters anerkannt wurde. Dass mit dieser Formulierung ein täter-strafrechtliches Konzept gemeint war, beweist die Gesetzgebungsgeschichterecht deutlich. Schon die Große Strafrechtskommission hatte mit großer Mehr-heit entschieden, die subjektive Theorie ausdrücklich im StGB zu verankern17.Dabei gründeten jene Mitglieder, die die subjektive Theorie favorisierten – wieinsbesondere Bockelmann, Jescheck und Eb. Schmidt – die Strafwürdigkeit desVersuchs fast durchweg darauf, dass der Täter seine Rechtsfeindschaft, seineGefährlichkeit bzw. seinen kriminell gefährlichen Willen in der Versuchshand-lung dokumentiere oder manifestiere. Lediglich Gallas gab zu bedenken, dasseine derartige symptomatische Verbrechensauffassung zu einem mit einem Tat-strafrecht unvereinbaren Gesinnungsstrafrecht führe18. In der 83. Sitzung desSonderausschusses behauptete jedoch auch der Vertreter des Bundesjustizminis-teriums Corves, dass die subjektive Theorie die im Versuch dokumentierte Ge-fährlichkeit des Täters als tragenden Strafgrund heranziehe. Obwohl der Vorwurfdes Gesinnungsstrafrechts nicht leicht ausgeräumt werden könne, sei nicht zuverkennen, dass kriminalpolitisch das Bedürfnis nach Bestrafung in dem verbre-cherischen Willen des Täters liege19.

Ebenso legte der Entwurf von 1962, der Gegenstand der Beratungen desSonderausschusses war, in seiner Begründung ausdrücklich das Hauptgewichtauf täterbezogene Umstände und wollte daher in erster Linie die Persönlichkeitdes Täters und die Stärke seines gegen die Rechtsordnung gerichteten Willensüber die Strafwürdigkeit des Versuchs entscheiden lassen. Die täterstrafrechtlicheOrientierung wird ebenfalls in den Ausführungen zum irrealen Versuch erkenn-bar. So heißt es im Entwurf von 1962, dass ein Täter, der durch Totbeten oderähnliche abergläubische Machenschaften töten zu können glaube, in der Regel nurdann strafwürdig sei, wenn sein verbrecherischer Wille befürchten lasse, dass ernach dem Fehlschlagen seines ersten Versuchs zu tauglicheren Mitteln greife20.Die Strafwürdigkeit begründet sich also nicht aus dem Verhalten als solchem,sondern erst im Hinblick auf das künftig zu erwartende Verhalten des Delinquen-ten. Die aus der unterstellten Wiederholungsgefahr abgeleitete Gefährlichkeit desVersuchstäters kann jedoch in einem Tat- und Schuldstrafrecht, in dem die Straf-würdigkeit auf der schuldhaft begangenen Tat selbst fußt, nicht ausschlaggeben-der Strafgrund sein.

Angesichts der folglich von Gallas zu Recht abgelehnten gesinnungsstraf-rechtlichen Implikationen dieses Standpunkts, durch den das Strafrecht zu einemtäterorientierten Maßregelrecht mutieren würde21, ist es gewiss vorzugswürdig,

17 Siehe Corves, Sonderausschuss Protokolle V, S. 1652.18 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd., 1958, S. 171 ff.19 Siehe Sonderausschuss Protokolle V, S. 1651, 1653.20 BT-Drs. IV/650, S. 143 f.21 Siehe auch schon die entsprechende Kritik von Hirsch, Festschrift für Roxin, S. 711, 723 f., der

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die für ausschlaggebend erachtete Betätigung des rechtsfeindlichen Willens nichtim Sinne einer symptomatischen Verbrechensauffassung als Ausdruck der Ge-fährlichkeit des Täters zu verstehen, sondern – wie unter anderem von Hillen-kamp vorgeschlagen – mit dem vorsätzlichen Handlungsunrecht gleichzusetzen,das nach den Vorgaben der personalen Unrechtslehre ebenso für das Unrecht dervollendeten Tat konstitutiv ist22. Es handelt sich jedoch genau genommen umeine Korrektur der gesetzgeberischen Vorstellungen, weil die berechtigte Kritikvon Gallas weder von den anderen Mitgliedern der Großen Strafrechtskommis-sion aufgegriffen noch innerhalb der weiteren Entwicklung der Gesetzgebungs-geschichte berücksichtigt wurde. Ferner bliebe noch zu klären, welche Kon-sequenz diese Korrektur für die deliktssystematische Einordnung des Versuchshätte.

Unabhängig davon bleibt ein Einwand zu beachten, der die bisher genanntenKonzeptionen gleichermaßen betrifft: Für alle ist kennzeichnend, sofern sie eineerschöpfende und vollständige Beschreibung der Regelung intendieren, den Ver-such auf das zurückzuführen, was dem Täter gelungen ist: Für die objektiveTheorie ist dies die Gefährdung des Rechtsguts, für die subjektive Theorie dieBetätigung des rechtsfeindlichen Willens des Täters. Ausgeblendet wird aberdamit, dass im Strafrecht ein Versuch komplementär zur vollendeten Tat dadurchdefiniert ist, dass der Handelnde es nicht vermocht hat, sein Ziel zu erreichen.Der Versuch ist stets misslingende Tat. Durch die Vorgehensweise der aufgeführ-ten Theorien wird hingegen § 22 StGB quasi als eigene abgeschlossene Tat auf-gefasst, die ihren Ort im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs gefunden hat.Zugespitzt: Das unmittelbare Ansetzen gemäß § 22 StGB selbst ist schon Tat undnicht bloß versuchte Tat.

Bestätigt wird diese Diagnose durch den Vorschlag von Schwalm als Vertreterdes Justizministeriums in den Beratungen der Großen Strafrechtskommission,den Rechtsfrieden als mittelbares Rechtsgut der Versuchsregelung zu begreifen,das durch die Betätigung des rechtsfeindlichen Willens gefährdet wird23. Aller-dings scheitert dieser Standpunkt schon daran, dass der Rechtsfrieden nicht alsautarkes Rechtsgut anzuerkennen ist. Setzt man als Grundprämisse die Verselb-ständigung des § 22 StGB voraus, dann läge es daher näher, – wie bereits vonWachenfeld Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten24 – den Versuch mit Hilfe desPostulats einer abstrakten Gefährdung der Rechtsordnung bzw. des angegriffe-nen Rechtsguts zu erklären. Denn lehnt man die objektive Theorie ab, setzt man

zutreffend darauf hinweist, dass auch die Eindruckstheorie die Problematik nicht löst; ebensoSpendel, ZStW 65 (1953), S. 519, 522 f., 525 ff.; ders., NJW 1865, 1881, 1883 f., der gleicherma-ßen den Vorwurf eines täterstrafrechtlichen Gesinnungsstrafrechts erhebt, in dem der Delin-quent für seine moralische Schlechtigkeit bestraft wird.

22 Vgl. Hillenkamp, in: LK (Anm. 3), Vor § 22 Rdn. 67; ebenso J. Meyer, ZStW 87 (1975), S. 598,603.

23 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd., 1958, S. 188.24 Wachenfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1914, S. 170.

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den Täterwillen mit dem Handlungsunrecht gleich und begreift die Versuchs-handlung als abgeschlossene Tat, deren Begehung hinreichender Grund für dieVerwirkung von Strafe ist, bleibt keine andere Wahl, als den Versuch als ab-straktes Gefährdungsdelikt zu qualifizieren, wobei als Bezugspunkt der abstrak-ten Gefährdung ausschließlich die in den einzelnen Tatbeständen geschütztenRechtsgüter heranzuziehen wären25. Diese Einordnung hat allerdings dem Ge-setzgeber gerade nicht vorgeschwebt: Wie aus dem zweiten schriftlichen Berichtdes Sonderausschusses hervorgeht, soll der an sich strafbare grob unverständigeVersuch gerade jene Fälle umfassen, in denen weder eine konkrete noch eineabstrakte Gefährdung besteht26. Auch durch den grob unverständigen Versuchwird jedoch nach Vorstellung des Gesetzgebers Schuld verwirklicht.

Genau genommen fehlt es allerdings schon beim untauglichen Versuch perdefinitionem an der Mindestvoraussetzung der Strafwürdigkeit abstrakter Ge-fährdungsdelikte, dass eine bestimmte Verhaltensweise nach kriminalpolitischerEinschätzung des Gesetzgebers mit hinreichender Häufigkeit zu einer konkre-ten Gefährdung oder Verletzung des geschützten Rechtsguts führt. An die Stelleder abstrakten Gefährlichkeit der Tat tritt daher die Gefährlichkeit des Täters.Die Verselbständigung des Versuchs als quasi abgeschlossene Tat hat also dieKonsequenz, dass der Tatbegriff seine materielle Grundlage verliert, die durchden unabdingbaren Bezug auf bestimmte strafrechtlich geschützte Rechtspo-sitionen gekennzeichnet ist, deren faktische Integrität durch das Verhalten desTäters verletzt oder (abstrakt oder konkret) gefährdet wird. Gegen die Einord-nung als abstraktes Gefährdungsdelikt sprechen zudem die unterschiedlichenStrafdrohungen. Während der Täter des Versuchs gemäß § 23 Abs. 2 StGB wieder Täter der vollendeten Tat bestraft wird – mit der Möglichkeit einer Strafmil-derung nach § 49 Abs. 1 StGB –, sind die Strafdrohungen von abstrakten Gefähr-dungsdelikten im Vergleich zu Verletzungs- und konkreten Gefährdungsdeliktenerheblich niedriger angesetzt. Und schließlich lässt sich gegen die Kategorisie-rung des Versuchs als abstraktes Gefährdungsdelikt ergänzend einwenden, dass –wie schon Tiedemann zutreffend ausgeführt hat –, die Normen des AllgemeinenTeils des StGB rechtsgutsunabhängig erklärt werden müssen27. Der AllgemeineTeil des StGB ist seiner Ansicht nach der Inbegriff von Anwendungs-, Geltungs-,Vorrang- und Zurechnungsregeln. Es ist nicht Aufgabe des Allgemeinen Teils desStGB, Taten festzulegen, die über einen eigenen Rechtsgutsbezug verfügen28.Dies geschieht vielmehr im Besonderen Teil des StGB.

25 So Kratsch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S. 436 ff.; ders., JA1983, 578 ff.; ebenso Mir Puig, Festschrift für Roxin, S. 729 ff., beim untauglichen Versuch!

26 BT-Drs. V/4095, S. 12; vgl. auch Grupp, Das Verhältnis von Unrechtsbegründung und Un-rechtsaufhebung bei der versuchten Tat, 2008, S. 107.

27 Tiedemann, Festschrift für Baumann, 1992, S. 7 ff.28 Ebenso Reinhard von Hippel, Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966, S. 16,

mit der Schlussfolgerung, dass der Versuch ein Strafausdehnungsgrund sei.

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III. Die gegenwärtig vertretenen Erklärungsansätze zum Rücktritt

1. Die kriminalpolitische Theorie der goldenen Brücke

Wie ist nun vor diesem Hintergrund die Regelung des Rücktritts zu beurteilen? Inden Beratungen, die der Verabschiedung des 2. Strafrechtsreformgesetzes voran-gingen, ist vor allem die kriminalpolitische Theorie der goldenen Brücke erörtertworden, der zufolge durch die Gewährung von Straffreiheit dem Täter ein Anreizgeboten werden soll, die Tat nicht zu vollenden. Die Terminologie lässt sich bis zuvon Liszt zurückverfolgen, der einer ihrer einflussreichsten Vertreter war29. Inihrer negativen Fassung geht sie bis auf Feuerbach zurück, der befürchtete, dassder Staat den Verbrecher geradezu nötige, das Verbrechen zu vollenden, wenn ernicht diesen die schon unternommene Tat ungestraft bereuen lasse30.

In den Beratungen der Großen Strafrechtskommission äußerte indes Dreher,ohne Widerspruch zu ernten, dass man sich in der Ablehnung der Theorie einiggewesen sei31. Bockelmann kritisierte vor allem, dass das Bild des rational han-delnden Verbrechers, der das Für und Wider abwäge, in der Praxis nicht vor-komme32. Dieser Kritik schloss sich der Vertreter des BundesjustizministeriumsSchwalm an33. Mit derselben Begründung stieß die Theorie im Sonderausschussbei Corves, dem dortigen Vertreter des Bundesjustizministeriums, auf Ableh-nung. Er fügte hinzu, dass es ihr zufolge naheliege, auch vollendete Deliktestraflos zu lassen34. Damit hat er den entscheidenden Einwand von Jakobs vor-weggenommen, der freilich schon von Oersted im 19. Jahrhundert vertretenworden war35, dass nämlich der kriminalpolitische Ansatz überhaupt keine ver-suchsspezifische Theorie darstelle, sondern dass sich der Staat ihrer Logik nachzur Verhinderung weiterer Rechtsgutsschädigungen auch die Vollendungsstrafeabhandeln lassen könne36. Angesichts der Tatsache, dass die Theorie der golde-nen Brücke durch den Bundesgerichtshof schon zwei Jahre vor Beginn der Be-ratungen der Großen Strafrechtskommission mit den dort vorgetragenen Erwä-gungen verworfen wurde37, hätte es zudem nahegelegen, dass der Gesetzgeberseine Absicht, an der kriminalpolitischen Begründung des Rücktritts festzuhal-ten, ausdrücklich dokumentiert hätte. In der Rechtsprechung spielt die Lehre nur

29 von Liszt (Anm. 13), § 47, S. 202.30 Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfe zu einem Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-

Bayrischen Staaten, 1. Theil, 1804, S. 102 f.31 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 9. Bd., 1959, S. 302 f.32 So auch Bockelmann, NJW 1955, 1417, 1420; ebenso Lang-Hinrichsen, Festschrift für En-

gisch, 1969, S. 353, 368.33 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd., 1958, S. 178,

190.34 Siehe Sonderausschuss Protokolle V, S. 1654.35 Oersted, Ueber die Grundregeln der Strafgesetzgebung, 1818, § 22, S. 159, der darauf verwies,

dass bei Vollendung den Täter die volle Strafe trifft.36 Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82, 83 ff.37 BGHSt. 9, 48, 52.

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noch eine sekundäre Rolle38. In der Rechtslehre wird sie im Sinne des Opfer-schutzes gleichwohl teilweise noch vertreten39, wenn auch die herrschende Lehrein der Literatur ihr ablehnend gegenüber steht40 bzw. sie nur als bloßen Sekun-däreffekt berücksichtigt41.

2. Die Gnadentheorie

Keine erkennbare Resonanz hat übrigens die von Bockelmann angedeutete Gna-dentheorie gefunden42, die sich geschichtlich auf das Preußische AllgemeineLandrecht stützt (II 20 § 43). Ihr zufolge ist es angebracht, den Täter mit Strafezu verschonen, das heißt, Gnade zu gewähren, weil der Täter das Gewicht desSchuldvorwurfs bis zu einem gewissen Grad durch sein verdienstliches Handelnsaufwiegt43. Bockelmann selbst hat eingeräumt, dass das Begnadigungsprinzipauch bei tätiger Reue nach vollendeter Tat durchgreifen müsste. Zumindest ließedieses zu, Schuld und Verdienst zweier völlig unabhängiger vollendeter Tatenmiteinander zu verrechnen, so dass ebenfalls dieser Begründungsansatz keineversuchsspezifische Erklärung der Straffreiheit bietet44. Zudem bleibt offen, waseigentlich dazu berechtigt, das nachträgliche Verdienst mit der schon verwirk-lichten Schuld in eine Bilanz zu stellen45.

Da die weiteren Lehren in den Beratungen nicht angesprochen worden sind,kann schon jetzt festgehalten werden, dass es an einer gesetzgeberischen Bestim-mung der ratio des Rücktritts fehlt. Methodisch betrachtet ist es im Folgendendaher nicht mehr Ziel, den tatsächlichen vom Gesetzgeber zugrundegelegtenRechtsgrund des § 24 StGB zu erkennen, sondern der Vorschrift nachträglicheinen vernünftigen Sinn zu unterlegen.

3. Die Strafzwecktheorie

Die heute herrschende Lehre erklärt den Rücktritt mit Hilfe der Strafzwecktheo-rie. Wegbereiter war der Bundesgerichtshof in der eben genannten Entscheidung,

38 Siehe zum Beispiel BGHSt. (GS) 39, 221 ff.39 Weinhold, Rettungsverhalten und Rettungsvorsatz beim Rücktritt vom Versuch, 1990, S. 30 ff.;

ebenso schon Puppe, NStZ 1984, 488, 490; dies., NStZ 1986, 14, 16; Kudlich, JuS 1999, 241;siehe auch jüngst Paeffgen, Festschrift für Puppe, 2011, S. 791, 812.

40 Siehe pars pro toto von Heintschel-Heinegg, ZStW 109 (1997), S. 29, 41 f.; Ulsenheimer,Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976, S. 68 ff.; Jäger, DerRücktritt vom Versuch als zurechenbare Gefährdungsumkehr, 1996, S. 5.

41 Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 9), § 24 Rdn. 2 b; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl.2008, 24/1; Hassemer, JuS 1990, 420; Wessels/Beulke (Anm. 9), Rdn. 626.

42 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Bd., 1958, S. 178 ff.43 Bockelmann, NJW 1955, 1417, 1420.44 So wiederum zutreffend Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82, 88.45 Ebenso der Einwand von Albrecht/Lilie, in: LK (Anm. 3), § 24 Rdn. 13; vgl. auch die Kritik

von Ulsenheimer (Anm. 40), S. 77 f., dass die Lehre die Antwort auf die zentrale Frage nachdem Grund für das Rücktrittsprivileg schuldig bleibe.

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indererargumentierte,dassbeieinemfreiwilligenRücktritteineStrafedemGesetznicht mehr nötig erscheine, um den Täter für die Zukunft von Straftaten abzuhal-ten, um andere abzuschrecken oder die verletzte Rechtsordnung wiederherzustel-len. Sehe der Täter von dem begonnenen Versuch freiwillig ab, so zeige sich darin,dass seinverbrecherischer Wille nicht so stark sei, wie es zur Durchführung der Taterforderlich gewesen wäre. Seine Gefährlichkeit, die im Versuch zunächst zumAusdruck gekommen sei, erweise sich nachträglich als wesentlich geringer. Ausdiesem Grunde sehe das Gesetz davon ab, den „Versuch als solchen“ zu ahnden46.Schon im 19. Jahrhundert berief sich Zachariä in ganz ähnlicher Weise zur Erklä-rung des Rücktritts (unter anderem) darauf, dass der freiwillig von der VollendungAbstehendedurchdieTatzeige,dasserkeinenhinreichendfestenundbeharrlichenWillen zur Tatbegehung gehabt habe, dass er nur augenblicklich dem sinnlichenAntriebegefolgt sei, in ihm jedochdie EinsichtvonderNotwendigkeit rechtlichenHandelns die Oberhand behalten habe. Der rechtliche Zustand habe von einemsolchen Menschen keine Gefahr zu besorgen (Infirmitätstheorie)47.

In der gegenwärtigen Literatur finden sich spezialpräventiv48 und generalprä-ventiv49 ausgerichtete Varianten der Strafzwecktheorie, je nachdem, ob man mehrdie Notwendigkeit der Einwirkung auf den Täter oder die Notwendigkeit derWiederherstellung des Vertrauens in die allgemeine Normgeltung bzw. die Be-seitigung des rechtserschütternden Eindrucks betont. In ihren Voraussetzungensetzt auch die Lehre von Murmann spezialpräventiv an, auch wenn diese nacheigener offizieller Lesart auf einer absoluten Strafbegründung fußt. Ihr zufolgeentkräftet der Täter durch die Rücktrittsleistung den begangenen Vertrauens-bruch und fundiert für die Zukunft das im Rechtsverhältnis bestehende Vertrauenin das Bestehen wechselseitiger Anerkennung. Die Mitglieder der Rechtsgemein-schaft würden die Distanzierung des Täters von dem bereits verwirklichten Un-recht als Neubegründung des verletzten Vertrauens begreifen. Daher müsse demRücktritt wie der Versuchstat eine personale Erklärung zum begangenen Unrechtzukommen, kraft derer der Täter das Recht (weitgehend) selbst wiederherstelle50.Mit anderen Worten: Es bedarf keiner Einwirkung auf den Täter mehr, wenn derauf der Anerkennung des anderen beruhende Rücktritt Anlass zu der Erwartunggibt, dass er künftig das Recht respektieren wird51.

46 BGHSt. 9, 48, 52.47 Zachariä, Die Lehre vom Versuche des Verbrechens, 1836, 2. Theil, § 237, S. 241; ebenso

Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, 5. Aufl. 1854, § 99, S. 83: Der Han-delnde beweise durch seine Abstandnahme, dass sein Wille nicht mit vollkommener Entschie-denheit auf das Verbrechen gerichtet gewesen sei.

48 Walter, Der Rücktritt vom Versuch als Ausdruck des Bewährungsgedankens im zurechnendenStrafrecht, 1980, S. 27 ff.; ebenso Bloy, JuS 1987, 528 ff.; Frister (Anm. 41), 24/1 f.; Bülte, ZStW122 (2010), S. 550, 568 ff.

49 Bergmann, ZStW 100 (1988), S. 329, 335; Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009, § 9Rdn. 16 ff.; Grünwald, Festschrift für Welzel, 1974, S. 701, 711; Roxin (Anm. 4), § 30 Rdn. 6 f.;Schünemann, GA 1986, 293, 324; Bülte, ZStW 122 (2010), S. 550, 568 ff.

50 Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, 1999, S. 28 ff.; ders., JuS 1996, 590, 592.51 Vgl. Murmann (Anm. 50), S. 29, der selbst zugibt, dass man in diesem Fall der Auffassung sein

könne, dass das Strafbedürfnis fehle.

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Stellt man sich auf den Boden der Strafzwecktheorie, muss man das Primatder Spezialprävention anerkennen. Denn die Beseitigung des durch den Delikts-versuch verursachten rechtserschütternden Eindrucks setzt voraus, dass der Tä-ter durch den Rücktritt in die Legalität zurückkehrt52. Andernfalls wird man einfortwährendes Genugtuungs-, Befriedungs- wie auch Abschreckungsbedürfniswohl kaum leugnen können. Die spezialpräventive Variante der Strafzwecktheo-rie des Rücktritts erweist sich damit als fragwürdige Fortsetzung des täterstraf-rechtlichen Strafgrundes des Versuchs. So wird denn auch kritisiert, dass derRekurs auf die Gefährlichkeit ein der geltenden Rechtsordnung fremdes Täter-oder Gesinnungsstrafrecht voraussetze53.

Doch ist es überhaupt möglich, den Rücktritt spezialpräventiv zu begrün-den? Dagegen spricht eine fundamentale Divergenz: Der Rücktritt ist retro-spektiv definiert. Rücktritt ist immer Rücktritt von der konkreten versuchtenTat, die durch den in der Vergangenheit liegenden Tatentschluss konstituiertwird. Die Spezialprävention ist hingegen prospektiv definiert. Ihr Bezugs-punkt sind mögliche künftige Taten des Täters. Die daraus entstehenden Frik-tionen können plastisch am Beispiel des Opferwechsels demonstriert werden54.In einem vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall hatte der Täter zu-nächst versucht, seinen Nebenbuhler zu töten. Anschließend entdeckte er seinegeschiedene Ehefrau und verzichtete auf die weitere Tatausführung, um sichnunmehr ihr „zuwenden zu können“. Der Bundesgerichtshof sah sich aufgrunddes Wortlauts des § 24 StGB, der lediglich als Rücktrittsvoraussetzung ein frei-williges Verhalten verlangt, zu Recht außer Stande, den Rücktritt zu verneinen.Für die Freiwilligkeit des Rücktritts sei es unmaßgeblich, ob der Rücktritts-grund sittlich billigenswert sei55. Gleichermaßen wird in der Begründung zumEntwurf von 1962 festgehalten, dass für den Rücktritt auch Beweggründe ohneReuecharakter wie Enttäuschung, fehlender Mut oder Angst vor Strafe in Be-tracht kämen56. Und ebenso meinte Corves als Vertreter des Bundesjustizminis-teriums in der 83. Sitzung des Sonderausschusses, dass eine Verdienstlichkeitdes Rücktrittsmotivs nicht gefordert werde57. Über den Standpunkt, das demRücktrittsmotiv keinerlei Bedeutung zukommt, solange die Tataufgabe nichtFolge von Zwang ist, besteht mindestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-

52 Dies wird von Bergmann, ZStW 100 (1988), S. 329, 336, auch ausdrücklich anerkannt; ebensoMurmann JuS 1996, 590, 592.

53 Muñoz Conde, ZStW 84 (1972), S. 756, 760.54 Vgl. Günther, Gedächtnisschrift für Kaufmann, 1989, S. 541, 546 ff., der an der parallelen

Problematik des Deliktswechsels ebenfalls einen Widerspruch zwischen der Rücktrittsmög-lichkeit und dem Sinn und Zweck des Rücktrittsprivilegs ausmacht, gleichwohl jedoch dieMöglichkeit eines Rücktritts aufgrund des Tatbestandsbezugs des rücktrittsrechtlichen Tat-begriffs anerkennt.

55 BGHSt. 35, 184, 186; ebenso BGHSt. 7, 296, 299; 9, 48 ff.; BGHSt. (GS) 39, 221, 230 f.56 BT-Drs. IV/650, S. 145; vgl. ferner die Kritik von Herzberg, Festschrift für Lackner, 1987,

S. 325, 329, dass es widersprüchlich sei, dem Täter das zweite Delikt als freiwillig zuzurechnen,beim Rücktritt vom ersten Delikt jedoch die Freiwilligkeit zu verneinen.

57 Siehe Corves, Sonderausschuss Protokolle V, S. 1654.

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hunderts Konsens58. Er lag schon dem Reichsstrafgesetzbuch zugrunde, sofernes in § 46 Nr. 1 RStGB lediglich für die Straffreiheit bei Aufgabe der weiterenVerbrechensausführung verlangte, dass der Täter nicht durch von seinem Willenunabhängige Umstände an der Ausführung gehindert wurde.

Die spezialpräventive Theorie müsste hingegen ein – beim Opferwechselfehlendes – Rücktrittsmotiv voraussetzen, kraft dessen eine künftige straffreieLebensführung des Täters prognostiziert werden könnte, wenn nicht das feh-lende Strafbedürfnis eine völlig haltlose Spekulation darstellen soll59. So hatRudolphi in sich schlüssig verlangt, dass der Rücktrittsgrund Ausdruck einerhinreichenden Normbefolgungsbereitschaft sein müsse60. In der Sache entsprichtdies der Ansicht von Murmann, für den der Rücktritt eine Vernunftleistung desTäters darstellt, wobei offenbar unter Vernunft rechtsphilosophisch ein sittlichesVermögen im Sinne der Fähigkeit, nach allgemeinen rechtlichen Maximen zuhandeln, gemeint ist und nicht bloß zweckrationales Verhalten. Übereinstim-mend behauptete schon Zachariä vor dem Hintergrund der Infirmitätstheorie,dass beim Rücktritt die Einsicht von der Notwendigkeit rechtlichen Handelns imTäter die Oberhand behalte61. Neben die Missachtung des Wortlauts des § 24StGB, der sich mit dem negativen Ausschlusskriterium der fehlenden Freiwil-ligkeit begnügt, tritt noch eine weitere Friktion der spezialpräventiven Theorie:Diese müsste einen Rücktritt überdies immer dann ablehnen, wenn der Täter dieweitere Ausführung der Tat lediglich verschiebt62. Diese auch gegenwärtig ver-tretene Ansicht63, die sich nicht überraschend bis zu Zachariä zurückverfolgenlässt64, verkennt jedoch wiederum die Bindung des Rücktritts an die konkreteversuchte Tat.

58 Hälschner, Beiträge zur Beurtheilung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches für den Nord-deutschen Bund, 1871, S. 64; ders., Das gemeine deutsche Strafrecht, 1. Bd., 1881, § 151, S. 361;Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 1871, § 46 Rdn. 12; Schwarze,Commentar zum Strafgesetzbuche für das Deutsche Reich, 5. Aufl. 1884, Exkurs X, § VII;Merkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1889, § 47, S. 134; Robert von Hippel (Anm. 13),§ 29, S. 412; von Liszt (Anm. 13), § 47, S. 203; Allfeld (Anm. 11), § 36, S. 202 Fn. 47.

59 Vgl. schon Lang-Hinrichsen, Festschrift für Engisch, S. 370, der die kühne kriminologischePrognose der Strafzwecktheorie kritisiert hat; ebenso Weinhold (Anm. 39), S. 19; die Replikvon Roxin (Anm. 4), § 30 Rdn. 6, dass sich das spezialpräventive Einwirkungsbedürfnis ausdem Geschehen selbst ergeben müsse, verkennt, dass diese Bedingung bei einer Verselbstän-digung des Versuchs immer erfüllt ist. Selbst nach der inneren Logik dieses Ansatzes bedarf esdaher immer konkreter Kontraindikatoren zur Begründung dafür, dass trotz der durch dasunmittelbare Ansetzen verwirklichten Schuld ausnahmsweise auf eine spezialpräventive Ein-flussnahme auf den Täter verzichtet werden kann. Diese können naturgemäß nur an daskünftige zu erwartende Verhalten des Täters anknüpfen. Wenn man meint, dass der Versuchals solcher bei einem Rücktritt schon kein hinreichender Auslöser des spezialpräventivenStrafzwecks ist, dann ist nur durch die Kritik an der Verselbständigung des Versuchs als Tatmöglich.

60 Rudolphi, in: SK StGB, § 24 Rdn. 25.61 Zachariä (Anm. 47), § 237, S. 241.62 Vgl. Herzberg (Anm. 56), S. 327, der zutreffend meint, dass die Verschiebung der Tat noch kein

Bekenntnis zur Rechtsordnung darstelle.63 Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 9), § 24 Rdn. 40.64 Zachariä (Anm. 47), § 251, S. 233.

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Geht man von der Prämisse aus, dass schon die Versuchsbegehung in ihrerVerselbständigung Verwirklichung von Schuld ist, die durch den Strafauf-hebungsgrund des Rücktritts auch nicht mehr beseitigt werden kann, wäreschließlich zu fragen, warum im geltenden Schuldstrafrecht aufgrund des fehlen-den spezialpräventiven Strafbedürfnisses beim Versuch auf den Schuldausgleichvöllig verzichtet werden soll. Zum einen sind Fälle denkbar, in denen der Ver-suchstäter zwar nicht freiwillig zurücktritt, jedoch aufgrund einer singulärenKonfliktsituation weitere Delinquenz von seiner Seite aus ohnehin nicht zuerwarten ist65. Zum anderen kann die Prognose straffreier Lebensführung durchAnerkennung der Norm – beispielsweise durch Reue – auch nach vollendeter Tatgestellt werden. Warum hier anders als beim Versuch die Strafe im Rahmender allgemeinen Strafzumessung nur gemildert werden kann, vermag die Straf-zwecktheorie nicht mehr einsichtig zu machen66. Dasselbe gilt übrigens, wennman im Sinne der Lehre von der positiven Generalprävention primär auf dieWiederherstellung des Vertrauens in die Geltung der Norm durch ihre Anerken-nung seitens des Täters abstellt, wie dies Freund auf der Basis der Lehre vomNormgeltungsschaden vertritt.

Murmann hat das Problem erkannt und argumentiert, dass die Objektivie-rung der rechtlichen Maxime durch den Verzicht auf die weitere Ausführung dertatbestandlichen Handlung oder die Verhinderung des Erfolgseintritts eine un-gleich größere Überzeugungskraft entfalte als Wiedergutmachungsbemühungennach Erreichung des deliktischen Ziels67. Doch diese Annahme ist alles andere alszwingend. Der Dieb, der aus Reue dem Opfer nach der Tat die Beute zurückgibt,räumt dem Recht gegenüber seinen deliktischen Interessen ebenso Vorrang einwie ein Täter, der aus demselben Motiv von einem Versuch zurücktritt. Mögli-cherweise ist für ihn sogar die Überwindung viel größer, weil seine Tat schongeglückt ist und er schon einen Vorteil erlangt hat. In diesem Fall wäre gerade dieumgekehrte Schlussfolgerung naheliegend68. Folglich ist die Strafzwecktheorieinkonsistent und leistet zudem – ebensowenig wie die anderen Lehren – keineversuchsspezifische Erklärung des Rücktritts69.

65 Gerade an diesem Beispiel zeigt sich freilich die Problematik der oben erörterten subjektivenTheorie, sofern diese den Strafgrund in der Gefährlichkeit des Täters erblickt.

66 Schon Bauer, Abhandlungen aus dem Strafrechte und dem Strafprocesse, 1. Bd., 1840, S. 356,hat gegen die Infirmitätstheorie den Einwand erhoben, dass die geringere Gefährlichkeit desTäters, die sich in der Willensänderung zeige, lediglich eine Strafmilderung rechtfertige; eben-falls O. Meyer, Der freiwillige Rücktritt vom Versuch nach geltendem Recht, dem Vorentwurf(§ 77) und dem Gegenentwurf (§ 33), 1915, S. 68.

67 So Murmann (Anm. 50), S. 32.68 Vgl. das Zugeständnis von Murmann (Anm. 50), S. 28, dass der Täter durch den Rücktritt das

Rechtsverhältnis lediglich weitgehend wiederherstelle.69 Vgl. auch Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82, 88; siehe ferner die Kritik von Paeffgen (Anm. 39),

S. 812: petitio prinicpii.

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4. Die Schulderfüllungstheorie

Herzberg hat aufgrund seiner berechtigten Kritik an der Strafzwecklehre denRücktritt bekanntlich auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückgeführt, dasssich die Zwangsandrohung erledige, wenn der Täter seine Pflicht zur Beendigungund Wiedergutmachung des Unrechtsverhaltens, das die Drohung ausgelöst ha-be, durch eine ihm zurechenbare Leistung erfülle. Der Täter soll sich von Schuldfreimachen, insofern er die durch den Versuch begründete Wiedergutmachungs-schuld abträgt. Erfülle der Täter seine Schuld freiwillig, werde die Strafdrohungaufgehoben70. In der Literatur ist diesem Ansatz entgegengehalten worden, dassder Täter durch den Versuch schon Schuld verwirkt habe71. In der Tat ist diedurch den Versuch verwirkte Schuld von der Verpflichtung des Täters zu trennen,die Vollendung der Tat zu verhindern und den etwaig eingetretenen Schadenwiedergutzumachen. Warum sich durch die Erfüllung dieser Verpflichtung dieschon verwirkte Schuld erledigt, zeigt Herzberg nicht. Letztlich steht unaus-gesprochen hinter der Schulderfüllungstheorie der Kompensationsgedanke, derähnlich wie bei der Gnadentheorie auch bei vollendeter Tat eingreifen könnte.Versuchsspezifisch ist also auch seine Lehre nicht ausgestaltet.

5. Die Theorie der Gefährdungsumkehr

Diese Diagnose gilt abschließend auch für die Lehre von Jäger, der den Rücktrittals zurechenbare Gefährdungsumkehr definiert. Anders als die etwas missver-ständliche Wortwahl „Umkehr“ vermuten lässt, stützt Jäger den Rücktritt ledig-lich darauf, dass der Täter durch den Rücktritt die tatsächliche oder vorgestellteGefährdung für die Zukunft beseitigt. Es sei ein Verdienst des Täters, damit demVersuch die Wirkung zu nehmen72. Diese Theorie hätte allerdings die Kon-sequenz, dass ebenso der Täter der vollendeten Tat, der die schon eingetretene,ihm zurechenbare konkrete Gefährdung des geschützten Rechtsguts eliminiert,zurücktreten können müsste. Dies trifft sogar auf den Täter eines Verletzungs-delikts zu, der den von ihm verursachten Schaden restituiert. Man denke an dassoeben zur Sprache gebrachte Beispiel eines Diebes, der nach der Tat dem Ei-gentümer die Sache zurückgibt. Hebt die Beseitigung der Rechtsgutsbeeinträch-tigung die Vollendung der Tat nicht auf, so hebt sie auch den Versuch nicht auf,wenn man diesen – wie Jäger – durch die tatsächliche oder vorgestellte Gefähr-dung des geschützten Rechtsguts definiert.

70 Herzberg, in: MK (Anm. 3), § 24 Rdn. 9 ff.; ders. (Anm. 56), S. 345 ff.; ders., NStZ 1989, 49 ff.;ders., NJW 1991, 1633, 1634.

71 Rudolphi, NStZ 1989, 508, 511; Jäger (Anm. 40), S. 8; Lilie/Albrecht in: LK (Anm. 3), § 24Rdn. 40.

72 Jäger (Anm. 40), S. 62 ff.

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IV. Zwischenfazit

Es kann folgendes Zwischenfazit gezogen werden: Es existiert zurzeit keineschlüssige Erklärung von Versuch und Rücktritt, sofern man sich auf die herr-schende Grundprämisse beschränkt, dass der Rechtsgrund beider Institute iso-liert zu bestimmen ist. Die erwogenen Ansatzpunkte der Rücktrittslehren geltenmehr oder weniger auch bei einer vollendeten Tat. Der Verdacht liegt nahe, dassdies Folge des Umstandes ist, dass vorab schon der Versuch wie eine eigeneabgeschlossene Tat begriffen wird. Die Unstimmigkeiten greifen deshalb sogarüber die bloße Begründung des Rücktritts hinaus. Sie betreffen – wie soebenschon angedeutet – zugleich die Rechtsfolge als solche: die zwingende Straflosig-keit des Täters. Denn bei den Delikten, die Vorbereitungshandlungen unter Strafestellen, gewährt der Gesetzgeber zwar zumeist, jedoch nicht immer die Möglich-keit einer strafbefreienden tätigen Reue: Keine entsprechende Option bietet zumBeispiel § 276 StGB (Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen). Bei § 83StGB (Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens) und § 89 a StGB(Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) kann der Richternach seinem Ermessen die Strafe auch bloß mildern. Ähnlich gestaltet sich dieRechtslage bei den Unternehmensdelikten, bei denen der Versuch der Voll-endung gleichgestellt ist (siehe § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB). Keine Möglichkeit dertätigen Reue eröffnet § 108 e StGB (Abgeordnetenbestechung). Eine bloße Mil-derung nach Ermessen des Richters kommt bei § 81 StGB (Hochverrat gegen denBund), § 82 StGB (Hochverrat gegen ein Land) und § 309 Abs. 2 StGB (Miss-brauch ionisierender Strahlen) in Betracht. Lediglich eine fakultative Strafmil-derung sehen die § 307 Abs. 1 StGB (Herbeiführen einer Explosion durch Kern-energie) und § 309 Abs. 2 StGB (Missbrauch ionisierender Strahlen) vor. Es wäredaher nach den Vorgaben der herrschenden Lehre allein folgerichtig, auch beimVersuch den Rücktritt im Sinne einer fakultativen Strafmilderung auszugestal-ten73.

V. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Erklärung von Versuch undRücktritt

1. Die Einheitstheorien

Angesichts dieses wenig befriedigenden theoretischen Diskussionsstandes istnunmehr auf jene Lehren einzugehen, deren gemeinsamer Nenner darin besteht,anders als die bisher erörterten Lehren Versuch und Rücktritt als Einheit begrei-fen zu wollen. So hat Lang-Hinrichsen für eine Gesamtbetrachtung plädiert, derzufolge der ganze Vorgang normativ als eine Tat erscheint. Der Versuch soll

73 So zum Beispiel Bergmann, ZStW 100 (1988), S. 329, 351 ff.; vgl. auch Freund (Anm. 49), § 9Rdn. 18; aus kritischer Distanz auch Loos, Festschrift für Jakobs, 2007, S. 347, 348.

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davon einen unselbständigen Bestandteil bilden, der ohne Berücksichtigung desRücktritts nicht gewürdigt werden kann74. Ungeklärt bleibt allerdings bei Lang-Hinrichsen, was die Einheit von Versuch und Rücktritt konstituiert. Denn ent-sprechend der Gnadentheorie stellt er Versuch und Rücktritt als negative undpositive Posten in eine Bilanz ein75. Damit jedoch wird der Versuch wiederumselbständig bewertet. Berücksichtigt man zudem, dass sich Lang-Hinrichsen ge-gen die noch anzusprechende Tatbestandstheorie wendet, die den Rücktritt alsnegatives Tatbestandsmerkmal des Versuchs einordnet76, ist die Konsequenz,dass der Täter durch das unmittelbare Ansetzen bereits für sich stehendes tat-bestandliches Unrecht verwirklicht, unabweisbar. Wodurch sich der Rücktrittvon Wiedergutmachung nach vollendeter Tat unterscheidet, ist somit nicht mehreinsichtig zu machen – zumal Lang-Hinrichsen selbst die Parallele zur Einbezie-hung des Nachtatverhaltens bei der Strafzumessung zieht. In sich folgerichtighält Lang-Hinrichsen den völligen Straferlass keineswegs für zwingend77.

Dasselbe Manko kennzeichnet die Lehren, die den Rücktritt systematischals Schuldausschließungs- bzw. als Schuldaufhebungsgrund einordnen78. Schonkonstruktiv setzt diese Konzeption voraus, dass das unmittelbare Ansetzen vor-ab als tatbestandliches Unrecht erfasst wird. Dementsprechend gesteht Zayczkeinerseits zu, dass durch das unmittelbare Ansetzen bereits ein vom Täter zuverantwortendes Übergehen zum vollendeten Unrecht vorliege und der objek-tive Teil des Versuchsgeschehens sich nicht rückgängig machen lasse, wenn erauch andererseits im Einklang mit der Grundprämisse behauptet, dass es sich beidem Versuch um ein wegen seiner Unvollständigkeit umkehrbares Geschehenhandele79. Zaczyk bietet daher keine Erklärung dafür an, wie das Rücktrittsver-halten die Schuld nachträglich aufheben können soll: Für das Vorliegen derSchuld ist grundsätzlich immer der Zeitpunkt der Tat maßgebend. Schumannhat daher zu Recht angemerkt, dass mit der Vorstellung einer Schuldaufhebungdie ganzheitliche Versuchs- und Rücktrittsperspektive letztlich nicht eingehaltenwerde80. Es überrascht aus diesem Grund nicht, dass zur Erklärung des Rück-tritts implizit oder explizit Gesichtspunkte herangezogen werden, auf die auch

74 Lang-Hinrichsen, Festschrift für Engisch, S. 353, 370 ff.75 Lang-Hinrichsen, Festschrift für Engisch, S. 353, 372.76 Lang-Hinrichsen, Festschrift für Engisch, S. 353, 372.77 Lang-Hinrichsen, Festschrift für Engisch, S. 353, 371 f.78 So zum Beispiel Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 468 ff.; Schumann, Zum Standort

des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau, 2006, S. 137 ff.; Streng, ZStW 101 (1998),S. 273, 322 ff.; ders., JZ 1990, 212, 214; Zaczyk, in: Nomos Kommentar, 1. Bd., 3. Aufl. 2010,§ 24 Rdn. 5; vgl. auch Ulsenheimer (Anm. 40), S. 90 ff., der den Rücktritt als Entschuldigungs-grund einstuft., weil aufgrund des Ausbleiben des Erfolgs, der Verminderung des Handlungs-unrechts und der Aufgabe der rechtsfeindlichen Einstellung eine Schuldminderung eintrete,die völlige Straflosigkeit aber kaum für erklärbar hält.

79 Zaczyk, in: NK (Anm. 78), § 24 Rdn. 5.80 Schumann (Anm. 78), S. 144, die allerdings übersieht, dass ihr Konzept denselben Einwänden

ausgesetzt ist, wenn sie einen Unrechtstatbestand postuliert, der auf den Versuchsanfangbegrenzt ist, und einen davon zu trennenden bis zum Versuchsende reichenden Schuldtat-bestand.

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die anderen Theorien zurückgreifen. So beruft sich Zaczyk auf die Rückkehr desTäters in die Legalität81. Und Streng – ebenfalls Anhänger der Einheitstheorie –stützt die seines Erachtens weitestgehende Schuldtilgung darauf, dass der freiwil-lige Rücktritt letztlich doch die Gültigkeit der zunächst in Frage gestelltenWerteordnung bestätige82.

Auch die von Jakobs vertretene Tatänderungstheorie stellt eine Spielart derEinheitslehre dar. Beim Rücktritt handelt es sich seines Erachtens insoweit um einbesonderes Nachtatverhalten, als es sich vom allgemeinen Nachtatverhalten da-durch unterscheidet, dass es nach unabgeschlossener Tat stattfindet und daher dasVersuchsverhalten noch ändern kann: Rücktritt ist zurechenbares Versuchs-ende83. Dabei setzt die Möglichkeit des Rücktritts Jakobs zufolge jeweils voraus,dass der Täter die Erfolgsabwendung noch beherrscht. Jakobs begründet diesdamit, dass nur dann noch eine gegenwärtige und damit abänderbare Tat vorliegt.Die Vergangenheit lasse sich nicht mehr korrigieren84. Im selben Atemzug be-handelt jedoch Jakobs den Versuch wie eine selbständige abgeschlossene Tat, in-dem er feststellt, dass die Tatänderung erst erfolge, nachdem der Täter die Tat bisins Strafbare vorangetrieben habe. Ein Normbruch sei kurz in der Welt gewesen –ein Makel, der durch den Rücktritt nicht ungeschehen gemacht werden könne. Esbleibe daher ein Rest an Unrecht, so dass die völlige Straffreiheit nach geltendemRecht nur durch das Bestreben zu erklären sei, nicht durch eine Strafdrohung denWeg zurück zu verbauen85. Dennoch führt Jakobs zugleich den Rücktritt schwer-punktmäßig auf den Widerruf des Versuchs zurück86. Damit verstrickt er sichallerdings in dieselben Widersprüche wie die herrschende Meinung. Denn einNormwiderspruch ist strafrechtlich nur erheblich, wenn er Tat ist. Ist er aber Tat,ist er abgeschlossen und kann als Vergangenheit nicht mehr verändert werden –unabhängig davon, ob der Täter die Erfolgsabwendung beherrscht oder nicht.Damit aber ergibt sich die Straflosigkeit nicht mehr aus dem Begriff der Tatände-rung, sondern aus anderen, extern herangetragenen Gründen87.

2. Die so genannten Rechtstheorien

Da die bisher vertretenen Einheitstheorien nicht konsequent durchgeführt wor-den sind, weil der Versuch zumindest implizit doch den Status einer verselb-ständigten Tat erhalten hat, besteht Anlass, sich doch noch einmal näher mitden Rechtstheorien zu befassen, auf denen jene mehr oder weniger fußen. Mög-

81 Zaczyk, in: NK (Anm. 78), § 24 Rdn. 5.82 Streng, ZStW 101 (1989), S. 273, 323 f.83 Jakobs (Anm. 9), 26/2; ders., ZStW 104 (1992), S. 82, 89 ff.; sich anschließend von Heintschel-

Heinegg, ZStW 109 (1997), S. 29, 43 ff.84 Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82, 89 ff.85 Jakobs (Anm. 9), 26/2; vgl. auch ders., ZStW 104 (1992), S. 82, 98.86 Jakobs (Anm. 9), 26/4.87 Vgl. den Vorwurf von Yamanaka, Festschrift für Roxin, S. 773, 777, dass die Begründung der

Straffreiheit offen bleibe.

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licherweise besteht auf diese Weise die Chance, den berechtigten Kern der Ein-heitstheorien und damit den Rechtsgrund von Versuch und Rücktritt zu erschlie-ßen. Dass schon bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Rechtstheorien von MaxErnst Mayer als „kuriose Antiquitäten“ bezeichnet wurden88 und dass sie heuteals überholt gelten89, sollte in Anbetracht des wenig befriedigenden Meinungs-standes nicht abschreckend wirken.

Als Begründer der Rechtstheorien gilt Zachariä, der diese Lehre neben deroben schon erwähnten Imfirmitätstheorie vertrat. Ihr zufolge beruht die Straf-losigkeit, wenn die Vollendung aufgrund einer Willensänderung des Täters unter-bleibt, nicht nur auf Gründen der Klugheit – die Bestimmung des Verbrecherszur Umkehr –, sondern in erster Linie auf Gründen des Rechts. Nicht das äußereGeschehen, aber der böse Wille werde durch den Rücktritt rückwirkend annul-liert bzw. bedeutungslos (Annullierungstheorie)90. Dieser Ansicht hat sich Köst-lin später angeschlossen91. Ähnlich äußerte Hälschner, dass die Versuchshand-lung nur in ihrer Beziehung zur verbrecherischen Absicht strafbar sei. Durch denRücktritt vom Versuch tilge der Täter diese Beziehung. Durch das freiwilligeAufgeben der verbrecherischen Absicht werde der Versuchshandlung die Bedeu-tung wieder entzogen, vermöge derer sie strafbar sei92.

Temme ging wenig später sogar einen Schritt weiter und behauptete, dass dasvollendete Verbrechen überhaupt nicht in dem Willen des Täters bzw. in seinemEntschluss gelegen und dass der Täter keine Handlung vorgenommen habe,durch welche er das Verbrechen habe herbeiführen wollen oder können, wenner die Tat freiwillig abgebrochen habe93. Schon seinerzeit wurde dieser Lehrevorgeworfen, dass es sich um eine unhaltbare Annahme bzw. um eine bloßepetitio principii handele. Der böse Wille habe sich schon durch eine äußereHandlung gezeigt und damit der Täter die Strafe des Versuchs verwirkt94. Dasvorangegangene Geschehen könne nicht ungeschehen gemacht werden. DerTäter habe keine Macht über die Vergangenheit95. Weder könne die Absichtaufgehoben noch das Schon-Ausgeführte vernichtet werden96. Letzteres sollte

88 Max Ernst Mayer, Der allgemeine Teil des Strafrechts, 1915, S. 370 Fn. 7.89 So Albrecht/Lilie, in: LK (Anm. 3), § 24 Rdn. 6; Jescheck/Weigend (Anm. 9), S. 538; Roxin

(Anm. 4), § 30 Rdn. 12.90 Zachariä (Anm. 47), § 237, S. 240.91 Köstlin (Anm. 6), § 121, S. 392 ff.; ebenso Goldschmidt, Die Lehre vom unbeendigten Versuch,

1897, S. 30.92 Hälschner, Das preußische Strafrecht, Teil 2, System des preußischen Strafrechts, Allgemeiner

Teil, 1858, Neudruck 1975, § 49, S. 199 ff.93 Temme (Anm. 7), § 60, S. 278.94 Bauer (Anm. 66), S. 356.95 So Osenbrüggen, Abhandlungen aus dem deutschen Strafrecht, 1. Bd., 1857, S. 38.96 Georg Ernst Otto, Vom Versuch des Verbrechens, 1854, S. 86; ebenso Hälschner, Beiträge

(Anm. 58), S. 64; ders., Strafrecht (Anm. 58), § 151, S. 360; Baumgarten, Die Lehre vom Ver-suche des Verbrechens, 1888, S. 468; H. Meyer, GS 33 (1881), S. 100, 126; Osenbrüggen(Anm. 95), S. 38; vgl. auch Krug (Anm. 6), S. 26; in der gegenwärtigen Literatur Bloy, Diedogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976, S. 168;Jäger (Anm. 40), S. 4.

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Temme zufolge nur bei einem „beendigten“ Versuch (dem delictum perfectum imUnterschied zum delictum consummatum, also dem vollendeten Delikt) gelten:Nur bei diesem sei das gesamte Willens- und Tatmoment vorhanden, so dass einAbstehen von der Ausführung des Verbrechens nicht mehr möglich sei. Es han-dele sich um bloße Wiedergutmachung, da die Versuchshandlung nicht unge-schehen gemacht werden könne97. Allerdings blieb Temme die nähere Erklärungdafür schuldig, warum in einem Fall das Vergangene abänderbar ist, im anderenFall hingegen unabänderbar.

Die vorgetragenen Einwände treffen allerdings nicht zwingend die Lehre vonZachariä, denn an anderer Stelle leistet er eine Begründung, die ein neues Licht aufden Versuch wirft: Das Verhalten, das der Täter im Falle des Rücktritts schon zurÜbertretung der Gesetze vorgenommen habe, ist seines Erachtens noch keinabgeschlossenes Ganzes, kein vollendetes Delikt98. Mit dieser Betrachtungsweisenimmt sein Ansatz eigentlich schon die von Luden vertretene so genannte Prä-sumtionstheorie vorweg. Diese gesteht zwar der soeben vorgestellten Kritik zu,dass der Täter, ehe er seine verbrecherische Tätigkeit abbrach, mit dem Willen zurVollendung gehandelt habe, behauptet aber, dass dieses Handeln nicht als selb-ständige Tat angesehen werden könne. Die ganze verbrecherische Tätigkeit müsseals ungeteilte Handlung betrachtet werden. Gibt der Täter den Willen zur Voll-endung wieder auf, bevor er die Handlung begeht, von welcher er die Vollendungerwartet, fehlt es Luden zufolge am erforderlichen Willen, weil dieser währendder ganzen Handlung vorliegen muss. Es liegt dann schon überhaupt kein Ver-such mehr vor. Anders, wenn die Tätigkeit durch äußere Umstände unterbrochenwird: Hier soll eine Präsumtion der Fortdauer des verbrecherischen Willens gel-ten. Die Möglichkeit, dass der Täter später den Willen zur Vollendung ohnehinaufgegeben hätte, wurde von Luden für unbeachtlich gehalten, weil sie rein hy-pothetisch ist. Gleichwohl meinte er, dass der Täter lediglich für das bestraftwerde, was er schon getan hat, nicht jedoch wegen der präsumierten Fortdauerdes verbrecherischen Willens99. Dieses Zugeständnis hat wiederum von Temmeden Einwand provoziert, dass nach den Vorgaben der Lehre die durch äußerenZwang abgebrochene Tätigkeit gerade noch nicht als strafbare Versuchshandlungbetrachtet werden könne100. Luden bleibt letztlich einer Sichtweise verhaftet, dieschon jegliche Versuchshandlung als eigenständiges Delikt begreift. Die theoreti-sche Notwendigkeit der Präsumtion ist von Luden nicht näher einsichtig gemachtworden.

Dessen ungeachtet hat der Begründungsansatz Ende des 19. Jahrhundertsund Anfang des 20. Jahrhunderts weitere Anhänger gefunden – wie zum BeispielLammasch, dem zufolge der Beginn der Ausführung nur Kraft der Präsumtion,

97 Temme (Anm. 7) § 60, S. 278.98 Zachariä (Anm. 47), § 255, S. 241.99 Luden (Anm. 6), § 65, S. 420 ff.

100 Siehe Temme (Anm. 7), § 60, S. 278 Fn. 1.

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dass der Täter die begonnene Tätigkeit vollenden wird, also nur unter der Vo-raussetzung, dass der Täter nicht freiwillig zurücktritt, rechtlich erheblich ist.Solange der Täter nicht bis zum Ende fortschreite, fehle es an einer zurechen-baren Ursache des rechtswidrigen Erfolgs wie, als wenn der Täter überhauptnicht angefangen hätte, tätig zu werden. Die Normübertretung sei erst bei einembeendeten Versuch – also mit Abschluss der Tätigkeit des Delinquenten – voll-endet, so dass in diesem Fall auch kein Rücktritt mehr denkbar ist101. Binding,auf den diese Begründung zurückgeht und der ebenfalls das Verhalten des Tätersals Einheit betrachtete, argumentierte, dass dieses als Ganzes den Charakter derUrsächlichkeit für den Erfolg verliere, wenn der Täter im Falle des Rücktritts diezuvor von ihm gesetzten Bedingungen wieder vernichte. Die Rechtswidrigkeitseines Verhaltens werde nachträglich wieder aufgehoben, so dass es kein Versuchmehr sei102.

Der Ansatz von Lammasch ist heute deswegen noch von besonderem Inte-resse, weil er – ebenso wie wenig später Herzog – normentheoretisch argumen-tierte. Beide gründeten ihren Standpunkt auf die Imperativentheorie, die dasRecht als Inbegriff von Verhaltensnormen begreift, die sich an den menschlichenWillen wenden103. Lammasch folgerte daraus sogar, dass dem Menschen über-haupt nur das Versuchen zugerechnet werden könne. Verbieten könne man nurdas Anstreben des Erfolgs104. Nach Ansicht von Herzog wiederum soll erst indem Moment, in dem der Täter die Herrschaft über sein Wirken verliert, dieNorm übertreten werden. Der unbeendete Versuch selbst stellt seines Erachtensnoch keine Verbotsverletzung dar105, so dass es insoweit der Präsumtion derFortsetzung der deliktischen Tätigkeit des Täters bedarf. Verboten sei ein Ver-halten immer dann, wenn der Täter erwarte, dass durch dieses der Erfolg ein-trete106. Damit jedoch wird der Versuch wiederum zu einer eigenständigen Tatund der Erfolg sogar aus dem Tatbegriff ausgesondert107. Zwar ist der Verstoßgegen eine Verhaltensnorm der Allgemeinheit ein Essentiale jedweden strafbaren

101 Lammasch, Das Moment objectiver Gefährlichkeit im Begriffe des Verbrechensversuches,1879, S. 69, 71.

102 Binding, Das bedingte Verbrechen, in: Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen,1. Bd., 1915, S. 95 ff., 125; siehe auch zuvor schon ders., Die Normen und ihre Übertretung,1. Bd., 1872, § 7, S. 43 Fn. 89; ebenso Horn, ZStW 20 (1900), S. 309, 353, 355; Oetker, ZStW 17(1897), S. 53, 68.

103 Diese Theorie im Kontext von Versuch und Rücktritt aufgreifend Loos, Festschrift für Jakobs,S. 355 ff., der darin eine Vorwegnahme der Normentheorie der finalen Handlungslehre er-blickt.

104 Lammasch (Anm. 101), S. 53 f., 60 f.105 Vgl. zu dieser Problematik auch Struensee, Gedächtnisschrift für Kaufmann, S. 523, 537 f., der

meint, dass der unbeendete Versuch nicht von derselben Bestimmungsnorm erfasst werde wieder beendete Versuch; siehe auch ders., Grundlagenprobleme des Strafrechts, 2005, S. 52 ff.,59 ff.

106 Herzog, Rücktritt vom Versuch und thätige Reue, 1889, S. 169 ff.107 So zum Beispiel ausdrücklich Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom

Versuch, 1995, S. 83 ff., der in seinem theoretischen Rücktrittsansatz der Lehre von Herzogfolgt.

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Verhaltens, das ein staatliches Strafrecht auslöst. Die vollendete Tat ist jedochstets zugleich Verletzung der tatbestandlich geschützten Rechtsposition einesIndividuums oder der Allgemeinheit108. Aus der Opferperspektive ist daherregelmäßig für die vollendete Tat die auf einer Rechtsverletzung beruhende Be-einträchtigung der faktischen Integrität des Verletzten erforderlich.

VI. Versuch und Rücktritt als einheitliche Zurechnungsfigur

Trotzdem liegt in den Rechtstheorien ein berechtigter Kern, sofern sie anerken-nen, dass sich die strafrechtliche Haftung beim Versuch nicht allein auf dasstützen kann, was der Täter tatsächlich vollbracht hat, dass Versuch und Rücktritteine Einheit darstellen und dass die Beachtlichkeit des Rücktritts nicht auf einembloßen kriminalpolitischen Grund beruht, sondern auf einem Rechtsgrund, deraus dem Begriff des Versuchs selbst abgeleitet werden kann. Die Rationalität derRechtstheorien wird einsichtig, wenn man den Versuch als Zurechnungsfigurversteht109, die dem Täter die Berufung darauf, dass die Tat nicht vollendetwurde, abschneidet. Der Täter wird kraft Rechtsfiktion so behandelt, als habeer den Tatbestand erfüllt. Er haftet strafrechtlich gerade für das, was ihm nichtgelungen ist. Erst dadurch wird der Versuch überhaupt zur Tat. Grundlage dieseraußerordentlichen Zurechnung ist die Erwägung, dass das zufällige Ausbleibender Tatvollendung den Täter nicht entlasten soll.

Glaubt der Täter im Zeitpunkt der Handlung, alles für die TatvollendungErforderliche getan zu haben (Fall des beendeten Versuchs im Sinne der hiervertretenen Theorie), und irrt er sich, weil wider Erwarten die Tatvollendungausbleibt110, wirkt sich die Fehlvorstellung des Täters zu seinen Ungunsten aus:Der Versuch wird als misslungene Tat der vollendeten Tat normativ gleichgestellt.Würde der Täter nochmals versuchen, sein Ziel zu erreichen, würde es sich daherum eine neue Tat handeln! Die Plausibilität dieser Wertung wird nachvollziehbar,wenn man den umgekehrten Fall berücksichtigt, in dem der Täter sich irrt, weilwider Erwarten sein Verhalten einen Taterfolg verursacht: Hier wirkt sich dieFehlvorstellung zu seinen Gunsten aus. Die Tatvollendung wird dem Täter nicht(als vorsätzlich) zugerechnet111. Dabei ist in beiden Fällen der Zufall nicht ob-

108 Siehe dazu Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2001, S. 76 ff.; ders., Die Theorie derTatherrschaft und ihre Grundlagen, 2008, S. 58 ff.; ebenso Renzikowski, GA 2007, 561 ff.

109 Vgl. Sancinetti (Anm. 107), S. 83, der den Rücktritt als Bestandteil der allgemeinen Zurech-nungslehre verortet.

110 Dass es sich um einen Irrtumsfall handelt, wird schon von Hepp, Versuche über einzelneLehren der Strafrechtswissenschaft, 1827, S. 328 sowie Pfotenhauer, Der Einfluß des factischenIrrthums auf die Strafbarkeit versuchter Verbrechen, 1838, S. 4, 87, festgestellt; in der gegen-wärtigen Literatur Hruschka, Gedächtnisschrift für Zipf, 1999, S. 235, 246.

111 Insoweit auch schon Hruschka, Gedächtnisschrift für Zipf, S. 235 ff., der jedoch seinen Ansatzauf den beendeten Versuch beschränkt und diesen – anders als hier vertreten – als delictum suigeneris des Allgemeinen Teils einordnet; siehe ebenso Paeffgen (Anm. 39), S. 795, der meint,dass bei einer weiteren Handlung ein neuer Anlauf im Sinne einer neuen Tat gegeben sei.

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jektiv, sondern in jeweils umgekehrter Weise durch die Abweichung der Vor-stellung des Täters von der Wirklichkeit definiert112.

Ein Rücktritt durch aktive Verhinderung der Tatvollendung ist bei dieserKonzeption nur denkbar, wenn der Täter glaubt, nach Abschluss der Ausfüh-rungshandlung noch die Möglichkeit zu besitzen, den Erfolg abzuwenden, dieseMöglichkeit also nach seiner Vorstellung kein unerwarteter Zufall ist. Das nach-trägliche Unterlassen würde gewissermaßen zur Tat hinzugehören113. Diese Ein-schränkung wurde schon von einigen Anhängern der Rechtstheorien vertreten114.Sie findet sich aber auch in der gegenwärtigen Literatur115 – und zwar unteranderem mit der zutreffenden Erwägung, dass die Abwendung des Erfolgs beieiner zufällig beherrschbaren Revokationsmöglichkeit sich eher mit einer Wieder-gutmachung nach vollendeter Tat vergleichen ließe, die nur bei der Strafzumes-sung Berücksichtigung finde116. Auf diesen Punkt wird am Ende des Aufsatzesnoch einmal einzugehen sein.

Wie stellt sich nun die Lage bei einem unmittelbaren Ansetzen dar, bei dem derTäter in der Absicht handelt, die Tat zu begehen, jedoch im Zeitpunkt der Hand-lung glaubt, noch nicht alles Erforderliche zu ihrer Vollendung getan zu haben(Fall des unbeendeten Versuchs im Sinne der hier vertretenen Theorie)? Nimmtder Täter von der weiteren Tatausführung aufgrund eines freien Willensentschlus-ses Abstand, dann wird ihm das Ausbleiben der Tatvollendung als Verdienst zu-gerechnet117. Die Nichtvollendung der Tat ist dann kein Zufall. Die Tat ist nichtmisslungen. Der Täter kann sich daher darauf berufen, dass der Tatbestand nichterfüllt ist. Anderes gilt in dem Fall, in dem die weitere Ausführung der Tat widerErwarten durch äußere Hindernisse oder Zwang unterbunden wird. Der Um-stand, dass der Täter seine Tätigkeit entgegen seiner Vorstellung nicht weiter voll-ziehen kann, stellt wiederum aus seiner Perspektive einen bloßen Zufall dar, derihn nicht entlastet. Der Täter wird daher so behandelt, als habe er die Tathandlungweiter ausgeführt und aus seiner Sicht alles Erforderliche getan118. Diese Fiktion,die nicht – wie es bei der Präsumtionstheorie den Anschein hat – psychologischgedeutet werden darf, ist wiederum Grundlage der außerordentlichen Zurech-

112 Der untaugliche Versuch steht daher mit der hier vertretenen Lehre nicht im Widerspruch.Dies wäre nur dann der Fall, wenn von einer objektiven Definition von Zufall ausgegangenwerden würde.

113 So schon Schröter (Anm. 6), § 89, S. 130; offenbar auch Freund (Anm. 49), § 9 Rdn. 64 b.114 Lammasch (Anm. 101), S. 73 f.; Herzog (Anm. 106), S. 170; von Bar, Gesetz und Schuld im

Strafrecht, Bd. II, Die Schuld nach dem Strafgesetze, 1907, § 287, S. 558 f.115 Burkhardt,Der„Rücktritt“alsRechtsfolgebestimmung,1975,S. 92 f.;Jakobs,ZStW104(1992),

S. 82, 89 ff., Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 9), § 24 Rdn. 21; Freund (Anm. 49), § 9 Rdn. 64 b.116 So Burkhardt (Anm. 115), S. 93.117 Vgl. Jakobs (Anm. 9), 26/1: Die Objektivierung des Widerrufs beim Rückritt müsse dem Täter

in dem Sinne zurechenbar sein, in dem gute Werke zurechenbar sein könnten. Die Zurechen-barkeit beim Rücktritt entspreche der Schuld beim Versuch.

118 Siehe jedoch Loos, Festschrift für Jakobs, S. 356, der das Problem aufwirft, ob nicht durch diedie Freiwilligkeit ausschließenden Umstände dem Täter die Möglichkeit der Widerlegung derPräsumtion genommen werde. Darauf ist zu antworten, dass die Sinnesänderung, die der Täterzuvor schon jeweils hätte vollziehen können, rein hypothetisch bleibt.

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nung der de facto nicht eingetretenen Tatvollendung, wenn auch das geringereHandlungsunrecht im Verhältnis zum beendeten Versuch eine Strafmilderungrechtfertigt. Dabei ist entgegen Herzog durchaus schon das unmittelbare Anset-zen rechtswidrig – nur auf ein rechtswidriges Verhalten kann überhaupt die not-wendige Präsumtion gestützt werden. Es ist aber für sich gesehen noch nicht Tat!

Bei dieser dogmatischen Konzeption wird der Versuch wieder als Versuchetabliert und der Rücktritt versuchsspezifisch aufgefasst: Die Rücktrittsregelungist integraler Bestandteil der Zurechnungsfunktion, die durch die Versuchsnormausgeübt wird. In seinen Voraussetzungen gleicht der unterbreitete Vorschlag imWesentlichen der Tatänderungstheorie von Jakobs. Die hier vertretene Lehre gibtseinem Ansatz jedoch erst das notwendige theoretische Fundament. Denn diezwingendeStraflosigkeit folgtschondaraus,dassdasRücktrittsverhaltenTatände-rung, besser: Tatvernichtung ist. Dabei gilt: Abänderbar ist ein Geschehen immerdann, wenn es noch nicht als Tat gewertet wird. Ob es schon als Tat gewertet wird,bestimmt die Kategorie des Zufalls. Übereinstimmung herrscht insbesondere inder Ablehnung der Gesamtbetrachtungslehre und der Bevorzugung der Einzel-aktstheorie119. Die Anhänger der Einzelaktstheorie berufen sich – ungeachtet vonUnterschieden im Einzelnen – teilweise gerade darauf, dass andernfalls die Mög-lichkeit des Rücktritts dem bloßen Zufall überlassen bleibt bzw. die Möglichkeitdes Rücktritts auf dem sich dem unverdienten Zufall verdankenden Ausbleibendes Erfolgs beruhen würde120. Auch von Gegnern der Einzelaktstheorie wird dieRationalität dieses Gesichtspunkt zugestanden121. Anerkennt man freilich, dass esberechtigt ist, den Täter aufgrund des unverdienten Zufalls so zu behandeln, als seidie Tat vollendet worden, dann besteht aufgrund des schuldhaft verwirklichtenUnrechts kein Spielraum mehr, ihn aufgrund präventiver Erwägungen von Strafezu befreien – ebensowenig wie präventive Erwägungen schuldhaft verwirklichtesUnrecht und damit Strafe begründen können.

VI. Die Kompatibilität mit dem geltenden Strafgesetz

1. Der Ursprung des Rechtsinstituts seit den Glossatoren

Es stellt sich jedoch die Frage, ob das hier vertretene Verständnis von Versuchund Rücktritt als Grundlage des geltenden Strafgesetzes dienen kann. Die Fragesoll im Folgenden im Kontext der geschichtlichen Entwicklung von Versuch undRücktritt beantwortet werden, wobei hier nur eine grobe Skizze gezeichnet

119 Jakobs, ZStW 104 (1992), S. 82, 89 ff.120 Burkhardt (Anm. 115), S. 90 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 9), § 24 Rdn. 21; Geilen,

JZ 1972, 335, 342; von Heintschel-Heinegg, ZStW 109 (1997), S. 29, 45, 52 ff.; Ulsenheimer(Anm. 40), S. 233; siehe auch Paeffgen (Anm. 39), S. 796, der auf das Glück des Ausbleibens desTaterfolgs aufmerksam macht.

121 Siehe Puppe, NStZ 1984, 14, 16; Roxin (Anm. 4), § 30 Rdn. 202; ders., JR 1986, 424, 425; vgl.auch Bergmann, ZStW 100 (1998), S. 329, 344 f.

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werden soll. Die vorgeschlagene Lesart, bei der beide Regelungen eine funk-tionale Einheit bilden, kann historisch auf Art. 178 der Peinlichen Gerichtsord-nung von 1532 zurückgeführt werden. Dieser lautete: „Item so sich jemandteyner missethatt mit etlichen scheinlichen wercken, die zu volnbringung dermissethatt dienstlich sein mögen, vndersteet, vnnd doch an volnbringung derselben missethatt durch andere mittel, wider seinen willen verhindert würde,solcher böser will, darauß etlich werck, als obsteht volgen, ist peinlich zu straf-fen“122. Der Paragraph, dem entnommen werden kann, dass die Verhinderungder Vollendung wider Willen Voraussetzung eines strafbaren Versuchs ist, gehtauf das italienische Recht des Mittelalters zurück123.

Schon die Glossatoren unterschieden beim Versuch zwischen dem Fall, dassder Täter die Vollendung der Tat nicht mehr will, obwohl ihre weitere Ausfüh-rung in seiner Macht steht, der Täter also aus Reue bzw. freiwillig auf die Voll-endung verzichtet, und dem Fall, dass der Täter die Tat nicht vollenden kann, esalso nicht an ihm liegt, dass der Taterfolg nicht eintritt124. Im ersteren Fall sollteder Täter grundsätzlich straffrei bleiben („Cum vero non fuit secutus, si peni-tentia acta, si sponte non fecit, veniam meretur“)125. Im letzteren Fall sollte erhingegen so behandelt werden, als habe er die Tat vollzogen (vgl. „Si vero per eumnon stetit, tunc tenebitur, ac si fecisset“)126. Unter dieser Voraussetzung wurdeder Wille wie die Tat selbst behandelt („Si propter impossibilitatem facti, tuncvoluntas pro facto reputatur; nam voluntas & propositum distingunt malefi-cia“)127. Seeger zufolge differenzierten nicht nur die Glossatoren, sondern späterauch die italienischen Praktiker zwischen dem freiwilligen Abstehen von der Tatund der zufälligen Verhinderung der Tatvollendung128.

Dementsprechend sah das Josephinische Strafgesetzbuch von 1787 in § 9 vor,dass schon der Versuch der Tat ein Kriminalverbrechen ist, wenn die Tat infolgevon Unvermögen, aus dazwischentretenden fremden Hindernissen oder aus Zu-fall nicht vollbracht wurde. Dass in diesem Gesetz der Zufall nur als ein Grundneben anderen genannt wurde, ist darauf zurückzuführen, dass der Zufallsbegriffoffenbar objektiv verstanden wurde und nicht entsprechend der hier vertretenenKonzeption durch die Abweichung von Tätervorstellung und Wirklichkeit.Deutlich wird jedoch ungeachtet dessen, dass der Versuch nur dann als Tat be-handelt wird, wenn die mangelnde Vollendung nicht auf dem Wollen des Täters,sondern auf seinem fehlenden Können beruht.

122 Vgl. schon Art. 204 der Bambergensis von 1507.123 Siehe dazu Glöckner, Cogitationis poenam nemo patitur, 1989, S. 162.124 Glöckner (Anm. 123), S. 93 ff., 103 ff., 109 ff., 114 ff., 127 ff., 143 ff., dessen Übersetzungen hier

übernommen worden sind.125 „Wenn er [der Erfolg] jedoch nicht nachfolgte, sofern die Reue ausgeführt wurde, – wenn er

[es also] freiwillig nicht getan hat – so hat er Gnade verdient.“126 „Wenn es jedoch nicht an ihm lag, dann wird er gehalten, als ob er [es] getan hätte.“127 „Wenn aus tatsächlicher Unmöglichkeit, dann wird der Wille für die Tat genommen, denn

Wille und Vorhaben bestimmen das Verbrechen.“128 Seeger, Die Ausbildung der Lehre vom Versuch des Verbrechens in der Wissenschaft des

Mittelalters, 1869, S. 8 ff.

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In der gemeinrechtlichen Lehre des 17. und 18. Jahrhunderts wurde der imRahmen der Reue (poenitentia) abgehandelte Rücktritt ganz überwiegend – unteranderem bei Carpzov und Böhmer – nur als Strafmilderungsgrund anerkannt129.Die in Art. 178 der Peinlichen Gerichtsordnung selbst enthaltene Rücktrittsrege-lung wurde übersehen. Der Einfluss wird in der Constitutio Criminalis There-siana von 1769 deutlich, die in § 5 des 13. Artikels zwischen dem freiwilligenAbstehen aus „unverstellter Reu“ und der Unterbrechung wider Willen unter-schied und im Falle des Rücktritts dem Richter durch § 6 bei geringen Verbrechenein Ermessen einräumte, bei schweren Verbrechen jedoch lediglich eine bloßeStrafmilderung vorsah. Das Allgemeine Preußische Landrecht gewährte sodannin II 20 § 43 nur einen Anspruch auf Begnadigung, sofern der Täter aus eigenerBewegung von der Ausführung des Verbrechens abstand.

Der Zufallsgedanke wurde jedoch vorab konsequent in den II 20 §§ 40 ff.berücksichtigt. § 40 statuierte, dass der Täter, der zur Vollziehung des Verbrechensvon seiner Seite alles getan hat, die der ordentlichen Strafe am nächsten kommendeStrafe verwirkt hat, wenn die zum Wesen der strafbaren Handlung erforderlicheWirkung durch einen bloßen Zufall verhindert wurde. Und die § 40 f. ordnetenweitere Abstufungen der Strafen an, wenn der Täter durch Zufall an der letzten,zur Ausführung des Verbrechens erforderlichen Handlung gehindert wurde oderein solcher Zufall schon die vorläufigen Anstalten zur strafbaren Handlung unter-brach. Auch insoweit war die Fassung des Allgemeinen Preußischen Landrechtsoffenbar durch die gemeinrechtliche Lehre beeinflusst. So behauptete Pufendorf,dass bei einem „extremus conatus“, bei dem keine neue Willensbetätigung Platzhat, der Wille der Tat gleichkomme130. Wie Hruschka überzeugend dargelegt hat,lag dieser Formulierung die Vorstellung zugrunde, dass der Täter so behandeltwerden müsse, als sei die Tat vollendet worden. Das aus der Sicht des sich irrendenTäters zufällige Ausbleiben des Taterfolgs soll diesem nicht zugute kommen131.Ihre Grundlage bildete das schon oben erwähnte Umkehrungsprinzip, das späterauch im 19. Jahrhundert bei Tittmann und Oersted zu finden ist132. Böhmer beriefsich bei der Gleichstellung des beendeten Versuchs mit der Vollendung auf eineRechtsfiktion („Infanticidium hoc casu non vere, sed per fictionem pro consum-mato habetur“)133.

129 Carpzov, Practia nova imperialis Saxonica rerum ciminalium in partes III, 1635, Qu. 18, 23;Qu. 39, 2 ff.; zu Böhmer siehe Boldt, Johann Samuel Friedrich von Böhmer und die gemein-rechtliche Strafrechtswissenschaft, 1936, S. 485; weitere Nachweise bei Schaffstein, Die all-gemeinen Lehren vom Verbrechen, 1930, Neudruck 1986, S. 168.

130 Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, 1672, Lib. VIII, Cap. III § 18.131 Siehe umfassend Hruschka, Gedächtnisschrift für Zipf, S. 241 ff.132 Tittmann, Entwurf zu einem Strafgesetzbuche für das Königreich Sachen, 1. Bd., 1813, § 18,

S. 27 f.; ders., Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde,1. Bd., 2. Aufl. 1822, § 98, S. 193; Oersted (Anm. 35), § 23, S. 164; dagegen allerdings Mitter-maier, Neues Archiv des Criminalrechts, 1. Bd. (1817), S. 167, 191.

133 Böhmer, Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam, 1774, zu 131, § 15, S. 566;ebenso zu 178, § 11, S. 857.

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3. Die dogmatische Entwicklung im 19. Jahrhundert

Die Partikulargesetzgebung des 19. Jahrhunderts anerkannte hingegen wiederumdie Straflosigkeit des von einem unbeendigten Versuch willentlich bzw. freiwilligabstehenden Täters, ohne dass es dazu des Motivs der Reue bedurfte134. Ledig-lich das Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1838 lehnte einevöllige Straflosigkeit ab und sah für den Zurücktretenden eine Höchststrafe voneinem Jahr Arbeitshausstrafe vor. Und das Strafgesetzbuch für das Großherzog-tum Hessen von 1841 billigte dem Zurücktretenden zwar Straflosigkeit zu, ver-langte aber, dass der Täter freiwillig und aus Reue von seinem UnternehmenAbstand nimmt135. In der gemeinrechtlichen Literatur des 19. Jahrhundertsspielte das Motiv der Reue nur noch vereinzelt eine Rolle. So fragte beispiels-weise Kleinschrod nach der Strafbarkeit desjenigen Versuchs, der aus Reue un-vollendet bleibt136. Die ganz herrschende Meinung indes hielt das Rücktritts-motiv für irrelevant137.

Dies bedeutete allerdings nicht, dass die anderen Kodifikationen und diesonstige kriminal-wissenschaftliche Literatur sich wiederum an der PeinlichenGerichtsordnung orientierten. Auffallend ist, dass die Regelung des Versuchs unddes Rücktritts nunmehr mit Ausnahme von § 31 des Preußischen Strafgesetz-buchs von 1851, das vom Code pénal aus dem Jahre 1810 beeinflusst wordenwar138, in jeweils eigenen Vorschriften erfolgte – in den Art. 57, 58 des Strafge-setzbuchs für das Königreich Baiern von 1813, in den Art. 62, 73 des Strafgesetz-buchs für das Königreich Württemberg von 1839, in den Art. 33, 34 des Crimi-nalgesetzbuchs für das Königreich Hannover von 1840, in den Art. 64, 69 des

134 Aus der Kommentarliteratur siehe beispielsweise Beseler, Kommentar über das Strafgesetz-buch für die Preußischen Staaten, 1851, S. 142; Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetz-Buche für die Preußischen Staaten, Theil 1, 1851, S. 257; Leonhardt, Commentar über dasCriminalgesetzbuch für das Königreich Hannover, 1. Bd., 1846, S. 170 f.; Hufnagel, Commen-tar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, 1840, S. 147; vgl. ferner Weiß,Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen mit erläuternden Bemerkungen zum prakti-schen Gebrauch und einer Vergleichung des Entwurfs, 1. Bd., 1841, S. 145, dass der Beweg-grund bedeutungslos sei. Allerdings hielt Weiß die moralische Verschiedenheit des Beweg-grunds nicht für unwichtig. Es sei jedoch in vielen Fällen unausführbar, die wahren Motive derveränderten Handlungsweise zu ermitteln.

135 Vgl. auch Breidenbach, Commentar über das Großherzoglich Hessische Strafgesetzbuch,1. Bd., 1840, S. 199 f.

136 Kleinschrod (Anm. 6), § 42, S. 94; ebenso Martin, Lehrbuch des teutschen gemeinen Criminal-rechts, 1829, § 49, S. 109; vgl. Ende des 18. Jahrhunderts auch Westphal, Das Criminalrecht,1785, S. 119.

137 Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 4. Aufl. 1868, § 105, S. 168; Hälschner (Anm. 92),§ 49, S. 202; Köstlin (Anm. 6), § 84, S. 239; Luden (Anm. 6), § 70; S. 427; Marezoll (Anm. 10),§ 33, S. 117 mit Anm. 2; Osenbrüggen (Anm. 95), S. 37; Schröter (Anm. 6), § 87, S. 128; Temme(Anm. 7), § 60, S. 279; Zachariä (Anm. 47), § 261, S. 250.

138 Siehe Art. 2 in den einleitenden Verfügungen: „Jeder Versuch eines Verbrechens, der durchäußere Handlungen an den Tag gelegt worden ist, und einen Anfang der Ausführung enthaltenhat, wird, wenn er nur durch zufällige oder von dem Willen des Täters unabhängige Umständeaufgehalten worden ist, oder seine Wirkung verfehlt hat, wie das Verbrechen selbst angese-hen.“

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Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum von Hessen von 1841, in den §§ 106,117 des Strafgesetzbuchs für das Großherzogtum Baden von 1845 und schließlichin den Art. 39, 44 des Strafgesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1855. DieAufspaltung von Versuch und Rücktritt besaß dabei offenbar teilweise die Funk-tion, kenntlich zu machen, dass der Täter – wie Art. 69 des Strafgesetzbuchs fürdas Großherzogtum von Hessen ausdrücklich erklärte – zu beweisen hatte, frei-willig von dem Unternehmen abgestanden zu sein139. Die Aufspaltung von Ver-such und Rücktritt kann aber auch als erster Schritt einer Verselbständigung desVersuchs gedeutet werden, wie die Begründung des Rücktritts in einzelnen Ko-difikationen unter Beweis stellt.

So wurde in den Anmerkungen zu dem Strafgesetzbuche für das KönigreichBaiern von 1813 der Versuch in sehr verklausulierter Weise als selbständigesVergehen betrachtet140. Der in Art. 58 geregelte Rücktritt wurde teils daraufgestützt, dass der Täter diese Schonung verdiene, teils darauf, dass dem Staatdaran liege, Verbrechen in ihrer Entstehung zu verhindern, und die zugesicherteStraflosigkeit ein starker Antrieb für den „Uebelthäter“ sei, der Stimme seinesGewissens zu gehorchen141. Die Motive des Strafgesetzbuchs für das KönigreichWürttemberg von 1839 übernahmen diese Begründung fast wörtlich142. In derKammer der Abgeordneten hingegen wurde nur der kriminalpolitische Grundanerkannt143. Leonhardt gelangte in Bezug auf das Criminalgesetzbuch für dasKönigreich Hannover zu der Einschätzung, dass mehr Übereinstimmung überdie Forderung nach Straflosigkeit durch dringende Gründe der Kriminalpolitikgeherrscht habe144, ebenso Breidenbach in Bezug auf das Strafgesetzbuch für dasGroßherzogtum Hessen von 1841, der in diesem Zusammenhang auf die Selb-ständigkeit des Versuchs als Verbrechen hinwies, allerdings auch vom Standpunktder zweiten Kammer berichtete, dem zufolge die Reue bei einem beendigtenVerbrechen immer etwas Leeres sei145. Die Motive des Entwurfs zum Preußi-schen Strafgesetzbuch von 1851 anerkannten ausschließlich die Anreiztheorie alsRücktrittsgrund. Die Gerechtigkeit lasse den verbrecherischen Vorsatz stets alsstrafbar erscheinen146. Die kriminalpolitische Theorie gewann auch in der Li-teratur zunehmende Anhängerschaft147, obwohl als maßgebliche historische

139 Vgl. Zachariä, Archiv für Preußisches Strafrecht 5 (1857), S. 577, 589, dass bei dieser gesetz-lichen Ausgestaltung – anders als nach § 31 des Preußischen Strafgesetzbuchs – der freiwilligeRücktritt eine zum Entschuldigungsbeweis gehörige Tatsache sei.

140 Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern, 1. Bd., 1813, S. 175.141 Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern, 1. Bd., 1813, S. 181.142 Entwurf eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg mit Motiven, 1836, S. 47;

vgl. auch Hepp, Commentar über das neue württembergische Straf-Gesetzbuch, 1. Bd., 1839,S. 533.

143 Siehe Hufnagel (Anm. 134), S. 147.144 Leonhardt (Anm. 134), S. 170.145 Breidenbach (Anm. 135), S. 199 f.146 Goltdammer (Anm. 134), S. 253.147 Siehe zum Beispiel Abegg (Anm. 7), § 96, S. 155; Bauer (Anm. 6), § 71, S. 109, Anm. c; Jarcke

(Anm. 6), § 32, S. 217; Osenbrüggen (Anm. 95), S. 37; vgl. auch Henke (Anm. 6), § 40, S. 257,der die Begründung des Baierischen Strafgesetzbuchs übernahm.

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Rechtsquelle weiterhin vielfach Art. 178 der Peinlichen Gerichtsordnung heran-gezogen wurde148.

Ungeachtet dessen folgten noch die Partikulargesetzgebungen der normati-ven Logik des Zufalls, sofern sie einen Rücktritt und damit Straflosigkeit nur beieinem unbeendigten Versuch anerkannten, wobei der Unterschied zwischen denunbeendigten und beendigten Versuch eher objektiv definiert war. Bei einemnoch nicht beendigten Versuch sollte der Täter straflos sein, wenn – wie dieStrafgesetzbücher für das Königreich Württemberg von 1839149 in Art. 73 undfür das Großherzogtum Hessen in Art. 69 formulierten – der Täter freiwillig undnicht aus anderen zufälligen, von seinem Willen unabhängigen Umständen vonseinem Unternehmen absteht. Sachlich identisch, wenn auch sprachlich etwasverunglückt, war die Formulierung des Art. 33 des Criminalgesetzbuchs für dasKönigreich Hannover von 1840, dass der noch nicht beendigte Versuch straflosbleibe, wenn der Handelnde von der Tat völlig abstehe, ohne dazu durch einäußeres Hindernis oder durch Zufall genötigt worden zu sein. Vereinzelt wurdestrafmildernd berücksichtigt, wenn der Täter bei einem beendigten Versuch dieVollendung der Tat verhindert – so zum Beispiel bei Freiwilligkeit in § 118 desStrafgesetzbuchs für das Großherzogtum Baden von 1845 oder in Art. 42 desStrafgesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1855. Offenbar hat das franzö-sische Recht, das den Versuch als délit manqué begriff, auf die deutsche Gesetz-gebung insgesamt Einfluss ausgeübt150.

Auch in der gemeinrechtlichen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts nimmt der Zufallsgedanke noch breiten Raum ein. So behaupteten beispiels-weise von Quistorp bzw. Klein, dass der geendigte Versuch wie das vollendeteVerbrechen zu bestrafen sei, wenn der Verbrecher von seiner Seite alles getan habe,was nach seiner Absicht geschehen sollte und die Wirkung lediglich durch einenZufall gehindert werde. Und Kleinschrod meinte, dass bei einem geendigten Ver-brechen die fehlende Vollendung bloßer Zufall sei, der auf die Strafe keinen Ein-fluss haben könne151. Nichts anderes besagt die Formulierung von Tittmann, dassder nächste Versuch dem Täter wie die Vollbringung der Tat mit allen Folgen

148 Abegg (Anm. 7), § 94, S. 153; Bauer (Anm. 6), § 71, S. 109, Anm. c; Jarcke (Anm. 6), § 32, S. 217;Marezoll (Anm. 10), § 33, S. 117; Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts, 1. Bd. (1817),S. 163, 200; Rosshirt, Lehrbuch des Criminalrechts nach den Quellen des gemeinen deutschenStrafrechts und mit besonderer Rücksicht auf die Darstellung des römischen Criminalrechts,1821, § 45, S. 88; Schröter (Anm. 6) § 86, S. 128.

149 Vgl. auch Art. 10 des Änderungsgesetzes von 1840, der anordnete, dass sich die gesetzlicheStrafdrohung auch auf den Versuch erstreckt, „sofern die Ausführung des beabsichtigtenVerbrechens angefangen und nur durch zufällige oder von dem Willen des Thäters unabhän-gige Umstände aufgehalten worden ist, oder die Wirkung verfehlt hat.“

150 Wenn der Versuch als solcher eine fehlgeschlagene Tat darstellt, dann spricht viel dafür, dass eseine eigene Kategorie des fehlgeschlagenen Versuchs nicht geben kann; gegen den fehlgeschla-genen Versuch im Ergebnis auch Schroeder, NStZ 2009, 9 ff.; dagegen wiederum Roxin, NStZ2009, 319 ff.

151 Von Quistorp, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts, Teil 1, 6. Aufl. 1809, hrsg. vonKlein, § 29, S. 41; Kleinschrod (Anm. 6), § 39, S. 84.

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zugerechnet werden müsse. Den Täter müsse die volle Strafe treffen, wenn diebeabsichtigte Wirkung durch Zufall oder durch die Anwendung schneller Gegen-mittel ausbleibe152. Tittmann hielt freilich in Übereinstimmung mit der überkom-menen herrschenden Lehre des gemeinen Rechts daran fest, dass die Unterbre-chung des Versuchs durch den freien Willen des Subjekts nur zu einer Minderungder Zurechnung berechtige153. Anderer Ansicht war insoweit Henke: Unter Ein-beziehung des Rücktritts äußerte er, dass für eine strafbare Versuchshandlungerforderlich sei, dass die beabsichtigte Wirkung durch zufällige, vom Willen desTäters unabhängige Umstände vereitelt werde154. Gleichermaßen meinte Hepp,dass der Umstand, dass die Wirksamkeit durch äußere, vom Willen des Tätersunabhängige Umstände verhindert worden sei, die Strafbarkeit nicht aufhebe155.Marezoll hielt den Versuch nur dann für strafbar, wenn die Vollendung widerdes Täters Willen durch andere zufällige Umstände und damit nicht infolge deseigenen Rücktritts unterbleibt156.

Dies entsprach dem Standpunkt der Hegelianer. So definierte zunächst Häl-schner das versuchte Verbrechen dadurch, dass in ihm die verbrecherische Ab-sicht zufällig nicht zur vollständigen Verwirklichung gelangt sei. Aus dieser De-finition schloss er, dass eine Handlung dann nicht als strafbarer Versuch einesVerbrechens zu betrachten sei, sofern die Vollendung durch eine freie Willens-tätigkeit des Täters selbst verhindert werde157. Das Verständnis des Versuchs alsZurechnungsfigur deutet sich beiläufig in der Behauptung von Köstlin an, dassdem in verbrecherischer Absicht Tätigwerdenden der unvorhergesehene Aus-gang seines Unternehmens nicht zugerechnet (im Sinne von zugutegehalten)werden könne158. Was den Fall anbetrifft, dass der Täter glaubt, schon allesErforderliche für die Tatvollendung getan zu haben, so vertrat Köstlin die kon-sequente Auffassung, dass ein Rücktritt nur dann begründbar ist, wenn der Täterdie Möglichkeit in der Hand hält, den wirklichen Eintritt des Erfolgs abzuwen-den. Köstlin begründete seinen Standpunkt damit, dass der beendete Versuch imBewusstsein des Täters das vollendete Verbrechen selbst sei159.

Im 19. Jahrhundert wurde also nicht nur die Präsumtionstheorie als zweiterEckpfeiler der hier vertretenen Konzeption, sondern auch ihr erster Eckpfeiler –nämlich die Kennzeichnung des Versuchs durch das zufällige Ausbleiben derTatvollendung – vertreten. Auch Autoren, die nicht explizit die Kategorie desZufalls bemühten, hielten den unbeendigten Versuch nur dann für strafbar, wenn

152 Tittmann (Anm. 6), § 98, S. 194.153 Tittmann (Anm. 6), § 98, S. 195.154 Henke, Lehrbuch des Strafrechtswissenschaft, 1815, § 48, S. 42 f. Fn. 3; ders. (Anm. 6), § 40

Rdn. 257.155 Hepp (Anm. 110), S. 238.156 Marezoll (Anm. 10), § 33, S. 117.157 Hälschner (Anm. 92), § 46, S. 173 ff.; § 49, S. 199 ff.158 Köstin, System des Deutschen Strafrechts, 1845, Neudruck 1970, § 83, S. 204.159 Köstin (Anm. 157), § 84, S. 239 Fn. 6, vgl. schon Schröter (Anm. 6), § 89, S. 130, der diesen Fall

offenbar dem unbeendigten Versuch zuweist.

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das Ausbleiben der Vollendung auf einem vom Willen unabhängigen Umstandberuht160.

3. Die endgültige Veränderung der Rechtsauffassung des RStGB

Die Rechtsauffassung änderte sich jedoch mit Verabschiedung des Reichsstraf-gesetzbuchs von 1871161. § 46 Nr. 1 RStGB regelte – sich in tradierten Bahnenbewegend – den Rücktritt vom unbeendeten Versuch, während § 46 Nr. 2 RStGBnunmehr die Möglichkeit „tätiger Reue“ vom beendeten Versuch vorsah. In denMotiven zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund heißt es, dass sichder Entwurf in Übereinstimmung mit den meisten anderen deutschen Strafge-setzbüchern befinde, wenn er in § 44 (§ 46 RStGB) es nur für einen Ausschlie-ßungsgrund rücksichtlich der an und für sich verwirkten Strafe erachte, wenn derTäter die Ausführung der beabsichtigten Handlung aufgegeben habe, ohne durchvon seinem Willen unabhängige Umstände gehindert worden zu sein162. Damitwurde, was sich bei der Partikulargesetzgebung schon angedeutet hatte, der Ver-such als solcher endgültig unabhängig vom Rücktritt des Täters als strafbare Tatdefiniert163. Und obwohl die Motive ausdrücklich nur § 44 Nr. 2 (§ 46 Nr. 2RStGB) auf kriminalpolitische Gründe stützten164, wurde später § 46 RStG ins-gesamt von Rechtsprechung165 und herrschender Meinung im Sinne der Lehrevon der goldenen Brücke interpretiert und – im Einklang mit den Motiven – alspersönlicher Strafausschließungsgrund qualifiziert, dessen Wirkung auf den Tä-ter beschränkt sein sollte166. Ob der Trennung von Versuch und Rücktritt – wie

160 Berner (Anm. 137), § 105, S. 168; Heffter (Anm. 47), § 99, S. 83; Jarcke (Anm. 6), § 32Rdn. 216 f.; Rosshirt, Lehrbuch des Criminalrechts nach den Quellen des gemeinen deutschenStrafrechts und mit besonderer Rücksicht auf die Quellen des römischen Strafrechts, 1821,§ 45, S. 88; Wächter, Lehrbuch des römisch-teutschen Strafrechts, 1. Teil, 1825, § 86, S. 143.

161 Vgl. jedoch den Vorschlag von Häberlin, Kritische Anmerkungen zu dem Entwurf einesStrafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund, 1869, dass ein Versuch nur vorhanden seinsoll, wenn die Vollendung der Handlung durch einen vom Willen des Täters unabhängigenZufall verhindert worden ist; vgl. ferner die Kritik an dem Entwurf von Held, Bemerkungenzu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund, 1870, S. 28.

162 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bun-des, I. Legislaturperiode – Session 1870, 3. Bd., 1870, S. 53.

163 Kritisch daher Binding, Der Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den norddeutschen Bund inseinen Grundsätzen, 1969, S. 77, dass der Versuch nicht bestraft werde, weil er eine Manife-station des verbrecherischen Entschlusses an den Tag lege, sondern weil er eine teilweiseVerwirklichung eines vorsätzlichen Verbrechens in sich trage.

164 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bun-des, I. Legislaturperiode – Session 1870, 3. Bd., 1870, S. 53.

165 Vgl. nur RGSt. 6, 341, 342; 10, 324, 325; 14, 19, 23; 17, 243, 244; 38, 402, 403; 39, 37, 39; 47, 358,360; 62, 303, 305; 63, 158, 159; 72, 349, 350; 73, 52, 60.

166 Allfeld (Anm. 11), § 36, S. 201, 205; Finger (Anm. 11), § 63, S. 318; Gerland, Deutsches Reichs-strafrecht, 1922, § 51, S. 137 f.; Hälschner, Beiträge (Anm. 58), S. 64; ders., Strafrecht (Anm. 58),§ 151, S. 361, der zugleich Billigkeitsgründe anerkannte; Robert von Hippel (Anm. 13), § 29,S. 410, 412; von Liszt (Anm. 13), § 47, S. 202; F. Meyer, Strafgesetzbuch für den NorddeutschenBund, 1871, S. 50; kritisch wiederum Binding (Anm. 163), S. 77, bezüglich der Straflosigkeitdes Teilnehmers.

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teilweise bei der Partikulargesetzgebung – auch strafprozessuale Gründe zugrun-de lagen – im Sinne einer dem Angeklagten aufzuerlegenden Behauptungs- odergar Beweislast der Rücktrittsvoraussetzungen oder im Sinne einer Vereinfachungder Fragestellung an die Geschworenen in Schwurgerichtsverfahren167 –, bedarfdaher an dieser Stelle keiner weiteren Vertiefung168. Entscheidend ist, dass sichdie Verselbständigung des Versuchs sowie die kriminalpolitische Erklärung derStraflosigkeit bei Abstandnahme von der Tat durch Rücktritt (§ 46 Nr. 1 RStGB)und tätige Reue (§ 46 Nr. 2 RStGB) auf breiter Front durchsetzten.

4. Die gegenwärtige Rechtslage nach Einführung des 2. Strafrechts-reformgesetzes

Das 2. Strafrechtsreformgesetz schließlich hat an die Regelung des Reichsstraf-gesetzbuchs angeknüpft, ohne allerdings – wie oben geschildert – die kriminal-politische Begründung der Anreiztheorie zu übernehmen, deren Folge erst dieAusweitung der Rücktrittsmöglichkeit war! Dass dafür unterschwellig die nor-mative Logik des Zufalls noch fortlebte, beweist der zweite Bericht des Sonder-ausschusses: „Wenn [. . .] der verbrecherische Wille und damit die Gefährlichkeitdes Täters der tragende Strafgrund beim Versuch sind, kann es für die Strafbe-messung keinen grundsätzlichen Unterschied bedeuten, ob der Erfolg eingetre-ten oder aus Gründen, die außerhalb des Willensbereichs des Täters liegen, aus-geblieben ist. Man denke etwa an den Fall, das ein geplantes Sprengstoffattentat,durch das mit Sicherheit zahlreiche Menschen getötet worden wären, durchZufall so rechtzeitig entdeckt wird, dass der Erfolgseintritt noch verhindert wer-den kann“169. In den Beratungen des Sonderausschusses wurde dieser Passuswiederum von Corves als Vertreter des Justizministeriums aufgegriffen, der ar-gumentierte, dass die Gefährlichkeit und der verbrecherische Wille des Tätersvon diesem Zufall völlig unabhängig seien170. Schon der Entwurf von 1962 hattedafür plädiert, dass der Täter keine mildere Strafe erwarten dürfe, nur weil erdurch Zufall am Tatort überrascht oder verscheucht worden sei171. Und schließ-lich kommt die normative Logik des Zufalls auch in der Rücktrittsregelung des§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB zum Ausdruck: Bemüht sich der Täter freiwillig undernsthaft, die Tatvollendung zu verhindern, belastet ihn der Umstand nicht, dassaus seiner Sicht zufällig die Nichtvollendung der Tat auf anderen Faktoren be-

167 In diese Richtung Vollet, Kritik des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den NorddeutschenBund, 1870, S. 20; Rüdorff, Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. 3. Aufl. 1881, zu § 43Rdn. 2, der sich jedoch gegen eine Beweislast des Angeklagten aussprach; für eine Beweislastdes Angeklagten jedoch Schwarze (Anm. 58), Exkurs X, § 1; lediglich für eine BehauptungslastF. Meyer (Anm. 166), S. 50.

168 Siehe dazu auch Schumann (Anm. 78), S. 31, 33.169 BT-Drs. V/4095, S. 11.170 Corves, Sonderausschuss Protokolle V, S. 1653; siehe auch die Ansicht von Hillenkamp, in: LK

(Anm. 3), § 22 Rdn. 84, dass es in der Konsequenz der subjektiven Strafgrundlehre liege, den„mehr oder weniger zufälligen“ Gefährdungserfolg zu vernachlässigen.

171 BT-Drs. IV/650, S. 143.

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ruht. Der Täter wird so behandelt, als habe er durch sein Bemühen die Tatvoll-endung verhindert.

Für den hier unterbreiteten Vorschlag der Rekonstruktion des Rechtsgrundesvon Versuch und Rücktritt stellen sich ungeachtet dessen zwei Probleme: Erstensist ihm zufolge der Rückritt kein persönlicher Strafaufhebungsgrund mehr – wiedies auch schon der Entwurf von 1962 festgesetzt hatte172 –, sondern ein Zurech-nungshinderungsgrund, der auf der Tatbestandsebene zu verorten wäre173. Dieshätte die vom Gesetzgeber nicht gewollte Konsequenz, dass es im Falle einesRücktritts an einer Haupttat fehlen würde, so dass der Rücktritt auch den anderenBeteiligten zugute käme. Dieses erste Problem ist jedoch überwindbar, weil es janicht darum geht, das Gesetz auszulegen, sondern ihm nachträglich einen kon-sistenten Sinn zu unterlegen. Folgt man der hier vertretenen Konzeption, ist dieStraflosigkeit des Teilnehmers folgerichtige Konsequenz der Akzessorietät vonAnstiftung und Beihilfe. Es würde ihre Akzessorietät konterkarieren, wenn mandie Rechtstheorien bzw. die hier vertretene Lehre mit dem Argument ablehnenwürde, dass sie zu einer unangemessenen Straflosigkeit des Teilnehmers füh-ren174. Die Strafbarkeit der vollendeten Teilnahme setzt eine vorsätzliche, rechts-widrige Haupttat voraus. Ihr Vorliegen kann sich daher nicht an der Strafbarkeitder Teilnahme orientieren: Es ist schon logisch nicht möglich, dass die Folge ihrenGrund bestimmt. Keinen Ausweg bietet die Lösung, sich mit Jakobs auf einenumgekehrten Exzess des Teilnehmers zu berufen175, wäre ein solcher doch auchdann gegeben, wenn der Täter überhaupt nicht unmittelbar zur Tat ansetzt, son-dern auf die Ausführung der Tat völlig verzichtet. Dass in einem solchen Fall aberdie §§ 26 f. StGB nicht eingreifen, bedarf keiner weiteren Darlegung.

Und zweitens: Es wurde schon oben hingewiesen, dass ein Rücktritt vombeendeten Versuch nur möglich wäre, wenn der Täter glaubt, nach Abschluss derseiner Ansicht nach für die Tatvollendung hinreichenden Ausführungshandlungnoch die Möglichkeit zu besitzen, diese durch aktives Tun zu verhindern. Mankönnte daher der Lehre wiederum entgegenhalten, dass sich die Einschränkungdes Rücktritts nicht auf den gesetzgeberischen Willen zurückverfolgen lässt.Allerdings beruht die Einbeziehung des nicht mehr beherrschbaren beendetenVersuchs in den Kreis rücktrittsfähigen Verhaltens ursprünglich auf der kriminal-politischen Erklärung der Rücktrittsmöglichkeit, die der Gesetzgeber der gegen-wärtigen Gesetzesfassung ausdrücklich abgelehnt hat. Man könnte dessen unge-achtet erwägen, ob die im Vergleich zur herrschenden Lehre einschränkendeAnwendung des § 24 Abs. 2 Satz 1 2. Var. StGB gegen Art. 103 Abs. 2 GG ver-stößt, weil damit die Rücktrittsmöglichkeit verkürzt wird, ohne dass dies im

172 BT-Drs. IV/650, S. 146.173 Vgl. die Einordnung des Rücktritts auf der Tatbestandsebene bei Reinhard von Hippel

(Anm. 28), S. 73 f., der daraus zutreffend folgert, dass damit eine Teilnahme ausscheidet; nurfür den Rücktritt vom unbeendeten Versuch Frister (Anm. 41), 24/6.

174 So zum Beispiel Roxin (Anm. 4), § 30 Rdn. 12.175 Siehe Jakobs (Anm. 9), 26/3.

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Wortlaut einen Anhaltspunkt findet. Das Analogieverbot bzw. die Einschrän-kung einer den Täter begünstigenden Norm über ihren Wortlaut hinaus (teleo-logische Reduktion) gilt der Rechtsprechung zufolge auch für den AllgemeinenTeil des Strafgesetzbuchs176. Dem folgt die ganz herrschende Meinung in derLiteratur177. Die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG ist jedoch– verglichen mit den Maßstäben, die bei § 13 StGB angelegt werden – nichtzwingend. Teilweise wird die Konzeption mit dem Wortlaut ausdrücklich fürvereinbar gehalten178.

VII. Schlussbemerkung

Die hier zur Diskussion gestellte Theorie, Versuch und Rücktritt als einheitlicheZurechnungsfigur zu verstehen, setzt den von Feuerbach geäußerten Vorwurfeiner Verwechslung des Moralischen mit dem Rechtlichen außer Kraft. Denn ihrzufolge ist nicht die nach außen zum Ausdruck kommende Gesinnung Strafgrunddes Versuchs. Gerade deswegen gewinnt auch die von Hillenkamp vertreteneAnsicht, den rechtsfeindlichen Willen mit dem vorsätzlichen Handlungsunrechtgleichzusetzen, Plausibilität. Die subjektiven Versuchsmerkmale konstituierenvielmehr – ebenso wie bei der Vollendung – die Voraussetzungen der personalenVorsatzzurechnung, wobei genau genommen – entgegen der Rechtsprechung179

und Teilen der Literatur180 – zwischen dem eigentlichen (Vollendungs-)Vorsatzbeim beendeten Versuch und der Absicht der Tatbegehung beim unbeendetenVersuch zu differenzieren wäre181.

Dessen ungeachtet wird de lege lata mit der vorgeschlagenen Lesart von Ver-such und Rücktritt die Problematik des Gesinnungsstrafrechts nicht vollständigentschärft. Wenn der Zufall, der den Täter nicht entlasten soll, durch die Abwei-chung seiner Vorstellung von der Wirklichkeit definiert ist, dann müsste ein straf-barer Versuch immer dann verneint werden, wenn sich seine Untauglichkeit ausder Vorstellung des Täters selbst erschließt, wenn der Täter also von einem na-turgesetzlichen Zusammenhang ausgeht, der in Wahrheit überhaupt nicht exis-tiert. Denn würde die Tat vollendet werden, läge zwingend ein wesentlicher vor-satzausschließender Irrtum des Täters über bestimmte konkrete Tatumständevor182. Das Umkehrungsprinzip wird also durch das geltende Recht nicht einge-

176 BGHSt. 42, 158, 161.177 Jescheck/Weigend (Anm. 9), S. 136; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grund-

gesetz, Art. 103 Art. 2 GG, Rdn. 231; Dannecker, in: LK (Anm. 3), § 1 Rdn. 160 f.; Rudolphi,in: SK StGB, § 1 Rdn. 24 ff.

178 Freund (Anm. 49), § 9 Rdn. 64 b.179 BGH GA 1955, 123 f.; NStZ 2002, 309; 2002, 475 f.180 Pars pro toto Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 12 Rdn. 185.181 Hruschka, Gedächtnisschrift für Zipf, S. 245 ff.; vgl. auch Struensee, Gedächtnisschrift für

Kaufmann, S. 523, 537 f.; Küper, ZStW 112 (2000), S. 1, 36.182 Vgl. Schroeder, GA 1979, 321, 328; Driendl, GA 1986, 253, 272; Puppe, GA 1981, 1, 16.

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halten. Auch diese keineswegs neue Restriktion lässt sich bis ins 19. Jahrhundertzurückverfolgen183.

Schließlich wäre noch zu fragen, ob eine weitere Restriktion anzuerkennen ist,wenn man der hier vertretenen Auffassung folgt, dass die vollendete Straftat nichtnur in der Übertretung der Verhaltensnormen besteht, sondern zugleich in derVerletzung der Rechtspositionen, die durch sie geschützt werden. Schon Mitter-maier hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Recht existieren müsse, damit esverletzt werden könne184. Zwingend wäre diese Einschränkung allerdings nur,wenn der rechtswidrige Eingriff in das jeweilige subjektive Recht einen primärenund damit unabdingbaren Status hätte. Nach geltendem Recht ist jedoch derVerstoß gegen die öffentlich-rechtliche Verhaltensnorm das Primäre. Strafrecht-lich reicht es daher aus, wenn der Täter aufgrund des Versuchs so behandeltwerden kann, als habe er die tatbestandlich geschützte Rechtsposition verletzt.Die gegenteilige Position würde letztlich den Versuch als Rechtsfigur auflösenund ihn in ein Gefährdungsdelikt transformieren.Gefährdungsdelikte sind jedochim Besonderen Teil des StGB geregelt und haben dort auch ihren legitimen Ort.

Wie dem auch sei: Die hier vorgestellte Zurechnungstheorie von Versuch undRücktritt wirft en passant neues Licht auf die altbekannte Kontroverse, ob derEintritt des Erfolgs zum Unrecht gehört185. Die Antwort lautet, dass das Straf-gesetzbuch zwar so konstruiert ist, dass der Eintritt des Erfolgs in der Regelintegraler Bestandteil der Tat und damit auch des Unrechts ist. Durch die Vor-schriften der §§ 22 ff. StGB wird aber klargestellt, dass das zufällige Ausbleibender Tatvollendung den Täter im Vergleich zur vollendeten Tat nicht entlasten soll.Und dies ist gerade deswegen der Fall, weil – wie schon Tittmann geäußert hat –der Eintritt des Erfolgs kein Faktor ist, der das Unrecht der Tat erhöht186. Kon-sequent wäre es daher, die Strafrahmenmilderung des § 23 Abs. 2 StGB immerdann anzuwenden, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles aus seiner Sicht zurVollendung der Tat Erforderliche getan zu haben, also im Falle des unbeendetenVersuchs, nicht aber bei einem beendeten Versuch, bei dem sich der Täter nachseiner Vorstellung keine Möglichkeit offenhält, die Tatvollendung nachträglichabzuwenden187. Dies entspricht dem schon oben wiedergegebenen zweiten Be-

183 Schröter (Anm. 6), § 80, S. 120; Hälschner (Anm. 92), § 48, S. 182 f.; Köstlin (Anm. 157), § 83,S. 228; Henke (Anm. 6), § 40, S. 256 f.

184 Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts, 1. Bd. (1818), S. 163, 194 ff.; vgl. die ähnlicheGrundposition von Zaczyk (Anm. 4), S. 126 ff., der primär auf die Verletzung des Anerken-nungsverhältnisses abstellt; zur Bedeutung des Erfolgs im Kontext des Versuchs auch Bur-chard, „Irren ist menschlich“, 2008, S. 282 ff.

185 Siehe Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 128 ff., der denErfolg im Kern mit der Begründung aus dem Unrecht verbannt hat, dass die Erfolglosigkeitauf bloßem Zufall beruhen könne.

186 Tittmann (Anm. 6), § 98, S. 193 f., der allerdings wörtlich von einer erhöhten Zurechnungspricht.

187 Ebenso Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 9), § 23 Rdn. 7 a; vgl. auch Rudolphi, in: SK StGB,§ 23 Rdn. 2, der die Schwere des Handlungsunrechts entscheiden lässt; vgl. jedoch Hillen-kamp, in: LK (Anm. 3), § 23 Rdn. 32, der gegen eine pauschalierende Bewertung votiert.

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richt des Sonderausschusses, dem zufolge es für die Strafbemessung keinengrundsätzlichen Unterschied bedeuten kann, ob der Erfolg eingetreten oderaus Gründen, die außerhalb des Willensbereichs des Täters liegen, ausgebliebenist188.

Der Ansicht der Rechtsprechung, dass man nicht die Strafrahmenmilderungmit der Begründung verweigern dürfe, die Nichtvollendung der Tat beruhe alleinauf zufälligen Umständen bzw. sei nicht das Verdienst des Täters189, ist zwar zufolgen, weil dies für jeden Versuch zutrifft, von dem der Täter nicht erfolgreichzurückgetreten ist – sie bestätigt die normative Logik des Zufalls –, nicht aber dievon ihr favorisierte Gesamtbetrachtungslehre, die aufgrund einer Bewertungsämtlicher Tatumstände und der Täterpersönlichkeit über die Strafrahmenmil-derung entscheidet190. Mit diesen Bemerkungen soll es sein Bewenden haben. Eswäre eine Aufgabe für die Zukunft, auf der Grundlage der hier vertretenenKonzeption die Dogmatik von Versuch und Rücktritt noch einmal umfassendauszuarbeiten.

188 BT-Drs. V/4095, S. 11.189 BGH StV 1984, 246; 1985, 411.190 BGHSt. 16, 351, 353; 17, 266; 35, 355.

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