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Zur Darstellung medizinethischer Probleme im Fernsehen - Vorarbeiten für eine Rekonstruktionsanalyse am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik

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Ethik Med (2000) 12:154–170

Zur Darstellung medizinethischer Probleme im Fernsehen – Vorarbeiten für eine Rekonstruktionsanalyse am Beispiel der PräimplantationsdiagnostikGisela Bockenheimer-Lucius, Matthias Kettner

How television conveys issues of medical ethics – preliminary inquiries toreconstruct the enactment of preimplantation genetic diagnosis

Abstract. Definition of the problem: Television has developed various forms forthe presentation of issues on medical ethics. Our inquiry focuses on the textual,visual and musical elements that are used in two short television features on pre-implantation genetic diagnosis. Arguments: We used the method of question-stimulated group discussion to reconstruct how an audience of persons interest-ed in medical ethics perceives which moral problems are presented in the filmsand how the audience grounds its perceptions on determinate elements of thefilms. Conclusion: In the enactment of ethical questions in the two selected fea-tures there is a salient tendency – pointed out by spontaneous and subjective im-pressions of the audience – (1) to juxtapose rather than to mediate the presenta-tion of medico-technical progress and the presentation of those who are con-cerned, (2) to present conflicts in a personally close-up manner that invites iden-tification, (3) to inform about moral problems only by emphasising undesirableconsequences. All these observations are connected with specific textual ele-ments, pictures and music and, as a first step of analysis, described with regardto their effect on the viewers.

Key words: Television – Means of presentation – Medical ethics – Preimplanta-tion genetic diagnosis – Moral perception

Zusammenfassung. Im Fernsehen haben sich zur Darstellung medizinethischerFragen verschiedene Formen entwickelt. Die vorliegende Arbeit referiert einenersten, rein deskriptiven Analyseschritt zu der Frage, mit welchen Mitteln (Text,Bild, Musik) das Thema Präimplantationsdiagnostik in zwei ausgesuchten TV-

Dr. med. Gisela Bockenheimer-LuciusEthik in der Medizin, Senckenbergisches Institut für Geschichte der Medizin, Universitätskli-nikum, Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt am Main, Deutschland

PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Matthias KettnerKulturwissenschaftliches Institut, Goethestrasse 31, 45218 Essen, Deutschland

© Springer-Verlag 2000

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Magazinbeiträgen dargeboten wird. Mit der Methode einer durch vier heuristi-sche Fragen nur leicht strukturierten Gruppendiskussion unter medizinethischInteressierten, rekonstruieren wir, welche Moralprobleme die Zuschauer als inden Filmen wahrgenommene ihrerseits wahrnehmen und an welchen darstelleri-schen Mitteln sie dies festmachen.

Schlüsselwörter. Fernsehen – Darstellungsmittel – Medizinethik – Präimplanta-tionsmedizin – Moralische Wahrnehmung

Einführung

Neuigkeiten, Fortschritte, aber auch Skandale in der Medizin stoßen bei Fern-sehzuschauern von jeher auf reges Interesse, zumal „Gesundheitsfragen“ alle so-zialen Gruppen beschäftigen, somit ein typisches Breitenthema darstellen. Man-ches spricht dafür, dass der Medienwirkung von Spielfilmen und insbesonderevon Serien zur Medizin und zu ethischen Fragen in der öffentlichen Meinungein deutlich größerer Effekt einzuräumen ist als Dokumentationen, Featuresoder Diskussionsbeiträgen (vgl. dazu den Beitrag von Uwe Hasebrink in diesemHeft). Dennoch darf die Bedeutung derartiger Beiträge mit Blick auf ihren Ein-satz in Schulen und Erwachsenenbildung nicht unterschätzt werden. Zudemliegt in einer breiten, öffentlichen Debatte die einzige Möglichkeit, Aufklärungund Problembewusstsein zu schaffen. Daran aber hat das Fernsehen in unsererGesellschaft durch seine zeitliche wie räumliche Omnipräsenz einen wesentli-chen Anteil.

In den letzten Jahren haben die zweifellos komplexeren und filmisch span-nenderen Zugänge zu ethischen Fragen im Zusammenhang etwa mit Krankheit,Sterben, Tod oder Genetik im Spielfilm zunehmend stärkeres analytisches Inter-esse gefunden. Für die entsprechenden zahlreichen Fernsehbeiträge, die implizitoder explizit ein medizinethisches Problem thematisieren, lagen jedoch bisherkeine Untersuchungen vor. Die Arbeitsgruppe „Medizin in den Medien“1 derAkademie für Ethik in der Medizin e.V. (Göttingen) hat daher begonnen, dieDarstellung medizinethischer Probleme im Fernsehen näher zu untersuchen.Dabei soll es an dieser Stelle noch nicht um die Frage gehen, wie die Rezep-tionswirkung auf den Zuschauer einzuschätzen bzw. ob gar eine Beeinflussungseiner moralischen Wertungen nachweisbar ist, sondern es soll zunächst nachden Möglichkeiten des gesprochenen Textes und den filmischen Mitteln zurKonstruktion medizinethischer Probleme sowie den subjektiven Wahrnehmun-gen durch den Zuschauer gefragt werden. Vor der systematischen Rezeptions-forschung muss also die Analyse des zu rezipierenden Produkts stehen, die andieser Stelle nur in einer ersten rein deskriptiven Form erfolgen soll.

1 Koordination: Dr. med. Gisela Bockenheimer-Lucius (Frankfurt/Main) und Prof. Dr. med.Eduard Seidler (Freiburg i.Br.); aktive Arbeitsgruppenmitglieder: Dr. Sigrid Graumann (Tü-bingen) seit Januar 1999, Prof. Dr. theol. Hans Grewel (Dortmund) bis Oktober 1998; PD Dr.phil. Dipl.-Psych. Matthias Kettner (Essen), Lisette Lange (Göttingen), PD Dr. med. GiovanniMaio (Lübeck), Dr. theol. Kurt Schmidt (Frankfurt/Main). Kooperierendes Mitglied: Dr. med.Andrea Dörries (Hannover). Die Arbeit an dem hier vorgestellten Thema wurde gefördert vonder Hanns-Lilje-Stiftung, Hannover, der wir herzlich für ihre Unterstützung danken

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Auch wenn das Fernsehen vorrangig auf der Wirkung des Bildes aufbaut, sosetzt es im Bereich der Wissenschaft vielfach auf akustische und vor allem dis-kursive Mittel, d.h. aktuelle brisante Probleme werden mit sehr viel erklärendemund kommentierendem Text dargeboten, oftmals auch in der Form von Inter-views, Expertendiskussionen oder Talk Shows. Es gibt aber – wie Otfried Jarrenfeststellt – in der deutschen Medienforschung „keine genuine Beschäftigung mitder Medienvermitteltheit ethischer Diskurse ... Akteure, Akteursverhalten undvor allem Argumente werden ... nicht betrachtet oder nur am Rande – im Sinnevon Eigen- oder Fremdbewertungen im Medientext – berücksichtigt.“2

Jarren schätzt darüber hinaus den Grad an Eigenständigkeit der Medien beider Vermittlung von Wissen, abgesehen von der Kommentierung, eher geringein, da die Vorgaben von den Akteuren aus dem Wissenschaftsbereich stammen.Dagegen gilt es aber zu bedenken, dass über diese Vorgaben hinaus Auswahl,Zusammenstellung, Einsatz von Bild und Ton und nicht zuletzt gerade die Kom-mentierung wesentlich die Eigenständigkeit von Redakteur und Fernsehautorbestimmen und den Gesamtcharakter eines Beitrags prägen. Bei Durchsicht desim Laufe der letzten 20 Jahre außerordentlich angewachsenen Materials lassensich auch im Bereich Medizin-Ethik und Fernsehen dieses persönliche Engage-ment, die individuelle Themenwahl und dezidierte Botschaften in Verbindungmit dem Namen eines Filmautors erkennen. So stellt sich die Frage, wie weitnicht bereits manches Feature selbst und von vornherein ein ethisches Unterfan-gen ist. Die Themen der Medizinethik sind in den letzten Jahren zudem eindeu-tig politisiert und nicht mehr allein Gegenstand medizinischer, philosophischer,theologischer oder soziologischer Betrachtung. Auf diesem Wege gewinnenBeiträge, die aus einer Mischung von persönlicher Darstellung und Informationbzw. Belehrung bestehen, gerade über ihren Einsatz beispielsweise im Ethik-Unterricht in den Schulen, in Fortbildungsseminaren im Pflegeunterricht oderbei Tagungen in Evangelischen und Katholischen Akademien erhebliche Bedeu-tung. Die Rolle der Medien in Streitfällen, wie etwa in der hochemotionalenDebatte um das „Erlanger Baby“, zeigt zugleich deren Interesse an brisantenKonflikten und das völlige Versinken eines „Topthemas“, sobald der Tagesstreitzu einem anderen Problem übergegangen ist. Es ist die Frage, wie weit manvom Fernsehen erwarten kann, dass es eine kontinuierliche öffentliche Debattedarstellt. Legt man Luhmanns Theorie der Massenkommunikation zugrunde, sohat Fernsehen allenfalls die Funktion, Themen und Neuigkeiten für eine solche(„rationale“) Debatte bekannt zu machen (vgl. [3]). Dennoch gilt gerade in derMedizinethik, dass zahlreiche Themen, man denke etwa an Fragen der Sterbe-hilfe, der Reproduktionsmedizin oder der Genetik, immer wieder im täglichenFernsehprogramm auftauchen.

Innerhalb der Abeitsgruppe „Medizin in den Medien“ haben die Autorendieses Aufsatzes sich schwerpunktmäßig mit zwei kurzen Fernsehbeiträgen zumThema „Präimplantationsdiagnostik“ befasst und empirisches Material gesam-melt, um erste Aussagen darüber zu machen, mit welchen Konstruktionsmittelnethische Probleme im Fernsehen dargestellt werden und was die Zuschauer alsethisches Problem wahrnehmen. Natürlich kann dies nicht repräsentativ sein, je-doch lassen sich einige grundsätzliche Überlegungen durchaus daran anschlie-ßen. Eine detaillierte mehrere Analyse- ebenen von Bild und Ton integrierende

2 Otfried Jarren, Seminar für Publizistikwissenschaft Zürich: Vortrag im Rahmen der Tagung„Potentiale philosophischer Medizinethik“, Zürich, Oktober 1998

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Auswertung der beiden TV-Filme müssen wir uns für eine spätere Darstellungvorbehalten, da dies weit mehr als den hier zur Verfügung stehenden Raum be-ansprucht. Wir werden im folgenden nur die in zwei Diskussionsgängen gesam-melten Reaktionen auf die Leitfrage beziehen, welche ethischen Probleme dieZuschauer bei einer ersten, einmaligen Filmvorführung als im Film wahrgenom-mene ihrerseits wahrnehmen und an welchen Mitteln des Filmes sie dies fest-machen.

Zum Problem der Gattung und der Auswahl der Beiträge

Bisher gibt es keine zuverlässige Übersicht, wie viele und welche Sendungensich jeweils mit einem bestimmten ethischen Thema befassen. Ebenso erhältman von den Sendern in unterschiedlichem Ausmaß Auskünfte, so dass keinesystematischen Auswahlkriterien ableitbar sind und es vielmehr einem gewissenZufall überlassen bleibt, welche Sendungen untersucht werden können. Die vonuns ausgewählten Beiträge erreichen eine vergleichsweise große Zuschauerzahlund erscheinen uns durchschnittlich sachlich und differenziert.

Will man einen Fernsehbeitrag sachgerecht interpretieren, so bedarf es zu-nächst einer Zuordnung zur Gattung. Dabei schwanken die Beiträge zwischeneinem Anteil an Wissensübermittlung, Politisierung der Bewusstseinslage in derÖffentlichkeit und einem Anteil an Unterhaltung.

Für die Analyse ist es von Bedeutung, ob es sich um einen Film in Sinneeiner Fiktion (Spielfilm, Serie) oder eine Dokumentation handelt. Allerdingsgibt es gerade auf dem hier zu besprechenden Gebiet keine klaren Festlegungen.Dokumentation, Reportage, Feature, Fernsehfilm, Themenabend zu Medizinund Medizinethik werden üblicherweise eingeleitet mit dem nachdrücklichenVerweis auf Aktualität und Problematik des vorzustellenden Themas und denWorten „Sehen Sie nun in unserer Reihe ** den Beitrag von ...“.3 Der Begriff„Reihe“ deutet dabei nur auf ein übergeordnetes Konzept einer aktuellen, kriti-schen oder gesellschaftspolitisch begleitenden Fernsehsendung hin, innerhalbdes Programms einer Sendeanstalt mit regelmäßiger Folge, aber sehr unter-schiedlichen Themen.

Im vorliegenden Beitrag wollen wir uns mit einem Material auseinanderset-zen, für den der Begriff „Dokumentation“ am geeignetsten erscheint, wobei Do-kumentationen gerade auf dem hier untersuchten Gebiet der Medizinethik im-mer auch mit Formen der Erzählung, oft auch mit fiktionalen Anteilen arbeiten.Dokumentarfilm wie Feature zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit einemThema intensiv auseinandergesetzt haben und es für die Präsentation gestalten(anders als die Reportage mit dem Charakter des live miterlebten Ereignisses).Dabei besteht dokumentarische Glaubwürdigkeit „im Realismuseindruck, dermit Erzählprinzipien (Perspektivität, Nähe-Distanz-Relationen, Authentizitäts-versicherungen) erzeugt wird“, und beim Zuschauer geht damit oftmals die Vor-

3 Dokumentarfilm: Umfassender allgemeiner Begriff für alle nicht-fiktionalen Filme, die sichder Aufzeichnung von Außenrealität widmen; Feature: Im Deutschen Bezeichnung für einelängere (über 45 Min.) Fernsehdokumentation; Fernsehfilm: Ein Film, der speziell für dasFernsehen produziert wird und bestimmte dramaturgische Rücksichten auf das kleinere Bildnimmt (vgl. [4], S. 550 ff); der Begriff „Genre“ bezieht sich auf unterschiedliche Typologiendes Spielfilms, etwa Kriminalfilm, Western, Science Fiction u.ä.

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stellung einher, es sei Objektivität des Dokumentierten gegeben (vgl. [1], S. 186).

Die zu untersuchenden Beiträge arbeiten also mit gemischten Darstellungs-formen, gemeinsam ist ihnen aber ein bestimmtes Format, d.h. sie sind in derRegel nicht länger als 45 Minuten, und innerhalb von ausführlicheren Themen-abenden herrscht eine deutliche Magazinisierung vor, also eine Tendenz zuKurzbeiträgen von ca. 6–8 Minuten.

Zum Thema „Präimplantationsdiagnostik“

Die Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin widmete sich im Sep-tember 1998 in Tübingen den ethischen Aspekten der Präimplantationsdiagno-stik, einem Verfahren, bei dem es nach einer In vitro-Fertilisation möglich ist,gezielt an einer Zelle des Embryos eine schwerwiegende vererbbare Krankheitvor einem Transfer in die Gebärmutter der Frau zu diagnostizieren und gegebe-nenfalls durch Verwerfen des Embryos die Geburt eines kranken Kindes zu ver-hindern. Als Beitrag zu dieser Tagung wurde in der Arbeitsgruppe „Medizin inden Medien“, die filmische/dokumentarische Auseinandersetzung mit diesemThema im Fernsehen unter die Lupe zu genommen.

Diese Auswahl erweist sich inzwischen als besonders geeignetes Modell füreine aktuelle und darüber hinaus kontinuierliche Weiterarbeit. Ein Arbeitskreisdes Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammmer legte am 24. Februar2000 einen Diskussionsentwurf für eine Richtlinie zur Präimplantationsdiagno-stik vor und zog sich damit den Vorwurf zu, voreilig zu diesem in vieler Hin-sicht noch ungeklärten und umstrittenen Thema Stellung genommen zu haben.Die vorzustellenden Fernsehbeiträge von 1996 und 1997 zeigen aber, dass dasThema längst in die Öffentlichkeit gelangt war, so dass nicht nur die Aufnahmedes Problems in das Fernsehprogramm, sondern auch die filmisch aufgenomme-nen Stellungnahmen von fachlicher Seite wie aus der Sicht Betroffener, eineTransparenz der Argumente und eine Stellungnahme von Seiten der Ärzteschaftdringend erforderlich gemacht haben. Zudem ist die Politisierung des Themasoffensichtlich und auch beabsichtigt. Ein vom Bundesministerium für Gesund-heit geplantes Fortpflanzungsmedizingesetz wird nicht nur Kommissionen, An-hörungen und parlamentarische Debatten mit sich bringen, sondern darüber hin-aus eine breite öffentliche Erörterung unverzichtbar macht. Dies wird in dennächsten Monaten auch das Interesse der Medien wie der rezipierenden Öffent-lichkeit an der Präimplantationsdiagnostik verstärken.

Die Arbeitsgruppe „Medizin in den Medien“ wählte zunächst Beiträge auseinem Themenabend bei VOX (Spiegel tv – Spezial) unter dem Titel „Chancenund Grenzen der Medizin“ vom 5. Juli 1997 (7:35 min.)4 und aus ML – MonaLisa (ZDF) mit dem Titel „Das perfekte Kind“ vom 11. Februar 1996 (8:30 min.)5 aus. Im Rahmen des VOX-Themenabends wurden acht Kurzfilmegezeigt, jeweils mit Zwischenmoderation, der erste, von uns ausgewählte Bei-trag widmet sich unserem Thema. Im Rahmen der Sendung Mona Lisa handeltes sich bei dem analysierten Beitrag um den zweiten Filmabschnitt innerhalbder Sendung (der erste beschäftigt sich mit der Pränataldiagnostik), wobei die

4 Filmbeiträge von Matthias Michel und Jutta Lang5 Filmbeitrag von Angelika Fell

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Filmvorgaben im Anschluss durch eine längere Diskussionsrunde mit Expertenaus Humangenetik, Philosophie und Sozialpädagogik/Geburtsvorbereitung auf-gearbeitet und ergänzt wurden.

Die Autoren dieses Aufsatzes widmeten sich schwerpunktmäßig der Diskus-sion und inhaltlichen Aufarbeitung des Themas und stellten die Filmbeiträge zu-nächst im Rahmen eines Workshops der Tübinger Tagung 1998 vor. Im Januar1999 wurden Videovorführung und Diskussionsrunde wiederholt, wiederum ineinem Workshop anlässlich der Tagung „Medizinethik in den Medien“, die inder Evangelischen Akademie Loccum stattfand. Wir berichten hier zusammen-fassend über die Ergebnisse dieser Gruppenarbeiten.

Zur Analyse und dem Versuch einer Methodik

Zur Analyse der Darstellungsmittel wurde der Text der genannten Beiträge tran-skribiert und in den Gesprächsgruppen durch Rekonstruktion der sprachlich undvisuell vermittelten ethischen Problematik interpretiert.

Zu bedenken sind vor einer Auswertung des Gesehenen die Rahmenbedin-gungen des Autors: Sendezeit, Länge des Films, Publikum, redaktionelle Vorga-ben, Probleme des Titels. Die vielfach beklagte Tatsache, dass derart komplexeProbleme wie die Präimplantationsdiagnostik nicht in Kurzbeiträgen von ca. 7 Minuten abgehandelt werden können, fällt unter diese problematischen Sach-zwänge der Programmgestaltung. Hier sind aber auch die Erfahrungen derer zuberücksichtigen, die innerhalb des Mediums die Öffentlichkeit ansprechen underreichen müssen und die Grenzen der Aufmerksamkeit und des Verstehensbeim Zuschauer kennen.

Anders als die Printmedien und der Hörfunk verfügt das Fernsehen über dieMöglichkeit des gleichzeitigen Einsatzes von Bild und Sprache, untermalt durchMusik und verstärkt durch Gestik und Mimik der auftretenden Personen. BeimZuhören und Betrachten geht es darum, was gesagt wird und wie es durch Bildund Ton verstärkt wird. Was stellt das Bildmaterial faktisch dar, was drückt esaus, und was beinhaltet es normativ?

In einem ersten Analyseschritt wollten wir von unseren Zuschauern auf derBasis des einmaligen Betrachtens des Filmbeitrags und mit Hilfe des Tran-skripts nahe am Material durch Wiedergabe der eigenen Beobachtungen, Emp-findungen und Wertungen zu ersten Aussagen zu kommen, die sich auf folgendeFragen beziehen sollten:

1. Tauchen in diesem Film für Sie ethische Probleme auf? Welche?2. An welchen Elementen des Films (Bild, Schnitt, Zitat, Kommentar, Musik

etc.) machen Sie diese ethischen Probleme fest?3. Hat der Film für Sie (eine) greifbare Botschaft(en)? Welche?4. An welchen Elementen des Films machen Sie diese Botschaften fest.

Nach dieser ersten Bearbeitung zeigte sich aber die unverzichtbare Notwendig-keit, in einem späteren zweiten Schritt zur Analyse der Darstellungsmittel desFernsehens – und damit zur Rekonstruktion der sprachlich, durch Gestik undMimik sowie visuell vermittelten Informationen und Botschaften – exempla-risch diese beiden Filmbeiträge akustisch-visuell-synoptisch mit parallel dazuaufgezeichneten Zeitsequenzen zu transkribieren. Je engmaschiger dieses zwei-fellos aufwendige Untersuchungsverfahren ist, desto zuverlässiger kann aufge-

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zeigt werden, auf welche Weise sich im Film Botschaften multiplizieren, wiemit den Mitteln von Sequenzialität (z.B. Wechsel von Experten zu Betroffenen,Wechsel von Menschen zu Apparaten), Konnotationen zu Bildern, von Zeichen-bedeutungen, Codes und der Wiederholung von Elementen, durch die Aktivie-rung kulturellen Wissens und wechselseitige Verstärkung der Ebenen die Mög-lichkeit geboten ist, selektiv einzelne Aspekte herauszustreichen. Aufgabe derInterpretation ist es, Botschaften der Beiträge zu entziffern und zu hinterfragen(vgl. dazu [1] und [5]). Entsprechend sind in einer methodisch sauberen Analysemehrere Arbeitsschritte und Ebenen erforderlich, um schließlich im Vergleicheines umfangreicheren Materials zu einer validen Aussage über die fernsehme-diale Konstruktion medizinethischer Probleme zu kommen (s. Abb. 1).

Abb. 1. Ebenen der Analyse

Es ist also in der Methodik auch ein deskriptiver von einem interpretativenArbeitsschritt zu trennen, wobei dies in der Praxis nicht immer zeitlich getrenntist und sich auch oftmals in der Interpretationsarbeit vermischt.

Wie eingangs gesagt, wird die Detailanalyse hier noch nicht dargestellt, son-dern als erster wichtiger Schritt soll der subjektiv wahrgenommenen Problemge-halt protokolliert werden, also die in Abbildung 1 schattierte Ebene. Interessan-terweise stößt man hier über die filmischen Eindrücke hinaus auf eine weitrei-

}

1. Rahmenbedingungen des Autors: Sendezeit, Länge des Films, Publikum,redaktionelle Vorgaben, Probleme des Titels...

2. Subjektive Wahrnehmungen und Seherfahrungen der Analysierenden,Artikulation der eigenen Lesart, Bewusstmachung des eigenen Kontextes und kulturellen Hintergrundes

3. Feinanalyse anhand des synoptischen Transkripts (Sprache /Ton/ Bild):a) deskriptive Ebene: Erfassung der– sprachlichen– gestisch-mimischen Information– akustischen– Gleichzeitigkeit und Sequenzialität der Elemente– Analyse der Konstruktion ethisch relevanter Bedeutungen und

Botschaften– Konnotationen, Assoziationen– Explizite und implizite emotionale/moralische Implikationen– Wirkung von Wiederholungen– Aktivierung von Wissensbeständen– Aktivierung von parallelen Ereignissen/persönlichen Erfahrungen

des Zuschauers– Rekurs auf „allgemeingültige“ ethische Vorgaben und Werthaltungen– Bedeutung interkultureller Werthaltungen und/oder internationaler

Gesetzgebung, Praxisvergleiche– Wirkungen aufgrund von Sequenzialität und/oder Gleichzeitigkeit

der Elementeb) Integration und Analyse der Wechselwirkung (Verstärkung, Infrage-

stellung, Differenzierung) der Botschaften

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chende Schwierigkeit: Wie wird ein als problematisch wahrgenommener Zu-sammenhang spezifisch als ein Moralproblem wahrgenommen? Was kennzeich-net eine moralische Hinsicht? Um dieses (oft nur intuitive) Wissen der Zuschauerzu artikulieren, sind gelegentlich klärende Nachfragen erforderlich. Hilfreich isthierbei etwa eine Frage wie „Wem geschieht Ihrer Meinung nach ein morali-sches Unrecht, durch wen und aus welchem Grund halten Sie es für ein morali-sches Unrecht?“ In der Diskussion kann dann für die weitere theoretischeDurchdringung des Materials ein struktureller Begriff moralischer Verantwor-tung zugrundegelegt werden, der keine bestimmte moralische Position bevor-zugt, sondern verschiedene Moralperspektiven zu integrieren erlaubt. DieserStrukturbegriff besagt, dass Moralverantwortung dort vorliegt, wo Mitgliedereiner Moralgemeinschaft, einer wie der andere, ernstnehmen, wie ihre Aktivitä-ten zum Guten oder Schlechten relevanter Anderer ausschlagen6.

Zur leichteren Verständlichkeit geben wir vor der Sammlung der spontanenund persönlichen Eindrücke unserer Zuschauer die Transkription des gesproche-nen Teils der Fernsehbeiträge wieder.

VOX / Spiegel tv-Spezial „Chancen und Grenzen der Medizin“

Sprecherin: Der Mensch – durchsichtig, entblättert, von einem Computerpro-gramm ausgezogen bis auf die Knochen. Sein Name: Adam! Der erste Homosapiens, der für die Wissenschaft digitalisiert wurde. Als Vorlage diente ein inMillimeterabständen gehobelter Leichnam, der scheibchenweise photographiertwurde. Adams richtiger Name war Joseph Paul G. Er wurde 1993 wegen Mor-des zum Tode verurteilt und nach der Hinrichtung sofort tiefgefroren, in Gelati-ne eingegossen und zersägt. Die Bilder seines Innenlebens – im Computer ver-schmolzen – sollen helfen, die letzten Rätsel der menschlichen Anatomie aufzu-klären, denn jedes Organ, das steht fest, ist verbesserungsfähig, wenn man nurgenau wüsste, wie es funktioniert.

Horst Eberhard Richter: Wenn der Mensch sich die Macht aneignen könnte,die er vorher Gott zugeteilt hat, dann könnten wir dahin kommen, dass wir viel-leicht eines Tages unser Leben so sichern können, dass also keine Gefahren,nichts Unheimliches, uns mehr beherrschen kann und dass wir umgekehrt mitunserer Wissenschaft und Technik so weit kommen, dass wir unsterblich wer-den, dass wir keine Krankheiten mehr bekommen müssen, und dass wir über-haupt keine Angst mehr bekommen müssen, und das ist in meiner Sicht ein ma-gischer Glaube, der zwar als solcher nicht durchschaut wird, aber der sehr starkerinnert eigentlich an den Glauben an den Stein der Weisen. Sich auf einen Gottzu verlassen, reicht dem Menschen längst nicht mehr. Er glaubt, er könne seineeigene Evolution steuern und hat deshalb auch die Entstehung des Lebens in dieHand genommen.

Sprecherin: Im Universitätskrankenhaus in Brüssel ist eine Art Musterungsbe-hörde für Embryos. Die durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas entstan-denen Embryos werden einem Erbgutcheck unterzogen. Sie bestehen erst auswenigen Zellen. Eine davon dient als Untersuchungsmaterial.

6 Ein integrativer Verantwortungsbegriff ist entwickelt in [2]

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Übersetzer (Aussage eines Forschers): (It has one, two, three) Es hat 1, 2, 3, 4,5, 6 Zellen. Man kann die Kerne in den Zellen erkennen. So können wir aus die-sem Embryo eine Zelle herausnehmen, um sie zu untersuchen.

Sprecherin: Eine kann mit einer Pipette herausgesaugt werden, ohne dass dasweitere Wachstum beeinträchtigt wird. Die Verfahren sind erprobt.

Getestet wird, ob die Embryos die genetische Anlage für ein schweres Leiden haben. Am Prüfungstag ist die Frucht 72 Stunden alt. Sie misst jetzt 1/10 mm. Die Zellen sind alle identisch.

Es gab vorher Versuche mit Embryos von Mäusen. Dabei hat man herausge-funden, dass die Embryos sich immer noch normal entwickeln, wenn man ihnenin diesem Stadium eine Zelle entnimmt. Der Embryo wird also überhaupt nichtbeeinträchtigt.

Die Paare, die mit Hilfe der Wissenschaftler ein Kind bekommen möchten,sind Erbträger von lebensbedrohenden Krankheiten. Sie möchten sicher gehen,dass ihr Kind gesund ist. Deshalb lassen sie mehrere Eizellen befruchten. DieMediziner testen dann die Erbanlagen aller Embryonen, um der Frau anschlie-ßend nur die gesunden in die Gebärmutter einzupflanzen.

Übersetzer (Aussage einer jungen Ärztin/Wissenschaftlerin): Sehr oft hattendiese Paare ein oder zwei kranke Kinder, die sehr früh gestorben sind. Oder siehatten eine oder zwei Fehlgeburten – was für die eine traumatische Erfahrungwar, weil sie sich diese Kinder gewünscht hatten. Deshalb haben sie sich ent-schieden, keine Kinder mehr zu bekommen. Wenn sie dann von unserer Technikhören, sehen sie wieder eine Chance, ein Kind zu bekommen. Es ist also eineEntscheidung für das Leben, nicht dagegen.

It’s not choosing against life – it is choosing for life.

Sprecherin: Die Ärzte in Brüssel müssen sich von Kritikern vorwerfen lassen,ihr Treiben sei moderne Euthanasie. In Deutschland ist die Methode verboten.

Übersetzer (Aussage einer weiteren Ärztin): Soweit es um die Erkennung vonKrankheiten geht, setze ich mir keine Grenzen. Natürlich muss man sich in je-dem einzelnen Fall erneut fragen, was man macht und wie weit man geht. Aberfür die Diagnose von Krankheiten, glaube ich, ist es o.k. Anders ist es, wenn esum die Manipulation von Erbanlagen geht, um bestimmte Eigenschaften zu be-kommen. Erstens ist das technisch nicht möglich, und außerdem ist es nicht un-ser Ansatz. Diese Technik ist dazu da, die Geburt von wirklich schwer erblichgeschädigten Kindern mit Hilfe gentechnischer Verfahren zu verhindern.

Szenenwechsel

Sprecherin: Wenn Familie Pfeiffer die Technik der belgischen Wissenschaftlerangewandt hätte, wäre ihr Sohn Markus vermutlich nicht auf der Welt. Er leidetan Mukoviszidose. Embryonen mit dieser Erbanlage werden in Brüssel vernich-tet. Die Krankheit hat zur Folge, dass die Atemwege ständig verschleimt sind.Markus, der deutlich kleiner ist als sein jüngerer Bruder, ist stark geschwächt.Dutzende Medikamente und eine künstliche Ernährung in der Nacht helfen dem14jährigen zwar, Heilung aber gibt es nicht. Trotz seiner Leiden – beklagt hatsich Markus noch nie.

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Markus: Als ich anfangs in die Schule kam, dacht ich auch erst, was werden diejetzt sagen, weil ich bin ja auch kleiner wie die, aber die meisten haben michhalt gefragt, hab’ ich’s ihnen halt erklärt, für die is das jetzt eigentlich ganz nor-mal, die nehmen schon mal Rücksicht, tragen schon mal den Ranzen.

Sprecherin: Die Mitschüler nehmen Rücksicht – auch weil sie wissen, dassMarkus täglich trainieren muss. Sein Rhythmus wird ihm von der Stoffwechsel-krankheit diktiert.

Markus: Morgens wenn ich aufsteh’, muss ich halt vorher aufstehn wie alle an-dern, muss ich erst inhalieren, dann autogenes Training, Trampolinhüpfen. Mit-tags, wenn ich von der Schule komm, muss ich auch erst direkt wieder inhalie-ren, Training machen.

Sprecherin: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder an Mukoviszidose leidenwerden, lag bei Familie Pfeiffer bei 25 Prozent. Noch zweimal nach Markus’Geburt sind die Eltern das Vererbungsrisiko eingegangen.

Frau Pfeiffer: Was mich dann immer enttäuscht hat, Leute von denen wo ichdachte, das sind jetzt gute Freunde oder so, wie die dann hörten, wir bekommenwieder ein Kind, dass sie sich dann anmaßen, uns da irgendwie niederzuma-chen, und uns sagen: „Wie könnt ihr denn nur?“, oder eine Frau sagt zu mir„Kannst Du keine Pille nehmen?“. Ich mein’, mit welchem Recht sagt man das?

Sprecherin: Die Mutter hätte sich nicht gegen ein krankes Kind entschieden,auch wenn sie von dem Leiden gewusst hätte. Denn – auch Markus’ Leben istlebenswert.

Horst-Eberhard Richter: Der Druck von außen wird sich erhöhen, nicht. InAmerika ist das schon zu sehen, dass man sagt – auch Wissenschaftler sagen –„Mütter sind unverantwortlich, wenn sie die Gesellschaft belasten mit dann be-hinderten Kindern, Kindern bei denen sie – die sie gar nicht hätten zur Weltbringen müssen“. Und der äußere Druck wird auch dadurch erhöht, dass dieWirtschaft später eventuell kommt mit Gentests und verlangt, also bei Einstel-lungen, dass Bewerber einen Gentest vorlegen, und wenn der Betreffende sagt„Das will ich nicht“, dann sagt die Firma „Das müssen Sie auch gar nicht, aberwir müssen Sie nicht einstellen.“

Anmerkungen und Interpretationen der Zuschauer

Zunächst muss bei der Wiedergabe der Zuschauerstimmen berücksichtigt wer-den, dass die Teilnehmenden beider Arbeitsgruppen in Tübingen wie in Loccumüberdurchschnittlich gut mit dem Thema Präimplantationsdiagnostik vertrautwaren und/oder mit Kompetenz und Erfahrung medizinethische Fragen diskutie-ren konnten. Insofern fehlte die unbeeinflusste, uninformierte und unbefangeneerste Konfrontation mit diesem Thema über das Medium Fernsehen. Dennochverweisen die Aussagen deutlich auf subjektiv wahrgenommene Konstruktions-mittel, die innerhalb einer informierenden Dokumentation zu einem aktuellenThema der Medizin die moralische Hinsicht zur Geltung bringen sollen.

Zur Klärung unserer Ausgangsfragen gaben die Zuschauer spontan an, dassder Film von Spiegel tv-Spezial bereits am Anfang klar Stellung bezieht und inseiner Vorsicht und Ablehnung ausdrückenden Haltung keinen Zweifel daran

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lässt, dass hier ein Problem der Moral, eine Frage von „gut“ und „böse“ ange-sprochen wird. Die einleitenden Bilder und der zugrunde liegende Text zu„Adam“ haben mit der Problematik des anschließenden Themas nichts zu tun,erzeugen aber schon zu Beginn eine unheimliche und verunsichernde Stim-mung.

Die neue Technik wird mit bedrohlichen toc-toc-Tönen untermalt, und auchder Kommentar von Horst Eberhard Richter mit dem Hinweis auf den Wunschdes Menschen, sich die Macht Gottes anzueignen und das eigene Leben be-herrschbar zu machen, ist unmissverständlich. Richter vor der Bücherwandweckte Assoziationen wie die eines „Weisen“ oder des „Klausners in seinerKlause“. Zudem führte die Konnotation des in einem seiner Bücher dargestell-ten „Gotteskomplexes“ bereits zu Beginn zu der erkennbaren Grundablehnungdes Filmes gegenüber dieser neuen Technik.

Im Erleben der Betrachtenden wird die Technik im ersten Filmabschnittneutral dargestellt, losgelöst vom tatsächlichen Leben derer, die diese Technikentwickeln, anwenden oder für sich nutzen wollen. Entsprechend sind auch dieBilder der Räume aufgeräumt, sauber, kalt, stereotyp gleichartig. Andererseitswird die Technik zugleich ungenau und stark vereinfachend gezeigt, ohne einEingehen auf mögliche Folgeprobleme. Einige Zuschauer sahen allerdings inder sauber und weiß wirkenden Atmosphäre von Klinik und Forschung ein rea-listisch wiedergegebenes Bild, das dem Klinikalltag entspricht. Als Irritation,zugleich aber auch als ein Element, das auf die ethische Problematik hinweist,wurde die Aussage von der „modernen Euthanasie“ empfunden, die plötzlich inden bis dahin „sauberen Film“ hineinplatzt. Begriffe wie „schwere Krankheit“oder „Leiden“ werden nicht präzisiert. Die Aussage, die Technik sei „inDeutschland verboten“, klang für einige Zuschauer wie ein Bedauern, für anderewie ein Vorwurf.

Diese Anmerkung wurde jedoch von einigen als neutrale Information emp-funden, die erst durch den deutlichen Schnitt und Übergang zu den warmen Bil-dern der Familie Pfeiffer eine Hinwendung zur ethischen Dimension bekam unddann als Ausdruck der Erleichterung interpretiert wurde („glücklicherweise istdas ja bei uns verboten“).

Die ethische Dimension der Technik trat für manche Diskutanten erst durcheindeutig moralische Urteile derer zutage, die ethische Entscheidungen treffenmussten. Dabei wurde als irritierendes Defizit festgehalten, dass von Seiten derForscher ebenso wenig wie von Seiten der Betroffenen die jeweils ethischen Im-plikationen der anderen mitgedacht und evidente Probleme, wie z.B. das Weg-schütten von Embryonen, nicht angesprochen werden. Hier boten im Erlebender Zuschauer weder der Kommentar noch das Bild eine Möglichkeit, das intui-tive Missbehagen an einer entsprechenden filmischen Darstellung festmachenzu können. Umgekehrt wurde erwartet, dass das Problem derer, die von einerschwerwiegenden vererbten Krankheit betroffenen sind, auch für die FamiliePfeiffer ethisch relevant sein müsste, was jedoch in keiner Weise erkennbarwird. Dadurch wurde aber auch dieser Filmabschnitt mit dem aus dem Lebengegriffenen, in warmen Farben geschilderten Zusammenhalten der FamiliePfeiffer „sauber“, ohne auftauchende Zweifel, Widersprüchlichkeiten oder offe-ne Fragen. Für die Zuschauer machte sich die ethische Problematik an der imBild erkennbar emotionalen Äußerung von Frau Pfeiffer fest, ihrem Vorwurf andie Gesellschaft, explizit an vermeintliche Freunde und an der damit implizitausgedrückten Sorge vor einer Zukunft, in der die Geburt eines kranken Kindes

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zum Vorwurf an die Eltern wird. Der zweite Teil des Filmes spitzte sich zu inder Aussage, dass auch das Leben von Markus „lebenswert“ ist. Dieser Begriffdes „Lebenswertes“ löste bei allen Teilnehmern der diskutierenden Arbeitsgrup-pen die Assoziation zur Lebenswert-Diskussion in der Zeit des Nationalsozialis-mus aus. Es wurde aber konstatiert, dass der Film offen lässt, ob der Lebenswertüberhaupt infrage gestellt wird.

Gerade für das Fernsehen ist die Persönlichkeitswirkung der Agierenden aufdas Publikum von besonderer Bedeutung. Daher kritisierten einige Diskutantendie Rolle von Horst Eberhard Richter, dessen Kompetenz in der Frage der Prä-implantationsdiagnostik einerseits angezweifelt und dessen moralisierender, be-lehrender Ton andererseits als unzulässige Einflussnahme in der Auseinander-setzung mit einer ethischen Frage angesichts einer medizinischen Technikgewertet wurde.

Der Tenor des Films wurde als einseitig und suggestiv empfunden, insge-samt schien es vielen so, als dürften in diesem Filmbeitrag nur wenige BefragteZustimmung zur Präimplantationsdiagnostik ausdrücken. Damit war die Bot-schaft des Filmes – Machbarkeitswünsche als gefährlicher Wahn – im Verständ-nis unserer Zuschauer zwar provokativ und herausfordernd, gab aber für dieMehrzahl keine Angebote für ein weiteres Gespräch. Nur wenige Teilnehmendehielten gerade den als ärgerlich empfundenen Versuch der Manipulation für einestarke Herausforderung zur Diskussion.

Für die weitere Debatte wurde anschließend der zweite Beitrag angesehen:

ZDF ML-Mona Lisa „Das perfekte Kind“

Maria von Welser: Vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit im Naziregimeist es nicht verwunderlich, dass wir in Deutschland ein sehr strenges Embryo-nenschutzgesetz haben. Strenger als in den umliegenden europäischen Ländern.Demnach ist die Präimplantationsdiagnostik bei uns nicht erlaubt. Ein Embryodarf also nicht nach seiner Zeugung im Reagenzglas untersucht werden, ob ergenetisch o.k. ist. Wenn nein, wird nämlich der Embryo erst gar nicht implan-tiert. Dabei geht es nur um genetische Erbkrankheiten. – Die katholische Kirchewarnt vor einer vorgeburtlichen Qualitätskontrolle. Das ist die eine Seite.Angelika Fell über den positiven Aspekt, vor allem für manche Eltern.

Sprecherin: Hammersmith Hospital, London: Mekka der forschungsfreudigenFortpflanzungsmedizin und – letzte Hoffnung für Paare, die Überträger von Erb-krankheiten sind. Hier gibt es bereits die Präimplantationsdiagnostik, mit dererbkranker Nachwuchs erkannt und – ausselektiert wird.

Drei Tage nach der Befruchtung im Reagenzglas hat der Embryo acht Zellengebildet. Aus jeder einzelnen kann das genetische Programm des Menschen ent-schlüsselt werden.

Vorsichtig wird die Hülle geöffnet und eine Zelle abgesaugt. Nun beginntder Wettlauf mit der Zeit. 24 Stunden bleiben, um die Gene der Zelle zu unter-suchen. Ist sie gesund, wird der Restembryo der Mutter eingepflanzt, erbkrankeEmbryos werden weggeworfen.

Notfalls will dieses Ehepaar nach London fahren, um das ersehnte Kind zubekommen. Die Frau ist Trägerin einer balancierten Chromosomentransloka-tion, d.h. ihre Kinder sind entweder gesund oder nicht lebensfähig. Negativ-bilanz: fünf Schwangerschaftsabbrüche.

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Ehefrau, anonym: Diese fünf Schwangerschaften haben halt viele Jahre in An-spruch genommen, und irgendwann ist diese Zeit begrenzt, und man kann janicht unendlich halt weitermachen. Ich denke eigentlich schon, dass das unsreletzte Hoffnung ist, weil wir halt das schon fünfmal so versucht haben, und esist immer wieder schief gegangen. Und ich denke mal, eine menschlichereMethode ist auf jeden Fall diese Präimplantationsdiagnostik, weil man ja dann...Wenn man normal schwanger wird, hat man monatelang bis man erst überhaupt‘ne Fruchtwasseruntersuchung machen lassen kann, und dann ist man mit demGedanken beschäftigt: wird es gesund, wird es nicht gesund, wird’s wieder einSchwangerschaftsabbruch, und das ist eigentlich ganz unvorstellbar für einen,der das nicht mitgemacht hat.

Ehemann, anonym: Eh, also ich finde, das ist im Grunde genommen eineKrankheit, in Anführungszeichen, wie andere Krankheiten auch, und da wird jaauch versucht, den Menschen zu helfen, und warum soll das hier anders sein.Wir wollen ja nicht irgendwas Spezielles züchten, sondern wir wollen ja nur einganz normales Kind halt, und ein gewisses Restrisiko besteht ja da trotzdemnoch. Ist ja jetzt nicht so, dass wir ausselektieren: wir haben ein perfektes Kind.Nur das eine Risiko, was diese Translokation da beinhaltet, das kann man ja da-mit ausschalten, und das finde ich doch sehr wichtig.

Sprecherin: Lübeck, Frauenklinik der Universität: Hier hat sich das Paar zurPräimplantationsdiagnostik angemeldet, allerdings – die Methode muss von derEthik-Kommission der Universität erst noch genehmigt werden. KlinikchefKlaus Dietrich ist zuversichtlich. Er hofft, die Präimplantationstechnik in weni-gen Monaten anbieten zu können.

Prof. Klaus Dietrich (Fortpflanzungsmediziner): Erste Meinungsäußerungenaus dieser Ethik-Kommission – es haben Anhörungen stattgefunden – scheinendurchaus positiv. Man muss sagen, dass diese Ethik-Kommission sich sehr vielArbeit .. und gründlich gearbeitet hat. Sie hat ein Rechtsgutachten eingeholt,und wenn dieses Rechtsgutachten positiv ausfällt, erwarte ich, dass auch dasVotum der Ethik-Kommission positiv sein wird.

Sprecherin: Die Frage ist, ob die Präimplantationsdiagnostik mit unserem strik-ten Embryonenschutzgesetz vereinbar ist. Darin heißt es: Bestraft wird, wereinen menschlichen Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweckverwendet. Ebenso wird bestraft, wer zu einem anderen Zweck als der Herbei-führung einer Schwangerschaft bewirkt, dass sich ein menschlicher Embryoaußerhalb des Körpers weiterentwickelt. Ist also der Eingriff verbotene For-schung oder erlaubte genetische Untersuchung in einer Notlage, wie ProfessorDietrich meint?

Prof. Klaus Dietrich: Es ist eine Frühstdiagnostik am Embryo, was das Lebendes Embryos nicht gefährdet, und es ist eine Frühstdiagnostik zu einem Zeit-punkt, zu dem noch keine Schwangerschaft eingetreten ist. Das heißt, wir habendadurch die Möglichkeit, der Patientin, die mit einem hohen Risiko ein krankesKind bekommen wird, einen gesunden Embryo einzusetzen und damit ihr dieSicherheit zu geben, dass diese genetische Erkrankung bei dem Embryo nichtvorliegt.

Sprecherin: Die Kritiker halten dagegen, dass mit der Präimplantationsdiagno-stik die Züchtung ausgesuchter Menschen beginnt. Die Guten ins Leben – dieanderen zum Müll

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Helga Satzinger (Biologin, Ärztekammer Berlin): Wer hat ein Recht auf eingesundes Kind, und kann man das überhaupt haben? Ich meine, wenn jemandein Kind kriegt, wenn eine Frau ein Kind kriegt, kann es durch die GeburtSauerstoffmangel kriegen und spastisch gelähmt sein. Was soll sie dann sagen?„Ich hab ein Recht auf ein gesundes Kind“? Also diese Frage ist schief, istvöllig schief. Die Frage ist: mit welchen Kindern wollen wir leben? Und dieFrage ist: Soll hier eine medizinische Entwicklung laufen, soll hier ein bestimm-ter Berufsstand entstehen? Der entscheidet, wer noch leben darf und wer nicht?

Sprecherin: Dieses Mädchen leidet an Mucoviszidose, einer Erkrankung, dieAtemwege und Verdauung durch vermehrte Produktion von zähflüssigemSchleim lahmlegt und oft früh zum Tode führt.

Ein Paar, das schon zweimal eine Schwangerschaft wegen Mucoviszidoseabgebrochen hat, soll in Lübeck die erste Präimplantationsdiagnostik bekommen.

Stefan Kruip (erwachsener Mucoviszidose-Patient): Also ich bin froh, dassmeine Eltern anders denken, dass auch zu meiner Zeit, als ich geboren wurde,diese Methode noch nicht vorhanden war, denn sonst wäre ich eventuell nichtgeboren worden. Und hab erlebt, an mir selber, wie die Lebenserwartung steigt.Als ich geboren wurde, war die Lebenserwartung statistisch bei neun Jahren,und ich muss sagen, ich leb gerne mit Mucoviszidose, und ich hab immer einsehr ungutes Gefühl, wenn da diese Selektion stattfinden soll.

Sprecherin: Von 6000 bekannten Erbkrankheiten können vorerst nur einigedurch Präimplantationsdiagnostik ausselektiert werden. Die MuskeldystrophieDuchenne gehört dazu. Sie führt zu Muskelzerfall und frühem Tod. Könntediese Mutter noch ein zweites behindertes Kind verkraften?

Mutter: Früher, – kann man das sowieso vorher nie sagen. Und darum fänd’ iches grundsätzlich schon gut, wenn dort weitergearbeitet wird, und wenn man ein-fach die Möglichkeit hat, zu sagen, ich möchte nicht.

Sprecherin: Hier werden aus Blutproben gewonnene Zellen auf Muskeldystro-phie Duchenne untersucht. Bei positivem Befund wird üblicherweise dieSchwangerschaft abgebrochen. Die Präimplantationsdiagnostik ist hier diehumanere Methode für Mutter und Kind.

Sind künftig genetische Reihenuntersuchungen denkbar?

Tiemo Grimm (Humangenetiker): Man muß es immer in jedem Einzelfall dis-kutieren und für jeden Einzelfall besonders sehen, und ich glaube, dass es auchniemals – um auch Gefahren zu sehen – eine Routinemethode entstehen wird –bei jeder Schwangerschaft: machen Sie mal...Das ist unwahrscheinlich, dass essich je so weit entwickeln wird. Es wird eine Spezialmethode sein für Ehepaaremit einem sehr hohen Risiko, und dann kann das in der Zukunft durchaus wasSinnvolles werden.

Sprecherin: Zweifel sind angebracht. Schon jetzt sind in England Reihenunter-suchungen auf Mukoviszidose geplant, und: nach einer Umfrage würden 11%der amerikanischen Frauen kein Kind akzeptieren, das genetisch zu Überge-wicht neigt. Sind wir schon auf dem Weg zu einem perfekten Kind? DieWissenschaftler halten solche Ängste für unnötig.

Übersetzer (Prof. Dr. Alan H. Handyside, Fortpflanzungsmediziner): (We feelthat ...) Wir meinen, dass es falsch wäre, Paaren durch strikte Gesetze den Zu-

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gang zur Präimplantationsdiagnostik zu verweigern, Paaren, die ein hohes Risi-ko haben, genetisch schwerst behinderte Kinder mit kurzer Lebenserwartung zubekommen. Und das nur, weil es eine unrealistische Furcht gibt, dass diesesVerfahren missbraucht werden könnte.

Sprecherin: Es geht nicht allein um den Wunsch nach einem gesunden Kind. Esgeht auch darum, welche Krankheiten unsere Gesellschaft bereit ist mitzutragen.Präimplantationsdiagnostik kostet ein paar Tausender, die Kosten für einenchronisch Kranken gehen in die Hunderttausende.

Stefan Kruip (Mukoviszidose-Patient): Das wird sich in nächster Zeit eben dra-stisch verschlimmern, wenn diese Methoden um sich greifen. Es wird eben hei-ßen: „Diese Krankheit hätten Sie verhindern können“ – an die Eltern. Oder: „Siekosten der Gesellschaft so und so viel, und das müssen Sie auch selber tragen.“

Sprecherin: Hauptsache gesund? – Wie groß wäre heute ihre Chance, auf dieWelt zu kommen?

Anmerkungen und Interpretationen der Zuschauer

Insgesamt wurde der ML-Beitrag von den Diskutierenden als deutlich „ge-schlossener“, stringenter, weniger verwirrend und „argumentierender“ im Ver-gleich zum Spiegel-tv-Beitrag eingestuft. Formal schien er allen wesentlich bes-ser gemacht. Die Darstellung der Technik erschien allerdings den meisten inüberflüssiger Weise bildlich umgesetzt, ohne dass ein ethisches Problem ange-sprochen oder ersichtlich würde.

ML beginnt durch die Einführung von Maria von Welser mit der mahnendenund warnenden Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, mit de-nen die Zuschauer die menschenverachtende „Auslese“ sog. „lebensunwertenLebens“ assoziierten. Die mit Menschen gefüllten und in warmen Farben gehal-tenen Anfangsbilder des Filmbeitrags führten jedoch bei den Betrachtern zueiner positiven Grundstimmung und offenen Erwartung der kommenden Argu-mente und Bilder.

Spontan wurde von allen unwidersprochen die Anonymisierung des Ehepaa-res mit Wunsch nach PID als Indikator für ein ethisches Problem gewertet. Hierwurde im Empfinden der Zuschauer demonstriert, dass etwas „im Dunklen“ ge-schieht, was mit Straftat, mit „böse“ assoziiert werden muss und schon von da-her nach der Moral fragt.

Als ärgerlich suggestiv wurde der Gegensatz zwischen dem ablehnendenKommentar von Stefan Kruip vor einem hellen Zimmerfenster mit Blick auf dieIdylle eines Ortes mit Kirchturm zum Unterschied des anonymisierten, gesichts-losen Ehepaares in dunklem Raum gewertet. Hier kam eine für die weitere Dis-kussion entscheidende Frage auf: Warum lässt man die Menschen mit unter-schiedlichen Erfahrungen und Nöten nicht miteinander sprechen?

Für unsere Zuschauer war es eklatant, dass Kinder mit ihren Erkrankungenin beiden Filmbeiträgen in ausschließlich positiven Bildern gezeigt werden,lebensfroh trotz aller physischen und psychischen Belastungen. Erkennbar wur-de in den Filmen durch die Kommentierungen aber auch, dass Wissenschaft imKonsens anzunehmen scheint, dass derartige Erkrankungen eine Katastrophedarstellen. Was der Wissenschaftler Handyside im Beitrag von ML allerdings

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insgesamt sagt, ist nicht erkennbar. Im Erleben der Betrachter wurde er im Filmso eingesetzt, dass er negative Assoziationen wecken musste.

Der Argumentationsschwenk von der Medizin zur Ökonomie erschien un-motiviert, sehr abrupt und vor allem nicht verständlich gemacht. Es blieb völligunklar, weshalb die ökonomische Ebene bedrohlich ist, der Bezug zur Medizinwurde nicht hergestellt, und hier fanden die Zuschauer weder in Bildern noch imText ein Äquivalent für eine in den Raum gestellte Äußerung.

Bezogen auf unsere erste Leitfrage nach den auftauchenden moralischenProblemen, stimulierte der Mona Lisa-Film bei den Diskutanten die folgendenmoralischen Problemwahrnehmungen:

– Was ist von der unterschiedlichen Bewertung des menschlichen Lebens zuhalten? Ist Embryonen-Wegwerfen humaner als Abtreibung?

– Ist es zumutbar, dass jemand sich sagen muss: „Wenn es diese Methodeschon früher gegeben hätte, gäbe es mich jetzt nicht.“ ?

– Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind?– Der Wunsch nach einem Kind ist zu unterscheiden von dem Wunsch nach

einem bestimmten, d.h. hier „gesunden“ Kind.– Der Wunsch nach einem perfekten Kind erscheint fragwürdig.

Damit wurde auch für diesen Film eine Botschaft greifbar: Für Urteile über dieErträglichkeit und Wünschbarkeit einer Lebensweise stellt es oft einen großenUnterschied dar, ob man ‘von innen’ oder ‘von außen’ urteilt. Während ‘vonaußen’ der Zustand eines „schwer“ erbkranken Kindes leicht als Katastropheerscheint, verhält es sich aus der Sicht von Betroffenen (Eltern und Kindern),die die Krankheit „angenommen“ haben, oft ganz anders.

Dezidiert positiv wurde erlebt, dass dieser Film ein breites Angebot an Mei-nungsvorgaben offeriert, was sich für die Zuschauer mit dem raschen Wechselder Szenen und den jeweils neuen Bildern aus dem Labor, dem Lebensraum Be-troffener, juristischen Erörterungen und Denkanstößen aus der Kommentierungergab.

Zusammenfassung

Wir wollen noch einmal betonen, dass bei der Analyse der Darstellungsmittelzur Konstruktion medizinethischer Probleme im Fernsehen nicht diskutiert wer-den soll, ob die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik ethisch begründbarist oder nicht, ob man Gefahren darin erkennt oder welches Menschenbild da-hintersteckt. Ebenso sind mögliche Motive der Filmemacher zunächst irrelevant.Es soll einzig und allein die Frage geklärt werden: Was zeigen die vorgestelltenFilme, welche Begriffe werden benutzt, welche Bilder und Zeichen tauchen auf?Gibt es Zeichen, die im semiotischen Sinne als Code für bestimmte Inhalte ste-hen, die im Text selbst nicht transparent und explizit gemacht werden. Mit wel-chen sprachlichen, musikalischen und bildnerischen Mitteln werden ethischeProbleme konstruiert und z.B. verdeckt, d.h. durch nichtexplizite suggestiveMittel bereits einseitig gelöst oder eine Lösung/Regelung nahegelegt, ohne dasProblem für die Diskussion offenzuhalten. Wie weit also werden jenseits derEbene des Ansprechens von Problemen, Argumenten und des Darlegens vonPositionen filmische Mittel genutzt, um den Zuschauer voreinzunehmen, zumanipulieren.

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Die Diskussion in den Arbeitsgruppen hat gezeigt, dass Wahrgenommenesintuitiv an Darstellungsmittel und ihre suggestive Wirkung geknüpft wird. Ethi-sche Probleme werden in Dokumentationsfilmen im Fernsehen nie ohne die Be-troffenen abgehandelt. Die Zielgruppen werden entsprechend in Szene gesetzt,wobei dies vielfach polarisierend geschieht, also Patient oder Behinderter gegenÄrzte, aber auch Patient gegen Patient oder Eltern etc. Dabei werden für denZuschauer sowohl Identifikationen mit dem Patienten als auch mit der zumeisttechnisch ausgerichteten Medizin möglich. Die Dramaturgie bietet natürlichauch einen Unterhaltungswert. Familienszenen, privates Ambiente, Einblick inpersönliche Gedanken und Gefühle sowie Landschaftsaufnahmen ermöglichenund verstärken Empathie und Identifikationsmöglichkeiten. Medizinische Da-ten, Instrumentarium, Hochtechnologie und wissenschaftliche Anmerkungenaus professionellem Munde wecken Neugierde, ermöglichen Teilnahme am me-dizinischen Fortschrittsdialog und Sammeln von medizinischem Wissen. NeueTechniken werden oftmals – dies gilt zumindest für den gezeigten Film vonSpiegel tv – mit typischen musikalischen Formen unterlegt: dissonant, unerbitt-lich schlagend oder klopfend, hier als dunkles toc-toc-toc. Damit werden Bedro-hung, Gefahr, Katastrophe in gleicher Weise wie im Spielfilm heraufbeschwo-ren, entsprechende Assoziationen gefördert und die Gefühle der Zuschauendenangesprochen. Kontexte und Kotexte aktivieren und aktualisieren das relevanteWissen für die vollständige Interpretation der Äußerungen. So verweisen dieZitate des Lebenswertes in unseren Beispielen ebenso wie die Andeutungen derspeziellen deutschen Geschichte auf Wissen und Erfahrungen, mit denen zu-gleich Unrecht und Gefahr assoziiert werden. Bezüglich der Textualisierungwurde die Vermutung laut, das einzige Problematisierungsmuster für Moralpro-bleme scheine die Darstellung der negativen Konsequenzen der Anwendung zusein, wobei niemals konkrete Lebenserfahrungen mit ebenso konkreten alterna-tiven Erfahrungen verglichen werden.

Das dargestellte subjektive und nicht-repräsentative Filmverständnis imRahmen unserer Gruppendiskussion verlangt im nächsten Schritt nach der inAbbildung 1 zusammengestellten akribischen Feinanalyse. Sie kann erst ver-lässliche Aussagen für die Interpretation liefern und die Frage nach Regelhaftig-keiten in den Darstellungsmitteln beantworten. Darüber hinaus macht die Viel-falt der Fernsehbeiträge zudem die Untersuchung eines größeren Materialbe-standes notwendig. Das Thema Präimplantationsdiagnostik wird – leicht vorher-sagbar – reichlich Stoff für die weitere Bearbeitung liefern.

Literatur

1. Hicketier K (1996) Film- und Fernsehanalyse, 2.Auflg., Metzler, Stuttgart, Weimar2. Kettner M (1999) Neue Perspektiven der Diskursethik. In: Grunwald A, Saupe S (Hrsg)

Ethik technischen Handelns. Springer, Heidelberg, Berlin, New York, S 153–1963. Luhmann N (1995) Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag, Opladen4. Moreno J (1999) Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des

Fims und der Medien. Überarbeitete Neuauflage, Rowohlt, Reinbeck5. Sottong H, Müller M (1998) Zwischen Sender und Empfänger: eine Einführung in die

Semiotik der Kommunikationsgesellschaft. Erich Schmidt, Bielefeld

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