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Zur Modernedeutung in Ernst Jüngers "Arbeiter" Ernst Jüngers theoretisches Hauptwerk "Der Arbeiter" - 1932 zum erstenmal erschienen - wird in der Sekundärliteratur meist als Buch gewertet, in dem sich der Autor am eindeutigsten der nationalsozialistischen Ideologie annähert 1 . Nicolaus Sombart las den Text als "zuverlässiges Ideenprotokoll jener Konstruktion (...), die der Fehlentwicklung von 1933 zugrunde lag" 2 und analysiert das Werk "als ob es das Manifest des Dritten Reiches gewesen wäre" 3 . Gerhard Loose charakterisiert den Arbeiter als "das merkwürdige Schauspiel, in dem der Bürger sich in der Rolle des Dynamitero gefällt und in dem ein mit allen Wassern gewaschener (...) Individualist einen vernichtungsbesessenen Kollektivismus predigt" 4 . Nach Hans-Peter Schwarz stellt "Der Arbeiter" "klar, daß Jüngers konkrete Vorstellungen der späteren Wirklichkeit des Dritten Reiches in vielem entsprechen" 5 . Schwarz redet ebenfalls von der "selbstquälerischen Verkrampfung, (die) in die Konsequenz seiner faschistischen Periode eingegangen ist" 6 und vom "Masochismus zur Selbstbestätigung (...) höheren Menschentums" 7 . Für Karl Prümm nimmt "das Modell des totalen Staates, das Jünger entwirft und für das er mit aller Intensität plädiert, (...) bis in die Details die spätere totalitäre Realität des 3. Reiches vor- weg" 8 . Nach Ansicht Reinhard Brennekes sind die "Parolen" 9 Jüngers in "Der Arbeiter" von der 1 . Die folgenden Ausführungen stützen sich - insbesondere die Zusammenfassung der Grundideen des Arbeiters - teilweise auf ein Kapitel meiner Dissertation zu Ernst Jüngers Frühwerk, in der ich den "Arbeiter" einer Untersuchung unterziehe; siehe: Gauger, Klaus, Krieger, Arbeiter, Waldgänger, Anarch. Das kriegerische Frühwerk Ernst Jüngers, Frankfurt am Main 1997, S. 169-210 2 . Sombart, Nicolaus, Ernst Jünger: Der "Arbeiter". Zur Neuauflage 1964. In: Nachdenken über Deutschland, Vom Historismus zur Psychoanalyse, München 1987, S. 147 3 . Ebenda, S. 147 4 . Loose, Gerhard, Ernst Jünger, Frankfurt am Main 1957 5 . Schwarz, Hans-Peter, Der konservative Anarchist, Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg 1962, S. 74 6 . Ebenda, S. 73 7 . Ebenda, S. 74 8 . Prümm, Karl, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918-1933), Gruppenideologie und Epochenproblematik, Bd. 2, S. 433 9 . Brenneke, Reinhard, Militanter Modernismus, Vergleichende Studien zum Frühwerk Ernst Jüngers, Stuttgart 1992, S. 275 1

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Zur Modernedeutung in Ernst Jüngers "Arbeiter"

Ernst Jüngers theoretisches Hauptwerk "Der Arbeiter" - 1932 zum erstenmal erschienen - wird in der Sekundärliteratur meist als Buch gewertet, in dem sich der Autor am eindeutigsten der nationalsozialistischen Ideologie annähert1. Nicolaus Sombart las den Text als "zuverlässiges Ideenprotokoll jener Konstruktion (...), die der Fehlentwicklung von 1933 zugrunde lag"2 und analysiert das Werk "als ob es das Manifest des Dritten Reiches gewesen wäre"3. Gerhard Loose charakterisiert den Arbeiter als "das merkwürdige Schauspiel, in dem der Bürger sich in der Rolle des Dynamitero gefällt und in dem ein mit allen Wassern gewaschener (...) Individualist einen vernichtungsbesessenen Kollektivismus predigt"4.Nach Hans-Peter Schwarz stellt "Der Arbeiter" "klar, daß Jüngers konkrete Vorstellungen der späteren Wirklichkeit des Dritten Reiches in vielem entsprechen"5. Schwarz redet ebenfalls von der "selbstquälerischen Verkrampfung, (die) in die Konsequenz seiner faschistischen Periode eingegangen ist"6 und vom "Masochismus zur Selbstbestätigung (...) höheren Menschentums"7. Für Karl Prümm nimmt "das Modell des totalen Staates, das Jünger entwirft und für das er mit aller Intensität plädiert, (...) bis in die Details die spätere totalitäre Realität des 3. Reiches vor-weg"8. Nach Ansicht Reinhard Brennekes sind die "Parolen"9 Jüngers in "Der Arbeiter" von der

1. Die folgenden Ausführungen stützen sich - insbesondere die Zusammenfassung der Grundideen des Arbeiters - teilweise auf ein Kapitel meiner Dissertation zu Ernst Jüngers Frühwerk, in der ich den "Arbeiter" einer Untersuchung unterziehe; siehe: Gauger, Klaus, Krieger, Arbeiter, Waldgänger, Anarch. Das kriegerische Frühwerk Ernst Jüngers, Frankfurt am Main 1997, S. 169-210

2. Sombart, Nicolaus, Ernst Jünger: Der "Arbeiter". Zur Neuauflage 1964. In: Nachdenken über Deutschland, Vom Historismus zur Psychoanalyse, München 1987, S. 147

3. Ebenda, S. 147

4. Loose, Gerhard, Ernst Jünger, Frankfurt am Main 1957

5. Schwarz, Hans-Peter, Der konservative Anarchist, Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg 1962, S. 74

6. Ebenda, S. 73

7. Ebenda, S. 74

8. Prümm, Karl, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918-1933), Gruppenideologie und Epochenproblematik, Bd. 2, S. 433

9. Brenneke, Reinhard, Militanter Modernismus, Vergleichende Studien zum Frühwerk Ernst Jüngers, Stuttgart 1992, S. 275

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Götterdämmerungsapokalyptik der Nationalsozialisten "nicht weit entfernt"10. Auf der anderen Seiten stehen Interpretationen wie die Karl Heinz Bohrers und Martin Meyers11, die zweifellos zu den besten in der Sekundärliteratur gehören, da sie sich um eine präzise poe-tologische Verortung und philosophiegeschichtliche Einbettung bemühen, die allerdings von der sicherlich nicht unbedeutenden Frage nach Jüngers geistiger und politischer Disposition im wesentlichen absehen. Uwe-K. Ketelsen hat mit seiner Feststellung recht, daß die Versuche, in knappen und klaren Li-nien anzugeben, worum es im "Arbeiter" geht, im wesentlichen "wenig zufriedenstellend ausge-fallen"12 sind. Helmut Lethens Feststellung, "Der Arbeiter" sei eine "leichte Beute"13 der Ideologiekritik geworden, kann ebenfalls unterstrichen werden. Ich werde im Folgenden versuchen, eine Zusammenfassung und Charakteristik dieses "Großessays" zu geben, um anschließend die zentrale Frage nach der Modernität und diagnostischen Kraft des Werkes zu stellen ebenso wie die Frage, in welchem Zusammenhang "Der Arbeiter" mit der nationalsozialistischen Ideologie steht.

1. Zur Grundstruktur und zum Charakter des "Arbeiters""Der Arbeiter" - ein stark durch metaphysische Überlegungen geprägtes Werk - ist im wesentlichen eine Transponierung kriegerischer Ideen in die von Jünger als enttäuschend empfundene Friedenswelt14.Jüngers "Arbeiter" bestätigt somit Karl-Dietrich Brachers Urteil über die militanten Kampfverbände der Weimarer Republik - in denen sich auch Jünger engagierte -, deren Ideologie sich im wesentlichen aus dem Kriegserlebnis speiste15.Im Zentrum des "Arbeiters" steht der Arbeitsbegriff, der ebenfalls aus dem militärischen Raum stammt, denn der Stellungskrieg - dies stellt Jünger schon in den "Stahlgewittern" fest - zeich-nete sich vor allem durch die erhöhten Anstrengungen aus, denen der Soldat Tag für Tag

10. Ebenda

11. Meyer, Martin, Ernst Jünger, München/Wien 1990; Bohrer, Karl Heinz, Die Ästhetik des Schreckens, Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München/Wien 1978

12. Ketelsen, Uwe.K., "Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen". Zu Ernst Jüngers "Die totale Mobilmachung" (1930) und "Der Arbeiter" (1932), in: Ernst Jünger im 20 Jahrhundert, hrsg. von Hans-Harald Müller und Harro Segeberg, München 1995, S. 81f.

13. Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte, Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt 1994, S. 206

14. Auf den kriegerischen Charakter des "Arbeiters" verweisen: Prümm (zit. Anm. 8), S. 420; Schwarz (zit. Anm. 5), S. 66; Lethen (zit. Anm. 13), S. 206; Loose (zit. Anm. 4), S. 107; Ketelsen (zit. Anm. 12) S. 85; Sonn, Werner, Der Mensch im Arbeitszeitalter, Das Werk Ernst Jünger als Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, Saarbrücken (Diss.) 1971, S. 415. Bracher, Karl Dietrich, Die Auflösung der Weimarer Republik, Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Auflage, Düsseldorf 1978, S. 125

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unterlag."Der Arbeiter" behandelt auf essayistisch-abstrakter Ebene das gleiche Thema wie die vorausgehenden erzählerischen Frühschriften Jüngers über den Krieg: Es geht um die Rettung der Gestalt des antiken Heros in einer modernen Welt, deren Struktur aufgrund der ihr innewohnenden Tendenz zur Verzifferung, organisatorisch erzwungender Verplanung, technischer Abhängigkeit und allgemeiner Instrumentalisierung des Individuums kaum mehr den abenteuernden Ausbruch zuläßt. Der Struktur des Werkes "Der Arbeiter" liegt die von Jünger gehegte Vermutung zugrunde, daß die Beobachtungen und Rückschlüsse, die er in Hinsicht auf die Stellung des Menschen im modernen Krieg machte, auch auf die moderne Friedenswelt zutreffen. Die militärische Sichtweise der Wirklichkeit wird von Jünger in den Raum der bürgerlichen Friedens- und Arbeitswelt verlängert, die moderne Welt im Sinne der "Regeln des soldatischen Exerzitiums"16

analysiert. Das Ergebnis ist ein theoretisches Konstrukt, das sich in der Gestalt des "Arbeiters" verdichtet und dessen heroisch-deformierender, militaristischer und phantastischer Grundcharakter unbestreitbar ist.Jünger wertet die Zeit zwischen den Weltkriegen als eine durch Unordnung geprägte, apokalyptische Übergangsphase17, in der ein "werdendes ein untergehendes (Zeitalter) verschlingt"18. Wie auch in den Frühschriften Jüngers tritt ein nietzscheanisch befeuerter Irrationalismus und Dynamismus hervor. Der "Wille zur Macht" ist das Antriebsprinzip der heraufkommenden Gestalt des "Arbeiters"19.Ein weiteres Merkmal des "Arbeiters" ist trotz seiner planwirtschaftlich anmutenden Elemente sein heftiger Antimarxismus und seine antiaufklärerische Gesinnung, die trotz aller technizisti-schen Verhärtung auf den dem "Arbeiter" vorangegangenen, tiefromantischen Text "Das abenteuerliche Herz"20 verweist, denn der "Arbeiter" Jüngers ist nicht durch seine Stellung in der ökonomischen Welt, sondern durch ein soldatisches Hierarchiesystem geprägt. Entscheidend für seine Stellung ist sein Verhältnis zur Arbeitsordnung und zum technischen Instrumentarium, 16. Jünger, Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt, dritte Auflage, Hamburg 1934, S. 7

17. Auf die apokalyptischen Elemente in Jüngers "Arbeiter" verweisen: Vondung, Klaus, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 383ff.; Koebner Thomas, Die Erwartung der Katastrophe. Zur Geschichtsprophetie des "neuen Konservativismus" (Oswald Spengler, Ernst Jünger) in: Koebner, Thomas (Hrsg.) Weimars Ende, Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur 1930-1933, Frankfurt am Main 1982, S. 348-360; Loose (zit. Anm. 4), S. 105; Ketelsen, Uwe-K. (zit. Anm. 12), S. 83f.

18. Jünger, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 151

19. Auf den nietzscheanischen Charakter des "Arbeiters" verweist: Hervier, Julien, Deux Individuus contre l'Histoire, Pierre Drieu la Rochelle, Ernst Jünger, Editions Klincksieck 1978, S. 22; Loose (zit. Anm. 4), S. 129; Ketelsen (zit. Anm. 12), S. 91

20. Jünger, Ernst, Das Abenteuerliche Herz, Berlin 1929

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durch das sich die Ordnung verwirklicht. Ziel des Jüngerschen "Arbeiters" ist also nicht die Auflösung der Entfremdungsproblematik, sondern die Totalentfremdung des "Arbeiters" wird zum Ziel der zu erschaffenden "neuen Ordnung" gemacht. Marxistisch gesprochen ist der "Arbeiter" ein sich selbst entfremdeter und bewußtseinloser Mensch. Anstatt der marxistischen Forderung nach einer Rehumanisierung der Arbeitswelt und der industriell beherrschten Umwelt fordert Jünger die Technifizierung des Menschen, den roboterhaften, galvanisierten "Arbeiter", der sich in die Landschaft der industriellen Moderne nahtlos einfügt. Die marxistische Analyse wird bei Jünger aufgehoben, "die Verdinglichung radikalisiert und zugleich der Warencharakter verschleiert"21. Wenn überhaupt, lassen sich im "Arbeiter" Anklänge an den Arbeitsbegriff Max Webers finden, der vom bürokratischen Staats-/Industriekomplex als einer „unentfliehbaren Macht“ redet22.Jüngers "Arbeiter" ist also trotz seines dezisionistischen, antibourgeoisen Affekts nur bedingt eine Bürgerlichkeitskritik. Vielmehr wird die negative Kehrseite des bürgerlichen Systems - die soldatische Welt der bedingungslosen Subordination und die der bürokratisch-industriell erzwungenen Arbeitsleistung - philosophierend überhöht. Jüngers "Arbeiter" beruht auf dem Grundgedanken "der universellen „Taylorisierung“ der Gesellschaft, die Jünger in Analogie zur Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeit in den großen Industrieeinheiten beschreibt"23 und die daher dem Individuum "jede Möglichkeit (nimmt), seine Einzigartigkeit zu entwickeln"24. Formal gesehen ist der "Arbeiter" ein unübersichtlicher, ausufernder Essay, dessen Leitideen und Grundfiguren durch eine Unzahl phänomenologischer Beobachtungen "belegt" werden, die "seherisch" und intuitiv im Sinne seiner neuen heroischen Gestalt des "Arbeiters" gedeutet werden. Ketelsens Beobachtung trifft zu, daß "Jünger mit loser Hand über die Konstruktion die Eisenspäne von Beobachtungen (streut), die er am disparaten Leben unter „modernen“ Bedingungen anstellt"25, wobei sich die Beobachtungen konzentrisch um die magnetische Gestalt des "Arbeiters" anordnen. Der platonisierende Charakter des "Arbeiters" ist überdeutlich. Unter der verwirrenden Vielfalt

21. Bolz, Norbert, Auszug aus der entzauberten Welt, Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, S. 163

22. Heins, Volker, Max Weber zur Einführung, Hamburg 1990, S. 108. Auf die Zusammenhänge zwischen Max Webers Rationisierungsthese und Jüngers Modernediagnose im "Arbeiter" verweisen: Meyer (zit. Anm. 11), S. 196ff.; Kiesel, Helmut, Wissenschaftliche Diagnose und Dichterische Vision der Moderne, Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1995

23. Steil, Armin, Die imaginäre Revolte, Untersuchungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger, Marburg 1984, S. 95

24. Ebenda

25. Ketelsen (zit. Anm. 12), S. 86

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der Erscheinungen ruht die platonische Idee, die Gestalt des "Arbeiters", die nach dem kriege-risch-nihilistischen Durchgang Ruhe und Sicherheit spendet, wobei der "Arbeiter" die "Idee eines Geschichtsprozesses"26 ist. "Die Jüngersche Gestalt hat kein ewiges, sondern nur histori-sches Sein"27."Der Arbeiter" zeichnet sich durch einen prophetisch verkündenden Ton aus. Der hermeti-sierende und verschlüsselnde Charakter des Jüngerschen Gesamtwerkes ist hier ohne Zweifel auf die Spitze getrieben.Die philosophische Grundlage seiner Überlegungen entnimmt Jünger der Morphologie Goethes, die unter anderem "von der Übertragung Spenglers übernommen wurde"28.Der Gestaltbegriff ist Bestandteil der morphologischen Überlegungen Goethes, die Welt der organischen Bildungen in Tier- und Pflanzenreich zu erklären. Für Goethe geht es darum,

„(...), die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen“29.

Im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften soll die Natur nicht durch die Sezierung in Einzelteile, erklärt werden, sondern durch die Anschauung des Ganzen, der Gestalt, die "nirgends ein Bestehendes, nirgends ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes"30 ist, sondern "in einer steten Bewegung"31 schwankt. Wenn man das Wort "Gestalt" braucht, soll man - so Goethe - "nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes den-ken"32.So wird der Gestaltbegriff auch von Jünger verwandt: Die Gestalt des "Arbeiters" ist nur eine Chiffre für eine geschichtliche und zivilisatorische Bewegung, die sich in den phänomenolo-gisch sich verhärtenden Umrissen der Ikone des neuen Heros der technischen Moderne - dem "Arbeiter" - verdichtet.

26. Schwarz (zit. Anm. 5), S. 90

27. Kranz, Gisbert, Ernst Jüngers symbolische Weltschau, Düsseldorf 1968, S. 40

28. Schröter, Olaf, "Es ist am Technischen viel Illusion", Die Technik im Werk Ernst Jüngers, Berlin 1993, S. 85

29. Goethe, Johann Wolfgang von, Morphologie, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Band 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, fünfte Auflage, München 1966, S. 55

30. Ebenda

31. Ebenda

32. Ebenda, S. 56

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2. Die Grundideen des "Arbeiters"Jüngers "Arbeiter" ist in zwei Hauptteile untergliedert.Der erste Teil ist vorbereitender Natur und beschäftigt sich mit der bürgerlichen Welt und mit den Vorzeichen, die auf die kommende Gestalt des "Arbeiters" hinweisen.Der zweite Teil geht auf die Funktion und den Charakter der nun ins "Planetarische" ausgeweiteten Herrschaft des "Arbeiters" ein. Er behandelt die Zukunft der modernen Welt, die durch die neue Gestalt des "Arbeiters" geprägt sein wird.

a.) Der antibourgeoise Affekt im "Arbeiter"Trotz seines "planetarischen" Anspruches beginnt Jüngers "Arbeiter" mit einer deutsch-tümelnden Kritik an der Bürgerlichkeit. Jünger stellt auf den ersten Seiten frohlockend fest, daß die Deutschen "schlechte Bürger"33 gewesen seien. Zum westlichen Freiheitsbegriff, nach Ansicht Jüngers abstrakt und inhaltslos, habe der Deutsche kein Verhältnis gehabt. Der Deut-sche Freiheitsbegriff, den Jünger auf den folgenden Seiten entwickelt, ist hingegen durch mittel-alterliche Lehensideen, den Gedanken einer autoritären, nach dem Vorbild des Militärs geprägten Staatlichkeit und durch Führerdenken beherrscht. Jüngers "Arbeiter" ist trotz seines "planetarischen" Anspruches von seiner Grundbewegung her ein Produkt der autoritären, antidemokratischen "Konservativen Revolution"34 und der "Arbeiter" unternimmt daher die Verbindung von Nationalismus, Sozialismus und Militarismus. Jüngers Freiheitsvorstellungen erinnern an Spenglers Gedanken eines "Preußischen Sozialismus", der letztlich - wie Jüngers "Arbeiter" - auf den Erfahrungen der "Volksgemeinschaft" im Krieg beruht35. So ist der erste Teil von Jüngers "Arbeiter" in erster Linie eine aggressive Demontage bürgerlicher Ideen, wäh-rend im zweiten Teil die Gestalt des "Arbeiters" in weltbestimmenden Dimensionen aufgebaut wird. Daher macht Jünger den Bürger vor allem im Bild der Novemberrevolution verächtlich36. Als störend an der bürgerlichen Gesellschaft empfindet Jünger ebenfalls das Fehlen jedes distinktiven Elements und das Vorhandensein einer integrativen Freiheitlichkeit, die auch den

33. Jünger, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 11

34. Siehe hierzu: Mohler, Armin, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1933, Ein Handbuch, dritte, um einen Ergänzungsband erweiterte Auflage, Darmstadt 1989; Dupeux, Louis, "Nationalbolschewismus" in Deutschland 1919-1933, Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985; Schüddekopf, Otto-Ernst, Linke Leute von rechts, Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 196035

. Auf die Zusammenhänge zwischen Jüngers "Arbeiter" und Oswald Spenglers "Preußentum und Sozialismus" verweist ausführlich: Schwarz, Hans Peter (zit. Anm. 5), S. 76-83

36. Jünger, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 24

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radikalen Widerspruch in sich einzuschließen versucht. Daher wirft Jünger der demokratischen Gesellschaft "Charakterlosigkeit"37 und "weibliche Gesinnung"38 vor.

b.) Das bürgerliche Sicherheitsdenken und die Dialektik der Gefahr im Licht der Psychologie "Über den Schmerz"Die drei Schriften Jüngers "Die totale Mobilmachung"39, "Über den Schmerz"40 und der "Arbeiter" stehen in engem Zusammenhang. Der "Arbeiter" ist die Gestalt, die die von Jünger geforderte "totale Mobilmachung" realisieren soll. In seiner Schrift "Über den Schmerz" birgt sich die Psychologie, die der Gestalt des "Arbeiters" zu Grunde liegt.Jünger macht der bürgerlichen Gesellschaft im "Arbeiter" den Vorwurf, sie leide an einem verabsolutierten Sicherheitsdenken. Dieses Sicherheitsbestreben liege ihr "im Innersten zugrunde"41.Im Sinne der "Dialektik der Aufklärung"42 erkennt Jünger hellsichtig, daß Vernunftdenken und Aufklärung seit jeher das Ziel verfolgen, das Irrationale und Gefährliche aus ihrem Denksystem auszuscheiden und an ihre Ränder zu verdrängen. Dieser Versuch und vor allem die technisch-instrumentellen Mittel, die zur Beherrschung der Natur und des Gefährlichen angewendet wer-den, sind allerdings zwieschlächtig, mit ihrer sichernden und das Gefährliche ausscheidenden Kraft wächst immer auch ihr zerstörerisches Potential, das sich jederzeit gegen ihren Herrn - den bürgerlich-aufgeklärten Menschen selbst - richten kann.Zufrieden stellt Jünger daher fest, daß der bürgerlichen Gesellschaft nur scheinbar die Bändigung des Gefährlichen gelungen ist. Das Strukturprinzip seiner Schrift "Über den Schmerz" übernehmend - die von einer "List des Schmerzes"43 ausgeht, die dafür sorgt, daß sich trotz aller modernen Mittel physischer und psychischer Ausgrenzung der schmerzhaften Elemente der Schmerz auch in der bürgerlichen Friedensgesellschaft durchsetzt - geht Jünger daher im "Arbeiter" von einer "List des Gefährlichen" aus. Jüngers Theorem besagt, daß sich die Gefahr immer durchsetzt.Ein weiterer Zusammenhang zwischen Jüngers Schrift "Über den Schmerz" und "Der Arbeiter" ergibt sich aus der Tatsache, daß der "Arbeiter" ein Mensch ist, der im Gegensatz zum bürgerli-

37. Ebenda, S. 22

38. Ebenda

39. Jünger, Ernst, Die totale Mobilmachung, 2. Auflage, Berlin 1934

40. Jünger, Ernst, Blätter und Steine, erste Auflage, Hamburg 1934, S. 154-213

41. Jünger, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 18

42. Horkheimer, Max, Adorno, Th. W., Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947

43. Jünger, Blätter und Steine (zit. Anm. 40), S. 167

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chen, "empfindsamen" Subjekt über ein neues Verhältnis zum Schmerz verfügt. Die Ansprüche der Moderne an den Menschen sind vorwiegend technischer Natur, daher fragt sich Jünger, inwieweit sich innerhalb einer technifizierten Landschaft das Verhältnis des Menschen zum Schmerz ändern muß. Als besonderen Prüfstein für das neue Verhältnis des "Arbeiters" zum Schmerz nennt Jünger den Krieg, in dem die technische Bedrohung und die Wehrlosigkeit des einzelnen Soldaten unverschleiert zum Ausdruck kommt. Jünger fordert daher - aufgrund der der Moderne innewohnenden technischen Zwänge - einen Menschen, der ein neues Verhältnis zum Schmerz besitzt. Der "Arbeiter" setzt seinen Körper wie ein Instrument ein und geht dabei bis zur Selbstvernichtung. Ihm geht es nicht darum, den Schmerz zu vermeiden, sondern ihn zu bestehen. Psychologisch gesehen ist der "Arbeiter" ein Mensch, der aufgrund seiner Totalanpassung an die Maschinenwelt über keine bürgerliche Empfindsamkeit mehr verfügt, deren Wurzeln in der schmerzhaft erfahrenen Kluft zwischen Ich und Welt, zwischen dem subjektiven Bewußtsein und einer verobjektivierbaren Außenwelt zu suchen sind. Er ist somit im marxistischen Sinne ein sich selbst entfremdeter und bewußtseinsloser Mensch. Der "Arbei-ter" ist somit Jüngers Antwort auf die Anforderungen der modernen Technik - insbesondere der Kriegstechnik - an den Menschen unter Berücksichtigung der von ihm in seiner Schrift "Über den Schmerz" entwickelten Psychologie, die den Schmerz zum Kristallisationspunkt des Selbst-bewußtseins des Menschen macht. Jüngers "Arbeiter" ist somit nicht nur eine bloße kriegerische Verleugnung der für das empfindsame Subjekt zentralen Kategorie des Schmerzes, sondern verrät ein aufgrund der im Ersten Weltkrieg gemachten Erfahrung erhöhtes Schmerzbewußtsein. "Der Arbeiter" ist somit auch ein subjektiver, dem bürgerlichen und empfindsamen Subjekt gemäßer Reflex auf die zunehmende Bedrohung des Menschen durch die moderne Technik44.

c.) Der Begriff des "Elementaren" und der Untergang des Bürgers Das von Jünger im "Arbeiter" immer wieder verwendete Synonym für das Unbürgerliche und Gefährliche, das "ursprüngliche" Leben, ist der Begriff des "Elementaren". Zum "Elementaren" läßt sich sagen, daß es der Raum ist, in dem sich das "abenteuerliche Herz" verwirklicht. Dem Bürger ist - so Jünger - ein eigentliches Verhältnis zum "Elementaren" nicht gegeben, er unterliegt einem "Kultus der Vernunft"45. Jünger negiert im "Arbeiter" konsequent die "abenteuerlichen" Aspekte der Bürgerlichkeit (Unternehmer- und Erfindergeist, kapitalistischer, durch die protestantische Ethik befeuerter wirtschaftlicher Dynamismus, Risikolust im wirtschaftlichen und sozialen Bereich etc.). In der

44. Karl Heinz Bohrers Erwägungen - der den Zusammenhängen zwischen Jüngers Schmerztheorie und der Welt des "Arbeiters" ein eigenes Kapitel widmet - gehen in die gleiche Richtung, wenn er feststellt, das Jüngers Werk "Der Arbeiter" indirekt weniger die eigentlich geforderte Abstumpfung gegenüber dem Schmerz verrät, sondern eher ein Dokument des erhöhten Schmerzbewußtseins des empfindsamen Subjekts Ernst Jünger in der technischen Moderne ist und ein fast schon hysterischer Ton in der "überinstrumentalisierten Sprache" des "Arbeiters" unüberhörbar scheint. Bohrer, Karl-Heinz (zit. Anm. 11), S. 468f.45. Jünger, Ernst, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 47

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Tatsache, daß das technische und bürgerliche Zeitalter über eine starke "Nachtseite" verfügt (gesamtwirtschaftliche Wechelfälle wie Börsenstürze und galoppierende Inflation mit desaströsen ökonomischen und sozialen Folgen, "totale", technisch geführte Kriege etc.) anerkennt Jünger indirekt die "heroischen" Aspekte des bürgerliche Zeitalters. Seinem antibourgeoisen Affekt erliegend, spaltet er allerdings diese "Dialektik der Aufklärung" künstlich, indem er die "Nachtseite" der Aufklärung dem Raum des "Elementaren" zuschlägt, zu dem der Bürger nach Ansicht Jüngers keinen Zugang besitzt.Dieser künstlich abgespaltene Raum des "Elementaren" wird nun der fiktiven Gestalt des kommenden "Arbeiters" zugewiesen, dessen Aufgabe es ist, den Ansprüchen des Gefährlichen mit vollendeter Konsequenz zu entsprechen. Die Vision Jüngers will also Fortschritt und bürgerliche Sekurität konsequent in die "Nachtseite" der Moderne fallen lassen und fordert den Vollzug einer apokalyptischen Moderne durch den "Arbeiter", der ein industriell und technisch geschulter "Überkrieger", eine Vervollkommnung und in den bürgerlichen Arbeitsraum übertragener Elite-Frontsoldat des Ersten Weltkrieges ist. Gemäß dieser die "Dialektik der Aufklärung" künstlich aufspaltenden Konzeption muß Jünger, um den neuen Typus des "Arbeiters" konzipieren zu können, die Welt des Arbeiters und den Arbeiter selbst von der Welt des Bürgers und dem Bürger absetzen. Es bestehen somit marxistisch gesprochen zwei Klassen, die sich im Kampf miteinander befinden, von denen der "Arbeiter" die Zukunft repräsentiert, der Bürger die Vergangenheit. Doch die Verwandtschaft mit dem marxistischen Denken ist nur oberflächlich, denn die Definition des Bürgers und Arbeiters durch ihre ökonomische Stellung wird bei Jünger abgewiesen, da es ihm nicht um Klassenkämpfe geht, sondern um Kämpfe von Gestalten, hinter denen sich grundverschiedene Seinskonzeptionen verbergen. Trotz der Einsicht, daß die Entwicklung der modernen Arbeiterbewegung und ihre Emanzipation eng mit der Entwicklung des Bürgertums und seiner Emanzipation zusammen-hängen, weist er die marxistische Vorstellung der Arbeiterklasse als eines durch die Be-dingungen der industriellen Revolution entstandenen vierten Standes ab.Stattdessen existiert nach Ansicht Jüngers zwischen dem Bürger und dem Arbeiter ein existentieller Unterschied, ein tiefgreifender Qualitäts- und Rangunterschied. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß der Arbeiter über ein genuines Verhältnis zum Raum des "Elementaren" verfügt, sein Umschlag in den Jüngerschen "Arbeiter" somit unmittelbar bevorsteht.

d.) Der Untergang der "Masse" und des "Individuums"Mit dem Untergang des Bürgers geht der Untergang der beiden Erscheinungen einher, die Jünger am Bürgerlichen festmacht: "Masse" und "Individuum". Seiner Grundannahme einer kriegeri-schen Ontologie aller Vorgänge in der Moderne folgend, erkennt der Autor überall eine

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Zunahme der technisch beherrschten, unpersönlichen und verzehrenden Abläufe, erkennt die schleichende Militarisierung einer Wirklichkeit, die weder der "Masse" noch dem empfindsamen Subjekt - dem "Individuum" - Raum läßt: Die moderne Großstadt zeichnet sich durch eine gesteigerte Bewegung, die unpersönliche, strenge Gesetzmäßigkeit einer dynamisierenden Ordnung aus, der ein Arbeitscharakter anhaftet. Der moderne Verkehr hat sich "zu einer Art Moloch entwickelt, der (...) eine Summe von Opfern verschlingt, die nur an denen des Krieges zu messen ist"46. Selbstverständlich dient ihm auch der moderne Krieg selbst als Beweisstück, denn im technisch geführten Massenvernichtungskrieg kommt es nicht mehr auf individuelle Kampfkraft an.

e.) Der Nachfolger der "Masse" und des "Individuums": Der "neue Typus" Nachdem Jünger den Bürger und Arbeiter "liberal-marxistischen" Stils zum Untergang verurteilt hat und mit ihnen die Erscheinungen der Vergangenheit, die der "Masse", des "Individuums" und der Gesellschaft, entsteht nun der "neue Typus", der sich durch seinen entindividualisierten, autoritären Charakter, durch eine nihilistische Grundhaltung auszeichnet. Physiognomisch zeichnet sich der "Arbeiter" durch verhärtete, ausgemeißelte Gesichtszüge aus, der "Frontsoldat" stand unverkennbar Pate. Der Arbeitscharakter des Ordostaates, dem der einzelne Typus zu dienen hat, ist total, durchdringt somit alle Klassen und Lebensbereiche und kommt in der Unzahl der spezialisierten Arbeitsfelder zum Ausdruck, die alle der "totalen Mobilisation" im Sinne der neuen Gestalt des "Arbeiters" dienen. Überall setzt sich der totale Arbeitscharakter durch. Entscheidend für die Besetzung einer Position ist ihr funktionaler Wert und die Eignung des einzelnen "Arbeiters". Innerhalb des Typus unterscheidet Jünger nur noch zwei Grundtypen: Den "aktiven" und den "passiven".Der passive Typus des "Arbeiters" erscheint als eine Gestalt, die sich den neuen Ansprüchen der nihilistischen, technisch beherrschten Funktionslandschaft angepasst hat, sie stumm erleidet.Der aktive Typus schreitet als elitärer Vorreiter der nihilistischen Bewegung voran und entspricht der Elite-Frontsoldaten-Konzeption des ehemaligen Kriegsfreiwilligen Jünger.

f.) Die Verbandsform des "Arbeiters": Die "organische Konstruktion"Die Verbandsform, in der sich der "Arbeiter" verwirklicht, ist die "organische Konstruktion". Die "organische Konstruktion" bezeichnet eine Verbandsform, in die der einzelne "Arbeiter" durch den zunehmenden Druck der sachlichen Verflechtungen der Moderne wie in einem Netz eingebunden ist und der er nicht durch freien Willensentschluß angehört. Als Beispiel nennt Jün-ger den Elektrizitätsverband dem "man nicht durch individuelle Wahl, (...), sondern durch eine

46. Ebenda, S.95

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tatsächliche Verflechtung"47 angehört. Weiterhin sind "organische Konstruktionen" solche, in denen eine unmittelbare Verschmelzung des "Arbeiters" mit der Technik, seine unmittelbare Ankopplung stattfindet. Der "Arbeiter" wird ein Teil der Technik, die Technik ein Teil des "Arbeiters". Jünger erwähnt unter anderem ein Beispiel aus der japanischen Kriegsmarine, die durch Menschen gesteuerte Kamikaze-Torpedos planen soll, in denen der Mensch so zu einem "technischen Glied"48 und "zur eigentlichen Intelligenz des Geschosses"49 wird.

g.) Die "Mobilisation des "Arbeiters" durch die TechnikDie Art, in der der "Arbeiter" die Welt "mobilisiert", ist durch die Technik bestimmt:

„Die Technik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert. Das Maß, in dem der Mensch entscheidend zu ihr in Beziehung steht, das Maß, in dem er durch sie nicht zerstört, sondern gefördert wird, hängt von dem Grade ab, im dem er die Gestalt des Arbeiters repräsentiert. Technik in diesem Sinne ist die Beherrschung der Sprache, die im Ar-beitsraum gültig ist“50.

Jünger erkennt den deformierenden und neue Zwänge schaffenden Charakter der Technik. Die Technik befreit den Menschen von den harten Ansprüchen der Natur. Sie bringt den Menschen allerdings in eine oft als bösartig empfundene Abhängigkeit von den von ihr geschaffenen Mitteln, zwingt ihn in eine funktionale Abhängigkeit und stellt neue Ansprüche an den Menschen:

„Überall, wo der Mensch in den Bannkreis der Technik gerät, sieht er sich vor ein unausweichbares Entweder-Oder gestellt. Es gilt für ihn, entweder die eigentümlichen Mittel zu akzeptieren und ihre Sprache zu sprechen oder unterzugehen. Wenn man aber akzeptiert, und das ist sehr wichtig, macht man sich nicht nur zum Subjekt der technischen Vorgänge, sondern gleichzeitig zu ihrem Objekt. Die Anwendung der Mittel zieht einen ganz bestimmten Lebensstil nach sich, der sich sowohl auf die großen wie auf die kleinen Dinge des Lebens erstreckt“51.

Als Nachweis für den eigentlichen Charakter der Technik dient Jünger der Krieg. Gemäß der nietzscheanischen Diktion des Autors hat die Technik im Krieg ihren eigentlichen Charakter - ihren Machtcharakter - enthüllt. Die Technik ist also ein Ausdruck des "Willens zur Macht" des "Arbeiters": "Der Krieg ist deshalb ein Beispiel ersten Ranges, weil er den der Technik

47. Ebenda, S. 114

48. Jünger, Ernst, Blätter und Steine (zit. Anm. 16), S. 173

49. Ebenda

50. Jünger, Ernst, Der Arbeiter, a.a.O., S. 150

51. Ebenda, S. 159

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innewohnenden Machtcharakter unter Ausschluß aller wirtschaftlichen und fortschrittlichen Elemente enthüllt"52.Entsprechend seinem antibourgeoisen Affekt wirft Jünger dem Bürger ein unzureichendes Verhältnis zur Technik vor, da er die Janusköpfigkeit der technischen Mittel nicht in sein ein-seitig durch humanitäre, moralisierende Erwägungen bestimmtes Weltbild integrieren kann. Aufgrund der Unfähigkeit des Bürgers, die "bösartige" Seite der Technik in sein Denk- und Lebenssystem einzuordnen, ist für Jünger der Untergang des Bürgers nicht nur aufgrund seines fehlenden Verhältnisses zum "Elementaren", sondern auch durch sein durch Sicherheits- und Fortschrittsdenken verzerrtes Verhältnis zur Technik eine beschlossene Sache.

h.) Das Ziel der "neuen Ordnung": Der "Arbeitsplan"Im letzten Kapitel des "Arbeiters" mit dem Titel "Die Ablösung der Gesellschaftsverträge durch den Arbeitsplan"53 erläutert Jünger, wie die "neue Ordnung" auszusehen hat.Die Aufgabe des "Arbeitsplanes" ist die "Legitimation der technischen Mittel, durch die die Welt mobilisiert"54 wird. Der Zeitpunkt zur Durchführung des "Arbeitsplanes" ist günstig, da sich die Welt im Moment in einem anarchischen, durch Auflösung der traditionellen Bindungen und durch eine technisch be-herrschte Werkstättenlandschaft geprägten Zwischenzustand befindet. Der Plan selbst zeichnet sich durch seine Abgeschlossenheit, Geschmeidigkeit und Rüstung aus. Das Vorbild des "Arbeitsplanes" ist die geordnete Heeresgliederung, das Vorbild der "Arbeitslandschaft" die Kriegslandschaft, die "ein Bild hoher Abgeschlossenheit und einer Leistungsfähigkeit (bietet), die durch die Not beflügelt wird"55.Es ist weiterhin ein Kennzeichen der "Arbeitsdemokratie", daß sie sich

„dem im Raume der liberalen Politik gültigen Spielregeln, etwa denen des Freihandels, der Mehrheitsbeschlüsse der Konferenzen, der internationalen und auf veralteten Wertmaßstäben beruhenden Kursbestimmungen, der humanitären Argumentation und natürlich auch der durch die liberale Demokratie hinterlassenen Erbschaft an Verträgen und Verpflichtungen zu entziehen“56sucht“.Die zentrale Frage des Eigentums, die für die "bürgerliche" Diskussion - ob prokapitalistischen oder prosozialistischen Zuschnitts - entscheidend war, wird unwesentlich. Das Eigentum und die

52. Ebenda, S. 158

53. Ebenda, S. 269-291

54. Ebenda, S. 270

55. Ebenda, S. 279

56. Ebenda, S. 273

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Eigentumsfrage ist nur hinsichtlich ihrer Funktion innerhalb des Arbeitsplanes interessant. Das Eigentum hat sich den Erfordernissen des Arbeitsplanes unterzuordnen.Ziel der Arbeitsdemokratie ist die Machtmaximierung und die Autarkie. Die "Masse" wird zum funktionalen Bestandteil der "organischen Konstruktionen", ordnet sich somit dem "Arbeitsplan" unter.Die typischen Krisenherde der modernen Gesellschaft, die in Phänomenen wie "Arbeitslosigkeit, (...) Wohnungsnot, (...) Versagen von Industrie und Wirtschaft"57 zum Ausdruck kommen, sind "(...) nichts anderes als Symptome für den Verfall der liberalen Ordnungen"58. Durch die Entwicklung der Moderne, die durch zunehmende Vernetzung und umfassende organisatorische Aufgaben geprägt ist, entstehen Notwendigkeiten, die dem liberalen System und insbesondere dem liberalen Eigentumsbegriff widersprechen und die den Druck, der auf dem System aufgrund einer bloß politischen Dialektik (wie zum Beispiel "Liberalismus/-Kapitalismus" versus "Sozialismus") lastet, weit übersteigt. Die technischen, wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Notwendigkeiten erzwingen somit von selbst den hoch-organisierten, staatlich gelenkten Ordo- und Arbeitsstaat.Daß es dem Autor letztlich nur um die maximale Vorbereitung des Krieges geht, wird vor allem gegen Ende dieses Schlußkapitels deutlich. Die phantastische Konstruktion einer "neuen Ord-nung" im Sinne des von Jünger auf fast 300 Seiten umständlich präsentierten "Arbeitsstaates" und ihres heroischen Trägers - des "Arbeiters", ein modernisierter Wiedergänger des Elite-Frontsoldaten - ergibt nur Sinn, wenn man als das ureigenste Ziel eines solchen Staates den "totalen Krieg" akzeptiert.Mit dem seinem Werk der "Arbeiter" zugrunde liegenden Gedanken einer "totalen" Indienststellung der Gesellschaft unter den Erfordernissen des "totalen Krieges" steht Jünger nicht allein. So verkehrt sich nach Ansicht Ludendorffs - der in der Spätphase den Ersten Weltkrieges in seiner Funktion als führender Kopf der 3. OHL zum ersten Mal in der deutschen Geschichte den "totalen Krieg" zumindest partiell in die Realität umsetzte - unter den Vorzeichen des modernen Krieges die berühmte Maxime Clausewitz': Politik und Wirtschaft sind bei Ludendorff eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln59. Genau dies ist die Intention von Jüngers "Arbeiter": "Der Arbeiter" fordert den kriegerischen Arbeitsstaat als konsequente Antwort auf die Ansprüche des modernen Krieges an die gesamte Gesellschaft.Durch die kriegerische Umprägung des bürgerlichen Arbeitsraumes und des "liberal-marxi-stischen" Arbeiters erhofft sich der Autor den Einbruch des "Elementaren" in eine seiner Meinung nach durch aufklärerisches Vernunftdenken gezeichnete, durch Anarchie, Verlogenheit

57. Ebenda, S. 279

58. Ebenda

59. Ludendorff, Erich, Der totale Krieg, München 1935, S. 9f.

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und liberal-egoistisches Privatinteresse verunstaltete bürgerliche Welt.Dem kriegerischen Grundcharakter des in seiner Totalität erscheinenden Arbeitsvorganges entsprechend fordert Jünger eine dem "Arbeiter" staatlich aufgezwungene Dienstpflicht, die nicht weiter als eine in den bürgerlichen Arbeitsraum verlängerte Wehrpflicht ist. Der ehemalige Bürger, bzw. "liberal-marxistische" Arbeiter wird zu einem Arbeitssoldaten. Wehrdienst und Arbeitsdienstpflicht, die der totalen Mobilisierung im kriegerischen Sinne zugeordnet sind, sind der prägende Stempel, der Charakter und Kontur des "Arbeiters" formt.Dem Plan - und mit diesen Erwägungen schließt das Werk - haftet ein "Aufmarsch- und Konzentrationscharakter"60 an. Es handelt sich ohne Zweifel um ein dynamisches Modell, das durch eine erhöhte Bewegung gekennzeichnet ist. Das Ziel des Planes ist es allerdings, einen statischen Endpunkt zu erreichen. Der Endzweck wird vom Autor als die "planetarische Herrschaft als höchstes Symboles der neuen Gestalt"61 bezeichnet. In diesem Endziel - so Jünger - liegt eine "übergeordnete Sicherheit"62. Das Zeitalter erreicht somit nach einer dynamisierenden Übergangsphase, in der es durch den Prozess einer zunehmenden Vernutzung und Umwertung von bürgerlichen Werten und durch Einbruch "elementarer" Kräfte (insbesondere der modernen Technik und des modernen Krieges) zerstört wird eine neue Kultur-stufe, die durch die Gestalt des "Arbeiters" beherrscht wird.

3.) Der "Arbeiter" und seine Stellung zum NationalsozialismusJüngers Vision hat mit der Vision der Nationalsozialisten einiges gemeinsam. Der "neuen Ordnung" Jüngers unterliegt unverkennbar ein autoritäres und totalitäres Muster: Hierarchische, "vertikale" Gliederung der Gesellschaft, Kollektivismus, Führerdenken, militärische Ordnungsideen, Autarkiedenken, der "totale" Krieg als Ziel der kollektiven Anstrengung zeichnen sowohl Jüngers "Arbeitsplan" als auch die Ideen der Nationalsozialisten aus.Allerdings gibt es dennoch entscheidende Unterschiede: Zum einen bewegt sich Jüngers "Arbeiter" auf einem Abstraktionsniveau, das vom nationalsozialistischen Schrifttum nie erreicht wurde, und damit zusammenhängend, ergeben sich entscheidende Unterschiede zu der Wirklichkeitswahrnehmung und Theoriekonzeption Jüngers und zu denen der Nationalsozialisten. Für die Nationalsozialisten war der rassistisch-antisemitische Grundton entscheidend, die Ideen der Nationalsozialisten fußten auf einer darwinistisch verstandenen Rassentheorie, wobei die "germanische Rasse" die höchste Stelle in der volksbiologischen Werteskala einnahm, die "jüdische Rasse" an der untersten Stelle eingeordnet wurde. Weiterhin war das Weltbild der

60. Jünger, Ernst, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 291

61. Ebenda

62. Ebenda

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Nationalsozialisten durch nationalistische Erwägungen geprägt, die Weltgeschichte wurde als Kampf unterschiedlicher Nationen um die Weltherrschaft begriffen63. So sieht Hans-Peter Schwarz im Verzicht auf die rassische Fundierung der Konzeption des "Arbeiters" den entscheidenden Unterschied zwischen Hitlers Konzeption und der Jüngers: "Hitlers Rassismus, in dem die Forschung mehr und mehr den Kardinalpunkt seiner Weltanschauung erkennen lernt, unterscheidet demnach seine Ideologie am stärksten von der Ernst Jüngers"64. Jüngers "Arbeiter" erhebt in aller Klarheit "planetarischen" Anspruch. Im Arbeiter "geht es nicht mehr um Deutschland, sondern um den Zustand und die Zukunft der gesamten Welt"65. Der "Arbeiter" ist somit nicht der Vertreter einer Nation oder Rasse, sondern - nietzscheanisch gesprochen - der im Feuer der Moderne gehärtete "Übermensch", der sich durch seine totale Indienstnahme durch die Anforderungen einer durch die Technik radikal gewandelten Weltwirklichkeit auszeichnet. Olaf Schröter stellt daher zutreffend fest:

„Bei aller politischer Brisanz seiner hier (im Arbeiter) vorgelegten Thesen ist damit jedoch seine (Jüngers) bisherige politische Beschäftigung in den Kreisen der Nationalrevolutionäre beendet, auch wenn das Buch noch in der dezisionistischen, antibourgeoisen und revolutionären Tradition der Konservativen Revolution steht“66.

Es verwundert daher nicht, daß Jüngers "Arbeiter" in der nationalsozialistischen Presse nach seinem Erscheinen auf deutliche Ablehnung stieß. Die Rezension Thilo v. Trothas im "Völkischen Beobachter" bezeichnet präzis die Differenzen der Weltanschauung Jüngers und der Nationalsozialisten: Jüngers Technikspekulationen, seine "planetarische" Sichtweise, sein Verzicht auf rassisch-völkische Fundierung, seine kategoriale Unterscheidung zwischen Bürger und Arbeiter unterscheiden ihn in aller Deutlichkeit von dem regressiven, in der "Blut und

63. Eine Untersuchung auf Grundlage der Schriften Hitlers zum ideologischen System des Nationalsozialismus hat der Historiker Eberhard Jäckel in seinem Werk "Hitlers Weltanschauung" geleistet. Jäckel kommt zu dem Ergebnis, daß Hitlers Gedankenwelt um zwei Ideologeme und Zielsetzungen kreiste, alle anderen Überlegungen - insbesondere diejenigen über die angemessene verfassungs-, staatsrechtliche und ökonomisch-soziale Neugliederung des "Dritten Reiches" zweitrangiger Natur waren.Diese beiden ideologisch verbrämten Zielsetzungen waren zum einen die Eroberung von zusätzlichem Lebensraum im Osten für das nach Hitlers Vorstellung rassisch überlegene deutsche Volk, ein Lebensraum, der den vermeintlich minderwertigen Slawen abgenommen werden mußte. Diesem Ziel diente der Feldzug gegen die Sowjetunion. Das zweite Ziel war die Vernichtung des Judentums, das Hitlers Ideologie gemäß als "Rassebazillus" etc. aus der deut-schen, "völkischen" Wirklichkeit zu verschwinden hatte. Die barbarischen Mittel, die zur Erreichung dieses zweiten Ziels eingesetzt wurden, sind allgemein bekannt. Beide Elemente - zum einen die "Volk ohne Raum"-Ideologie und der für Hitler typische infernalische Antisemitismus sind in Jüngers "Arbeiter" nicht aufzufinden. Siehe zur Ideologie Hitlers und seiner Herrschaft, die eine direkte Umsetzung seiner Ideenwelt war, die beiden Bände von: Jäckel, Eberhard, Hitlers Weltanschauung, Entwurf und Herrschaft, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, 3. Auflage, Stuttgart 1986 und Hitlers Herrschaft, Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 198664. Schwarz (zit. Anm. 5), S. 124

65. Schröter (zit. Anm. 28), S. 79

66. Ebenda

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Boden"-Lehre verankerten Ansatz der Nationalsozialisten: So wirft Thilo v. Trotha Jünger "französische Einflüße"67 und "eine gefährliche Neigung zum Zerdenken"68 vor. Nach seiner Ansicht hat "der Zerdenkungsprozess in Jüngers neuestem Werk bedenkliche Fortschritte gemacht"69 und er charakterisiert das gesamte Werk als ein "endloses dialektisches Gespräch"70. Nach der Lektüre des Werkes bleibe für den Leser des "Arbeiters" nur

„das unfaßbare Rätsel, wie aus dem Frontsoldaten Jünger ein Mensch werden konnte, der mit den bei Tee und Zigaretten nächtelang die Grundprobleme des Lebens beredenden russischen Intellektuellen Dostojewskis eine verzweifelte Ähnlichkeit besitzt“71.

Jünger versuche im "Arbeiter" "mit wachsendem Starrsinn (...) das ganze Dasein auf den Gegen-satz Arbeiter-Bürger zuzuscheiden"72. Daher sei er "fest in der marxistischen Klassenlehre befangen"73. Genau so sei es mit seiner Einstellung zur Technik, "die er einmal zu einer Begleit-erscheinung, zum anderen zur satanischen Herrscherin über unser Dasein"74 machen wolle.Ebenfalls sei Jünger "im Liberalismus zutiefst und wohl unrettbar befangen"75. Liberalismus sei es "wenn man Bauerntum und Rasse verleugnet, die Familie verneint, und die Entwicklung in China und Rußland mit der unseren auf eine Stufe stellt"76.Der entscheidende Punkt ist allerdings der, daß Jünger kein Verhältnis "zur Grundfrage allen Daseins, zu dem Problem von Blut und Boden"77 habe. Damit bestätige sich "die lebensfremde Literatenhaftigkeit"78 von Jüngers Weltbetrachtung.

67. Trotha, Thilo v., Das endlose dialektische Gespräch, in: Völkischer Beobachter, Bayernausgabe, 45. Jg., Nr. 296, 22. Oktober 1932, 2. Beiblatt

68. Ebenda

69. Ebenda

70. Ebenda

71. Ebenda

72. Ebenda

73. Ebenda

74. Ebenda

75. Ebenda

76. Ebenda

77. Ebenda

78. Ebenda

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„Wenn Jünger ernsthaft von einer „Rasse des Arbeiters“ spricht und vom Bauern behauptet, sobald er eine Maschine gebrauche, sei er schon kein Bauer mehr, so wissen wir, daß wir hier wieder einmal die Tragödie eines Menschen erleben, der den Weg zu den Urgründen alles Seins verloren hat79.

Jüngers "Arbeiter" sei ein "abstraktes Monstrum, ein Mondmensch, der in einem luftleeren (Jüngers nennt es „planetarischen“) Raum lebt"80. Nicht ein „Zeitalter des Arbeiters“ in Jüngers Sinne als kasten- und klassenpolitischer Begriff sei "in der Entstehung begriffen, sondern ein rassisch-völkisches Zeitalter, das zu dem uralten und doch neuen Wissen um Blut und Boden"81

zurückkehre. Koslowski stellt im Anschluß an die Analyse der Rezension Thilo v. Trothas von Jüngers "Arbeiter" im "Völkischen Beobachter" daher zutreffenderweise fest: "Der Arbeiter war mit der Blut- und Boden-Ideologie des Nationalsozialismus nicht zu vereinbaren, weil sein Typus des Arbeiters ebenso transnational wie transsozialistisch und transkapitalistisch ist"82.Daher muß die Verwandtschaft zwischen den kollektivistisch-heroischen Ideen Jüngers und denen der Nationalsozialisten wohl in Anlehnung Jüngers "seismographische" Begabung auf einer ursprünglicheren, zeitdiagnostischen Ebene gesucht werden: Sowohl Jüngers Gedan-kenwelt als auch die der Nationalsozialisten sind Abkömmlinge der "Konservativen Revolution" und ein Produkt der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und der anschließenden Wirren der Weimarer Republik. Die Ablehnung der "bürgerlichen", "westlichen" Demokratie, die den Besiegten durch den "Versailler Schandvertrag" aufgezwungen wurde, ein bellizistischer Nietz-scheanismus, die Verherrlichung des Kriegserlebnisses und des "deutschen Frontsoldaten" und damit zusammenhängend die Vision eines starken, militärisch geprägten Ordnungsstaates, in dem sich heroisch-kriegerische und kollektivistische Phantasien verdichten, sind die gemeinsamen Wurzeln des nationalsozialistischen und Jüngerschen Zukunftsentwurfes.

4.) Zum diagnostischen Wert des "Arbeiters"Jüngers Arbeiter ist ohne Zweifel ein Dokument der Endphase der instabilen Weimarer Zwischenkriegsperiode, die durch die Härten des Versailler Vertrags, der Ende der 20er-Jahre ausbrechenden Weltwirtschaftskrise und dem politischen Flankendruck durch Kommunisten und rechte Kampfbünde geprägt war, auf deren Seite sich Jüngers selbst engagierte und aus denen schließlich die nationalsozialistische Partei Hitlers als führende Kraft hervorging.

79. Ebenda

80. Ebenda

81. Ebenda

82. Koslowski, Peter, Der Mythos der Moderne, Die dichterische Philosophie Ernst Jüngers, München 1991, S. 69

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Der totalitäre Grundzug von Jüngers "neuer Ordnung" wie der antiliberale, antibourgeoise, militaristische und dezisionistische83 Aspekt des "Arbeiters" weisen in die Vergangenheit und lassen das Werk als antiquiert, wenn nicht sogar als für das Verständnis der Gegenwart obsolet erscheinen. Uwe-K. Ketelsen markiert den geistes- und philosophiegeschichtlichen Rahmen präzise: Nietz-sche mit seinem Vitalismuskonzept; Carl Schmitt mit seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen, seinem virilen Dezisionismus und seinem Insistieren auf „Herrschaft“ als einer grundsätzlichen Gegebenheit aller Staatlichkeit; Georges Sorel mit seiner Idee von der Stiftung kollektiver Identität vermittels des „Mythos“; Oswald Spengler mit seinem Modell vom Durch-lauf der Geschichte durch gleichsam organische Zyklen von „Kulturen“84. Die Bewertung Ketelsens zur Wirkung des Textes auf den heutigen Leser trifft sicherlich zu:

„(...) unser Denken ist so sehr vom liberalen Geist des diskursiven Interessenausgleichs und der ökonomischen Letztbegründung tingiert, daß Texte, deren Autoren zumindest prätendieren, „aufs Ganze“ zu gehen, schwer zu „verstehen“ sind, wenn sie nicht gar auf instinktive Abwehr stoßen“85.

Angesichts der Tatsache, daß Jüngers "Arbeiter" sich im wesentlichen auf philosophiegeschichtlich wohlbekannt wirkende Positionen bezieht und politikgeschichtlich im Bezugsfeld der 1945 mit dem Dritten Reich endgültig untergegangenen "Konservativen Revolu-tion" gelesen werden muß, stellt sich die Frage, welchen Beitrag der Text zur Diagnose der Moderne nach 1945 leisten kann.Zwei Aspekte in Jüngers "Arbeiter" scheinen mir auf Diagnosen zu verweisen, die im wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden: Zum einen erkennt Jünger den dialektisch sich entfaltenden Prozess der Aufklärung und den janusköpfigen Charakter des uneingeschränkten Gebrauchs der instrumentellen Vernunft. Die Wurzeln dieser Erkenntnis sind im Erlebnis des Ersten Weltkriegs zu suchen, in denen zum ersten Mal in der Geschichte die planetarische Gefährdung des Menschen durch die von ihm geschaffenen technischen Mittel offenbar wurde. Schon in der 1926 erstmals erschienenen Schrift "Feuer und Blut" stellt Jünger in aller Klarheit fest:

"Die Schlacht ist ein furchtbares Messen der gegenseitigen Produktion, und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die billiger, zweckmäßiger und schneller herzustellen versteht. Hier deckt das Zeitalter, aus dem wir stammen, seine Kehrseite auf. Die Herrschaft der Maschine über den

83. Zum dezisionistischen Aspekt der Frühschriften Jüngers siehe die Untersuchung von: Krockow, Christian Graf von, Die Entscheidung, Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Frankfurt/New York 1990

84. Ketelsen (zit. Anm. 12), S. 92

85. Ebenda, S. 82

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Menschen, des Knechtes über den Herrn wird offenbar, und ein tiefer Zwiespalt, der schon im Frieden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen zu erschüttern begann, tritt auch in den Schlachten dieses Zeitalters tödlich hervor.Hier enthüllt sich der Stil eines mate-rialistischen Geschlechts, und die Technik feiert einen blutigen Triumph"86.

Adorno und Horkheimer äußern sich in der während des Zweiten Weltkriegs entstandenen "Dialektik der Aufklärung" in ähnlichen Worten:

„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herrn einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Wie allen Zwecken der bürgerlichen Wirtschaft in der Fabrik und auf dem Schlachtfeld, so steht es den Unternehmenden ohne Ansehen der Herkunft zu Gebot. Die Könige verfügen über die Technik nicht unmittelbarer als die Kaufleute: sie ist so demokratisch wie das Wirtschaftssystem, mit dem sie sich entfaltet. Technik ist das Wesen dieses Wissens“87.

Die entscheidende Einsicht der Jüngerschen Kriegsschriften und insbesondere des "Arbeiters" liegt - hier deckt sich Jüngers Diagnose mit der technik- und aufklärungskritischen Philosophie - darin, daß die Technik in der Moderne zum planetarischen Geschick wird, sich zum "weltge-schichtlichen Subjekt"88 erhebt, der Mensch zunehmend zu ihrem Objekt wird. Jüngers "Arbeiter" verwirklicht seine Herrschaft über den Gebrauch der Technik. Sein galvanisiertes Profil ebenso wie seine Unempfindlichkeit und Instrumentalisierung sind erzwungene Anpassungen an eine technisch beherrschte Funktionslandschaft. Gianni Vattimo bewertet Jüngers "Arbeiter" als eine "radikale Interpretation der Krise des Humanismus"89 und stellt fest, daß "das, was (...) Jüngers Militarismus auszeichnet, (...) das Bewußtsein der Beziehung zur Technik"90 ist. "(...), was sich anfänglich als _militärisches_ Ideal im Gegensatz zur bürgerlichen Bildung präsentiert, ist in Wahrheit letztlich das Ideal einer ‚Technisierung’ der Existenz"91. Aus dieser Tatsache ergeben sich fruchtbare Anknüpfungspunkte von Jüngers "Arbeiter" an die moderne Technikphilosophie. Der dialektisch sich entfaltende, janusköpfige Charakter der Technik ist für Günther Anders 86. Jünger, Ernst, Feuer und Blut, vierte Auflage, Berlin 1929

87. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno (zit. Anm. 42), S. 13f.

88. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, 4. Auflage, München 1995, Kapitel "Die Antiquiertheit der Geschichte", § 5 "Die Technik - das Subjekt der Geschichte", S. 279f.

89. Vattimo, Gianni, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 43

90. Ebenda, S. 44

91. Ebenda

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entscheidend, und genau wie Jünger verankert dieser Philosoph die Janusköpfigkeit im Wesen der Technik selbst: "Es ist durchaus denkbar, daß die Gefahr, die uns droht, nicht in der schlechten Verwendung von Technik besteht, sondern im Wesen der Technik als solcher ange-legt ist"92. Sodann: "Der Glaube, daß es Provinzen gebe, die von Selbstwiderspruch und Dialektik frei wären, und daß ausgerechnet die Technik eine solche angelische Provinz sei, ist kindisch"93. Günther Anders erkennt ebenfalls die Verschmelzung des klassischen Arbeiters und des klassischen Soldaten zum neuen soziologischen Typus des Arbeiter-Soldaten und konstatiert eine zunehmende Einebnung der zivilen und militärischen Landschaft dadurch, daß es im modernen Krieg keine Front, Etappe oder Hinterland mehr gibt, sondern die hochtechnischen Kriegsmittel alle geographischen Punkte eines Landes kriegerisch überziehen. Die früher getrennten Tätigkeiten der Herstellung durch den Arbeiter und der Zerstörung durch den Sol-daten wird in der "push-button-Epoche"94 zum rein technischen Bedienvorgang, "die Differenz von Arbeiter und Militär (...) (wird) gelöscht"95. Auch die zunehmende Taylorisierung der Gesellschaft wird von Günther Anders verzeichnet, mehr noch "der Taylorismus, der in seinen Anfängen nur eine spezielle und besonders profitable Form der Industriearbeit gewesen war, (ist) nunmehr zum Prinzip der Geschichte geworden"96. Und: "Die heutigen Staatsmänner arbeiten gehetzt, um mitzukommen, am laufenden Band der Technikgeschichte"97. Günther Anders verweist ebenso in nietzscheanischer Diktion auf den Machtaspekt, den der moderne technische Gestaltungswille in sich birgt:

„Erste These: Maschinen expandieren.- Jeder einzelnen Maschine ist (wenn man Nietzsches Ausdruck hier metaphorisch verwenden darf) „Wille zur Macht“ eingeboren. Diesem Willen nicht zu unterstehen, das steht in der Macht keiner Maschine98.

Auch der Gedanke der "organischen Konstruktion", innerhalb derer sich der Mensch in der Moderne formiert, läßt sich bei Günther Anders in abgewandelter Form wiederfinden. Günther Anders erkennt in der zwingenden Verflechtung des Produktionskosmos' und der Interdependenz der Produkte, die letztendlich in der universellen Warenstruktur begründet ist,

92. Anders (zit. Anm. 88), Kapitel "Die Antiquiertheit der Maschinen", § 4 "Dialektik der Technik", S. 126

93. Ebenda

94. Ebenda, Kapitel "Die Antiquiertheit der Menschenwelt", § 4 "Tun=Machen, Machen=Tun. Das Bedienen", S. 70

95. Ebenda, S. 71

96. Ebenda, Kapitel "Die Antiquiertheit der Freiheit", § 13 "Taylorimus als politisches Prinzip", S. 295

97. Ebenda, S. 295

98. Ebenda, Kapitel "Die Antiquiertheit der Maschinen", § 1 "Maschinenexpansion", S. 117

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die dem Menschen ihre Verwendung in Form von vermeintlichen Bedürfnissen aufzwingen, ein Gehäuse, aus dem sich der Mensch nicht befreien kann.

„Wenn ein Narr das Experiment unternähme, sich auch nur von einigen jener Geräte oder Kräfte, die unsere Welt konstituieren, also z. Bsp. von der Elektrizität, unabhängig zu machen, er würde rasch zugrundegehen“99.

Jüngers Theorem von der Unzahl der spezialisierten Tätigkeiten, in den sich der totale Arbeitscharakter in der modernen Gesellschaft verwirklicht, verweist auf Max Webers Einsichten in die Entwicklung des modernen "Fachmenschen"100 und wird von der Soziologie bestätigt:

„Die seit Jahrhunderten steigende und mit der Industrialisierung noch großartig weitergetriebene Komplizierung des sozialen Aufbaus und Gefüges hat eine sehr große Anzahl von Menschen nicht nur von der Urproduktion abgeschichtet und zu Städtern gemacht, sie hat sie darüber hinaus in (...) hochgradig indirekte, verwickelte und überspezialisierte Funktionen hineingenötigt“101.

Ernst Jüngers "Arbeiter" läßt sich ebenfalls als Kontrafaktur zum späteren Werk "Die Perfektion der Technik"102 seines Bruders Friedrich Georg lesen. Nach Ansicht Ernst Jüngers lebt der Mensch in der Epoche der technischen Organisation "in einer Zeit großen Verzehrs, als dessen einzige Wirkung ein beschleunigter Antrieb der Räder zu erkennen ist"103. Friedrich Georg übernimmt dieses Grundtheorem ebenso wie zahlreiche andere und arbeitet vor allem die Kostenseite des Vorgangs der Technisierung heraus. Der bei Ernst Jünger vergleichbar mit den Futuristen104 frohlockend diagnostizierte Beschleunigungs-, Verzehrs- und Gefährdungsvorgang wird von Friedrich Georg ins Negative gewendet und als universeller Schwund gedeutet und wo Ernst Jünger nach dem Einbruch elementarer Kräfte, vor allem von kriegerischen Ausein-andersetzungen, von einem kommenden Zeitalter des Arbeiters träumt, das übergeordnete Sicherheit spendet, geht Friedrich Georg von einem Zustand der Perfektion aus, in der die Technik umfassenden Raubbau an Mensch und Natur treibt und die Verlustwirtschaft total wird.

99. Ebenda, Kapitel "Die Welt als Phantom und Matrize", § 21 "Die Prägung der Bedürfnisse - Angebote - die Gebote von heute.-Die Waren dürsten, und wir mit ihnen".

100. Heins, Volker (zit. Anm. 22), S. 196

101. Gehlen, Arnold, Die Seele im technischen Zeitalter, Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 39

102. Jünger, Friedrich Georg, Die Perfektion der Technik, Frankfurt 1946

103. Jünger, Ernst, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 171

104. Auf Überschneidungen Ernst Jüngers mit der futuristischen Literatur verweisen: Bohrer (zit. Anm. 11), S. 111; Meyer (zit. Anm. 11), S. 187ff.; Brenneke (zit. Anm. 9), S. 154f.

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Der Soziologe Stefan Breuer bezeichnet Friedrich Georg Jüngers "Perfektion der Technik" - ein Werk, das im wesentlichen auf der "ökologischen" Umwendung der Thesen seines Bruders Ernst beruht - als "ein Buch von geradezu bestürzender Weitsicht, das die moderne Ökologiedebatte vorweggenommen hat"105. Im Falle Ernst Jüngers müßte man hingegen von einer heroischen Überwindung der Technikkritik reden106.Für Martin Heidegger ist der Charakter der Technik "ganz und gar nichts Technisches"107. Für ihn die Technik "eine Weise des Entbergens"108, ein Aspekt, der direkt auf das technikkritische Schrifttum Friedrich Georg Jüngers verweist109. Weiterhin ist die Technik für Heidegger die "Weiterentwicklung und Vollendung der abendländischen Metaphysik"110. In der "totalen Orga-nisation der Erde mittels der Technik"111 "(...) vollendet sich (...) die Metaphysik in ihrer höchstenfalteten Form"112. Heidegger fordert die "Verwindung"113 des "Ge-stells"114 "(...) in Richtung auf ein anfänglicheres Ereignis"115. Jüngers "Arbeiter" exemplifiziert in der bewußt-seinslosen Gestalt des "Arbeiters" den Höhepunkt der Organisation des "Ge-stells", die mit der Seinsvergessenheit einhergeht. Eine Überwindung des nihilistischen Nullpunkts visiert Jünger erst später, in seiner Schrift "Der Friede"116 und im Zwiegespräch mit Heidegger in seiner Schrift

105. Breuer, Stefan, Die Gesellschaft des Verschwindens, Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, S. 103

106. Sieferle, Rolf-Peter, Ernst Jüngers Versuch einer heroischen Überwindung der Technikkritik, in: Selbstverständnisse der Moderne, Formationen der Philosophie, Politik, Theologie und Ökonomie, hrsg. von Günter Figal und Rolf-Peter Sieferle, Stuttgart 1991, S. 133-174

107. Heidegger, Martin, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 5

108. Ebenda, S. 12

109. Ich beschränke mich hier auf die allgemeineren Thesen Heideggers zur neuzeitlichen Technik, wie sie z. Bsp. bei Vattimo verzeichnet sind. Umfassende Analysen von Heideggers Technikkritik bei: Vietta, Silvio, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989 und Seubold, Günter, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg/München 1986

110. Vattimo, a.a.O., S. 196

111. Ebenda

112. Ebenda

113. Ebenda

114. Ebenda

115. Ebenda

116. Jünger, Ernst, Der Friede, Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt, Hamburg 1945

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"Über die Linie"117 an.Anknüpfungspunkte ergeben sich ebenfalls an die Philosophie Paul Virilios, an seine "Dromologie"118. Für Jünger ist das Bild der Moderne und insbesondere der modernen Großstadt entprechend der schon erwähnten Beschleunigungsthese durch den "Anblick einer gesteigerten Bewegung"119 geprägt. Paul Virilios Diagnose vom "Rasenden Stillstand"120, durch den die hoch-industrielle Gesellschaft geprägt ist, konvergiert mit der für Jüngers Frühwerk zentralen, von E.A. Poe übernommenen Modernemetapher des "Malstroms"121. Abschließend läßt sich feststellen, daß die Lektüre von Jüngers "Arbeiter" in zweifacher Hinsicht bis heute fruchtbar ist: Zum einen ist "Der Arbeiter" ein Dokument der deutschen Vergangenheit in der Weimarer Republik und ein Dokument der "Konservativen Revolution", die in Gestalt von Hitlers Nationalsozialismus für zwölf Jahre die Herrschaft in Europa übernahm. Zum anderen ist "Der Arbeiter" eine Modernediagnose, die auf spätere Positionen der technik- und aufklärungskritischen Philosophie ebenso wie der postmodernen Theorie verweist. Voraussetzung ist allerdings, daß der Text "gegen des Strich", unter Weglassung der militari-stisch-technokratischen Emphase gelesen wird.

117. Jünger, Ernst, Über die Linie, Frankfurt am Main 1950; Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, in: Wegmarken. Gesamtausgabe Band 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main, 1976; Siehe auch die Ausführungen von Figal, Günther, Über die Linie und Über "Die Linie", in: Ernst Jünger im 20. Jahrhundert (zit. Anm. 12), S. 181-199

118. Siehe hierzu die Ausführungen von: Brenneke (zit. Anm. 9), Kapitel sechs: Epoche der Beschleunigung. Jüngers Beitrag zu einer Phänomenologie der Moderne, S. 289-319

119. Jünger, Ernst, Der Arbeiter (zit. Anm. 16), S. 94

120. Virilio, Paul, Rasender Stillstand, München/Wien 1992

121. Zu Poes Erzählung "Sturz in den Malstrom" und der Funktion dieses Bildes in Ernst Jüngers poetologischen Sy-stem siehe die ausführlichen Erwägungen von: Bohrer (zit. Anm. 11), S. 168ff.

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