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HansMohr Zur Zielsetzung der Entwicklungs biologic'$ 1, Einleitung Mein Aufsatz vermischt Wissenschaft und Wissenschaftstheouie. Dies lai3t sich kaum vermeiden, wenn man iiber die Frage nach- denkt: Was ist und mit welchem Ziel betrei- ben wir heutzutage Entwicklungsbiologie? Die Untersuchung von Begriffen wird in diesem Aufsatz eine erhebliche Rolle spielen. Dies hat nichts mit semantischer Beckrnes- serei zu tun, sondern mit der Oberzeugung, auch begriffliche Grundlagen unserer Diszi- plin seien revisionsbediirftig. Wir sollten uns bei der kritischen Inspektion unserer Disziplin nicht durch eingewurzelte Vorurteile und machtige Namen irritieren lassen. Wir miissen altvertraute Generalisie- rungen des 19. Jh. ebenso in Frage stellen wie Begriffe, die sich deskriptiv bewahren, aber analytisch versagen. Daruber hinaus mussen wir von jedem, der sich a d Entwick- lungsbiologie einlak, verlangen, dai3 er sich mit den Sachverhalten der Entwicklung viel- zelliger Systeme voll vertraut macht, bevor er Spieltheorien [5] oder Katastrophentheorien [15] auf diese subtile Materie anwendet. Ein irritierendes Charakteristikum der ge- genwartigen Entwicklungsbiologie besteht darin, dai3 sich ,,klassische Entwicklungs- physiologie" und ,,molekulare Entwicklungs- biologie" begrifflich, methodisch und theo- retisch wild und undiszipliniert durchdringen. Es sind in erster Linie die Paradigmen der Molekularbiologie, die iiberall in der Ent- wicklungsbiologie explizit oder implizit als Leitideen fungieren. Diese Paradigmen be- stimmen unsere Terminologie und unser theoretisches Denken auch dann, wenn im operationalen Teil eines Forschungsvorha- bens die molekulare Dimension noch nicht erreicht ist oder gar nicht erreicht werden soll. '"Nach einem Vortrag, gehalten bei der Ge- sellschaft fur Entwicklungsbiologie am 25. 4.76 in Koln. Wir glauben an bestimmte Eigenschaften yon Makromolekiilen, an einen universellen, ge- netischen Code, an das zentrale Dogma der Molekularbiologie, an die ,,Ein Gen-ein Enzym"-Beziehung, an Entwicklung als Ausdruck differentieller Genexpression, ob- gleich wir wissen, dai3 der Zusammenhang zwischen differentieller Enzymsynthese und Gestaltbildung, das Kardinalproblem der Entwicklung, uns bislang vollig unverstand- lich geblieben ist. Sicherlich, wir wissen von Pflanzen und Tieren, dai3 die normale Mor- phogenese nur vonstatten geht, wenn eine zeitlich streng geordnete Synthese von RNA und Protein gewahrleistet ist. Aber wir wissen nicht einmal im Prinzip - sobald wir die Organisationsstufe des self assembly hin- ter uns lassen [8] - wie aus der Synthese aperiodischer, informationsreicher Makro- molekiile das zeitliche und raumliche mor- phogenetische Muster resultiert [12]. Natiirlich protestiere ich nicht gegen den Glauben an die Paradigmen der Molekular- biologie. Ich warne aber dringend vor dem molekularen Kollaps unserer Disziplin. Die- ser Kollaps droht, sobald die tatsachlichen Sachverhalte der Entwicklung, die begriffli- che Klarheit und die analytische Scharfe der Entwicklungsphysiologie den popularen Lehrbuchparadigmen der Molekularbiologie nahezu blindlings geopfert werden. Vielleicht hatte Spemann einen ahnlichen Alpdruck, als er seinerzeit - in den 20er Jahren - die jungen ,,physiologischen Gene- tiker" als Eindringlinge und Storenfriede bezeichnete. Spemann griff einrnal Haecker recht heftig an, als dieser die Bezeichnung ,,Phanogenetik" fur Arbeiten iiber die geni- sche Wirkung bei der Entwicklung vorschlug. Spemann betonte, dai3 dies Ernbryologie und nichts ah Embryologie sei [7]. Spemanns Bedenken muten uns heute iiber- trieben und fortschrittsfezndlich an. Die wis- senschaftliche Entwicklung hat sein Vorurteil vollig iiberrollt. Wenn man aber die phanta- sievollen, phanogenetischen Arbeiten der Biologie in unserer Zeit / 6. Jahg. 1976 /Nu. 6 161

Zur Zielsetzung der Entwicklungsbiologie

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HansMohr Zur Zielsetzung der Entwicklungs biologic'$

1, Einleitung

Mein Aufsatz vermischt Wissenschaft und Wissenschaftstheouie. Dies lai3t sich kaum vermeiden, wenn man iiber die Frage nach- denkt: Was ist und mit welchem Ziel betrei- ben wir heutzutage Entwicklungsbiologie? Die Untersuchung von Begriffen wird in diesem Aufsatz eine erhebliche Rolle spielen. Dies hat nichts mit semantischer Beckrnes- serei zu tun, sondern mit der Oberzeugung, auch begriffliche Grundlagen unserer Diszi- plin seien revisionsbediirftig.

Wir sollten uns bei der kritischen Inspektion unserer Disziplin nicht durch eingewurzelte Vorurteile und machtige Namen irritieren lassen. Wir miissen altvertraute Generalisie- rungen des 19. Jh. ebenso in Frage stellen wie Begriffe, die sich deskriptiv bewahren, aber analytisch versagen. Daruber hinaus mussen wir von jedem, der sich a d Entwick- lungsbiologie einlak, verlangen, dai3 er sich mit den Sachverhalten der Entwicklung viel- zelliger Systeme voll vertraut macht, bevor er Spieltheorien [5] oder Katastrophentheorien [15] auf diese subtile Materie anwendet.

Ein irritierendes Charakteristikum der ge- genwartigen Entwicklungsbiologie besteht darin, dai3 sich ,,klassische Entwicklungs- physiologie" und ,,molekulare Entwicklungs- biologie" begrifflich, methodisch und theo- retisch wild und undiszipliniert durchdringen. Es sind in erster Linie die Paradigmen der Molekularbiologie, die iiberall in der Ent- wicklungsbiologie explizit oder implizit als Leitideen fungieren. Diese Paradigmen be- stimmen unsere Terminologie und unser theoretisches Denken auch dann, wenn im operationalen Teil eines Forschungsvorha- bens die molekulare Dimension noch nicht erreicht ist oder gar nicht erreicht werden soll.

'"Nach einem Vortrag, gehalten bei der Ge- sellschaft fur Entwicklungsbiologie am 25. 4.76 in Koln.

Wir glauben an bestimmte Eigenschaften yon Makromolekiilen, an einen universellen, ge- netischen Code, an das zentrale Dogma der Molekularbiologie, an die ,,Ein Gen-ein Enzym"-Beziehung, an Entwicklung als Ausdruck differentieller Genexpression, ob- gleich wir wissen, dai3 der Zusammenhang zwischen differentieller Enzymsynthese und Gestaltbildung, das Kardinalproblem der Entwicklung, uns bislang vollig unverstand- lich geblieben ist. Sicherlich, wir wissen von Pflanzen und Tieren, dai3 die normale Mor- phogenese nur vonstatten geht, wenn eine zeitlich streng geordnete Synthese von RNA und Protein gewahrleistet ist. Aber wir wissen nicht einmal im Prinzip - sobald wir die Organisationsstufe des self assembly hin- ter uns lassen [8] - wie aus der Synthese aperiodischer, informationsreicher Makro- molekiile das zeitliche und raumliche mor- phogenetische Muster resultiert [12].

Natiirlich protestiere ich nicht gegen den Glauben an die Paradigmen der Molekular- biologie. Ich warne aber dringend vor dem molekularen Kollaps unserer Disziplin. Die- ser Kollaps droht, sobald die tatsachlichen Sachverhalte der Entwicklung, die begriffli- che Klarheit und die analytische Scharfe der Entwicklungsphysiologie den popularen Lehrbuchparadigmen der Molekularbiologie nahezu blindlings geopfert werden.

Vielleicht hatte Spemann einen ahnlichen Alpdruck, als er seinerzeit - in den 20er Jahren - die jungen ,,physiologischen Gene- tiker" als Eindringlinge und Storenfriede bezeichnete. Spemann griff einrnal Haecker recht heftig an, als dieser die Bezeichnung ,,Phanogenetik" fur Arbeiten iiber die geni- sche Wirkung bei der Entwicklung vorschlug. Spemann betonte, dai3 dies Ernbryologie und nichts a h Embryologie sei [7].

Spemanns Bedenken muten uns heute iiber- trieben und fortschrittsfezndlich an. Die wis- senschaftliche Entwicklung hat sein Vorurteil vollig iiberrollt. Wenn man aber die phanta- sievollen, phanogenetischen Arbeiten der

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spaten 20er- Jahre liest, versteht man zumin- dest seine Sorgen um den Bestand der Embryologie.

2. Das Ziel der Entwicklungsphysiologie

Die Entwicklungsphysiologie ist eine Diszi- plin sui generis mit einer eigenstandigen Zielsetzung. Sie lautet: kausale Erklarung der Entwicklung von Eukaryonten. Diese Zielsetzung enthalt drei wichtige Begriffe: Entwicklung, Kausalitat, Erklarung. Keiner dieser Begriffe ist trivial oder unmii3verstand- lich. Sie bedurfen der expliziten Erlauterung.

a) Entwicklung

Der Begriff ,,Entwicklung" erweist sich bei der wissenschaftlichen Arbeit als zu kompli- ziert. Er mui3 in operationale Begriffe zerlegt werden: Entwicklung: Wachstum - Differen- zierung - Morphogenese. Wachstum ruckt die quantitativen Aspekte der Entwicklung in den Vordergrund; Differenzierung be- zieht sich auf das qualitative Verschieden- werden der Teile; Morphogenese bezeichnet den Prozei3 der nicht-zufallsmai3igen Anord- nung der Systemelemente in Raum und Zeit, die Entstehung der spezifischen Organisation des Systems, einschliefllich der Entwicklung von Symmetrien und Allometrien. Naturlich sol1 eine befriedigende Theorie der Entwick- lung die drei Aspekte wieder vereinigen. Im aktuellen Forschungsprozeg aber ist die Ver- wendung operationaler Begriffe unentbehr- lich.

Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dai3 eine Revision mancher Begriffsinhalte drin- gend geboten ist. Der Begriff ,,Differenzie- rung" mag als Beispiel dienen. Der beschrei- bende Embryologe versteht unter Differen- zierung die von einem cytologisch einheit- lichen, omnipotenten Ausgangsmaterial aus- gehende Entwicklung von Zellen nach ver- schiedenen Richtungen. Das Resultat ist, dai3 aus ehemals gleichartigen, embryonalen Zellen solche entstehen, die sich strukturell und funktionell mehr oder minder stark un- terscheiden. Das begriffliche Gegensatzpaar in der deskriptiven Embryologie lautet: embryonal - differenziert. Die Frage ist, ob diese Terminologie entwicklungsphysiolo- gisch nutzlich ist. Die Antwort ist, nein.

Abbildung 1 veranschaulicht das Problem der Differenzierung. Es sind 3 verschiedene Zellphanotypen ins Auge gefaflt, zum Bei- spiel die Epidermiszellen, die Schliei3zellen

und die Palisadenparenchymzellen eines Blat- tes. Wir gehen von dem Paradigma aus, daB sich zumindest in den meisten Fallen bei der Herausbildung verschiedener Zellphano- typen die genetische Information der Zellen nicht verandert und dai3 nichts davon ver- loren geht. Mit anderen Worten: Die Reak- tionsnorm der Zellen wird im Vollzug der Differenzierung nicht verandert. AuBerdem gehen wir davon aus, dai3 Zelldifferenzierung mit ,,differentieller Genaktivitat" zusammen- hangt. Mit diesem Begriff will man zum Ausdruck bringen, dai3 in verschiedenartig differenzierten Zellen unterschiedliche An- teile der genetischen Information ,,aktiv" sind oder aktiv gewesen sind.

Unsere Frage lautet: 1st es angesichts dieser Sachlage gerechtfertigt, der embryonalen Zelle die differenzierte Zelle gegenuberzu- stellen? - Offensichtlich nicht! In Abbildung 1 bedeutet ,,Differenzierung" die Uberfuh- rung eines bestimmten Zellphanotyps in einen anderen. Auch die embryonale Zelle ist ein bestimmter, durch eine bestimmte diffe- rentielle Genaktivitat definierter Zellphano- typ. Auch die embryonale Zelle ist unter dem genphysiologischen Gesichtspunkt als ,,diffe- renziert" aufzufassen. Der logische Gegen- satz zu ,,embryonale Zelle" ist ,,funktionell spezialisierte Zelle" (und nicht ,,differen- zierte" Zelle). Den Vorgang des Ubergangs einer embryonalen Zelle in eine spezialisierte Zelle sollten wir korrekterweise eine ,,Umdif- ferenzierung" nennen.

Tatsachlich verwenden wir den Begriff ,,Dif- ferenzierung" stets im Sinn einer Umdiffe- renzierung, ob wir uns dessen bewui3t sind oder nicht. Wir wissen, dai3 in der Regel auch die funktionell spezialisierte Pflanzenzelle einer weiteren Umdifferenzierung innerhalb der Reaktionsnorm zuganglich ist. Meist erfolgt die Umdifferenzierung spezialisierter Zellen uber eine Re-embryonalisierung. Es ist logisch verkehrt, hier von einer Entdifferen- zierung zu sprechen.

Es ist auffallig, daB unter normalen (d.h. nicht-pathologischen) Umstanden bei Diffe- renzierungen innerhalb der Reaktionsnorm nur bestimmte, klar unterschiedene Zellpha- notypen entstehen, bei einem Blatt zum Bei- spiel Epidermiszellen, Palisadenparenchym- zellen, Schwammparenchymzellen, Schliei3- zellen, Idioblasten. Daraus folgt, dai3 nur bestimmte Zellphanotypen moglich sind; vermutlich sind nur sie genphysiologisch stabil. Andererseits haben alle Zellphanoty-

pen einer Pflanze eine Vielzahl gemeinsamer Eigenschaften: Sie bilden alle die gleichen Ribosomen, dieselbe Cellulose, das gleiche Phytochrom, die gleichen Cytochrome, die gleichen Dehydrogenasen, die gleichen RNAsen, U.S.W. Die Zellphanotypen uber- lappen sich also und sind doch klar unter- schieden. Vermutlich ist, genphysiologisch gesehen, die Uberlappung weit groaer als der Unterschied.

b) Kausalitat

Biologische Kausalforschung ist erkennmis- logisch gesehen stets Faktorenanalyse. Das Kausalitatsprinzip (Abbildung 2) enthalt einen Zeitfaktor und den (philosophischen) Begriff Determination. Man kann es als ,, Wenn-dann-Satz" formulieren: Wenn x Faktoren (Fl,. . .,F,) den Zustand a determi- nieren und aus a mit der Zeit a' folgt, dann gilt allgemein: Wenn sich irgendwo der Zu- stand a (determiniert durch x Faktoren) einstellt (Ursache), dann wird sich die Wir- kung a' mit der Zeit einstellen. Wir konnen in der biologischen ,,Kausalforschung" bis- lang nicht mehr tun als ein oder zwei (selten mehrere) Faktoren im Experiment variieren und die resultierende Wirkung quantitativ registrieren. Nur fur den Fall, daf? die varia- blen Faktoren unter sich und mit den ubrigen Faktoren keine erhebliche Wechselwirkung zeigen, gelangt man zu relativ einfachen Be- ziehungen zwischen der Dosis des variablen Faktors und dem Ausmai3 der Anderung von a'. Im Fall der Entwicklungsphysiologie sind die Faktoren haufig Gene und die aus Xnde- rungen von F, resultierenden Anderungen von a' sind Merkmalsanderungen, genannt Genexpressionen.

Die klassische Mutantenanalyse, die sich bis heute groi3ter Beliebtheit erfreut, niitzt in der Regel den Umstand aus, dai3 ein gestorter Faktor zu einer Ausfallserscheinung oder zu einer Veranderung des Normalprozesses fuhrt. Man versucht dann, vom gestorten Vorgang auf den NormalprozeB zuruckzu- schlieBen. Wegen der in der Regel unge- klarten Wechselwirkungen zwischen den relevanten Genen ist die Mutantenanalyse logisch nicht immer iiberzeugend, obgleich die am weitesten getriebenen Modelle, 2.B. die SPM-Elemente von Barbara McClintock [9] oder die Selectorgene von Garcia-Bellido [6 ] , einen hohen heuristischen Wert besitzen durften.

Die Mutantenanalyse der Entwicklung funk-

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tioniert iiberzeugend nur dort, wo man mit Entwicklungshomoeostasis rechnen kann: Ein prazis in Raum und Zeit erfolgendes Ent- wicklungsgeschehen wird ausschlie8lich durch organismuseigene endogene Faktoren determiniert [13]. Umweltfaktoren sind nicht in der Lage, das Entwicklungsgeschehen spe- zifisch zu beeinflussen. Im Fall von Entwick- lungshomoeostasis gehen wir davon aus, den geltenden Paradigmen zufolge, da8 die Ent- wicklung bis ins letzte Detail von den Genen des Systems determiniert wird. Einschran- kend sei betont, da8 wir in aller Regel Merk- male nicht mit einzelnen Genen in Verbin- dung bringen konnen, sondern lediglich Merkmalsunderungen. Die klassische Gene- tik untersuchte nicht die Vererbung von Merkmalen, sondern die Vererbung von Merkmalsanderungen.

Kausalforschung in der Entwicklungsgenetik impliziert, d& wir uns fur ,,Mechanismen" interessieren, nicht nur fur den Nachweis, d& Merkmalsanderungen auf genetische Anderungen zuriickzufuhren sind. Unter einem entwicklungsgenetischen ,,Mechanis- mus" verstehen wir die Abfolge und Regula- tion der molekularen oder biophysikalischen Einzelschritte, die zu einer Merkmalsausbil- dung fiihren. Die besondere Faszination liegt in der zeitlichen Regulation. Jede synchro- nisierte Population zeigt unmittelbar die Prazision der Regulation der zeitlichen Ent- wicklung. Es gibt im wesentlichen drei Ver- fahren, die Details im Kausalnexus zwischen Genen und Merkmalen in Erfahrung zu brin- gen. Die beiden ersten Verfahren beziehen sich auf Entwicklungshomoeostasis, das dritte Verfahren auf die offene Entwicklung bei Pflanzen.

1. Mutantenanalyse kann in giinstigen Fallen, z.B. bei Neurospora crassa, und bei bioche- mischen Merkmalen zu uberzeugenden Ein- blicken in den Mechanismus einer Merkmals- entstehung fiihren.

2. Mit unphysiologischen Eingriffen, 2.B. Inhibitoren, UV-Bestrahlung, punktuellen Abtotungen, Isolationen, Transplantationen, kann man Faktoren des Normalablaufs aus- schalten und vom gestorten Vorgang auf den Mechanismus des Normalprozesses schlie8en. Indessen bleibt die Extrapolation vom zeitlich und raumlich gestorten und somit pathologischen Proze8 auf den norma- len Mechanismus immer riskant und letztlich unbefriedigend. Selbst vor Spemanns klassi- schen Experimenten und Interpretationen hat

diese Kritik nicht haltgemacht [3]. Im An- schlu8 an die Entdeckung von Spemann, d& ein Induktionseffekt im Gastrulastadium stattfindet und dai3 er fur eine normale Ent- wicklung mdgebend sei, hat man langere Zeit geglaubt, diese Induktion stelle die erste ,,Differenzierung" in der Entwicklung des Amphibienkeims dar. Spater hat dann Curtis [3] gezeigt, dafi es die Oberflachenstrukturen der Eirinde in der Gegend des grauen Halb- mondes sind, die die spateren Vorgange bei der Gastrulation bestimmen.

3. Wir haben im Rahmen unserer Arbeiten

zur Photomorphogenese den Umstand aus- geniitzt, d& die Entwicklung der hoheren Pflanzen nicht nur durch Gene, sondern auch durch den Umweltfaktor Licht deter- miniert wird. Ein Beispiel: Der Senfkeimling besitzt alle Gene, die fur die Bildung von Anthocyan erforderlich sind. Im Dunkeln kommt es aber nicht zur Anthocyansynthese. Erst die Zugabe des Lichtfaktors erlaubt die Bildung des roten Farbstoffs. Man kann zei- gen, d& das Licht ausschliefllich iiber das Phytochromsystem wirkt. Das Effektor- molekiil ist Pf,. Man kann formal den Faktor Pf, genau so behandeln wie ein Gen (Abbil-

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dung 3). Es laflt sich zeigen, dai3 unter opti- mierten Bedingungen die Merkmalsgrofle iiber einen gewissen Bereich hinweg propor- tional der Menge an Pfr ist: AA=k.[Pf,] (Abbildung 4). Wir haben also mit Hilfe von Licht unter genau meflbaren und reprodu- zierbaren Bedingungen eine neue entwick- lungsgenetisch relevante Kausalkette gestar- tet, die sich im Prinzip Schritt fur Schritt bis zur Ausbildung des biochemischen Merkmals mit biochemischen Methoden analysieren 1aflt.

c) Erklarung

Das Ziel der Entwicklungsphysiologie ist nicht die Ausarbeitung von moglichst vielen singularen Mechanismen; das Ziel der Ent- wicklungsphysiologie ist die kausale Erkli- rung der Entwicklung der Eukaryonten. Richard Goldschmidt hat diese Aufgabe in seiner ,,Theoretischen Genetik" seinerzeit folgendermden umschrieben: ,,Es scheint die Aufgabe der physiologischen Genetik zu sein, die allgemeingiiltigen Gesetze und Be- griffe, welche fur alle moglichen Arten geni- scher Wirksamkeit giiltig sind, so klarzu- legen, dai3 sie, was auch in dem untersuchten Einzelfall an Besonderheiten hinzukommen moge, allgemeinverstandlich werden" [7]. Einen Sachverhalt erklaren, bedeutet in der Wissenschaft, ihn auf Gesetze und auf die systemspezifischen Randbedingungen ZU-

riickzufiihren. Die wissenschaftliche Erkla- rung und die wissenschaftliche Prognose haben eine sehr ahnliche Struktur (vgl. Abbil- dung 5). Man nennt diese Struktur das Hem- pel-Oppenheim-Schema, da sich diese Wis- senschaftstheoretiker um die Analyse der wissenschaftlichen Erklarung besonders ver- dient gemacht haben.

tur. Aber es ist offensichtlich, dai3 die Qualitat der Gesetze die Qualitiit der Erkla- rung bestimmt. Auch innerhalb der seriosen Wissenschaften finden wir beziiglich ihrer Qualitat sehr unterschiedliche Gesetze: Die Skala erstreckt sich von den quantitadven Prozefigesetzen der Physik bis hin zu den vagen Generalisierungen der biologischen Disziplinen. Auch die Entwicklungsbiologie macht hier keine Ausnahme: Verglichen mit der Prazision vieler physikalischer Diszi- plinen erscheinen die Generalisierungen der Entwicklungsbiologie vage, ungenau begriin- det, unprazis formuliert. Dam kommt, dat3 integrierende Konzepte in der Geschichte der Entwicklungsbiologie iiberhaupt selten geblieben sind. Es gibt immer wieder Aus- nahmen, vom wissenschaftlichen Rivalen ge- niifllich dargeboten, die dem integrierenden Konzept, dem ,,groflen Wurf", das Leben schwer machen.

3. Generalisierungen

Welcher Natur sind die Generalisierungen - die gesetzhaften Aussagen - der Entwick- lungsbiologie? Es gibt zwei Typen:

a) Die von der mikrobiellen Molekularbiolo-

gie auf die hoheren Systeme extrapolierten Grunduberzeugungen, z. B. der Mechanis- mus der Proteinsynthese, das zentrale Dogma, der universelle Code, die Funktion der Ribosomen, die ,,Ein Cistron-ein Poly- peptid"-Uberzeugung. Die Frage ist, inwie- weit diese Extrapolationen wirklich gerecht- fertigt sind. Niemand wiirde heute mehr im Ernst Monods Dictum unterschreiben: What is true for E. coli, is also true for elephants. Niemand wiirde mehr behaupten, die Syn- these funktioneller RNA im Saugeder oder in einer Bliitenpflanze verlaufe nach dem glei- chen Mechanismus wie in E. coli oder in Salmonellen. Jedermann, der die Phanomene kennt, nimmt heutzutage als selbstverstkd- lich an, dai3 der Mechanismus der Genregu- lation in Pflanze und Tier sich von dem in Bakterien unterscheidet. Ein neuerdings be- liebtes Beispiel bieten die Steroidhormone. Obgleich die gepriiften Steroide Genexpres- sion induzieren, tun sie es nicht iiber die Kombination mit Repressoren i la Jacob- Monod. Steroidhormone verursachen keine Derepression. Im Gegenteil, sie werden an Receptorproteine gekoppelt, die eine positive regulatorische Wirkung ausiiben. Kurz ge- sagt: Man glaubt, dai3 in der Targetzelle ein Gen dadurch aktiviert wird, dai3 ein Hor-

Im Prinzip hat jede Erklarung, die das Pradi- kat ,,wissenschaftlich" verdient, diese Struk-

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mon-Receptorkomplex an das Gen bindet. Die Aktivierung kommt nicht dadurch zu- stande, dai3 ein Repressormolekiil entfernt wird [13].

b) Der 2. Typ der in der Entwicklungsbiolo- gie iiblichen Generalisierungen umfai3t be- s c h r ~ k t e Allsatze, die von vornherein nur bestimmte Klassen lebendiger Systeme be- treffen, z. B. nur Eukaryonten, nur Sauge- tiere oder nur Angiospermen. Die historisch begriindete Mannigfaltigkeit der lebendigen Systeme macht klassenuberschreitende Ge- neralisierungen in der Entwicklungsbiologie zu einem schwierigen Unternehmen. Wir miissen damit rechnen, dai3 die evolutionare Divergenz auch vor den Mechanismen nicht haltgemacht hat. Es ist wenig sinnvoll, Generalisierungen durch Simplifizierung, also auf Kosten von Realismus und Prazision, erreichen zu wollen. Uniformitat auf Kosten der Sachverhalte ist undiskutabel. Anderer- seits wiirde der Verzicht auf Generalisierun- gen die Entwicklungsbiologie in zahllose divergierende Gruppen zerfallen lassen, die sich um einzelne Organismen scharen; eine Tendenz, die sich allenthalben verstarkt, zum Schaden unserer Wissenschaft. Man kann die Skepsis gegeniiber den groi3en Wiirfen auch

iibertreiben und Scheuklappen zum Fetisch machen.

Ein Beispiel fur eine iiberzogene Generahierung

Karl Ernst v. Baer (1828) wird die Generali- sierung zugeschrieben, dai3 bei der Entwick- lung eines tierischen Keims die allgemeinsten Merkmale zuerst in Erscheinung treten, dann die weniger allgemeinen und schliei3lich die artspezifischen Merkmale. Es ist neuerdings zweifelhaft geworden, ob diese altehrwiirdige Generahierung auch dann stimmt, wenn man die friihe Ontogenie, die Stadien vor der Herstellung der Korpergrundgestalt, ins Auge fai3t. Wie Ballard, ein vehementer Kri- tiker des v. Baerschen ,,Gesetzes", feststellt, ,,durchlaufen nur sehr wenige Vertebraten ein Stadium, das man im strengen Sinn eine Blastula nennen konnte" - ,Der Embryo wird in dem Zeitraum der aktivsten morpho- genetischen Bewegungen zwar iiblicherweise als Gastrula bezeichnet; es besteht aber Uber- einstimmung darin, dai3 diesem Wort keine morphologische Bedeutung mehr zukommt." - ,,Es ist einfach eine Tatsache, dai3 sich die evolution&-e Divergenz in allen Stadien der Ontogenie auaert, in den friihen nicht weni-

ger als in den spaten" - ,,Nur mit Hilfe semantischer Tricks und durch eine subjek- tive Auswahl von Beobachtungen kommt man zu der Behauptung, daf3 ,,Gastrulae" von Hai, Lachs, Frosch und Vogel eine gro- &re Obereinstimmung zeigen als die adulten Tiere" [l].

Manche werden die Ballardsche Polemik als iibertrieben bezeichnen und mit Recht darauf hinweisen, dai3 es viele und gute Beispiele fiir ,,Rekapitulationen" im Sinn des Karl Ernst v. Baer und im Sinn Hackels gibt. An- dererseits aber ist man a l s Entwicklungs- physiologe doch vorsichtig geworden. Eine Generalisierung ,,Die Gene werden im Ver- lauf der Ontogenie in der Reihenfolge ihrer phylogenetischen Entstehung eingeschaltet" wiirde wohl niemand mehr riskieren.

Ein Beispiel fur eine kurzlich entwickelte Generahierung

Die Embryonalentwicklung der hoheren Pflanzen erfolgt im Embryosack. Das Ent- wicklungsgeschehen bis hin zum fertigen Samen ist gekennteichnet durch Entwick- lungshomoeostasis. Mit diesem Begriff haben wir den Sachverhalt bezeichnet, daf3 das

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Entwicklungsgeschehen durch innere Fakto- ren gesteuert wird und durch die Umwelt nicht spezifisch zu beeinflussen ist. Die Ana- logie zur Embryonalentwicklung der Tiere ist offensichtlich. Die Situation andert sich grundlegend bei der Samenkeimung und bei der weiteren KeimlingsentwicMung. In die- ser Phase der Entwicklung iibt der Umwelt- faktor Licht einen wesentlichen und spezifi- schen Einflui3 auf das Entwicklungsgesche- hen aus. Diese Erscheinung nennt man Photomorphogenese. Die normale Entwick- lung der hoheren Pflanzen nach der Samen- keimung ist durch Photomorphogenese ge- kennzeichnet. Die Entwicklung im Dunkeln, das Etiolement, weicht von der Entwicklung im Licht erheblich ab. Die Abbildung 6 zeigt, als klassisches Beispiel, drei Keimlinge vom WeiBen Senf (Sinapis alba). Die Keimlinge sind gleich alt und auch genetisch nahezu gleich. Man kann leicht zeigen, dai3 die Pho- tosynthese mit der verschiedenartigen Ent- wicklung der Keimlinge im Licht und Dunkel nichts zu tun hat. Der rnit Standard-Dunkel- rot belichtete Keimling (rechts) und der im Standard-Weii3licht gehaltene Keimling (Mitte) entwickeln sich sehr ahnlich, obgleich im WeiBlicht die Chlorophyllbildung und die Photosynthese ablaufen, wahrend im

Dunkelrot diese Prozesse nicht vonstatten gehen.

Wir wissen heute, dai3 der Unterschied zwi- schen Licht- und Dunkelkeimling auf die Bildung von aktivem Phytochrom (P,J im Licht zuruckzufiihren ist. Der Dunkelkeim- ling enthalt nur inaktives Phytochrom (PJ.

Pf, ist das morphogenetisch wirksame Effek- tormolekiil des Phytochromsystems. Auch bei der Keimung vegetativer Fortpflanzungs- organe beobachtet man die Phanomene der Photomorphogenese, z. B. bei den Sproi3- achsen, die aus Kartoffelknollen entstehen (Abbildung 7). Bei diesem Beispiel haben wir es mit genetisch identischen Systemen zu tun, und auch in diesem Fall beruht der Unter- schied zwischen Licht- und Dunkelpflanze nicht auf der Photosynthese. Diese Aussage lai3t sich generalisieren: Photomorphogenese ist charakteristisch f+ alle photoautotrophen hoheren Pflanzen.

Die Phanomene der Photomorphogenese hangen natiirlich damit zusammen, daf3 die ganze Existenz der hoheren Pflanze auf den Lichtfaktor hin optimiert ist. Der Optimie- rungsprozep wird zum Teil durch organis-

museigene Faktoren gesteuert (Entwick- lungshomoeostasis). Der Umweltfaktor Licht greift aber ebenfalls in diese Optimierungs- prozesse ein. Die Frage ist, wie Entwick- lungshomoeostasis und der Umweltfaktor Licht bei der Photomorphogenese, d. h. bei der normalen Entwicklung der Pflanzen, zusammenwirken.

Wir betrachten zuerst die Entwicklung eines raumlichen Musters. Wir wahlen als Beispiel die Phyllotaxis, d.h. die Anordnung der Blatter, an einer Kartoffelpflanze (Abbildung 7). Die Phyllotaxis wird im Zusammenhang mit der Bildung der Blattprimordien am Sproavegetationspunkt festgelegt. Abbildung 7 deutet den Sachverhalt an, dai3 das artspe- zifische Muster der Blattanordnung (Blatt- stellung) lichtunabhangig ist (Entwicklungs- homoeostasis). Die Entwicklung oder Reali- sierung des Musters erfolgt hingegen nur im Licht mit Hdfe des Effektormolekiils Pfr.

Nach unseren Erfahrungen gilt fur die An- giospermen die folgende Generalisierung:

Anlage eines raumlichen Musters - Entwick- lungshomoeostasis; Realisierung eines raum- lichen Musters - offene Entwicklung.

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Wir betrachten jetzt die Entwicklung eines zeitlichen Musters. Die Prazision der zeitli- chen Kontrolle der Entwicklung ubt auf den sachverstandigen Experimentator wohl die grof3te Faszination aus. Wir verfolgen (Abbil- dung 8) die Bildung des Plastidenenzyms Ribulose- 1,5-diphosphat-Carboxylase (ab- gekurzt Carboxylase) in den Kotyledonen des Senfkeimlings unter dem Einf ld von Pf, (operational, im dunkelroten Dauerlicht). Der Lichtbeginn bei 24 und 36 h fuhrt zu genau derselben Enzymkinetik. Das enzym- bildende System registriert bezuglich der Kompetenzentstehung die Anwesenheit von

Pf, im Keimling zwischen 24 und 36 h nach Aussaat uberhaupt nicht, obgleich das Pfr in diesem Zeitraum in anderer Hinsicht (2.B. Auslosung der Anthocyansynthese) sehr wirksam ist.

In Abbildung 9 fassen wir die generelle Frage- stellung nochmals zusammen: Zu welchem Entwicklungszeitpunkt exprimiert der Senf- keimling erstmals bestimmte, funktionell zu- sammengehorige Gene, 2.B. die Gene der Protochlorophyll-, der Anthocyan- oder der Carboxylase-Synthese? Die Antwort lautet: An der Genexpression ist in allen Fallen

Phytochrom (Pfr) beteiligt. Das prazise zeit- liche Muster der Genexpression ist aber phytochromunabhungig. Phytochrom ist im Licht vom Zeitpunkt der Aussaat ab vorhan- den. Der Beginn der jeweiligen Genexpres- sion kann durch Licht nicht im mindesten modifiziert werden. Die Bereitstellung der Gene fur die Genexpression ist licht-(phy- tochrom-) unabhangig. Das empirische Re- sultat fur den Senfkeimling lautet daher:

Anlage eines zeitlichen Musters - Entwick- lungshomoeostasis; Realisierung eines zeit- lichen Musters -off ene Entwicklung.

Die fur die Klasse der Angiospermen giiltige Generalisierung kann folgendermden for- muliert werden:

Anlage eines Musters - Entwicklungsho- moeostasis; Realisierung eines Musters - offene Entwicklung.

Es gibt bei den Angiospermen also minde- stens zwei Stufen der Entwicklung, die sich grundlegend unterscheiden - auch im Mecha- nismus. Die Anlage eines Musters ist natiir- lich die Grundlage fur die Redisierung eines Musters, von der Realisierung der Muster

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gibt es aber keine Ruckwirkung auf die An- lage der Muster. Es gibt Hinweise, dai3 diese Generalisierung eine weite Gultigkeit hat, 2.B. auch fur den Menschen [I11 gilt.

4. Abschlui3

Die Zukunft der Entwicklungsbiologie als wissenschaftliche Disziplin durfte wesentlich davon abhangen, ob und in welchem Ausmai3 empirisch begrundete, treffsichere Generali- sierungen erarbeitet werden konnen. Die Generalisierungen der Molekularbiologie, selbst wenn sie gerechtfertigt sein sollten, stellen fur die Entwicklungsbiologie lediglich die unterste Stufe dar. Die mehr oder minder klassenspezifischen Generalisierungen der Entwicklungsphysiologie mussen hinzutre- ten, wenn eine wissenschaftliche Erklarung von Entwicklungsvorgangen moglich sein soll.

Die Schwierigkeit und dieGefahrliegenin der immer weiter zunehmenden Diversitat der Entwicklungsbiologie. Dies hat sachliche und psychologische Grunde. Wie leicht schreibt sich der Satz: - the most likely resolution of these differences involves a species diffe- rence -. Ich fiirchte, dai3 sich brauchbare, nicht-triviale, uberspezifische Generalisie- rungen nur erreichen lassen, wenn sich die Kommunikation zwischen den auf bestimmte Organismen gepragten Forschergruppen ent- scheidend verbessert. Geschieht dies nicht, wird sich die Entwicklungsbiologie immer mehr in isolierte Arbeitsvorhaben aufsplit- tern, mit ihren jeweiligen ad spen’em-Hypo- thesen, und interspezifische oder gar klassen- uberschreitende Generalisierungen werden immer schwieriger und schliefllich unmog- lich werden. Dies ware das Ende der Ent- wicklungsbiologie als nomothetische Wissen- schaft.

Literatur

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Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Hans Mohr, Institut f. Biologie I1 der Universitat, Schanzlestr. 9- 13, D-7800 Freiburg i. Br.

(Biographische Angaben s. biuz 3/5, S. 147, 19 73)

168 Biologie in unserer Zeit / 6. Jahrg. 1976 / Nr. 6