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Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Education 2016/2017
Sergej Prokofjew:
Romeo und Julia Suiten Nr. 1 und Nr. 2 op. 64
Unterrichtsmaterial zur „Echtzeit“ am 24. Mai 2017 im Herkulessaal der Münchner Residenz
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Lahav Shani, Dirigent
„A pair of star-crossed lovers“
Sergej Prokofjews Romeo und Julia-Suiten im Musikunterricht
Einführung Autor: Kilian Sprau
Maria Karpova und Danila Steklov (Moscow Art Theater Studio School) in Romeo and Juliet
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Dieser Reader enthält Abschnitte zu folgenden Themen:
ALLGEMEINE HINWEISE ............................................................................................................................................. 3
ARBEITSBÖGEN UND HÖRÜBUNGEN ............................................................................................................................ 3
SERGEJ PROKOFJEW: ROMEO UND JULIA OP. 64 .............................................................................................. 4
DIE VORLAGE: WILLIAM SHAKESPEARE, ROMEO AND JULIET (PUBL. 1597)......................................................................... 4
PROKOFJEWS BALLETT: ROMEO I DŽUL’ETTA (UA 1938) ................................................................................................ 5
DAS DRAMA IN ECHTZEIT (1): DIE HANDLUNG .............................................................................................................. 6
PROKOFJEWS PERSONALSTIL: ‚NAHBARE‘ MODERNE UND ‚SOZIALISTISCHER REALISMUS‘ ...................................................... 7
AUFGABEN ....................................................................................................................................................... 9
FRAGEN ZUR MUSIKALISCHEN GESTALTUNG DER EINZELNEN SÄTZE .................................................................................... 9
EIN HAPPY END ERFINDEN… .................................................................................................................................... 11
PROKOFJEWS MARSCH DIE MONTAGUES UND DIE CAPULETS ......................................................................................... 12
CHECKLISTE ROMEO UND JULIA ................................................................................................................................ 15
ANHANG ........................................................................................................................................................ 16
1. Abbildungsnachweis ............................................................................................................................ 16
2. Literaturhinweise ................................................................................................................................. 16
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Allgemeine Hinweise
Die folgenden Seiten bieten, aus Anlass der Echtzeit 4 2016/17 des Symphonieorchesters des
Bayerischen Rundfunks, Anregungen dafür, Schülerinnen und Schüler auf ein musikalisches Live-
Erlebnis vorzubereiten. Im Fokus steht eines der bekanntesten Werke des russischen Komponisten
Sergej Prokofjew: sein Ballett Romeo und Julia op. 64 (1935/36). In der Echtzeit am 24. Mai 2017
erklingen Auszüge aus den beiden Suiten op. 64a und 64b, in denen der Komponist selbst
Höhepunkte aus dem Werkganzen zu Satzfolgen zusammengestellt hat.
Der Reader bietet Einführungen in unterschiedliche Aspekte dieser Werke sowie Vorschläge zu ihrer
Behandlung im schulischen Musikunterricht. Der Anhang informiert über die Quellen der
Abbildungen. Am Ende steht ein Verzeichnis mit Informationen zur verwendeten Literatur.
Arbeitsbögen und Hörübungen
Zum Reader gehören auch ein separates pdf- und zwei separate Powerpoint-Dokumente.
Die pdf-Datei enthält einen Arbeitsbogen zu Prokofjews Ballett Romeo und Julia.
Die Powerpoint-Dateien enthalten Hör- und Mitspielaufgaben zu Ausschnitten des Werks,
die in der Echtzeit am 24. Mai aufgeführt werden. Aus urheberrechtlichen Gründen können
diesmal keine Hörbeispiele zur Verfügung gestellt werden.
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Sergej Prokofjew: Romeo und Julia op. 64
Die folgenden Abschnitte informieren über die literarische Vorlage und die Handlung des Balletts
sowie über die Musik und die Entstehungshintergründe des Werks.
Die Vorlage: William Shakespeare, Romeo and Juliet (publ. 1597) Das Theaterstück, das Prokofjew und seine Mitarbeiter als Vorlage für ihr Ballett auswählten, erzählt
eine der berühmtesten Liebesgeschichten aller Zeiten. Ihre erste hochliterarische Ausgestaltung
erfuhr sie bereits in der Antike, bei Ovid, der sie im 4. Buch seiner Metamorphosen als die Geschichte
von Pyramus und Thisbe erzählt.1 Unmittelbare Vorlagen für Shakespeares Drama finden sich
allerdings wohl in der Literatur der Renaissance-Epoche. Die wesentlichen Motive der Handlung
boten sich dem Dichter also, ebenso wie die Namen der Hauptfiguren, bereits anderswo vorgeformt:
als die traurige Story von zwei jungen Leuten, die, von der Liebe auf den ersten Blick unwiderstehlich
hingerissen, auf Verbote der Eltern keine Rücksicht nehmen und sich selbst vom Tod nicht entzweien
lassen, den sie sich am Ende selbst geben. Shakespeares eigene Zutat ist allerdings, dass er diesen
dramatischen Plot zur leidenschaftlichen Hymne auf die Liebe ausgestaltete. Während der Stoff bei
manchem Vorläufer noch Züge eines moralisierenden Lehrgedichts trug (‚Seht nur, wie es denen
ergeht, die nicht auf ihre Eltern hören!‘)2, ist die Sympathie des Zuschauers bei Shakespeare restlos
auf Seiten der Liebenden. Im Grunde nimmt der Poet der elisabethanischen Epoche damit eine
Tendenz vorweg, die eigentlich erst später, in der romantischen Liebesliteratur, so richtig zur
Entfaltung kommen sollte: die Idee von der Liebe als unwiderstehlicher Macht, der man sich nicht
entziehen kann und auch nicht entziehen darf, die zur Auflehnung gegen Autoritätspersonen, und,
wenn nötig, zum gemeinsamen Liebestod zwingt – ein typisches Motiv für Liebesgeschichten des 19.
Jahrhunderts.
Kein Wunder, dass gerade Komponisten der romantischen Epoche sich geradezu auf Romeo und Julia
stürzten: Opern nach Shakespeares Drama schrieben z.B. Vincenzo Bellini (I Capuleti e i Montechi;
1830) und Charles Gounod (Roméo et Juliette; 1867), und der russische Komponist Pjotr
Tschaikowsky komponierte eine Fantasie-Ouverture zu Shakespeares Stück (1869/70/80), deren
‚unsterbliches‘ Liebes-Thema noch heute im Kino erklingt, wenn es besonders emotional werden soll.
Ein Massenpublikum im 20. Jahrhundert erlebte ‚Romeo und Julia‘ dann als die Geschichte von Tony
und Maria, die einander im Musical West Side Story (1957; Musik: Leonard Bernstein) als Angehörige
zweier verfeindeter Jugendgruppen im Problemviertel einer US-amerikanischen Großstadt
kennenlernen – und ebenso wie ihre berühmten elisabethanischen Vorgänger zwar ideell siegen,
doch in der Realität scheitern.
Es ist also eine Geschichte, die sich in verschiedenste Zeiten und
gesellschaftliche Situationen versetzen lässt, und die doch immer wieder
‚funktioniert‘: die Geschichte zweier Liebender, die allen äußeren
Widerständen zum Trotz aneinander festhalten, treu bis in den Tod. Leser,
Zuschauer, Zuhörer aller Epochen und verschiedenster kultureller Prägung
haben sich von ihr begeistern und berühren lassen. Auch dem russischen
Komponisten Sergej Prokofjew lag sie am Herzen, und er hat sie als Vorlage
für eines seiner berühmtesten Werke verwendet. Sergej Prokofjew
1 Vgl. http://gutenberg.spiegel.de/buch/metamorphosen-4723/21.
2 Vgl. Schabert 2000, S. 498 f.
5
Prokofjews Ballett: Romeo i Džul’etta (UA 1938)
Als Sergej Prokofjew 1934 die Arbeit an Romeo und Julia aufnahm, war er bereits ein erfahrener
Ballettkomponist. In einigen seiner Werke dieser Gattung hatte er die modernistischen Tendenzen
der 1910er und 1920er Jahre aufgegriffen. Besondere Aufmerksamkeit hatte Le Chout gefunden (UA
1921), die groteske Geschichte eines Narren, komponiert für die berühmten Ballets Russes des
legendären Impresarios Sergej Djaghilew in Paris, der u.a. Strawinskys Sacre du printemps aus der
Taufe gehoben hatte. Besonders charakteristisch für den ‚Progressiven‘ Prokofjew ist Le Pas d’Acier
op. 41 (Der stählerne Schritt), uraufgeführt 1927 in Paris ebenfalls unter Diaghilew. Die Fortschritts-
und Maschinengläubigkeit des Futurismus, dem Prokofjew sich seit den 1910er Jahren verbunden
fühlte, fand darin ihren Niederschlag: in der szenischen Umsetzung ebenso wie in der Musik, die
durch zeittypische Perkussionsklänge und Passagen von gleichsam unaufhaltsamer Motorik geprägt
ist.3
Das Ballett Romeo und Julia op. 64 gehört einer gänzlich anderen Sphäre an: In vieler Hinsicht knüpft
es an die russische Balletttradition des 19. Jahrhunderts an. 1936 vollendet, entstammt es der Zeit, in
der Prokofjew sich bemühte, nach langem Auslandsaufenthalt wieder in der russischen Heimat Fuß
zu fassen. Ursprünglich war das Werk für das berühmte Bolschoi-Theater in Moskau konzipiert;
uraufgeführt wurde es jedoch 1938 in Brünn (damals Tschechoslowakische Republik). Im Aufbau der
Handlung lehnt sich Prokofjews Ballett eng an Shakespeares Original an, integriert aber Elemente des
romantischen russischen Balletts: So ist z.B. der zweite Akt über weite Strecken von Handlung frei;
stattdessen treten zahlreiche Tanzgruppen auf, für die Prokofjew die Musik folkloristischen
Zuschnitts komponierte. Um diese revue-artige Funktion des zweiten Akts zu motivieren (die an
ähnliche Abschnitte in ‚Klassikern‘ Tschaikowky wie Schwanensee oder Nussknacker erinnert),
verlegten Prokofjew und seine Mitarbeiter die Handlung kurzerhand in die Karnevalswoche.4
Auch vom musikalischen Zuschnitt her ist Romeo und Julia wesentlich weniger ‚modernistisch‘
gestaltet als beispielweise Der stählerne Schritt. Eindeutig orientiert sich Prokofjew hier an den
Hörerwartungen eines traditionsorientierten Ballettpublikums. Auch mit den ästhetischen Vorgaben
der stalinistischen Kulturpolitik, die auf ‚Volksnähe‘ und musikalische Fasslichkeit abzielten,
harmoniert Romeo und Julia bestens (siehe unten: Prokofjews Personalstil: Nahbare Moderne und
‚Sozialistischer Realismus‘). So enthält die für die Echtzeit des Symphonieorchesters des Bayerischen
Rundfunks ausgewählte Satzfolge einige echte ‚Hits‘, wie z.B. die gleich zu Anfang erklingende
musikalische Charakterisierung der beiden verfeindeten Familien, der Prokofjew das Gewand einer
zwar bedrohlichen, nichtsdestoweniger mitreißenden Marschmusik gibt (Die Montagues und die
Capulets).
Zur Popularisierung seiner Romeo und Julia-Musik trug Prokofjew selbst gezielt bei, indem er
ausgewählte Nummern der Ballettpartitur zu wirkungsvollen Orchestersuiten (op. 64a und 64b)
zusammenstellte.5 Für die Echtzeit am 24. Mai sind aus beiden Suiten insgesamt zehn Sätze
ausgewählt, die so kombiniert werden, dass sie, ähnlich einer programmmusikalischen Konzeption,
die Handlung des Balletts quasi in ihren Grundzügen nacherzählen. Im folgenden Abschnitt wird die
daraus resultierende Story skizziert, und es werden wesentliche Charakteristika der jeweiligen
Musikstücke genannt. Daran anschließend folgen einige Bemerkungen zur ästhetischen Konzeption
der Ballettmusik im Hinblick auf Prokofjews kompositorischen Personalstil einerseits, die sowjetische
Kunst-Doktrin des ‚Sozialistischen Realismus‘ andererseits.
3 Streller 2003, S. 150 f.
4 Vgl. Regitz/Regner/Schneiders 1988, S. 518.
5 Vgl. Streller 2003, S. 207.
6
Das Drama in Echtzeit (1): Die Handlung
Die folgende Übersicht findet sich auch in der separaten PPT-Datei Satzfolge. Sie listet die Sätze der
Ballettsuiten op. 64a und 64b in der Auswahl und Reihenfolge auf, in der sie am 24. Mai 2017 in der
Echtzeit erklingen. Beigegeben sind kurze Informationen zur jeweils zugeordneten
Handlungssequenz.6 Fortlaufend gelesen ergeben sie eine in sich schlüssige Kurzform der
Balletthandlung, die den Schülerinnen und Schülern quasi als ‚Programm‘ mitgegeben werden kann.
1. Die Montagues und die Capulets op. 64b Nr. 1
Verona, in alter Zeit. Die Stadt leidet unter einer seit Generationen schwelenden Fehde zwischen den
zwei angesehenen Familien Montague und Capulet7. Der Konflikt hat so blutige Ausmaße
angenommen, dass der regierende Herzog sich gezwungen sieht, kämpferische
Auseinandersetzungen zwischen den Familienmitgliedern bei Androhung von Todesstrafe oder
Verbannung zu verbieten.
2. Das junge Mädchen Julia op. 64b Nr. 2
Julia, die junge Tochter der Capulets, ist ein Mädchen im Alter von dreizehn Jahren. Ihre Eltern
planen, sie mit dem angesehenen Grafen Paris zu verheiraten.
3. Szene op. 64a Nr. 2
Am frühen Morgen vor dem Haus der Capulets. Die Stadt erwacht allmählich zum Leben.
4. Tanz op. 64b Nr. 4
Abends findet im Hause Capulet ein Ball statt. Die Gäste vergnügen sich beim Tanz.
5. Masken op. 64a Nr. 5
Romeo erscheint heimlich auf dem Ball. Er ist maskiert, denn als Sohn des Hauses Montague darf er
im Haus der verfeindeten Familie keinesfalls erkannt werden.
6. Romeo und Julia (Balkonszene) op. 64a Nr. 6
In einem unvorsichtigen Moment hat Romeo auf dem Ball seine Maske verloren; er und Julia haben
sich ineinander verliebt. Nachts erscheint Romeo unter Julias Balkon. Sie gestehen einander ihre
Liebe.
7. Tybalts Tod op. 64a Nr. 7
Im Trubel des Karnevals kommt es auf den Straßen Veronas erneut zu einem blutigen Konflikt
zwischen Mitgliedern der verfeindeten Häuser Montague und Capulet. Bei dieser Gelegenheit
ersticht Romeo den Cousin Julias, Tybalt, der zuvor einen Freund Romeos getötet hatte. Zur Strafe
für seine Bluttat wird Romeo vom Herzog verbannt und muss Verona verlassen.
8. Tanz der Mädchen von den Antillen op. 64b Nr. 6
Im Ballett wird dieser Tanz von Julias Freundinnen getanzt. Der Titel bezieht sich auf die musikalische
Gestaltung (siehe unten) und verweist auf eine karibische Inselgruppe.
9. Romeo und Julia beim Abschiednehmen op. 64b Nr. 5
Romeo muss Verona verlassen. Die Liebenden nehmen voneinander Abschied.
10. Romeo an Julias Grab op. 64b Nr. 7
Zum Schein hat Julia Gift genommen, um der Hochzeit mit Graf Paris zu entgehen. Die trauernden
Capulets setzen sie in der Familiengruft bei. Dort will das mutige Mädchen auf Rettung durch Romeo
6 Vgl. Regitz/Regner/Schneiders 1988, S. 516–519.
7 Die Familiennamen werden üblicherweise in der englischen Form angegeben. Auf Italienisch müsste man,
analog zur Oper von V. Bellini, von den Montechi und den Capuleti sprechen.
7
warten. Romeo glaubt aufgrund eines Missverständnisses, Julia sei tatsächlich gestorben. Heimlich
kehrt er nach Verona zurück, um an ihrem Grab zu trauern.
Prokofjews Personalstil: ‚Nahbare‘ Moderne und ‚Sozialistischer Realismus‘
Die meisten Hörerinnen und Hörer der Echtzeit am 24. Mai haben den Komponisten Sergej Prokofjew
höchstwahrscheinlich in einer ganz bestimmten Komposition kennengelernt, die speziell für Kinder
bzw. den pädagogischen Kontext geschrieben wurde: Petja i volk (Peter und der Wolf). Wer die
Klänge im Ohr hat, die sich der Komponist für sein musikalisches Märchen hat einfallen lassen, wird
sich an durchaus kindgerecht-übersichtliche Musik erinnern, häufig geprägt von periodischer
Regelmäßigkeit, melodiös gestaltet und auf der traditionellen Kadenzharmonik basierend, dabei nicht
frei von Dissonanzen und grellen Instrumentationseffekten. Dass Prokofjews Musik zum Ballett
Romeo und Julia im Prinzip kaum anders klingt, mag – auch wenn beide Werke aus demselben Jahr
1936 stammen – überraschen: hier ein freundlich belehrendes Märchen für Kinder, dort ein
dramatisches Bühnenstück mit tragischem Ausgang. Die musikalische Ähnlichkeit hat sowohl mit
dem Personalstil der Prokofjew’schen Musik als auch mit gesellschaftlichen Hintergründen der
Werkentstehung zu tun.
Der junge Prokofjew hatte sich seinen frühen Ruhm als Komponist zwar zunächst in einer Phase des
Umbruchs erworben. Spätestens nach dem I. Weltkrieg hatte sich europaweit eine starke
antiromantische Tendenz Bahn gebrochen; der Neoklassizismus der französischen Groupe des Six ist
typischer Ausdruck dieser Strömung. Als Prokofjew in den 1920er Jahren seinen Hauptwohnsitz in
Paris nahm, unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu den Mitgliedern dieser
Komponistengruppe.8 Er selbst hatte schon in Russland den Ruf eines musikalischen „Enfant
terrible“9 erlangt, mit einer dissonanzenreichen, motorisch vorangetriebenen, ausgesprochen anti-
romantischen Musik (ein charakteristisches Beispiel ist das Klavierstück Suggestion diabolique op. 4
Nr. 4 (Teuflische Einflüsterung; 1912). Der revolutionären Stimmung im Russland des frühen 20.
Jahrhundert, die in der Oktoberrevolution von 1917 gipfelte, hatte Prokofjew mit Sympathie
gegenübergestanden.
Diese anti-konservativen Bürgerschreckattitüde kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
auch traditionelle Gestaltungsmerkmale für Prokofjews Personalstil immer eine große Rolle gespielt
haben. Die Musikalität des Knaben Sergej war an klassischen Vorbildern geschult worden: Der
regelmäßig ‚quadratische‘ Periodenbau des klassischen Tonsatzes etwa blieb für seine Musik
zeitlebens bestimmend.10 Die konservative Tendenz seines Personalstils trat umso deutlicher zutage,
je mehr sich der erwachsene Komponist vom revolutionären ‚Draufgängertum‘ seiner Jugend
entfernte. Als er 1936 nach langjährigen Auslandsaufenthalten dauerhaft in seine Heimat
zurückkehrte, begannen sich in der UdSSR bereits die Konsequenzen der totalitären Stalin-Diktatur
abzuzeichnen. Von den Komponisten wurde, entsprechend der Doktrin des ‚Sozialistischen
Realismus‘, eine intellektuell nur mäßig anspruchsvolle, in Melodik und Harmonik tendenziell
rückwärtsgewandte, gewissermaßen ‚volksnahe‘ Musik erwartet. Prokofjews jüngerer Kollege Dmitrij
Schostakowitsch hat unter diesen Einschränkungen stark gelitten; Prokofjew, als Komponist
mittlerweile in ruhigerem Fahrwasser, vermochte sich mit ihnen zu arrangieren. Seine Ballettmusik
zu Romeo und Julia ist ein gutes Beispiel für Musik, wie sie zu jener Zeit in der Sowjetunion offiziell
gefragt war: In ihrer grundsätzlich melodiösen Ausrichtung und harmonischen Fasslichkeit wirkt sie
auch für konservative Ohren ‚nahbar‘, wenngleich Elemente wie (maßvolle eingesetzte) Dissonanzen
und ein immer wieder ausbrechender Zug zum motorischen ‚Drive‘ sie klar im 20. Jahrhundert
8 Vgl. Streller 2003, S. 147 f.
9 Schipperges 2005, Sp. 963.
10 Vgl. Streller 2003, S. 79.
8
situieren. Wohl zu Unrecht hat man Prokofjew vorgeworfen, er sei mit dieser Art von ‚gemäßigter
Moderne‘ vor dem ästhetischen Diktat der Stalin-Ära zu Kreuze gekrochen. In Wirklichkeit war die
Kombination von ‚konservativen‘ und ‚revolutionären‘ Merkmalen von Anfang an ein Wesenszug
seiner Musik gewesen.11
11
Vgl. Streller 2003, S. 208; Schipperges 2005, Sp. 968 f.
9
Aufgaben
Die folgenden Höraufgaben finden sich ebenfalls in den separaten PPT-Dateien. Sie fordern
Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich bewusst mit Prokofjews musikalischer Gestaltung der Romeo
und Julia-Geschichte auseinanderzusetzen und das Werk auf diese Weise gut kennenzulernen.
Fragen zur musikalischen Gestaltung der einzelnen Sätze
Die folgenden Höraufgaben finden sich in der separaten PPT-Datei Satzfolge.
1. Die Montagues und die Capulets op. 64b Nr. 1
Welche Gestaltungsmittel der Musik passen zur ‚Kriegs‘-Situation in Verona?
Mögliche Antworten:
bedrohlich wirkende Einleitung (dissonante Klangverbindungen; Tutti-‚Schläge‘ im
Fortissimo)
Hauptteil = düsterer Marsch (Allegro pesante; Begleitmuster: Basstöne mit nachschlagenden
Akkorden; Tongeschlecht: Moll; Hauptthema in scharf punktierten Rhythmen)
wiederholt hörbar: Wirbel der kleinen Trommel (= Instrument mit militärischem Hintergrund)
2. Das junge Mädchen Julia op. 64b Nr. 2
Prokofjews Musik charakterisiert Julia. Überlegt Euch, welchen Charakter ein Mädchen hat, zu dem
diese Musik passt.
Auffällig in der musikalischen Gestaltung sind die Wechsel zwischen raschen, bewegten (sozusagen
fröhlichen) und lyrischen (eher nachdenklich-gefühlvollen) Passagen. In der Balletthandlung „erlaubt
sich [Julia] mit ihrer Amme allerlei Streiche.“12
3. Szene op. 64a Nr. 2
Prokofjew hat sich für diese Szene ein einfaches Thema ausgedacht, das so oder so ähnlich
nacheinander von verschiedenen Blasinstrumenten gespielt wird.
Welche Instrumente sind das?
Antwort:
2 Fagotte (unisono) – [Violine (erst solo, dann im Chor)] – 2 Fagotte (unisono) – Oboe (solo) – 2
Fagotte (unisono) – [zusammen mit Klavier und gezupften Violinen:] Flöte und Klarinette – 2 Fagotte
(unisono)
12
Regitz/Regner/Schneiders 1988, S. 516.
10
4. Tanz op. 64b Nr. 4
In welcher Taktart tanzen die Gäste: a) 2/4-Takt b) 3/4-Takt?
Antwort: 2/4-Takt.
5. Masken op. 64a Nr. 5
Während dieses Satzes (vor allem zu Beginn und am Ende) ist immer wieder ein einzelnes
Holzblasinstrument zu hören. Prokofjew hatte es schon in Peter und der Wolf zur Charakterisierung
eines Tiers verwendet, das sich besonders geschickt heimlich und leise bewegen kann. Welches
Instrument ist es?
Antwort: die Klarinette. (Das Tier ist die Katze.)
6. Romeo und Julia (Balkonszene) op. 64a Nr. 6
Dieser Satz beginnt sehr leise und intim, wie es sich für ein heimliches Treffen gehört. Nach einer
kurzen Störung – man merkt, dass Romeo und Julia sich anfangs nicht ganz sicher fühlen – scheinen
alle Gefahren vergessen. Mehrmals schwingt sich die Musik zu großen Steigerungen auf, wie man sie
heutzutage auch aus der Filmmusik kennt.
Versucht, dem Satz von Anfang bis zum Ende aufmerksam zuzuhören. Liebende brauchen Zeit
füreinander!
7. Tybalts Tod op. 64a Nr. 7
Prokofjew hat für diese Szene eine wilde, dissonante Musik geschrieben, in der es auch rhythmisch
zum Teil ziemlich chaotisch zugeht. Am Schluss spielt das Orchester einen Trauermarsch für Tybalt. Er
steht in einer Taktart, die für Märsche sehr untypisch ist. Was für eine Taktart ist es?
Antwort: Es handelt sich um einen 3/4-Takt.
Gut zu verfolgen ist der ostinate Rhythmus des Marsches:
8. Tanz der Mädchen von den Antillen op. 64b Nr. 6
Die Antillen sind eine Inselgruppe in der Karibik. Mit der Geschichte von Romeo und Julia haben sie
nichts zu tun. Der Titel des Satzes macht aber auf die zum Teil exotischen Percussion-Instrumente
aufmerksam, die hier zum Einsatz kommen. Welche Percussion-Instrumente sind das?
Antwort: Tamburin und Maracas im Wechsel. Später kommt die Große Trommel dazu. (Übrigens ist
auch das Saxophon ist in diesem Satz wieder solistisch zu hören.)
9. Romeo und Julia beim Abschiednehmen op. 64b Nr. 5
Wie in der Balkonszene brauchen Romeo und Julia auch für ihren Abschied eine Menge Zeit. Die
Zuhörer müssen also etwas Geduld mitbringen. Am Beginn des Satzes hat Prokofjew einem
Holzblasinstrument eine wichtige Solostimme gegeben. Welches Instrument ist das? Nach ungefähr
einer Minute bekommt das Blasinstrument ‚Verstärkung‘ durch ein besonders ‚lieblich‘ klingendes
Schlaginstrument. Welches?
Antwort: Flöte; Celesta.
11
Am Ende ihrer letzten gemeinsamen Nacht führen Romeo und Julia bei Shakespeare eine berühmte
gewordene Diskussion. Sie haben vor dem Fenster einen Vogel singen hören. Romeo sagt: „Es war die
Nachtigall, und nicht die Lerche.“ Das soll heißen: Es ist noch Nacht, und also noch Zeit. Julia
antwortet aber: „Die Lerche war’s, die Tagverkünderin.“ Und das heißt: Romeo und Julia müssen sich
nun trennen. Bei Prokofjew klingt der zweimalige Vogelruf am Ende des Satzes weder wie eine
Nachtigall, noch wie eine Lerche – eher wie ein alter Wecker. Durch welchen Instrumentaleffekt
kommt dieser ‚Weckruf‘ zustande?
Antwort: Es handelt sich um eine Kombination aus Piccoloflöte, die mit Flatterzunge spielt, und
Violintremolo.
10. Romeo an Julias Grab op. 64b Nr. 7
Überlegt, wie eine Musik klingen könnte, die zu einem am Grab seiner Geliebten trauernden jungen
Mann passt. Passt Prokofjews Musik zu Euren Vorstellungen?
Prokofjew hat für diese Szene eine Musik der Kontraste geschrieben: In hoher Lage ‚klagende‘
Violinen versus ‚dumpfe‘ Bläserklänge, besonders drastisch am Ende des Satzes. Falls die
Erwartungen der Schülerinnen und Schüler von Prokofjews Musik abweichen, kann man eventuell
darauf hinweisen, dass ein Großteil der Musik, die Prokofjew für diesen Satz verwendet, im
originalen Ballett während der Beisetzung Julias erklingt. Dies erklärt die Trauermarschmusik in der
Mitte des Satzes (bei etwa 2‘00‘‘: Kleine Trommel und Blechbläser; bei etwa 3‘45‘‘, Kleine Trommel,
dann Blechbläser und Große Trommel).
Ein Happy End erfinden…
Ursprünglich hatte Prokofjew geplant, das Ballett mit einem Happyend schließen zu lassen.13 Letztlich
orientierte er sich aber am Shakespeare’schen Original, das mit dem Tod beider Liebender endet:
Romeo nimmt aus Gram über Julias scheinbaren Tod Gift; Julia ersticht sich aus Kummer über
Romeos wirklichen Tod.
Da die Satzfolge der Echtzeit am 24. Mai mit Romeos Trauer am Grab Julias endet, wäre ein
glückliches Ende immerhin noch denkbar.
Die PPT-Datei Satzfolge schließt deshalb mit folgender Aufgabe:
Erfindet ein Happyend!
Überlegt Euch: Wie müsste die Geschichte weitergehen, damit sie ein glückliches Ende nimmt? Also:
Romeo kniet traurig neben der aufgebahrten Julia nieder. Und dann … ?
13
Vgl. Streller 2003, S. 205.
12
Prokofjews Marsch Die Montagues und die Capulets
Die folgenden Aufgabenstellungen finden sich in der separaten PPT-Datei ‚Nahbare Moderne‘:
Prokofjews Marsch Die Montagues und die Capulets.
Sie regen Schülerinnen und Schüler dazu an, sich aktiv mit einem der berühmtesten Sätze aus
Prokofjews Romeo und Julia-Musik auseinanderzusetzen und personalstil-typische Eigenheiten dieser
Musik kennenzulernen.
Folien 2–6: Die folgenden Folien dienen als Vorlage zum gemeinsamen Musizieren der Bassstimme zu
Prokofjews Marsch (z.B. mit Boomwhackers). Die Melodie des Kinderlieds kann gesungen oder von
der Lehrkraft vorgespielt werden. Der Marsch kann von CD erklingen oder ebenfalls vorgespielt
werden.
Sergej Prokofjew ist ein Komponist der ‚Moderne‘. Deshalb klingt seine Musik manchmal dissonant
und ‚wild‘ (was zur dramatischen Geschichte von Romeo und Julia gut passt). Aber manches an seiner
Musik wirkt auch vertraut: viele Stellen gehen ‚leicht ins Ohr‘. Das liegt daran, dass Prokofjew häufig
ganz traditionelle Gestaltungsmittel verwendet. Seine Musik ist eine raffinierte Mischung: teils
kompliziert, teils einfach! Am Marsch der Montagues und Capulets kann man das gut sehen. Am
Anfang funktioniert er ähnlich wie ein einfaches Kinderlied. Später wird’s dann komplizierter.
Hier sieht man eine Fassung des Kinderlieds Brüderchen, komm tanz mit mir14.
Man kann sie leicht mithilfe der drei Hauptstufen I, IV und V begleiten. In der Tonart E-Dur sind das
die Töne E, A und H.
Der Marsch der Montagues und Capulets steht in e-Moll. Man kann ihn am Anfang ganz ähnlich
begleiten wie das Kinderlied:
14
Fassung nach Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel, 1. Bild.
13
Danach wird’s dann komplizierter:
In den Takten 7 und 8 spielt der Bass eine chromatische Tonfolge, also eine Tonfolge, die nur
Halbtonschritten besteht. Solche Tonfolgen können den Hörer verwirren: Er weiß dann nicht mehr
genau, in welcher Tonart er sich befindet.
Hinweis: In T. 1–4 beschränkt sich die Basslinie auf die Grundtöne der von Prokofjew geschriebenen
Wechselbassstimme. In T. 5 entspricht sie dann der vom Komponisten tatsächlich geschriebenen
Bassstimme: Eine vergleichbare Reduktion ist dort nicht mehr ohne Weiteres möglich.
Vorlage für einen kompletten Musizierdurchgang der Bassstimme zu Prokofjews Marsch:
Folien 7–9 Der Marsch der Montagues und der Capulets beginnt nach einer kurzen Einleitung mit einem
wuchtigen Motiv. Welche Instrumente spielen dieses Motiv, wenn es zum ersten Mal erklingt?
Antwort:
Violinen und Klarinetten (schwer zu hören).
Im Verlauf des Marsches tritt ein weiteres Motiv auf. Benennt die Instrumente, von denen dieses
Motiv beim ersten Auftreten gespielt wird.
Antwort:
(vier) Hörner unisono.
14
Die Art, in der diese beiden Motive gestaltet sind und im Marsch verwendet werden kann man als
musikalische Umsetzung eines Konflikts zwischen zwei Parteien hören. Inwiefern?
Mögliche Antworten:
Beide Motive tragen zum düster-martialischen Charakter des Marsches bei (vgl. PPT-Datei
Satzfolge).
Die beiden Motive sind unter bestimmten Aspekten gegensätzlich gestaltet:
Motiv 1: zackig punktierter Rhythmus; fanfaren-artige gebrochene Dreiklänge;
Tonart e-Moll;
Motiv 2: gleichmäßigen Achtelnotenwerte; Tonhöhenverlauf in Schritten; Tonart d-
Moll.
Wenn Motiv 2 auftritt, sind in den Streichern immer noch Partikel von Motiv 1 zu hören, so
als ob beide gleichzeitig um die Aufmerksamkeit des Hörers kämpfen.
Folien 10–11: Die düstere Marschmusik erscheint in diesem Stück zweimal; dazwischen steht ein musikalisch ganz
anders gearteter Mittelteil. Benennt Unterschiede der musikalischen Gestaltung zwischen dem
Marsch und dem Mittelteil.
Mögliche Antworten:
ungerader Takt (3/4-Takt)
Tempo langsamer (Moderato tranquillo)
Dynamik leiser (vorgezeichnet sind piano und pianissimo).
Instrumentierung zart und hell (gut hörbar: Soloflöte und Celesta).
Dennoch erinnern einige Gestaltungsmittel an die bedrohliche Ausgangssituation, z.B. in den Wirbeln
der kleinen Trommel.
Die von der Solo-Flöte gespielte Melodie ähnelt dem Motiv 1 des vorangegangenen Marsches.
Inwiefern?
Antwort: gebrochene Molldreiklänge
im Tonhöhenverlauf.
Folie 12:
Nach dem Mittelteil erklingt der bereits gehörte Marsch in veränderter Weise. Zum Beispiel wird das
markante Motiv 1 nun von einem Instrument eingeführt, das bisher noch nicht zu hören war. Wie
heißt dieses Instrument? Tipp: Im klassischen Symphonieorchester ist es eher selten zu finden - in Jazz-
Bands hingegen häufig.
Antwort:
Solo-Saxophon
15
Checkliste Romeo und Julia Auf der separaten pdf-Datei findet sich ein Arbeitsbogen, der dazu auffordert, die Satzfolge der
Echtzeit am 24. Mai selbstständig in die richtige Reihenfolge zu bringen. Beim Ausfüllen des
Arbeitsbogens werden die einzelnen Stationen der Balletthandlung wiederholt und den jeweiligen
Satztiteln zugeordnet. Wer diese Checkliste ausgefüllt hat, dem wird es leichter fallen, die Satzfolge
wie ‚Programmmusik‘ zu hören und während des Konzerts die Geschichte von Romeo und Julia in der
Phantasie mit zu verfolgen. Hier der Lösungsbogen zur Checkliste:
16
Anhang
1. Abbildungsnachweis
S. 1: Maria Karpova und Danila Steklov (Moscow Art Theater Studio School) in Romeo and Juliet:
https://www.br-klassik.de/programm/sendungen-a-z/mittagsmusik/koenigskinder-paare-100.html
S. 4: Sergej Prokofjew: http://www.br-so.de/education/schueler-und-lehrer/echtzeit/
2. Literaturhinweise
Hartmut Regitz/Otto Friedrich Regner/Heinz-Ludwig Schneiders, Reclams Ballett-Führer, Stuttgart:
Reclam 1988
Ina Schabert: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt, Stuttgart:
Kröner 2000
Thomas Schipperges: Artikel Prokov’ev, Sergej Sergeevič, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart.
Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. neubearb. Ausg., hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 13,
Bärenreiter/Metzler, Kassel u.a. 2005, Sp. 962–987
Friedbert Streller: Sergej Prokofjew und seine Zeit, Laaber: Laaber 2003