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Nr. 1842

Ein kleiner Freund

Er ist ein Fremder - ein Wesen, dasman lieben mu

von Hubert Haensel

Während Perry Rhodan und Reginald Bull sich in der fremden Galaxis Plantagoobehaupten müssen und Alaska Saedelaere in Tolkandir grauenvolle Erkenntnisse er-langt, geht die unheimliche Invasion in der Menschheitsgalaxis weiter. Im Frühjahr1289 Neuer Galaktischer Zeitrechnung haben sich über 200.000 Raumschiffe der so-genannten Tolkander in der Milchstraße angesammelt.

Die Besatzungen dieser Raumschiffe - die Neezer, Gazkar, Alazar und Eloundar -eroberten rund 300 Planeten und riegelten sie von der restlichen Galaxis ab. Die Be-wohner dieser Welten - auch Brutplaneten genannt werden von den Tolkandern als»Bund« bezeichnet, wurden offenbar für einen geheimnisvollen Zweck benötigt, denbislang noch kein Galaktiker richtig herausfinden konnte.

Chaeroder und Physander erschienen als weitere Völker der Tolkander und botenFriedensgespräche an. Im Verlauf dieser Gespräche wurden die galaktischen Dele-gationen nahezu komplett ermordet.

Und dann erfolgt die grauenvolle Todeswelle auf 52 der Brutplaneten: Millionenund aber Millionen Menschen aller galaktischen Völker sowie der Tolkander sterben.Nach Abschluß dieser merkwürdigen Vorgänge ziehen sich die Tolkander in den Ku-gelsternhaufen 47 Tucani am Rand der Galaxis zurück. Und auf Olymp manifestiertsich EIN KLEINER FREUND …

Die Hautpersonen des Romans:Ilara Clandor - Ein Mädchen von Olymp trifft einen geheimnisvollen Unbekannten.Dindra und Ronald Clandor - Zwei Eltern verstehen die Welt im »Tower« von Olymp nicht mehr.Atlan - Der Arkonide erwartet den nächsten Schlag der Tolkander.Ansgur-Egmo - Der »starke Mann« von Topsid erhält unverhofften Besuch von Terra und Camelot.Jack - Ein fremdes Wesen entzückt die Menschen auf Olymp.

Prolog

Wie ein Funke inmitten ewiger Finsternisentstand ein einziger Gedanke:

»Ich!«In dem Moment begann das Leben. Mit

dem Erkennen der eigenen Existenz. DerGedanke wuchs, wurde umfassender und al-les beherrschend.

»Ich bin …«Mit einem Aufschrei der Gefühle tauchte

er ein in die atemberaubende Vielfalt desSeins. Ringsum pulsierte üppiges Leben.

Ein Schwall von Wissen explodierte inseinen Gedanken, ein wahres Furioso ausErinnerungen und Erfahrungen. Gierig soger alles in sich auf. Die Fülle der Informatio-nen drohte ihn zu ersticken, sie erzeugteFurcht - ein neues und wenig schönes Ge-fühl.

Seine Anspannung entlud sich in einemgequälten Aufbäumen. Er reagierte instink-tiv, und was er eben noch wahrzunehmengeglaubt hatte, war jäh wie weggewischt.Die Umgebung hatte sich gedankenschnellverändert.

Dies war nicht der Ort seiner Geburt. Ausder Furcht wurde Unbehagen, und die Er-kenntnis, diesmal wirklich allein zu sein,ließ neue Furcht wachsen.

»Wo bin ich?«Ein Reflex hatte ihn dazu gezwungen, sei-

ne Heimat zu verlassen. Hier war allesfremd und schwer verständlich, hier gab esniemanden, der ihn erwartete und ihn lehrte,wie das Leben war.

Oder doch?Mit jedem Atemzug glaubte er deutlicher

wahrzunehmen, daß in seiner Nähe intelli-gente Wesen unterschiedlichen Tätigkeiten

nachgingen. Sie würden ihm die Hilfe zu-kommen lassen, auf die er angewiesen war.

1.

»… und wenn der Roboter nicht verrostetist, funktioniert er noch heute.« Schrill un-terbrach Ilara Clandor die Syntronstimme,die aus unsichtbaren Akustikfeldern erklang.»Diese Märchen sind blöd. Ich will andereGeschichten hören. Von Menschen undBlues und Gurrads.«

Sie starrte hinüber zu dem s-förmig ge-schwungenen WAndrégal, auf dem, sauberaufgereiht, gut zwei Dutzend Puppen desak-tiviert warteten. Die Löwenmähnigen hattenes ihr angetan, ebenso die zerbrechlich wir-kenden Perlians. In ihren Träumen wurdendiese Puppenlebendig und redeten mit ihr,wie die Erwachsenen es nie taten.

»Anson Argyris hat wirklich existiert«,fuhr der Servounbeeindruckt fort. »Er warein treuer Freund der Menschheit und …«

»Märchen!« Ilara schlug sich die Händevors Gesicht. Sie wollte die holografischeDarstellung nicht mehr sehen, diese Maschi-ne in Menschenmaske, mit schwarz gekräu-seltem, zu zwei Zöpfen geflochtenem Bart.Seit sie sechs Jahre alt geworden war - ihrGeburtstag vor einer Woche war das schön-ste Fest seit langem gewesen -,sehnte siesich nach Aufregenderem. Mit sechs war siegroß genug und brauchte nicht mehr auf alleVerbote der Erwachsenen zuhören.

Vorsichtig blinzelte sie zwischen zweiFingern hindurch. Er war noch da, der bärti-ge Roboter, und er blickte sie unverwandtan.

Ilara stampfte mit dem Fuß auf. Die Er-schütterung nahm der Servo als Zeichen, mitdem Programm fortzufahren.

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»Was soll ich dir erzählen, Ilara? Die Ge-schichte von Michael Rhodan, der als RoiDanton die Freihändler …?«

»Nein!« stieß das Mädchen hervor. »Dasist langweilig.«

Die zwei Meter große, breitschultrige Ge-stalt beugte sich zu ihr herab.

»Womit kann ich dir eine Freude machen,kleine Ilara? Was willst du hören?«

»Ich bin nicht mehr klein!« stieß sie trot-zig hervor. »Ich bin schon sechs.«

»Natürlich, mein Mädchen …«»Ich bin auch nicht dein Mädchen. Erzähl

mir vom Sternengeist.«Manchmal bereitete es ihr unsagbares

Vergnügen, allem zu widersprechen. Ein-fach nur so, grundlos. Dann fühlte sie sichstark. So wie jetzt.

»Der Sternengeist ist ein Trividpro-gramm«, erklärte der Servo. »Aus rechtli-chen Gründen verfüge ich über keine solcheSpeicherung.«

Ilara seufzte betont.»Komm, Pluto! Fuß!«Sie strafte das Hologramm mit Nichtach-

tung und verließ den Wohnraum. Pluto folg-te ihr schwanzwedelnd. Illie hatte den Hundvon Ron zum Geburtstag bekommen - einkleiner weißer Pudel, der von einem richti-gen Hund kaum zu unterscheiden war.

»Öffnen!« befahl sie.»Es ist jetzt zwölf Minuten nach zweiund-

zwanzig Uhr«, sagte der Servo. »Du darfstmorgen die Wohnung verlassen, Ilara, heutenicht mehr.«

Pluto begann mit beiden Vorderpfoten ander Tür zu kratzen.

»Ich gehe mit dem Hund nach draußen«,protestierte Ilara. »Er muß mal. Außerdembin ich gar nicht müde.«

Der Servo schwieg.»Hast du nicht gehört? Pluto muß zu sei-

nem Lieblingsbaum.«»Geh bitte schlafen, Ilara.«Trotzig drückte sie ihre Hand auf die

Kontaktfläche des Türöffners. Aber nichtsgeschah. Lediglich Pluto bellte leise. Erschien zu spüren, daß sie eingesperrt waren.

»Still!«Er gehorchte aufs Wort. Ilke kraulte ihm

dafür das Nackenfell. Wie weich er sichdoch anfühlte, wie warm, gar nicht wie einRobotspielzeug.

»Du versäumst nichts, Ilara.«Erwachsenengeschwätz! Natürlich ver-

paßte sie viel. Eine Nacht konnte endloslang sein. Und nachts kamen die Geister, diezwischen den Sternen lebten, und nur Kin-der konnten sie sehen und mit ihnen reden.Diese Geister verstanden es, sich unsichtbarzu machen. Illie bewunderte das feuerroteHaar der kleinen Wesen - erst vor zweiStunden war im Trivideo die neueste Folgegezeigt worden.

An ihrem Geburtstag hatte sie das Kode-wort aufgeschnappt, mit dem Ron den Servoabschaltete. Sie sprach es wie ein Zauber-wort aus.

Diesmal reagierte der Öffnungskontakt.Augenblicke später stand das Mädchendraußen auf dem breiten Korridor. Hieroben, in fast sechshundert Meter Höhe,herrschte eine ungewohnte Ruhe. Niemandwar zu sehen. Die Leuchtplatten in derDecke verbreiteten nur ein fahles Dämmer-licht.

»Wohin gehen wir, Pluto? Was meinstdu?«

Der Robothund rieb seinen Kopf an ihrenBeinen.

»Ich weiß. Wir besuchen Anne. Einver-standen?«

Anne war eine ihrer Freundinnen aus demHort, und Anne war vor fünf Standardmona-ten sechs geworden. Ilara beneidete sie des-halb. Auch weil Anne schon viel von denSternen gesehen hatte. Oft erzählte sie, daßsie auf Terra geboren, aber bald darauf aufeine neu erschlossene Siedlungswelt umge-zogen war. Dort hatte nicht einmal eine rich-tige Stadt existiert. Ihr Vater war Transmit-tertechniker wie Ron. Wohnten auf Olympüberhaupt Menschen mit einem anderen Be-ruf?

Der Korridor mündete in die Hauptstraße,die von den Anwohnern ihres Charakters

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wegen so genannt wurde. Tatsächlich han-delte es sich um einen überaus breiten, vonBüschen, Bäumen und blühenden Pflanzenbewachsenen Korridor. Für Verkehrsmittelwar er nicht zugelassen. Lediglich zweiTransportbänder in gegenläufige Richtungenermöglichten es, doppelte Schrittgeschwin-digkeit zu erreichen.

»Hopp, Pluto! Stell dich nicht so dumman.«

Der Hund hatte Probleme, auf das Bandaufzuspringen. Wiederholt blieb er mit zweiPfoten auf dem festen Boden zurück, bis erwinselnd umkippte und Ilara ihn auf denArm nahm.

»Ron muß dein Programm verbessern.«Sie kraulte das Fell. »Ich will, daß du Kunst-stücke lernst.« So wie Annes Chiuwaha, einexotischer, armlanger Fünfzigfüßer, der esmittlerweile schaffte, ohne zu stolpern rück-wärts zu gehen oder nur auf einem Teil sei-ner vielgelenkigen Beine.

Eine Gruppe Umweltangepaßter kam ihrauf der anderen Straßenseite entgegen. Ihrdröhnendes Gelächter war weithin zu ver-nehmen. Die Kerle mit den sichelförmigenHaarkämmen machten Ilara angst, doch siebeachteten sie nicht einmal. Erst nach einerWeile wandte das Mädchen sich nach ihnenum. Ertruser erschienen ihr wie die bösenRiesen aus den uralten Sagengeschichten.Was wollten sie hier oben auf der Wohneta-ge? Neue Nachbarn?

Pluto begann in ihren Armen zu stram-peln, sie setzte ihn wieder ab. Vor ihr weite-te sich die Straße zu einer ausgedehntenParkanlage. Die Wohnungen hier verfügtenüber große Balkons, die zum Teil schon fastvon den weit ausladenden Baumkronen be-rührt wurden. Sieben Etagen lagen überein-ander, und den Abschluß bildete eine ge-wölbte Kuppel, die den Himmel über Olymperkennen ließ. Für einen Moment suchte Ila-ra nach vertrauten Sternbildern, aber dasStreulicht über Trade City ließ nur einigebesonders helle Sterne erkennen.

Zwei Stockwerke nach oben. Illie war zubequem, die Rampe zu benutzen, sie ließ

sich von dem für größere Lasten vorgesehe-nen Antigravfeld in die Höhe tragen. EinSchwarm Vögel flatterte auf. Die Erbauerdes Silos hatten Wert auf ein möglichst na-türliches Umfeld für die Bewohner desWohnturms gelegt. Zwanzigtausend Woh-nungen - Ilara Clandor konnte mit der Zahlnoch nichts anfangen, assoziierte sie aberimmerhin mit »wahnsinnig viel«.

Annes Eltern waren wohlhabend, das er-gab sich schon aus der Lage ihrer Wohnung,von der Größe ganz zu schweigen. Nicht,daß Ilara unzufrieden gewesen wäre, ganzund gar nicht, aber sie kam gerne hierher,weil der Ringkorridor zu einer der gläsernenAußenfronten führte, von denen aus TradeCity weit zu überblicken war. Ilara stand oftnur da und drückte sich staunend die Naseplatt.

Auch diesmal konnte sie nicht widerste-hen. Trade City in der beginnenden Nachtwar ein überwältigender Anblick. BoscyksStern war bereits hinter dem Horizont ver-sunken, nur noch verwehende Schleier desAbendrots geisterten über den Himmel. Eintiefes Purpur und - dem Zenit entgegen - dieSchwärze der Nacht bestimmten das Bild.

Die Stadt selbst hüllte sich in ein gleißen-des Lichtermeer, das im Norden an den Ge-birgshängen emporschwappte. Oft verschlei-erten Wolken die Sicht, doch heute war derHimmel klar. Ilara konnte in die Straßen-schluchten hinabblicken, in denen das Lebenauf vielen Ebenen pulsierte. Gleiter zogenmit blinkenden Positionslichtern gemächlichdahin, Laserstrahlen zeichneten Werbespotsans Firmament. Pluto begann zu knurren, alsnur wenige Kilometer entfernt ein riesigerweißer Pudel entstand. Mühsam entzifferteIlara die Werbeschrift - bewegte Bilder hat-ten sie schon immer mehr gereizt alsstumpfsinnige Buchstaben.

»Schenkt eurem Kind Freude! Ein Robo-thund bringt den Umgang mit Tieren spiele-risch nahe.«

Ein Stern fiel herab, gleich darauf einzweiter, ein dritter … große Kugelraumer,Frachtschiffe, die aus der Milchstraße ka-

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men. Ilara atmete hastiger, und ihr Atem be-schlug die Scheibe. Mit beiden Händendrückte sie gegen das Glas. Wie Stern-schnuppen zogen die Schiffe über Trade Ci-ty hinweg, sie senkten sich dem Raumhafenentgegen.

»Wenn ich groß bin, fliege ich mit einemsolchen Schiff«, flüsterte Illie. Pluto legteden Kopf schräg und schien ihren Worten zulauschen. »Ich will die Sterne sehen, sie sindschön.«

Viel zu schnell verschwanden die Kugel-raumer aus ihrem Blickfeld. Ilara suchte denHimmel nach weiteren Schiffen ab; sie rea-gierte enttäuscht, als sie keine fand. TradeCity war auf einmal nicht mehr interessant.

»Komm!« Sie stieß sich ab und hastetevor Pluto her. Hinter ihr verwischten die fet-tigen Fingerabdrücke auf der selbstreinigen-den Beschichtung der Scheibe.

Keinen Gedanken verschwendete Ilara andie Uhrzeit, als sie den Türmelder der Mol-transschen Wohnung betätigte. Wie ge-wöhnlich preßte sie ihre Handfläche mehr-mals hintereinander auf den Sensor.

Endlich verriet die aufleuchtende Kontrol-leiste, daß jemand zu Hause war. Der kleineBildschirm blieb allerdings dunkel. »Illie«,erklang die Stimme von Annes Mutter. »Bistdu allein?«

»Pluto ist bei mir. Wir wollen mit Annespielen.«

Ein kurzes Zögern. Dann: »Weißt du, wiespät es ist?«

»Zehn, glaube ich.«»Elf Uhr durch. Anne schläft längst.«»Entschuldigung«, murmelte Ilara.»Daß deine Eltern dich so spät noch ge-

hen lassen. Wissen sie, wo du bist?«»'türlich«, murmelte das Mädchen und biß

sich auf die Unterlippe.»Warte!« erklang es aus dem Akustikfeld.

»Ich lasse dich gleich herein, und dann rufenwir Ron und Dindra an, daß sie dich abholensollen.«

Ilara schluckte schwer. Mit einemmalwurde ihr klar, daß ihr Ärger bevorstand.Das mindeste war, daß sie Trivideo-Verbot

erhielt.Sie warf sich herum und begann zu lau-

fen. Pluto blieb hinter ihr. Mit weit ausgrei-fenden Schritten hastete sie diesmal dieRampe hinunter.

»Illie!« hörte sie hinter sich rufen. »Wobist du, Illie? Sei vernünftig!«

Sybil Moltrans würde sie nicht mehr ein-holen. Ilara stolperte über die eigenen Füße.Das enge Rund machte sie benommen, sietorkelte und stürzte, versuchte vergeblich,sich noch abzufangen. Einen heiseren Auf-schrei ausstoßend, rutschte sie dem Rand derRampe entgegen, dahinter ging es minde-stens zehn Meter in die Tiefe. Der Schrecklähmte sie, aber dann, ganz sanft, wurde sievon einer unsichtbaren Hand aufgefangenund blieb unmittelbar vor dem Abgrund hän-gen. Aus weit aufgerissenen Augen starrtesie in die Tiefe.

Natürlich gab es Schutzvorrichtungen wiePrallfelder, damit kein Bewohner des Siloszu Schaden kam. Sie hatte nur einen Mo-ment lang nicht daran gedacht.

Mit rauher Zunge leckte Pluto über ihrGesicht. Illie schob den Robothund mit demUnterarm zur Seite.

»Nicht, Pluto, pfui! - Laß das, wir müssenweiter!«

Mitternacht war nahe. Wenn ihre Elternausgingen, kamen sie nie vor drei Uhrnachts zurück. Und warum sollte das ausge-rechnet heute anders sein? Ihr blieb also ge-nügend Zeit, sich umzusehen.

*

Die Leute im Expreßlift schauten sie for-schend an. Ilara bemühte sich, die Blicke zuignorieren; trotzdem war ihr unbehaglich zu-mute. Mindestens vierzig Personen hieltensich in der Kabine auf, die rasend schnell indie Tiefe glitt.

»Wohin so spät, kleines Mädchen?« frag-te ein bärtiger, kahlköpfiger Mann. Sein La-chen entblößte zwei Reihen stählerner Zäh-ne.

Illie schob trotzig die Unterlippe nach

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vorne.Der Mann ging vor ihr in die Hocke. »Ich

mag kleine Kinder«, sagte er. »Vor allemum diese Zeit.«

Illie wollte zurückweichen, aber hinter ihrwar die Kabinenwand.

»Ich bin nicht klein«, stieß sie trotzig her-vor. »Und ich habe keine Angst. Vor nie-mandem.«

»Auch nicht vor mir? Wirklich?«»Bist du ein Geist?«Die Leute lachten. Auch der mit den

künstlichen Zähnen stieß eine Reihe gluck-sender Laute aus.

»Nein, mein Kind, ich bin kein Geist. Nurein Handelsreisender, der in den letzten Jah-ren die halbe Galaxis gesehen hat. MeineTochter ist inzwischen ungefähr so alt wiedu - ich habe sie seit zwei Standardjahrennicht mehr gesehen.«

»He!« rief jemand von der anderen Seiteder Kabine. »Ich kenne dich doch. Du bistdie kleine Clandor, nicht wahr?«

Ilara seufzte bedrückt. Was ihr sonstFreude bereitete, gefiel ihr heute gar nicht.Manchmal war es schwer, bekannt zu seinwie ein karierter Mausbiber. Sie war oft imSilo unterwegs, eigentlich jeden Tag. Längsthatte sie die oberen hundert Etagen erforschtund jede Menge Bekanntschaften geschlos-sen.

»Ilara Clandor«, fuhr die Stimme aus demHintergrund fort. »Du warst letzte Wochemit deinem Vater beim Haupttransmitterund hast dir von mir alles erklären lassen.Erinnerst du dich nicht an mich? Mich wun-dert, daß Ron dich um Mitternacht noch al-lein umherziehen läßt. Wie alt bist du ei-gentlich?«

Der Lift stoppte.»Etage dreißig«, verkündete eine helle

Syntronstimme. »Einkaufspassage Nostal-gie-Basar.«

Illie spurtete los, bog in die nächsten Gas-se ein und ging hinter einem Stapel leererTransportbehälter in Deckung. Niemandfolgte ihr, und das war gut so, denn sie hattekeine Lust, neugierige Fragen zu beantwor-

ten. Ausgerechnet heute nicht.Seit der Trividsendung wußte sie, daß sie

heute wirklich einen Geist sehen würde.Aber wo? Bestimmt nicht in den oberen Be-reichen des Wohnturms, dort kannte sie je-den Winkel. Neu waren ihr nur die tiefenStockwerke, die Etagen, die weit unter dieErde reichten. In den dunklen Winkeln fühl-ten Geister sich wohl. Dorthin wollte sie.

In der Einkaufspassage herrschte rege Be-triebsamkeit. Es war leicht, einen Tag oderzwei auf dieser Etage zu verbringen unddennoch immer wieder Neues zu entdecken.Billiger Tand wurde ebenso angeboten wiesündhaft teure Gaumenfreuden, Erzeugnissevom anderen Ende der Milchstraße. Die Ge-schäfte erinnerten an Paläste aus Glas undLicht, aber es gab auch Straßenzüge, dieDindra als »billige Basare« bezeichnete. Voreinigen Wochen waren sie erst hiergewesen- Illie kratzten jetzt noch die unterschiedli-chen Aromen von Gewürzen und Früchtenin der Nase, eine Mischung, die ihr teilsÜbelkeit bereitet, ihr aber auch das Wasserhatte im Mund zusammenlaufen lassen.

Jetzt roch sie ihn wieder, diesen »Duft derSterne«, der selbst den perfekten Klimaanla-gen trotzte. Für einen Moment blieb sie ste-hen und schloß die Augen. Ihre kindlichePhantasie versetzte sie auf ferne Planeten.

Sie wurde angerempelt, sanft weiterge-schoben und tauchte ein in das Gewimmeldes Basars. Einfache Verkaufsstände, diesich unter der Last der aufgetürmten Früchtebogen. An anderer Stelle wurden die Warenauf Antigravplattformen angeboten. Illieverstand nicht, warum das so war, doch ihrgefiel der Trubel besser als die sterile Um-gebung in den Geschäften, in denen sie sogut wie nichts berühren durfte:

Im Vorbeigehen griff sie nach einer faust-großen roten Frucht. Die beiden Unither hin-ter dem Stand hatten gerade alle Hände undden Rüssel voll damit zu tun, ein halbesDutzend Käufer auf einmal zu bedienen.

»He!« rief einer der Verkäufer. »Die Ok-hariy kostet vier Galax!«

»Sauteuer!« maulte Illie. Aus flinken Au-

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gen schaute sie um sich. Der Unither mußtesehr schnell sein, wenn er sie erwischenwollte.

»Leg die Frucht zurück!«Ilara grinste breit. »Meine Mutter zahlt«,

sagte sie und biß in die Okhariy hinein, daßder klebrige Saft über ihr Kinn tropfte.Kopfnickend deutete sie auf die rundlicheältere Dame, die eben ein Büschel armlangerGewürzgräser zusammenbinden ließ.

Natürlich begriff die Frau nicht, was derUnither von ihr wollte. Und als beide end-lich verstanden, hatte Ilara schon einen aus-reichend großen Abstand gewonnen.

»Bleib stehen!« trompetete der Unither,doch er hatte keine Chance mehr, sie einzu-holen. Illie verschwand in der Menge.

Die Frucht war so klebrig wie Honig, abersie schmeckte ausgezeichnet und stillte Hun-ger und Durst gleichermaßen. Die kugelför-migen Samenkörner warf Illie in einen Ab-fallvernichter. Gleichzeitig fiel ihr Blick aufdas Leuchtband einer Datumsanzeige:

1. Mai 1289 NGZ, 23.58 Uhr Ortszeit.Sie mußte sich beeilen.In dem Moment schloß sich eine kräftige

Hand um ihre Schulter; Illie spürte denDruck von drei Daumen.

»Ronald Clandors Tochter stiehlt Obstund wer weiß, was noch«, sagte eine schrilleStimme. »Hat Ron das nötig?«

Vergeblich versuchte sie, sich aus demGriff zu befreien, erreichte aber nur, daß ei-ne zweite Hand ihren linken Oberarm um-klammerte.

»Ich habe nichts gestohlen«, protestiertesie. »Der Unither hat mich kosten lassen.«

»Du kannst mich nicht für dumm verkau-fen.«

Der Fremde mit der schrillen Stimme zogsie zu sich herum. Illie schnappte erschrecktnach Luft. Ausgerechnet Yütürüm, einNachbar, der sich schon mehrfach über siebeschwert hatte. Der Blue stieß eine Reihefür sie fast unhörbarer Laute aus, dann beug-te er sich zu ihr herab. Ganz dicht schwebtesein rosafarbener Tellerkopf vor ihrem Ge-sicht, der Blick der geschlitzten, katzenartig

schillernden Augen schien sie schier durch-bohren zu wollen.

»Au!« stöhnte Illie. »Du tust mir weh.«Sie dachte an die schwarze Farbe, mit der

sie die Scheiben von Yütürüms Wohnungbemalt und die sogar dem Reinigungsme-chanismus getrotzt hatte. Eigentlich hatte siedem Blue nur eine Freude bereiten wollen.Auch Ron hatte ihr nicht geglaubt, daß dievermeintliche Schmiererei Gatas darstellensollte, wie Illie Yütürüms Heimat von einerTrividsendung in Erinnerung behalten hatte.

Zwei Wochen Zimmerarrest waren fürIlara die schlimmste Strafe gewesen, die siesich vorstellen konnte. Zwei Wochen langauf ihre Exkursionen durch den Silo verzich-ten zu müssen, das hatte sie eine Zeitlangnicht verkraftet. Aber sie hatte dem Blue da-für ein Dutzend Stiggfalter in die Wohnunggeschmuggelt, lästige Insekten, die ihre Eierin blauen Blumen ablegten. In der Wohnungdes Gatasers war das einzig Blaue sein Kör-perflaum. Da eine zweite Bestrafung ausge-blieben war, schien Yütürüm die Herkunftder Plagegeister nie herausgefunden zu ha-ben.

Die Sprechöffnung im Hals des Teller-kopfes bewegte sich hektisch.

»Laß mich los!« ächzte Illie.»Weiß Ronald Clandor, daß seine Tochter

stiehlt? Ich habe den Eindruck, nach der Sa-che mit den Stiggfaltern hat er nicht fest ge-nug durchgegriffen. Die menschliche Kin-dererziehung ist zu lasch - ich hätte dir dafürdas Fell über die Schultern gezogen.«

Für einen Moment war Illie sprachlos.Ron wußte also von der Geschichte. Aberwarum hatte er sie nie zur Rede gestellt?Weil er Yütürüm ebenfalls für unausstehlichhielt?

Der Blue zog sie mit sich. Bestimmt wür-de er sie erst im Beisein ihrer Eltern loslas-sen. Ilara verwünschte den Augenblick, indem sie auf die Idee gekommen war, ausge-rechnet heute Abenteuer erleben zu wollen.

»Pluto, faß ihn!« stieß sie hervor. »Er tutmir weh.«

Der Robothund zog die Lefzen hoch.

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Doch das war alles. Seine Programmierungwar lächerlich banal.

»Ich kann alleine laufen!« protestierte siegleich darauf.

Der Blue reagierte nicht.»Es - es tut mir leid, Yütürüm.«Er war stur. Ein Einzelgänger, der sich

noch mit keinem Nachbarn angefreundethatte.

»Ißt du wirklich lebende Würmer?«Kaum einer der vielen Passanten achtete

auf sie. Noch schreckte Illie davor zurück,Zeter und Mordio zu schreien, aber sobaldder Blue mit ihr den nächsten Lift betrat,würde es zu spät sein. Sie begann zu verste-hen, daß sie diesmal zu weit gegangen war.

»Hilfe!« brüllte sie aus Leibeskräften. »Sohelft mir doch!«

Abrupt standen Yütürüm und sie im Mit-telpunkt des Interesses. Drei, vier Männerstellten sich dem Blue in den Weg.

Ilara verstand nicht, was sie sagten, in ih-rem Schädel dröhnte das Blut wie ein gigan-tischer Wasserfall. Wie aus weiter Fernehörte sie Pluto heiser bellen, und irgendwieregistrierte sie, daß immer mehr Gesichterringsum erschienen. Alle redeten aufYütürüm ein, der schrille Laute ausstieß.

Sein Griff löste sich.Jemand rief nach dem Sicherheitsdienst.

Illie achtete nicht darauf. Mit aller Kraftbahnte sie sich einen Weg zwischen denUmstehenden hindurch.

»Da vorne ist mein Dad!«Sie hatte einen Ertruser erspäht. Mit bei-

den Armen winkend, hastete sie ihm entge-gen. Bis die Umstehenden ihre Verblüffungüberwunden hatten und begriffen, daß derzweieinhalb Meter große Koloß niemalswirklich ihr Vater sein konnte, war ihr Vor-sprung schon groß genug.

Pluto lief neben ihr.Zwanzig Meter bis zum nächsten Anti-

gravschacht. Aus vollem Lauf heraus sprangIllie in das abwärts gepolte Feld.

Bereits zwei Stockwerke tiefer verließ sieden Lift wieder. Niemand war ihr gefolgt.Vorübergehend ließ sie sich in die Hocke

nieder und umarmte den Robothund.»Ich will doch keinen Ärger, Pluto.« Sch-

niefend zog sie die Nase hoch. Die Tränen,die sich in ihren Augenwinkeln einnistenwollten, wischte sie mit dem Handrückenab.

Flüchtig spielte sie sogar mit dem Gedan-ken, umzukehren und sich ins Bett zu legen,als wäre nichts gewesen. Aber abgesehendavon, daß nicht einmal Dinnie ihr glaubenwürde, wollte sie jetzt nicht zurück.

Ungeduldig stampfte sie auf.Sie wollte einen Sternengeist sehen, nicht

nur in den Trividmärchen, sondern wirklich.Sie wollte ihm gegenüberstehen, ihn sogarberühren.

Warte auf mich, dachte sie inbrünstig. Bit-te warte auf mich!

Wenn ihr Gefühl nicht trog, blieb ihr nichtmehr viel Zeit. Geister erschienen immernur für eine Stunde.

2.

Illie war aufgeregt. Und ungeduldig zu-gleich. An die möglichen Folgen ihres Tunsdachte sie nicht.

U 5 - sie hatte die Sohle des Antigrav-schachts erreicht. Nur zweimal war sie bis-lang hier unten gewesen und hatte sich je-desmal fürchterlich gelangweilt. Neue Be-kanntschaften zu schließen war in den Un-tergeschossen gar nicht so einfach wie an-derswo im Silo. Viele Räume waren unzu-gänglich, dienten der Versorgung des Wohn-turmes oder einfach nur als Warenlager.

Es roch nach Reinigungsmitteln undOzon. Ilara rümpfte die Nase. So unange-nehm hatte sie den Geruch nicht in Erinne-rung.

Inder Nähe begann mit dumpfem Brumm-ton ein Aggregat zu arbeiten. Illie zuckte zu-sammen, wandte sich dann ihrem Robo-thund zu.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Plu-to, ich bin ja bei dir«

Der Korridor wurde von einer fahlen Not-beleuchtung spärlich erhellt. Illie ignorierte

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eine Vielzahl von Abzweigungen, die ihrnicht interessant genug erschienen. Sie warnoch zu hoch oben. Geister zeigten sich nurselten in der Nähe von Menschen, das hattesie im Trivid gelernt. Sichtbar wurden sieerst, sobald sie sich unbeobachtet fühlten.

Und unsichtbar …?Ilara fuhr herum, starrte in die Düsternis

des Korridors. War da nicht ein Schattenschräg über ihr? Sie blinzelte, rieb sich dieAugen.

»Ist da wer?«Tonlos kam die Frage über ihre Lippen.

Illie hatte den Atem angehalten. Wild häm-merte ihr Herz gegen die Rippen.

Ihr Blick schweifte zu Pluto, der sie sanftmit der Schnauze anstupste.

»Du hast recht, hier können wir nicht blei-ben. Wir müssen noch weiter nach unten.Bevor die Stunde um ist.«

Die Uhr, die Ron ihr zum fünften Ge-burtstag geschenkt hatte, trug sie nur zu fest-lichen Anlässen. Ansonsten verspürte siekeine Notwendigkeit, sich von der Zeit gän-geln zu lassen. Eigentlich wollte sie nie er-wachsen werden, nur älter - das hatte siesich fest vorgenommen.

Ein scheibenförmiger roter Roboterschwebte heran. Es war zu spät, ihm auszu-weichen.

»Mist!« stieß Illie zerknirscht zwischenden Zähnen hervor. Gleich würde der Robo-ter fragen, was sie auf dieser Etage zu su-chen hatte, und vermutlich würde er sie nachoben … Er schwebte vorbei, wich ihr ein-fach aus und glitt tiefer in den Gang hinein.Eine Arbeitsmaschine, nicht auf den Kontaktmit lebenden Wesen programmiert. Ilara at-mete erleichtert auf.

Minuten später stieß sie auf den Hinweiszu einem Treppenschacht.

Sie hatte Mühe, die schwere Tür aufzu-wuchten, und schaffte es mit Mühe, hin-durchzuschlüpfen. Ein dunkler, in ganz un-ergründliche Tiefe führender Schacht lagvor ihr. Der dumpfe Widerhall ihrer Schritteauf den stählernen Stufen hatte etwas Be-klemmendes. Die spärliche Helligkeit reich-

te gerade aus, die nächsten zwei bis drei Stu-fen erkennen zu lassen.

Zum erstenmal verspürte Illie ein unbe-hagliches Gefühl, ein wildes Kribbeln imBauch. Sie mußte allen Mut zusammenneh-men, und am liebsten wäre sie umgekehrt,aber irgendwo in dieser Finsternis, in derAbgeschiedenheit vom üblichen Trubel, leb-ten die Sternengeister.

Das wußte sie ohne zu fragen, woher siedieses Wissen bezog. In den Märchen warvon solchen Treppenschächten jedenfalls niedie Rede gewesen.

Dreimal zwanzig Stufen zählte sie, dannführte eine schmale Galerie nach zwei Sei-ten. In der Luft lag das Geräusch arbeitenderAggregate.

Ilara zögerte nur einen flüchtigen Augen-blick, bevor sie sich nach rechts wandte, wosie die schwache Reflexion mächtiger Rohr-leitungen entdeckte. Sie nahm Pluto auf dieArme, weil der Hund immer wieder in denGitterrosten hängenblieb.

Unter ihr blinkte ein Meer von Lichtern.Illie gewahrte mehrere Arbeitsroboter, dievon ihr aber keine Notiz nahmen. Manns-dicke Rohrstränge trafen hier von allen Sei-ten zusammen, vereinten sich und ver-schwanden im Boden. Unter der Decke ver-liefen die kantigen Schächte der Lufterneue-rung. Dem Mädchen wurde allmählich klar,daß es sich im wahrsten Sinne des Wortesim »Bauch« des Wohnsilos befand. In denglänzenden Tanks erfolgte die Wiederaufbe-reitung von Trinkwasser. Schon mit dreiJahren hatte sie gelernt, wie wichtig es war,mit den Ressourcen eines Planeten sorgsamumzugehen - jedes Planeten, egal ob er Ter-ra hieß, Olymp oder sonstwie. IntelligenteWesen versuchten, die Natur ihrer Welt imGleichgewicht zu halten.

Staunend blickte Ilara in die Runde.Ringsum gab es Neues und Imposantes zusehen, doch ihr Blick verweilte nirgends; ei-ne nie gekannte Unruhe hatte von ihr Besitzergriffen. Es war wie Ameisen unter derHaut.

Knisternd stieg ein Energieschlauch zur

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Decke empor. Sekunden später stürzte Unrataus den Sammelbehältern herab, wurde voneiner syntronischen Sortierstelle getrenntund zur Weiterverarbeitung transportiert.Ein modriger Geruch erfüllte die Luft.

»Wir müssen ihn suchen, Pluto«, murmel-te Ilara, die ihren Robothund immer nochauf den Armen trug. »Ich weiß, daß derGeist in der Nähe ist. Ich spüre es.«

Der Pudel blickte sie aus seinen schwar-zen Knopfaugen treuherzig an, aber er ver-stand nicht. Sein Chip war nur auf eine be-stimmte Anzahl von Befehlen und Rede-wendungen geeicht.

»Ein richtiger Hund würde Witterung auf-nehmen und mir helfen«, schimpfte Ilara un-vermittelt. »Aber du? Du läßt dich herumtra-gen.«

Pluto legte den Kopf schräg, schien ihrenWorten zu lauschen.

»Ich bin ärgerlich«, fuhr Illie fort. »Ichfrage mich, warum ich dich überhaupt mit-genommen …«

Sie verstummte, denn höchstens fünfSchritte entfernt zeichneten sich ver-schwommene Konturen in der Düsternis ab.

Illies Herz begann wie rasend zu schla-gen. Für einen Moment schloß sie die Au-gen. Als sie die Lider wieder öffnete, warder Geist verschwunden.

»Er ist da, Pluto.« Stockend noch, imnächsten Moment freudig der Ausruf: »Er isthier, er ist wirklich hier!«

Vergeblich versuchte sie sich zu erinnern,wie der Sternengeist ausgesehen hatte. Wieein Mensch? Nein. Er war klein gewesen,gerade mal halb so groß wie sie selbst, under war dicht über dem Boden geschwebt.

Illie begann zu laufen. Wo sie eben nochdie fahle Erscheinung gesehen zu habenglaubte, war nichts mehr. Lediglich eineWendeltreppe führte weiter in die Tiefe. Siezögerte nicht, hastete so schnell sie konntehinab.

Eine Vielzahl schmaler Gänge zwischenmächtigen Maschinenblöcken tat sich vorihr auf. Der Überblick, den sie von der Gale-rie aus gehabt hatte, ging von einem Mo-

ment zum anderen verloren. Aber das mach-te ihr nichts aus ohne nur eine Sekunde langzu zögern, eilte sie weiter. Pluto, den sie amTreppenabsatz kurzerhand wieder auf die ei-genen Beine gestellt hatte, sprang mit tolpat-schig wirkenden Bewegungen neben ihr her.

Hinter dicken transparenten Röhrenschwappte eine brackige Brühe, Schmutz-wasser aus allen Sektionen des Silos. Illiekonnte sich nicht vorstellen, wie daraus sau-beres Trinkwasser werden sollte. Irgend-wann hatte sie von Bakterienfiltern und ähn-lichem gehört und die Begriffe akzeptiert,ohne weiter danach zu fragen.

Eine riesige Übersichtstafel tauchte vorihr auf. Illie verstand, daß die farbig blin-kenden Symbole alle Leitungssysteme undTanks markierten. Noch während sie ver-geblich versuchte, sich in dem buntenDurcheinander zurechtzufinden, verändertensich einzelne Symbole; gurgelnd wurde diedreckige Flüssigkeit in kugelförmige Tanksgepumpt. Schaum quoll aus einem Überlauf-ventil, begann aber, sich an der Luft sofortaufzulösen.

Die Zeitanzeige auf der Konsole stand auf2.05 Uhr Ortszeit.

Enttäuscht schürzte Illie die Lippen. Daswar nicht wahr, das konnte einfach nichtsein. Rein gefühlsmäßig hatte sie nicht mehrals eine Viertelstunde gebraucht, um hier-herzukommen.

2.06 Uhr.Geräuschvoll zog Ilara die Nase hoch. Sie

war, den Tränen nahe. Vor allem hatte siekeine Ahnung, wo sie die Zeit vertrödelt hat-te.

»Ich will ihn sehen!« stieß sie gepreßthervor. »Ich will … ich will … ich will!«

Illie tauchte unter einer Rohrleitung hin-durch. Die Lache öliger Flüssigkeit bemerk-te sie erst, als sie darin ausrutschte und derLänge nach hinschlug. Der Schmerz war je-doch bei weitem nicht so schlimm wie derklebrige Dreck, der trotz des schmutzabwei-senden Materials ihr Kleid versaute. Mit derHand wischte Illie sich übers Gesicht, erstdanach bemerkte sie, daß auch ihre Hand

Ein kleiner Freund 11

klebte.»Pluto«, schimpfte sie, »komm zu mir!«Der Robothund hinterließ schmutzige Ab-

drücke am Boden. Wie sollte sie Mum denDreck erklären?

Aber das war eigentlich unwichtig ange-sichts der Tatsache, daß sie um mehr als ei-ne Stunde zu spät gekommen war. Am lieb-sten hätte sie losgeheult, und mit einemmalverspürte sie so etwas wie Angst vor der ei-genen Courage.

Komm zu mir!Wer hatte das gesagt? Sie kniff die Brau-

en zusammen und blickte suchend um sich.Da war nur ein unüberschaubares Gewirrvon Leitungen und technischen Vorrichtun-gen. Kein Hinweis darauf, daß wirklich zurMitternachtsstunde jemand hiergewesenwar.

Illie schluckte schwer.»Hallo?« Ihre Stimme klang belegt, war

nur ein Flüstern. Wovor fürchtete sie sich?Ein eigentümliches Prickeln breitete sichüber ihren Nacken aus.

Weglaufen! schrie alles in ihr. Zurück inihr Zimmer, bevor Ron und Dinnie merkten,daß sie sich die halbe Nacht im Silo herum-getrieben hatte.

Zugleich wartete sie darauf, daß noch ir-gend etwas geschah, was ihr Zögern recht-fertigte. Mit übertriebener Gründlichkeitwischte sie ihre Hände an der Röhre nebensich ab. Zugleich starrte sie unverwandteinen schmalen Spalt entlang, der zwei Ag-gregate voneinander trennte.

Hatte sich da nicht etwas bewegt?Illie biß die Zähne aufeinander. Noch ein-

mal schniefte sie, dann stieß sie sich ab. DerSpalt war gerade breit genug, daß sie sichhindurchzwängen konnte.

Ein leises Rascheln erklang.»Wer ist da?«Keine Antwort. Natürlich nicht.Illie platzte schier vor Neugierde und

Abenteuerlust. So schnell sie konnte,zwängte sie sich weiter.

Furcht stieg plötzlich in ihr auf.Nein, das war nicht ihr eigenes Gefühl.

Ilara reagierte verwirrt. Sie empfand keineAngst, jetzt nicht mehr, sie war nur noch un-sagbar gespannt.

War da nicht erneut eine Bewegung?Der Spalt weitete sich zu einem unregel-

mäßigen Ausschnitt. Spiegelnde Metallteilestreuten den spärlichen Lichtschimmer, deraus der Höhe herabfiel.

Illie hielt wie angewurzelt inne. Ihr Herzhüpfte in freudiger Erregung. Ein kleines,liebes Geschöpf blickte ihr aus großen Au-gen furchtsam entgegen. Langsam zog essich in den hintersten Winkel zurück.

Ein Sternengeist?Nein, das war kein Geist, das war ein We-

sen aus Fleisch und Blut, das zögernd dieLippen schürzte und seltsame Laute hervor-brachte.

Bemüht, ihr Gegenüber nicht zu er-schrecken, ließ Ilara sich in die Hocke nie-der. Sie streckte die Rechte aus, hielt demFremden instinktiv die Handfläche hin, wäh-rend sie gleichzeitig mit der Linken Plutozurückhielt, der weiter nach vorne wollte.Seine Programmierung war schuld daran.Falls er das Wesen erschreckte, mußte sieihn abschalten.

»Ich bin Illie«, hauchte sie. »Du brauchstdich vor mir nicht zu fürchten.« Ein sanftesLächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Wieheißt du?«

Der Kleine schaute sie unverwandt an. Erwar süß, schlicht und einfach süß. Er zitter-te. Und er tat ihr leid.

»Was kann ich für dich tun?«Illie suchte den Blick der großen

Knopfaugen. Einen Moment lang glaubtesie, Interesse darin zu erkennen, dann ge-wann erneut der Ausdruck von Furcht dieOberhand.

»Zurück, Pluto! Du machst ihm angst.Vielleicht kennt er keinen Hund.«

Das warf die Frage auf, woher das Wesengekommen war. Von den Sternen, gab Ilarasich selbst die Antwort. Es konnte gar nichtanders sein.

»Hast du einen Namen?«Wie groß mochte er sein? Kleiner als sie

12 Hubert Haensel

auf jeden Fall. Obwohl - so, wie er sichängstlich in die Ecke drückte, war dasschwer abzuschätzen.

»Ich bin Illie«, wiederholte sie und deute-te auf sich selbst. »Und du?«

Es roch ganz eigenartig. Sollte der Kleine…? Dunkel entsann Illie sich, daß Kindermanchmal vor Angst in die Hose machten.So einen richtigen lebendigen Spielgefährtenmit allem Drum und Dran hatte sie sichschon immer gewünscht, am liebsten einBrüderchen, aber das ging nicht. Warum dasso war, verstand sie nicht, es mußte dochleicht sein, ein Brüderchen zu bekommen.Ron hatte ihr statt dessen den Robothund ge-schenkt.

Der Fremde stieß ein helles, zirpendesGeräusch aus, als sie ihn zaghaft betastete.

Illie bekam ein dünnes Ärmchen zu fas-sen. Für einen Moment fürchtete sie, ihremneuen Freund weh zu tun, doch sofort wurdeder Widerstand fester. Die Berührung ver-lockte zum Streicheln. Am liebsten hätte sieden Kleinen in die Arme geschlossen undihn nie mehr losgelassen.

Ein sanftes Schnurren mischte sich in ihreGedanken. Der Junge schien sich langsamzu beruhigen, er zitterte schon weit weniger.Zweifellos spürte er, daß sie es gut mit ihmmeinte.

»Ich werde dich Jack nennen«, raunte sie.»Jack ist ein schöner Name. Bist du einver-standen, mein Freund?«.

Er lachte sie an. Oh ja, er hatte sie ver-standen. Und endlich stieß Illie auch nichtmehr auf Widerstand. Sanft zog sie ihn ansich, strich ihm über den Kopf.

Jack - das war der Name eines halbintelli-genten Schimpansenbabys, das auf der Erdealle nur denkbaren Abenteuer erlebte. Nichteine der Trividfolgen hatte Illie bislang ver-paßt. Sie wußte nicht, ob Jack wirklich lebteoder nur eine Simulation war, das behaupte-te Ron jedenfalls, aber das war inzwischenauch egal. Ihr Jack war keine Projektion.Außerdem war er hundertmal liebenswerterals der kleine Schimpanse.

»Du bist etwas Besonderes«, murmelte

das Mädchen. »Auch wenn du nicht redenkannst, ich spüre das. Ich möchte immer mitdir spielen, verstehst du?«

Jack schaute sie stumm an. Am liebstenhätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sielachte leise.

»Du bist jetzt mein Brüderchen, Jack.Weißt du, was ein Bruder ist? Nein? Du ge-hörst zur Familie, du schläfst bei mir, wir er-kunden gemeinsam den Silo. Und du ißt mituns und …« Sie stutzte. »Hast du Hunger,Jack? Natürlich, du mußt hungrig sein.« Sei-ne Finger berührten ihre Hand, ein angeneh-mes Gefühl. Ilara hatte endlich jemanden,um den sie sich kümmern konnte, der ihreLiebe erwiderte und ihr mit einem Lächelndankte. Pluto war einfach ein Roboter, einSpielzeug, das man nach Belieben ein- undausschaltete, das aber nie Gefühle zeigte.

Aus einer ihrer Taschen förderte sie einBonbon zutage. Zitronengeschmack, den sieüber alles liebte. Vorsichtig entfernte sie dieSchutzfolie und hielt Jack den Drops an dieLippen.

»Das ist gut«, sagte sie. »Du darfst ruhigprobieren. Es hilft gegen Hunger und Durst,aber das ist leider alles, was ich bei mir ha-be. Morgen bringe ich dir mehr, viel mehr.Du sollst nicht hungern, Jack, du mußt großund stark werden.«

Geduldig wartete sie, bis ihr Freund dasBonbon zwischen die Lippen nahm. Er warvorsichtig, als fürchte er, etwas Ungenießba-res zu bekommen. Doch gleich darauf zeug-te ein leises Schmatzen davon, daß er Zu-trauen faßte.

Illie lehnte an der kühlen Metallwand unddrückte Jack an sich. Ein wohliges Gefühldurchflutete sie. Lange hockte sie so da, dieAugen geschlossen und ihren Freund strei-chelnd, und er schien ihre Nähe ebenfalls zugenießen.

»Irgendwann wirst du mir sagen können,woher du kommst, nicht wahr? Ich werde dirdas Sprechen beibringen.«

Sie träumte. Doch plötzlich mischte sichein Mißklang in ihr Wohlbefinden. Wie spätwar es? Sie mußte zurück. Falls ihre Eltern

Ein kleiner Freund 13

sich Sorgen machten, wußte sie nicht, wiesie ihnen die Sache mit Jack erklären sollte.

Zaghaft drückte sie dem Kleinen einenKuß auf die Stirn.

»Ich muß gehen.« Sie schluckte schwer.»Leider. Aber ich komme wieder, Jack, baldschon. Und dann nehme ich dich mit zu mir.Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Ronund Dinnie sind tolle Eltern.«

3.

»Sie kennt das Kodewort«, schnaufte Ro-nald Clandor. »Woher kennt sie den Kode?«

»Was weiß ich«, erwiderte Dindra nichtminder gereizt. »Ich habe dir gesagt, daß wireine zusätzliche Sicherung benötigen, aberdu wolltest ja nicht hören. Bestimmt ist Ilkewieder auf einer ihrer Exkursionen unter-wegs.«

»Es ist halb fünf Uhr morgens.«»Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen.«

Dindra war den Tränen nahe. »Ron, ich hat-te die ganze Zeit über so ein ungutes Gefühl.Aber du mußtest wieder bis zum Schlußbleiben …«

»Bin ich schuld, ja? So ist es doch. DeineTochter treibt sich irgendwo herum, aber ich…«

»Sie ist auch deine Tochter, Ron, solltestdu das vergessen haben!« Dindra Clandorschrie ihren Mann an. »Und nun denk nach,wo sie sein könnte! Hoffentlich ist ihr nichtszugestoßen.«

»Sie wird irgendwo in einem Park einge-schlafen sein.«

»Ach? Das ist alles, meinst du, so ein-fach?«

»Was willst du hören? Wenn wir uns ge-genseitig verrückt machen, hilft das auchnicht. Immerhin kennt Ilara im Tower Gottund die Welt. Ich kann mir nicht vorstellen,daß sie einfach verlorengeht.«

»Das habe ich auch nicht behauptet.«»Dann laß uns in aller Ruhe überlegen.

Wenigstens hat sie Pluto mitgenommen.«»Fein.« Dindras Tonfall wurde sarka-

stisch. Sie hatte begonnen, im Wohnraum

auf und ab zu gehen. »Der Hund ist ihr eineriesige Hilfe.«

»Bleib stehen!« schimpfte Ron. »Dumachst mich verrückt. Was glaubst du ei-gentlich, was Illie zugestoßen sein könnte?Deine Gedanken sind manchmal …« Ermachte eine wegwerfende Handbewegung.»Bestimmt ist sie bei einer ihrer Freundin-nen und verbringt dort die Nacht.«

»Sie hat versprochen, in der Wohnung zubleiben. Sie wollte die Sternengeister imTrivid sehen und danach ins Bett.«

Mit der flachen Hand schlug RonaldClandor sich an die Stirn. Auf der Party hat-ten sie Alkohol getrunken, mehr als für ge-wöhnlich. Zweifellos war das der Grund,weshalb er wegen der Aufregung über IlliesVerschwinden nicht sofort an das Nahelie-gende gedacht hatte.

»Servo, hat in der Zwischenzeit jemandversucht, uns zu erreichen?«

»Zwei Anrufe.« Der Monitor des Inter-koms leuchtete auf.

»Hi, Dinnie, Ron.« Sybil Moltrans wardie Anruferin. »Eigentlich hatte ich gehofft,euch zu erreichen. Ilara war eben hier, siewollte zu Anne. Bis ich richtig begriffen ha-be, war sie aber schon wieder weg. Ich kannmir nicht vorstellen, daß ihr davon wißt.«

Der zweite Anruf war eineinhalb Stundenspäter verzeichnet. Noch einmal Sybil.

»Die Sache läßt mir keine Ruhe. Nicht,daß ich euch ängstigen möchte, aber Illie er-schien mir irgendwie anders als sonst.Leicht zerstreut - ich weiß nicht, wie ich sa-gen soll …«

»Ruf sie an, Ron!« verlangte Dindra.»Um die Zeit?«»Wann sonst?«Achselzuckend tippte er die Verbindung

ein. Die Rufnummer kannte er auswendig,schließlich gehörten die Moltrans seit kurz-em zur »Clandors Family«. Eigentlich ein ir-reführender Begriff, sie waren nicht mitein-ander verwandt, aber eben befreundet, unddas war in einem derart gigantischen Bau-werk wie dem Silo schon eine ganze Menge.

Trade City, die Megametropole von

14 Hubert Haensel

Olymp, platzte längst aus allen Nähten.Einst für eine Bevölkerung von fünfzig Mil-lionen konzipiert, war diese Zahl längstüberschritten, und der letzte Versuch, derBevölkerungsexplosion Herr zu werden, warder riesige, siebenhundert Meter hohe, stu-fenförmige Wohnturm im Herzen der City,eine Stadt innerhalb der Stadt, mit insgesamtzwanzigtausend komfortablen Wohneinhei-ten völlig autark. Viele Bewohner nanntendas gigantische Gebäude noch einigermaßenschmeichelhaft Tower, die BezeichnungWohnsilo war jedoch geläufiger, und werabsolut nicht damit zurechtkam, der sagteabfällig Silo. Vor allem bei der Jugend hattesich letzterer Begriff schnell eingebürgert.

Was die Bauherren nicht bedacht hatten,war die rasche Entfremdung in diesem gi-gantischen Komplex. Selbst Nachbarn kann-ten einander nicht. Um der Isolation zu ent-gehen, schlossen sich inzwischen viele Fa-milien zu Gruppen zusammen, die eine neueGeselligkeit pflegten. Sie trafen sich in derFreizeit und redeten verstärkt miteinander;gegenseitige Hilfestellung bei Problemenwar selbstverständlich, sie organisierten ge-meinsame Wochenendausflüge oder auchnur Einkaufsfahrten, anstatt die Bestellun-gen über Interkom aufzugeben. Die Basar-straßen im Tower waren Ausdruck dieserneuen Orientierung des Lebensstils, den manruhig als nostalgisch bezeichnen konnte. In-itiator einer solchen Gemeinschaft war Ro-nald Clandor, erst 35 Jahre alt und Techni-ker am Container-Transmitter. Seine FrauDindra, zwei Jahre jünger, nicht berufstätig,engagierte sich stark im sozialen Bereich.Im Tower gab es viele einsame Menschenzu betreuen - auch Galaktiker anderer Völ-ker, die sich fernab ihrer Heimat in besonde-rem Maße isoliert fühlten. Spannungen wa-ren an der Tagesordnung.

»Die Ruhelosigkeit hat Ilara von dir«,sagte Ron, doch wie er es sagte, klang esvorwurfsvoll. Dindra verzichtete auf eineErwiderung, sie biß sich lediglich auf dieUnterlippe.

»Ich weise darauf hin, daß der gewünsch-

te Gesprächsteilnehmer Nachtruhe hat«,meldete der Servo.

»Interkomverbindung trotzdem herstel-len!«

Das Rufzeichen erklang. Dennoch ver-ging geraume Zeit, bis das Gespräch ange-nommen wurde.

»Weißt du, wie spät es ist?« erklang Sy-bils Stimme.

»Kurz vor fünf«, antwortete Ron knapp.Sybil aktivierte die Bildübertragung. Da-

bei vergaß sie, die Optik nur auf ihr Gesichtzu justieren. Ron hatte bislang nicht gewußt,daß sie zu schlafen pflegte, wie die Natur siegeschaffen hatte.

»Ist Illie noch nicht zu Hause?«»Wir hatten gehofft, Sybil, du könntest

uns mehr sagen.«»Wenn ich das geahnt hätte, ich hätte sie

zurückgehalten …«»Hat sie gesagt, wohin sie wollte?«Sybil schüttelte den Kopf. »Nein. Es war

irgendwie seltsam. Aber ich kann mir nichtvorstellen, daß ihr etwas zugestoßen ist. Sieist doch ständig im Silo unterwegs.«

»Ich mache mir Vorwürfe«, sagte Dindra.»Ich mir auch.« Unvermittelt wurde Sybil

sich ihrer Nacktheit bewußt und desaktivier-te den Monitor. »Ted und ich helfen euchbei der Suche, das ist doch klar«, erklang ih-re Stimme.

»Wir verständigen den Sicherheitsdienst«,warf Dindra ein. »Vielleicht liegt sie schonauf der Medostation …«

»… dann wäre sie identifiziert worden,und wir hätten eine entsprechende Nachrichtvorliegen«, erwiderte Ron.

»Jedenfalls schadet es nicht, wenn auf al-len Etagen …«

Dindra brach abrupt ab. Das leise Sum-men der aufgleitenden Wohnungstür warnicht zu überhören. Mit schnellen Schrittenverließ sie den Wohnraum und kam geradenoch zurecht, um Ilara abzufangen, bevor sieklammheimlich im Kinderzimmer ver-schwinden konnte.

»Illie!«Das Mädchen versteifte sich merklich.

Ein kleiner Freund 15

»Mein Gott, wie siehst du aus? Was istgeschehen, Ilke?«

»Nichts«, erklang es schwach.»Sag nicht nichts!« Auch Ron stürmte in

den Flur. Seine Miene verhärtete sich. »Wiesiehst du überhaupt aus?«

»Ich konnte nicht schlafen.«»Wo bist du gewesen? Wir sind ja einiges

von dir gewohnt, aber diesmal hast du es zuweit getrieben.«

»Pluto …«»Der Hund ist schuld. Willst du das sa-

gen?«»N … nein«, erklang es zaghaft. »Es tut

mir leid.«»Das ist wohl das mindeste, was ich er-

warten darf.« Ron kam aus dem Kopfschüt-teln nicht heraus. Er konnte sich nicht ent-sinnen, daß er als Kind ähnlich abenteuerlu-stig gewesen wäre. Er hatte sich mit3-D-Spielen begnügt.

»Hast du dich im Dreck gewälzt?«Illie preßte die Lippen aufeinander und

schwieg.»Du hast Dinnie und mich in Angst und

Schrecken versetzt. Da ist es das mindeste,daß wir erfahren, wo du gewesen bist.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.»Schade«, sagte Ron. »Ich dachte, wir

könnten uns aufeinander verlassen. Ich be-strafe dich ungern, Ilke, doch du läßt mirkeine andere Wahl. Du wirst die Wohnungeine Woche lang nicht verlassen, das heißt,du gehst nur in den Hort und kommst an-schließend sofort zurück. Haben wir unsverstanden?«

Sie wollte widersprechen, schnappteschon nach Luft, senkte dann aber doch be-treten den Kopf.

»Ron und ich haben uns größte Sorgengemacht«, seufzte Dindra. »Trotzdem sindwir froh, daß du wieder da bist. Komm, wirversuchen gemeinsam, den Schmutz wegzu-kriegen. Das scheint Schmieröl zu sein. Wohast du dich nur herumgetrieben?«

*

Illie war so müde und erschöpft, daß siefast im Stehen einschlief. Nicht einmal dieVibrationsdusche konnte sie wachrütteln.Was ihre Mutter sagte, ging an ihr vorbei;sie registrierte nicht, daß sie mehrmals ge-fragt wurde, was geschehen war.

Das einzige, was in ihrer Erinnerung haf-tenblieb, war der Moment, in dem sie völligerledigt ins Bett fiel. »Jack«, murmelte sienoch und war eingeschlafen.

*

»Es ist dreißig Minuten nach acht Uhr,Zeit zum Aufstehen, Ilara Clandor.«

Unnachgiebig fraß die Syntronstimmesich in ihr Bewußtsein vor. Aber Illie wolltenicht aufwachen, sie war hundemüde. Seuf-zend rollte sie sich zusammen und dämmerteschon wieder hinüber ins Reich der Träume.

»Wach bitte auf, Ilara Clandor!«Sie rollte sich auf den Bauch und vergrub

den Kopf im Kissen. Gleich darauf griff eineHand nach ihrer Schulter und rüttelte sie.

»Jack?« Mühsam blinzelnd versuchte Ila-ra unter verklebten Augenlidern hindurchmehr zu erkennen als nur verwascheneSchatten.

»Wer bis in die frühen Morgenstunden imTower umhergeistern kann, der ist auch inder Lage, rechtzeitig aufzustehen.« DindrasStimme klang ärgerlich. »Du nimmst fürdich in Anspruch, erwachsen sein zu wollen,also handle danach!«

»Ich bin doch noch klein.« Ilara rieb sichmit beiden Händen die Augenwinkel. Mitder tatkräftigen Unterstützung ihrer Mutterschaffte sie es endlich, sich aufzusetzen.

»Wer ist Jack?«Illie erschrak. Was wußten ihre Eltern?

Niemals würden sie ihr den neuen Spielge-fährten erlauben, jedenfalls nicht nach derStrafpredigt, die Ron ihr vor dem Einschla-fen gehalten hatte. Dabei war alles halb soschlimm gewesen; sie verstand nicht, wes-halb ihre Eltern sich gesorgt hatten. Nie-mand ging im Silo verloren.

Zum Glück tat Dinnie ihre eigene Frage

16 Hubert Haensel

mit einem Achselzucken ab.»Du hattest Alpträume, Kind. Das kommt

davon, wenn man sich selbst überschätzt.«Die folgende Prozedur war wie an jedem

Morgen, nur daß Ilara diesmal alles schwe-rer fiel als sonst und sie das Gefühl hatte, dieZeit krieche langsam wie eine Schnecke da-hin. Sie dachte an Jack, der im Bauch desSilos darauf wartete, daß sie wieder zu ihmkam. Am liebsten wäre sie auf der Stelleaufgesprungen und zu ihm gerannt.

»Du weißt, daß du einiges gutzumachenhast«, erinnerte sie Ron.

»Jack braucht mich!« hätte sie beinahelosgeschrien, aber sie biß sich gerade nochauf die Zunge.

Ron hatte kein Verständnis, Dindra auchnicht. Für ihre Eltern war alles reglemen-tiert, sie waren einfach zu alt, um an Wunderzu glauben.

Vergeblich kramte sie in ihrer Erinnerung,wie Jack ausgesehen hatte, aber immer wie-der drängte sich das Bild aus dem Trivideoin den Vordergrund. Hatte Jack wirklich roteHaare? Illie hatte keinen Hunger, sie aß fastnichts.

»Wenn sie nicht mag, laß sie«, sagte Ronzu Dindra. »Sie hat ihre Trotzphase.«

Verflixte Haarfarbe! Nein, das war nichtwichtig. Einzig und allein Jacks Hilflosig-keit zählte. Er brauchte jemanden, der ihnbemutterte, der ihm half, sich im Silo zu-rechtzufinden. Irgendwie mußte sie es schaf-fen, ihn nach oben zu holen.

… und wenn ich es Mum einfach sage?Unsinn! Die Erwachsenen reagierten stets

mit Mißtrauen. Was sie nicht kannten, wur-de zuerst als feindlich eingestuft - dabei warJack so süß. Er konnte keiner Fliege etwaszuleide tun.

An diesem Morgen trank Ilara nicht ein-mal ihren Fruchtsaft aus.

Im Hort war sie nicht bei der Sache. VomLernprogramm bekam sie wenig mit, ihrenFreundinnen gegenüber reagierte sie gereizt.Sie fand so ziemlich alles blöd, was nicht ir-gendwie mit Jack zu tun hatte.

Daß Ron sie abholte, kam überraschend.

Fast hätte sie losgeheult. Aber das hätte Jackbestimmt nicht gewollt. Illie glaubte, seineAugen vor sich zu sehen - große, ausdrucks-starke Augen, die sie baten, ihn nicht zu ver-gessen.

»Natürlich werde ich dir helfen.«»Was meinst du?«Sie erschrak. Hatte sie, ohne es zu wollen,

laut geredet? Ron schaute sie forschend vonoben herab an. Hatte er sie jemals auch nurannähernd so lieb gehabt, wie sie Jack?

»… haben wir uns zuwenig um dich ge-kümmert, Illie? Ich spüre doch, daß du unsausweichst. Was ist los mit dir?«

»Nichts«, erwiderte sie schroff.»Das glaube ich nicht.«Schluchzend warf sie sich auf ihre Anti-

gravliege und vergrub das Gesicht in denArmen. Sie wollte niemanden sehen, schongar nicht wollte sie reden. Das einzige The-ma für sie wäre Jack gewesen.

Ron stand noch eine Weile da und starrtesie an. Illie spürte es auch, ohne sich umzu-wenden. Endlich verließ er ihr Zimmer.

Irgendwann schlief sie ein. Sie träumtevon Jack und davon, daß sie es schaffte, ihnunbemerkt in ihr Zimmer zu bringen. Siewar glücklich. Ihr neuer Freund mußte im-mer bei ihr bleiben. Er war die Erfüllung al-ler ihrer Wünsche.

Als Ilara in der Nacht aufwachte, fror sie.Nicht etwa, weil die Klimatisierung fehler-haft gearbeitet hätte, das Frösteln kam ausihr selbst heraus. Sie machte sich Sorgen.Sie dachte an Jack, der allein zwischenmächtigen Aggregaten kauerte und vor Hun-ger und Durst nicht schlafen konnte.

Barfuß schlich sie in die Küche. EineHandvoll Fruchtriegel war alles, was siefand. Das mußte genügen. Fürs erste wenig-stens.

Ron und Dinnie schliefen fest.Aber das Kodewort war geändert. Ilara

hatte keine Möglichkeit, die Wohnung zuverlassen. Lange Zeit stand sie unschlüssigin der Diele, bis sie endlich einsah, daß ihrdas Herumstehen nicht weiterhalf.

Sie war gerade im Begriff, die Fruchtrie-

Ein kleiner Freund 17

gel wieder ins Kühlfach zu legen, als Dindrahinter ihr erschien.

»Willst du wieder ausreißen? Wir beidesollten miteinander reden, Ilara.«

»Wie es die Erwachsenen tun?«Ihre Mutter nickte zustimmend.»Er ist ein Sternengeist«, platzte Illie her-

aus. Wie ein Wasserfall sprudelten die Wor-te aus ihr hervor. Sie konnte nicht mehr an-ders, mußte ihre Sorgen endlich loswerden.»Er wohnt unten im Silo, und ich habe ihnJack genannt. Er ist nett und freundlich und… ich mag ihn einfach und du wirst ihnauch mögen.«

»Einen Geist?« fragte Dindra. »Niemandkann Geister sehen …«

»Ich habe ihn angefaßt. Er war weich undwarm und …«

»Den Unsinn hast du aus dem Trivideo,ist es nicht so? Hör bitte auf damit, Illie!«

»Aber …«Ihre Mutter ließ kein »Aber« mehr gelten.

Sie küßte das Mädchen auf die Stirn unddeckte es sorgfältig zu.

»Geister«, sagte sie, als sie sich unter derTür noch einmal umwandte, »Geister sindeine Erfindung der Menschen. Es gibt sienicht wirklich. Was immer du gesehen zuhaben glaubst, es ist nicht Realität. DieserJack existiert nur in deiner Phantasie.«

4.

Wie lange willst du mit Cistolo Khan ha-dern, Beuteterraner? Du kreidest ihm an,daß er genau das getan hat, was du an sei-ner Stelle keinen Deut anders veranlaßt hät-test?

Der Spott meines Extrasinns traf auf denPunkt. Vierundzwanzig Stunden war ich Ge-fahr gelaufen, mich in ein Schneckenhausder Voreingenommenheit zurückzuziehen.

Fühlst du dich enttäuscht? Weil CistoloKhan dich im wahrsten Sinne des Wortesausgesperrt hat. Vergiß nicht: Er will nurdas Beste für seine Terraner.

Das will ich auch, erwiderte ich in Gedan-ken.

Ein verhaltenes Lachen antwortete mir.Wann wirst du endlich einsehen, Arkoni-

denfürst, daß die Menschen längst den Kin-derschuhen entwachsen sind und ihr Schick-sal selbst bestimmen können?

Eine müßige Diskussion. Ich fragte mich,warum ich mich überhaupt darauf einließ.Die Völker der Milchstraße waren mit einerGefahr konfrontiert, die den Ereignissenzum Trotz vorgab, gar keine zu sein. DieTolkander spielten ein denkbar schlechtesSpiel, inzwischen mit einigen Millionen To-ten, und sie nutzten geschickt den Zwist dergalaktischen Völker untereinander. Mit je-dem Tag wurde der Keil größer und saßtiefer.

Bestes Beispiel dafür ist dein Ärger aufCistolo Khan.

Er hätte mir wenigstens eine Chance ge-ben müssen, ihm ins Solsystem zu folgen.Unsere Zusammenarbeit war wichtig.

Auch wenn der Logiksektor schwieg, hießdas noch lange nicht, daß er nichts zu sagenhatte. Mein in der ARK SUMMIA aktivier-ter Extrasinn war der Ansicht, daß CistoloKhan von seinem Standpunkt aus gar nichtanders handeln konnte. Immerhin lastete aufseinen Schultern die Verantwortung für dasSolsystem, und das waren nicht nur die Ter-raner und Vertreter anderer Völker, das wa-ren seit kurzem auch die Herreach auf Tro-kan und die Geheimnisse des ehemaligenArchivplaneten der Ayindi, der seit Jahr-zehnten die Position des Mars einnahm.

Du bist nicht wirklich wütend auf CistoloKhan …

Ich hatte nur nicht ahnen können, daß dieFührung der LFT so tief in die Trickkistegreifen würde, wie Cistolo es am 30. Aprilgetan hatte: Er hatte das ATG reaktiviert,das Antitemporale Gezeitenfeld …

Ich atmete tief ein und hielt die Luft an;zugleich schloß ich die Augen und massiertemit den Fingerspitzen Stirn und Schläfen.Das war immer noch das beste Mittel, umdie Gedanken zu klären. Perry Rhodan, Bul-ly, ich - keiner von uns Aktivatorträgern hat-te gewußt, daß das ATG einsatzbereit war.

18 Hubert Haensel

Jeder hat eben seine kleinen Geheimnis-se.

Ich mußte die Tatsachen akzeptieren.Auch wir spielten mit verdeckten Karten.Die Koordinaten von Camelot waren nachwie vor streng gehütetes Geheimnis, dasnicht einmal die Erste Terranerin oder Cisto-lo Khan kannten.

Wat den einen sin Uhl, is den annern sinNachtigall, kommentierte der Logiksektor.

Im Grunde meines Herzens war ich frohdarüber, daß das Solsystem sich dem Zugriffder Invasoren durch einen Sprung in die Zu-kunft entzogen hatte. Nichts und niemandkonnte Terra folgen, weder Igelschiffe nochChaeroder und Physander mit ihren riesigenGliederschiffen. Und selbst wenn die Milch-straße ringsum in Schutt und Asche versank,die Erde war unangreifbar geworden. FürFreund und Feind unerreichbar …

Ich hatte es dennoch versucht, hatte ge-glaubt, daß ich trotz allem mit dem Kopfdurch die Wand gehen müsse. Vergeblich.Der RICO war weder der Einflug möglichgewesen, noch hatten wir Funkkontakt er-halten.

Unerheblich war dabei, wie weit das Son-nensystem in die Zukunft verschwundenwar. Trennten uns nur Sekundenbruchteileoder doch Minuten?

Der 10. November des Jahres 3430 alterZeitrechnung war ein denkwürdiger Tag ge-wesen - zumindest für uns Aktivatorträgerund geschichtlich interessierte Terraner. Da-mals war die Menschheit nahe daran gewe-sen, bei einem Angriff des CarsualschenBundes, des Imperiums Dabrifa und derZentralgalaktischen Union in einem verhee-renden Bruderkrieg unterzugehen. Die einzi-ge Möglichkeit, dieses unsinnige Leiden undSterben zu verhindern, war die Flucht nachvorne gewesen, genau fünf Minuten in dieZukunft seinerzeit. Geoffrey Abel Waringerwar der Vater des ATG-Feldes, dessen Ge-heimnis wir von den Bestien erobert und daser in der Folge erheblich verbessert hatte.Ausgeklügelte Schaltungen sorgten dafür,daß das ATG-Feld nicht von der Gegen-

warts-Zeitebene eingeholt werden konnte,sondern daß es sich immer und unter allenUmständen in der relativen Zukunft befand.Auch wenn die RICO Jahre vor der verwai-sten Position warten würde, wir hatten keineAussicht, irgendwann die uns fehlende Zeit-spanne aufzuholen.

Lange konnte das Solsystem sich abernicht vollständig abkapseln. Zwanzig Milli-arden Menschen und Angehörige andererVölker mußten versorgt werden. In der Zahlnoch nicht enthalten waren die Herreach.Selbst bei intensivster Nutzung und unterEinbeziehung modernster High-Tech war ei-ne Selbstversorgung unmöglich - Terra warund blieb auf die Versorgung von außerhalbangewiesen, ein Schwachpunkt, den CistoloKhan hoffentlich einkalkuliert hatte.

Damals war Terra über die Transmitter-strecke von Olymp aus versorgt worden.Aber heute? Es gab ausreichende Vorratsde-pots. Ganz ohne Zweifel. Die Frage war nur,wann das letzte tiefgefrorene Steak und derletzte Salatkopf ausgeliefert sein würden. ImAnschluß daran Milliarden intelligenter We-sen nur mit künstlich gezüchtetem Zellge-webe, sogenanntem Surimi, zu ernähren,war ein Unding. Auch dehydrierte Nah-rungsmittel, Vitaminpillen und ähnlichesblieben nur eine Lösung für zwischendurch.

Ich gab Cistolo Khan eine Galgenfrist vonwenigen Wochen, danach mußten Zugängeins ATG-Feld geöffnet werden. Und egal, obOlymp dabei wieder eine Rolle spielen wür-de oder ob Khan aus verständlicher Vorsichtandere Welten für die Versorgung einge-plant hatte, wir Cameloter würden es erfah-ren.

Ich konnte und wollte aber nicht längerwarten.

*

Die GILGAMESCH stand immer noch3400 Lichtjahre von Sol entfernt über Or-gom, einer der dreihundert von den Tolkan-dern als Brutplaneten okkupierten Welten.Das Entsetzliche und Unbegreifliche war,

Ein kleiner Freund 19

daß auf dieser Welt von einem Moment zumanderen alles intelligente Leben ausgelöschtworden war. Ich entsann mich nicht, jemalsetwas Vergleichbares erlebt zu haben. Or-gom teilte dieses grauenvolle Schicksal mit51 anderen Welten.

Es konnte kein Trost sein, daß auf Orgom»nur« einige hunderttausend Terraner gelebthatten, denn schon jeder einzige Tote warein Toter zuviel. Daß auch zweitausend Tol-kander ums Leben gekommen waren, Nee-zer, Gazkar und Alazar, sogar ein Eloundar,machte die Vorfälle um so mysteriöser. DieMöglichkeit lag nahe, daß die Tolkanderwissentlich in den sicheren Tod gegangenwaren.

Welcher Schrecken hatte sich auf zwei-undfünfzig Welten manifestiert? Und waswar auf diesen Planeten anders verlaufen alsauf den übrigen von Tolkandern besetztenBrutwelten, auf denen Vivoc herangereiftwar?

Gaillon und Matjuula, die ersten beidenWelten, auf denen das Massensterben statt-gefunden hatte, waren von dem ChaeroderAvynshaya noch als Unfall hingestellt wor-den. Inzwischen kannten wir das wahre Aus-maß, und das bedeutete für alle Völker derMilchstraße gelinde gesagt eine Katastro-phe.

Bei den Göttern Arkons, so etwas durftesich nie wiederholen. Niemals!

Was willst du dagegen tun? Cistolo Khanhat dich vorerst ausgeschlossen, auf Arkonbist du unerwünscht, und Camelot alleinverfügt nicht über die nötigen Reserven …

Sei still! herrschte ich den Extrasinn inGedanken an.

Erinnere dich an die Hydra von Lerna,Unsterblicher!

Auch wenn ich es nicht wahrhaben woll-te, der noch sehr halbherzige Kampf der ga-laktischen Völker gegen die Eindringlingeglich dem Kampf gegen die neunköpfigeSchlange aus dem Sumpfgebiet der StadtArgos. Für jeden abgeschlagenen Kopf warein neuer nachgewachsen, und um das Mon-strum wirklich zu besiegen, hatte Herakles

der Hilfe seines Neffen Iolaos bedurft. Miteinem brennenden Scheit hatte Iolaos dieHälse der Schlange ausgebrannt und damitdas Nachwachsen neuer Köpfe verhindert.

Ob wir Cameloter uns mit Iolaos verglei-chen durften, würde die Zukunft erweisen.Aber die Hydra wütete bereits in Gestalt vonNeezern, Gazkar, Alazar, Eloundar und neu-erdings Chaeroder und Physander.

Die RICO näherte sich dem Ziel.»Ende des Überlichtflugs in zwanzig Se-

kunden«, meldete Gerine. In ihren Augenglomm ein nur mühsam verhaltenes Feuer.

Die Tolkander befanden sich nicht zufäl-lig in der Milchstraße, das war ohnehin vonAnfang an schwer zu glauben gewesen.Doch Beweise für die Richtigkeit dieser Be-hauptung besaßen wir erst seit dem Einsatzauf der Methanwelt Akhaar im Treyco-Symm-System. Die Tolkander verfügtenüber detaillierteste Hintergrundinformatio-nen über Terraner, Haluter, Arkoniden, Ako-nen, Blues und alle anderen. Selbst über un-bedeutende Völker, die sich nie auf der ga-laktischen Bühne blicken ließen, wußten siein erschreckendem Umfang Bescheid. Be-sondere Priorität besaßen jedoch die Terra-ner. Eine zweifelhafte Ehre.

Die Invasion hatte damit eine unvorher-sehbare Wende erhalten und eine ungeheu-erliche Dimension. Terra mußte zwangsläu-fig zum Prügelknaben der galaktischen Völ-ker werden, denn vielen war die eigene Hautimmer noch näher als alles andere. Zweifel-los war Cistolo Khans spontane Reaktionauch in der Hinsicht zu sehen.

Auf dem Panoramaschirm wechselte dieWiedergabe. Orgom hing als matt leuchten-de Perle im Weltraum. Die Ortungen holtendie GILGAMESCH auf den Schirm undkurz darauf das 500-Meter-Medoschiff 4CHARITY Wir wurden auf Hyperfrequenzvom Zentralmodul MERLIN angerufen.

»Haben unsere Wissenschaftler neue Er-kenntnisse gewonnen?« unterbrach ich dieStandardbegrüßung des Syntronverbunds,der ebenfalls den Namen Merlin trug.

»Arfe Loidan konnte die Feststellungen

20 Hubert Haensel

untermauern. Wir müssen definitiv davonausgehen, daß auf Orgom etwas entstand,das den Tod aller intelligenten Planetenbe-wohner verursacht hat. Dieses Etwas kannnur aus der Vivoc hervorgegangen sein.«

Zweiundfünfzig Brutplaneten, auf denenjegliches intelligente Leben innerhalb Se-kundenfrist ausgelöscht worden war!

Das bedeutete zweiundfünfzigmal eineunheimliche Bedrohung, von deren Ausse-hen wir uns noch kein Bild machen konnten.

Die Aktionen der Tolkander zielen einzigund allein darauf ab, den Galaktikern zuschaden und unsere Zivilisationen zu zerstö-ren. Möglicherweise droht der ganzenMilchstraße dasselbe Schicksal wie denBrutwelten.

Auf Dauer gesehen auf jeden Fall, be-merkte der Logiksektor sarkastisch. Falls esnicht gelingt, den Invasoren Einhalt zu ge-bieten.

»Merlin«, verlangte ich vom Syntronver-bund der GILGAMESCH, »gib mir eineÜbersicht über die aktuellen Flottenbewe-gungen der Tolkander und ihre Stützpunk-te.«

Auf dem Panoramaschirm erschien diedreidimensionale Wiedergabe eines Kugel-sternhaufens. 47 Tucani, auch unter der Ka-talogbezeichnung NGC 104 bekannt, ledig-lich 15.000 Lichtjahre von Sol in RichtungKleine Magellansche Wolke entfernt. Ein re-lativ alter Sternhaufen, dessen eine MillionSternenmassen aus überproportional vielenRoten Riesen bestand.

Eigenartigerweise war NGC 104 immervernachlässigt worden. Obwohl die Planetender alten Sterne reich an Bodenschätzen seinmußten, hatte nie eine Besiedlung stattge-funden. Selbst für die Explorerflotte war 47Tucani kein lohnenswertes Ziel gewesen.

Warum überhaupt?Jetzt war nicht die Zeit, über Versäumnis-

se der Vergangenheit nachzudenken. DieTolkander jedenfalls hatten genau gewußt,was sie wollten. 47 Tucani war ihr Brücken-kopf in der Milchstraße.

»Derzeit werden keine Igelschiffe außer-

halb des Kugelsternhaufens angemessen«,sagte Merlin. »Sie haben sich zurückgezo-gen und bauen ihre Positionen aus.«

»Eine Vermutung?« wollte ich wissen.»Die Daten wurden durch Fernortungen

und den Einsatz von Hypersonden bestä-tigt.«

In der Wiedergabe flammten nacheinan-der mehr als zwei Dutzend Markierungenauf. Genau sechsundzwanzig, stellte der Lo-giksektor fest.

»Die Stützpunkte bestehen offenbar aufuralten, atmosphärelosen Welten. Ausge-dehnte Rohstoffvorkommen sind anzuneh-men. Alle Positionen der Tolkander liegenin der zur Milchstraße abgewandten Peri-pherie des Kugelsternhaufens.«

Auf Orgom konnte ich nicht helfen. Ichwünschte nur, wir hätten die Bevölkerungdes Planeten rechtzeitig evakuieren könnenund die der anderen Brutwelten ebenfalls,auf denen das Absolutum geschehen war.Was hier noch zu tun war, wurde von Spe-zialisten erledigt. In den kommenden Tagenoder gar Wochen mußten sie ein Puzzleteilans andere setzen. Keine schöne Arbeit, für-wahr, aber dringend nötig, um künftige Ka-tastrophen vielleicht vermeiden zu helfen.

Rachegedanken, Arkonidenfürst?Nur Verbitterung, gab ich lautlos zurück.Rache macht blind, das solltest du wis-

sen. Zum Glück bist du nicht der Typ, dersich an Rachegedanken ergötzen kann.

Man hat uns Galaktiker auf die Wangegeschlagen. Sollen wir wirklich die andereauch noch hinhalten?

Perry Rhodan würde das so sehen.Ich bin nicht Perry! Außerdem weiß er

nichts von den ausgelöschten Welten. SelbstToleranz hat ihre Grenzen.

Falls er noch lebt.Ich gab mir Mühe, die Bemerkung zu

ignorieren, die mich noch weiter aufwühlte.Es fiel alles andere als leicht. Perry Rhodan,Reginald Bull und Alaska Saedelaere warenseit geraumer Zeit verschollen, spurlos ver-schwunden im Pilzdom auf Trokan. Ausge-tauscht gegen Kummerog. So jedenfalls

Ein kleiner Freund 21

stellte sich das Geschehen dar.»Wir fügen die RICO wieder in den Ge-

samtverbund ein«, befahl ich, »und fliegenzurück nach Camelot.«

Gerine, meine Stellvertreterin, zog über-rascht eine Braue hoch. Aber sie schwiegund begann, das Koppelungsmanöver mitder GILGAMESCH einzuleiten. Erst als siemeinen Blick auf sich ruhen fühlte, sprachsie ihre Gedanken laut aus.

»Die Tolkandergefahr ist akuter gewor-den, Atlan. Was immer das Absolutum dar-stellt, das die Bevölkerung getötet hat, dieGefahr einer Wiederholung besteht.«

»Du meinst den Zyklus von Geburt undTod?«

Sie nickte knapp.»Heuschreckenschwärme ziehen weiter, so-bald sie alles kahlgefressen haben. Die Tol-kander werden neue Planeten in der Milch-straße aufsuchen und ihre Vivoc ausbringen.Und aus der Brut schlüpfen wieder Neezerund Gazkar, Alazar und Eloundar. Und amEnde wird abermals jeder sechste Planet ineinem Massensterben entvölkert. - Wer sagtuns eigentlich, daß das sogenannte Absolu-tum nichts anderes ist als das Entstehen neu-er Brut?«

»Dahinter steckt mehr«, behauptete ich.»Und was?«Hermon von Ariga, mein Feuerleitchef,

hatte aufmerksam zugehört. Bevor ich ant-worten konnte, mischte er sich ein.

»Das Absolutum ist vielleicht das Entste-hen fortpflanzungsfähiger Individuen. Icherinnere an verschiedene Insektenarten, diezu bestimmten Zeiten zum Hochzeitsflugausschwärmen. Eine Vielzahl von Männ-chen begattet ein einzelnes Weibchen, das inder Folge nur noch Eier produziert.«

Wie terranische Ameisen, entsann ichmich.

»Wir haben es also mit einundfünfzigmännlichen und einem weiblichen Wesen zutun, die auf den Brutwelten geschlüpft sindund deren einzige Lebensaufgabe darin be-steht, uns mit neuer Vivoc zu beschenken?«fragte Gerine.

Sie wußte selbst, wie unwahrscheinlichdiese Feststellung war. Das war nur eine vonvielen Möglichkeiten. Die Wahrheit lag viel-leicht irgendwo dazwischen oder war für unsmomentan noch völlig unvorstellbar.

Die Vision einer Milchstraße, die Sektorfür Sektor von den Tolkandern in einenFriedhof verwandelt wurde, hatte ich nochnicht. Aber vielleicht war das wirklich nureine Frage der Zeit.

5.

Ilara war vor ihren Eltern wach, und andiesem Morgen war sie wie umgewandelt.Sie bereitete das Frühstück zu auch Mutterverließ sich lieber auf ihre eigene Fertigkeitund bezog das Essen nur hin und wieder ausder Zentralversorgung.

Pluto bekam ein großes Stück Wurst, dieer, getreu seiner Programmierung, mit Heiß-hunger verschlang. Illie gab sich alle Mühe,sich ins beste Licht zu rücken. Dennoch bißsie bei Ron auf Granit.

»Was ich gesagt habe, ist bindend«, be-harrte er nach dem Frühstück. »Noch sechsTage ohne Trivideo, Ilara. Ich hoffe, du ver-stehst, daß ich nicht einfach nachgebenkann. - Übrigens habe ich gestern Yütürümgetroffen. Der Blue ist gar nicht gut auf dichzu sprechen. Was hast du angestellt?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.»Yütürüm wollte auch nicht mit der Spra-

che heraus«, sagte Ron. »Aber ich erfahrenoch, was los ist.«

Illie hatte einige Scheiben Wurst unter ih-rer Kleidung versteckt. Dazu etwas Käseund sogar zwei Eier. Das mußte fürs erstegenügen. Zweifellos wartete Jack schonsehnsüchtig auf sie.

Illie verließ das Transportband, bevor sieden Hort erreichte. Ihr war klar, daß Ronfürchterlich sauer sein würde, wenn er daserfuhr, aber sie konnte nicht anders. Jackbrauchte ihre Hilfe, und Ron hatte immerbetont, wie wichtig es sei, anderen Intelli-genzwesen beizustehen, wenn sie in Not wa-ren.

22 Hubert Haensel

Der Expreßlift brachte sie ins fünfte Un-tergeschoß. Ilara nahm den gleichen Weg,den sie schon vor zwei Tagen gegangen war.Als ihr zwei Techniker entgegenkamen,schaffte sie es gerade noch, sich zu verber-gen. Die beiden redeten laut von Krieg. Ilaraerschauerte und hätte sich beinahe verraten.

»Ich sage dir«, wetterte der eine ungehal-ten los, »die Igelschiffe machen uns fertig.Es kann nicht angehen, daß sie Hunderte be-siedelter Welten überfallen und in 47 Tucanieine Aufmarschbasis schaffen, der wir nichtsentgegenzusetzen haben. Die Völker derMilchstraße verschlafen die Zeichen derZeit, dabei wäre ein Militärbündnis die ein-zig vernünftige Antwort auf die Invasion.«

»Wir gehen verdammt lausigen Zeitenentgegen.«

Ilara vergaß das Gehörte schnell wieder.Der Krieg war so fern und abstrakt für sie,daß sie wenig damit anzufangen wußte.

»Jack!«Sie hastete den schmalen Gang entlang.Die Enttäuschung war grenzenlos Jack

war nicht mehr da. Der Platz, an dem sie ihnim Arm gehalten hatte, war leer.

»Jack, bist du hier? Ich habe dir zu essenmitgebracht und …«

Am liebsten hätte sie laut losgeheult.Nein, weggelaufen war ihr Schützling nicht,allein war er doch hilflos. Eher hatten ihndie Techniker entdeckt und mitgenommen.Was hatten sie mit ihm gemacht? Illie spürteZorn aufwallen. Wer immer Jack ein Leidangetan hatte, sie würde ihm die Augen aus-kratzen, sie …

»Du hast mich lange warten lassen.«Hörte sie die vorwurfsvolle Stimme wirk-

lich, oder entsprangen die Worte nur ihrerPhantasie? Egal. Jack war da, und nur daszählte. Offenbar hatte er sich in der Umge-bung umgesehen, denn er trat soeben hinterdem nächsten Aggregatblock hervor.

»Ich habe dir Essen mitgebracht …«Der Kleine mußte in der Tat halb verhun-

gert sein. Mit beiden Händen stopfte er dieWurst und den Käse in sich hinein. Ausleuchtenden Augen schaute Ilara ihm zu. Sie

war glücklich und hätte ewig so verharrenkönnen.

»Ich mag dich«, sagte sie.Jack kaute mit vollen Backen.»Ich mag dich sogar sehr. Du bist mein

Freund, nicht wahr?«Zaghaft streckte sie die Hand aus, strich

Jack über den Kopf.»Wenn du willst, darfst du in meinem

Bett schlafen, Jack. Wir müssen nur vorsich-tig sein, damit Mum dich nicht entdeckt.Ron würde es ohnehin nicht zulassen. Ichglaube, er ist immer gegen alles.«

Die mitgebrachten Nahrungsmittel warenaufgegessen. Illie lachte leise, als ihr kleinerFreund versuchte, ihr in die Taschen zu fas-sen.

»Ich habe nichts mehr. Aber du be-kommst bald genug, dafür sorge ich. Ganzbestimmt!«

*

Illies Herz hüpfte vor Freude, als Jack mitihr ging. Es bedurfte keiner Worte zwischenihnen, sie verstanden sich auch so.

Seltsam. Sie hatte keine Ahnung, wie sieihren Freund unbemerkt in ihr Zimmer brin-gen wollte, aber sie dachte auch nicht dar-über nach. Vielleicht war Ron inzwischenbei der Arbeit, und wenn sie ganz großesGlück hatte, hielt auch Dindra sich nicht inder Wohnung auf.

Jack tappte mit kurzen Schritten neben ihrher. Illie hielt ihn an der Hand. Es war einangenehmes Gefühl, seine Finger zu spüren-Pluto wirkte dagegen wie tot, ein Spielzeugeben. Überhaupt, der Robothund interessier-te sie mit einemmal nicht mehr, sie hatte ihnohnehin in ihrem Zimmer zurückgelassen.Jack war ein lebendes Wesen, das sie bemut-tern konnte - keine der dummen Puppen imRegal, auch kein chipgesteuertes Stofftier.

Unwillkürlich drückte sie die kleine Handin ihrer Rechten fester. Jack stieß einen kur-zen Zischlaut aus, der sie veranlaßte, sofortwieder locker zu lassen.

»Ich wollte dir nicht weh tun.« Sie ging

Ein kleiner Freund 23

vor ihrem Freund in die Hocke. »Tut mirleid, ich passe künftig auf.«

Er war der Ersatz für das Brüderchen, dassie sich immer gewünscht hatte. In Gedan-ken sah Illie sich vor ihren Eltern stehen undhörte sich stolz sagen, daß sie ihnen die Ar-beit abgenommen hatte. Von jetzt an warensie zu viert; Ron und Dinnie brauchten sichnicht mehr zu bemühen.

Wieder ließ Jack dieses Zischen verneh-men. Dabei hatte sie ihm nur sanft den Kopfgestreichelt.

Im nächsten Moment bemerkte Ilara denWartungsroboter, der sich zielstrebig näher-te. Jack starrte dem Roboter aus weit aufge-rissenen Augen entgegen.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, flü-sterte Illie. »Der tut uns nichts, der nimmtuns nicht einmal wahr.«

Tatsächlich schwebte der Roboter dichtan ihnen vorbei.

»Ich sag' dir doch, ich kenn' mich aus.« Il-lie bedachte den Kleinen mit einem aufmun-ternden Augenaufschlag. »Wir gehören ein-fach zusammen.«

Dabei stellte sie sich die verblüfften undvor allem neidischen Gesichter ihrer Freun-dinnen vor, sobald sie Jack zum erstenmalsahen. Nein, teilen wollte sie nicht, obwohlsie Anne schon von ihm erzählt hatte. Siewar so stolz auf ihr Brüderchen von denSternen, daß sie seine Existenz nicht ge-heimhalten konnte. Sie platzte fast vor Stolz.Nur die bange Frage, wie ihre Eltern reagie-ren würden, bereitete ihr noch einige Sor-gen.

Jack streckte ihr schon wieder die Handentgegen. Ganz klar, auch ihm gefiel es hierunten nicht mehr.

»Du verstehst mich doch, oder? Du ver-stehst alles, was ich sage, aber du bist nochzu klein, um mit mir zu reden.«

Jack tappte wieder neben ihr her. Seinenackten Füße verursachten ein leichtesSchaben auf dem Boden.

Er braucht Schuhe und vernünftige Klei-dung, schoß es Ilara durch den Sinn. Abergleich darauf dachte sie nicht mehr daran.

Jack schien sich ohnehin wohl zu fühlen, so,wie er war.

»Mein Brüderchen«, sagte Ilara Clandorbetont, als sie auf den höheren Etagen denersten Passanten begegneten. Die Männerund Frauen eilten geschäftig weiter, nicktennur knapp. Einige lächelten.

Illie redete fast ununterbrochen. Sieglaubte, Jack alles erklären zu müssen, weiler von den Sternen kam und nicht wußte,was in einer Stadt wichtig war, was man tundurfte und was nicht.

»… manchmal reden die Erwachsenenviel dummes Zeug. Das kommt daher, weilsie uns Kinder einfach nicht verstehen. Siewaren auch mal klein, doch das vergessensie gern. Wenn ich groß …« Sie unterbrachsich, kaute überlegend auf ihrer Unterlippe.»… wenn ich ganz erwachsen bin, werde ichnicht vergessen, daß ich mal ein Kind war.Achtung, jetzt halte dich an mir fest! DenAntigravschacht mußt du gewöhnt sein,sonst verlierst du schnell die Orientierung.«

Gemeinsam glitten sie nach oben. Ilaraließ Jacks Hand nicht los, in ihrer selbster-wählten Rolle als seine Beschützerin fühltesie sich richtig wohl. Sie begann sich bereitsernsthaft zu fragen, wie sie es bisher alleinausgehalten hatte.

Der Antigravschacht endete auf einerHauptetage. In der Nähe führte ein Expreß-lift vorbei. Hier herrschte die übliche Ge-schäftigkeit.

»Hallo, Illie!« Im Vorüberhasten klopfteihr ein älterer Herr auf die Schulter. DasMädchen erschrak im ersten Augenblick,auch Jack schien sich zu verkrampfen, aberdann erkannte sie Mortimer, Annes Großon-kel.

»Wen hast du heute bei dir?« fragte er.»Das ist Jack«, erklärte sie stolz. »Mein

Bruder.«Mortimers Augen wurden größer. »Ich

wußte gar nicht …«, begann er überrascht,wandte sich wortlos um und hastete weiter.

»Mach dir nichts draus!« sagte Ilara zuJack. »So sind die Erwachsenen eben.«

Die Kabine des Expreßlifts war bis auf

24 Hubert Haensel

den letzten Platz belegt. Ilara wollte schonzurücktreten, als überraschend eine Frauausstieg.

»Ihr beide wollt nach oben«, sagte sie.»Bitte, fahrt mit! Ich kann warten.«

Bevor Illie recht verstand, was geschah,zog Jack sie mit sich. Gleich darauf verlie-ßen sie den Lift zwei Etagen unterhalb ihrerWohnung.

»Wir müssen vorsichtig sein«, mahnte Ila-ra, allerdings weniger an Jack als an sichselbst gerichtet.

Sie fürchtete wieder, daß Ron oder Dinnieihren neuen Freund gar nicht gerne sehenwürden. Als sie das Mädchen von außerhalbdes Silos mitgebracht hatte, war es auch sogewesen. Welchen Aufstand hatte ihr Vaterdamals gemacht, nur weil Isola als vermißtgemeldet worden war!

Ilara wählte das Treppenhaus, um auf dieWohnetage zu gelangen. Für gewöhnlich be-gegnete sie auf der Treppe niemandem, auchdiesmal war es so.

Sie versteckte Jack in einer der Grünanla-gen. Von hier aus konnte er die Straße sehenund die Einmündung des Korridors, dernach dreißig Metern zur Wohnung führte.

»Bleib hier, Jack, beweg dich nicht vomFleck! Wenn die Luft rein ist, bin ich gleichzurück und hole dich. Aber falls einer mei-ner Eltern da ist, müssen wir warten, bis ichdich holen kann. Verstehst du?«

Sie hatte den Eindruck, daß Jack zustim-mend nickte. Auch wenn er sich selbst nichtausdrücken konnte, verstand er doch alles,was sie sagte.

Es fiel ihr schwer, Jack allein zu lassen.Ein Gefühl der Leere machte sich in ihrbreit, daß sie am liebsten auf der Stelle um-gekehrt wäre und ihn doch mitgenommenhätte. Ilara mußte sich zum Weitergehenzwingen. Es fehlte nicht viel und sie hättelosgeheult.

Sie glaubte zu spüren, daß Jack hinter ihrherstarrte. Zweifellos erging es ihm ähnlich.Es war schön zu wissen, einen Freund zu ha-ben, der sie brauchte.

Mutter war zu Hause. Sie schien gewartet

zu haben. Jedenfalls öffnete sie die Tür, be-vor Ilke den Kontakt auslösen konnte.

Zwei steile Falten standen auf DindrasStirn, dicht über ihrer Nasenwurzel. Das be-deutete wenig Gutes. Immer wenn Dinniesich geärgert hatte, und meist war Ilara derAnlaß dafür, erschienen diese Falten.

»Wo warst du?« empfing sie ihre Tochter.»Ich …« Fieberhaft suchte das Mädchen

nach einer halbwegs glaubwürdigen Ausre-de, wurde aber sofort unterbrochen.

»Bemüh dich nicht, Ilara! Ich weiß, daßdu den Hort verlassen hast, ohne dich abzu-melden. Aber so geht das nicht. Ich bin ent-täuscht, Illie …«

»Ich habe nichts angestellt, Mum. Ehrlichnicht.«

»Warum hast du dich davongeschlichen?«Ilara preßte die Lippen aufeinander.»Schade«, sagte Dindra. »Ich hatte ge-

glaubt, daß ich mich auf meine Tochter ver-lassen kann …«

»Das kannst du, Mum. Ich …«Ein Ausdruck der Überraschung erschien

auf Dindras Gesicht. Fast gleichzeitig löstesich ihre Anspannung und machte einemnachsichtigen Lächeln Platz. Ihr Blick gingan dem Mädchen vorbei und verlor sich imKorridor. Dann beachtete Dindra ihre Toch-ter nicht einmal mehr, sondern schob siesanft zur Seite und trat einige Schritte nachvorne.

Als sie sich umwandte und sah, was dieAufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich zog,durchlief es Illie siedendheiß. In dem Mo-ment wäre sie am liebsten im Boden versun-ken oder hätte sich unsichtbar gemacht. Sieriß Mund und Augen auf und hatte Mühe,das aufkommende Zittern zu unterdrücken.Daß ihr das Blut ins Gesicht schoß, spürtesie überdeutlich.

Der Ärger war perfekt. Wie hatte sie glau-ben können, daß Jack wirklich allein zurück-blieb und auf sie wartete?

Er kam langsam näher:»Wer ist das?« stieß Dindra hervor. Ihre

Stimme vibrierte merklich.Ich weiß nicht, wollte Illie spontan sagen,

Ein kleiner Freund 25

sie empfand plötzlich Furcht vor ihrer eige-nen Courage, und vor allem verstand sie garnicht, was überhaupt geschah. Doch ihreLippen formten andere Worte.

»Das ist Jack«, hörte sie sich sagen, unddie Erleichterung darüber, daß die Heimlich-tuerei endlich vorbei war, folgte auf demFuß. »Jack ist … mein Freund.«

»Wie lange kennst du ihn schon?«»Seit zwei Tagen.«Für einen Moment wirkte Dindra wieder

ärgerlich. Ihre Lippen bebten. Irritiert schüt-telte sie den Kopf.

»Warum hast du nichts gesagt? Wolltestdu ihn mir vorenthalten?«

Sie blieb vor Jack stehen, der mit seinengroßen dunklen Augen erwartungsvoll zu ihraufschaute, dann ließ sie sich langsam in dieHocke sinken.

»Hallo«, raunte sie, »Illies Freunde sindauch meine Freunde. Eigentlich müßte ichmit ihr schimpfen - es ist unverantwortlichvon Ilara, daß sie dich nicht schon eher mit-gebracht hat.«

Mit beiden Händen umfaßte sie JacksSchultern und lächelte. Dann nahm sie ihnauf den Arm und ging zu ihrer Tochter zu-rück.

»Wo habt ihr euch kennengelernt?«»Ich glaube, er hat keine Eltern«, sprudel-

te es aus dem Mädchen heraus. »Ganz alleinwar er, und er hat sich gefürchtet.«

»Wo?« drängte Dindra.»Im Untergeschoß, bei der Wiederaufbe-

reitung. Er war so hilflos.«»Jack bleibt natürlich bei uns«,stellte Din-

dra unumwunden fest. »Wir bringen in dei-nem Zimmer leicht noch ein Bett unter.«

Illie hätte jubeln können vor Freude.Wenn sie das gewußt hätte! Anstatt sich mitSorgen zu quälen, hätte sie gleich die Wahr-heit sagen sollen, dann wäre alles viel einfa-cher gewesen.

Aber es gab noch ein Problem: Ron. Dadwar immer härter gewesen als Dinnie, erwürde nicht so leicht zu überzeugen sein. InGedanken hörte Illie ihn schon schimpfen:»Wir können ihn nicht einfach zu uns neh-

men, das ist ausgeschlossen. Wofür gibt eseine Meldepflicht, und wer weiß, woherJack überhaupt kommt? Nein, Kind, so gehtdas nicht.«

6.

Wir hatten eine weitere der ausgelöschtenBrutwelten besucht und befanden uns mitt-lerweile im Anflug auf einen dritten Plane-ten, der zum Einflußbereich des Kristallim-periums gehörte. Neue Erkenntnisse gab esnicht.

Verschiedene Bereiche der Milchstraßeglichen einem Ameisenhaufen, in den je-mand mit einem Stecken hineingestochenhatte. Alles wimmelte durcheinander, ver-geblich bemüht, die Schäden einzugrenzen.Andere verbissen sich in den Stock - das wa-ren die Kriegsschiffe des Kristallimperiumsebenso wie schwerbewaffnete Einheiten desForums Raglund. Indes war diese Demon-stration von Stärke nicht anders einzustufendenn als Säbelrasseln. Auf Igelschiffe trafendie Verteidiger nicht.

Die momentane Situation war nicht ein-mal ein Patt. Die treffendste Umschreibungwar die der Ruhe vor dem Sturm.

Während unseres letzten Orientierungs-manövers empfingen wir die Nachricht, daßein Dutzend Großkampfschiffe der Blues 47Tucani angeflogen hatte. Ein verstümmelterFunkspruch war das letzte Lebenszeichendieser Flotte und lag Stunden zurück. Es gabkeine Zweifel daran, daß die Blues ihrenEinsatz mit dem Leben bezahlt hatten.

Einzelaktionen dieser Art führten zunichts, bewirkten höchstens eine weitereVerunsicherung, die irgendwann darin gip-feln würde, daß den Terranern der SchwarzePeter zugeschoben wurde. Denn Terra standauf der Liste der Tolkander ganz oben. Eswar aber ein Trugschluß zu glauben, daß dieBedrohung der Milchstraße vorüber seinwürde, sobald Terra und damit die LFTnicht mehr existierte.

Du fürchtest, Separatisten könnten versu-chen, den Teufel mit dem Beelzebub auszu-

26 Hubert Haensel

treiben, bemerkte der Extrasinn.Nein, so verrückt konnte niemand sein.

Oder doch? Ich traute einigen Völkerndurchaus zu, daß sie mit den Invasoren ge-meinsame Sache machten, nur um die eige-ne Haut zu retten.

Wissen wir, mit welchen Absichten dieBlues den Kugelsternhaufen angeflogen ha-ben?

Nein, das wußten wir nicht. Andererseits -ich konnte es nicht glauben. Ich dachte andie Flotte aus achttausend Diskusraumern,die nach Hirdobaan geflogen war, um denImprint-Süchtigen beizustehen.

Aber du bist dir nicht sicher.Die Saat des gegenseitigen Mißtrauens

begann zu wachsen. Mit einer schroffenHandbewegung wischte ich alle diesbezügli-chen Gedanken beiseite.

Du bist ein verkappter Optimist.Hör auf!Die Lage ist verfahren und wird mit je-

dem Tag unübersichtlicher. Dein eigenesVolk behandelt dich als Verräter.

Ich zuckte mit den Achseln. Das war et-was, mit dem ich ganz allein zurechtkom-men mußte. Mein Ruf war längst ruiniert,ich galt auf Arkon als persona non grata undder Mann, dem nachgesagt wurde, die Impe-ratrice Theta von Ariga erschossen zu ha-ben. Die Vorkommnisse auf dem Komman-doschiff der Chaeroder hatten dem noch dieKrone aufgesetzt. Meine Delegation und ich,wir waren als einzige dem Massaker ent-kommen. Kein Wunder, daß ich lautstark alsVerräter bezeichnet wurde, als Kollabora-teur mit den Tolkandern. Und sei es nur, daßjene, die am lautesten schrien, über ihre ei-genen Vergehen hinwegtäuschen wollten.

Niemand glaubte mir, daß ich Seite anSeite mit Rossom von Atalaya und seinerDelegation gegen die Gazkar gekämpft undihm freigestellt hatte, durch unseren Trans-mitter den Rückzug anzutreten. Rossom undich waren Todfeinde gewesen. Ich verstandsogar, daß niemand mir glauben wollte. Ros-som war lieber in den Tod gegangen, alssich von einem vermeintlichen Verräter wie

mir helfen zu lassen.In beinahe dreizehntausend Jahren hatte

ich oft Verrat, Hinterlist und Intrigen erlebt,aber nie war der Zusammenhalt aller Betei-ligten so wichtig gewesen wie gerade jetzt.Ich für meinen Teil würde jedem die Handzur Versöhnung reichen, der dazu bereitwar.

Die Galaktiker mußten begreifen, daß ihrÜberleben davon abhing, ob sie sich endlichzu gemeinsamen Aktionen gegen die Tol-kander aufrafften. Aber momentan warenwohl die wenigsten bereit, mich überhauptanzuhören.

»Weißt du, Verräter, wie viele Hundert-tausende unseres Volkes auf dieser Welt inFrieden gelebt haben?« Mit diesem Funk-spruch wurde die GILGAMESCH von denArkoniden empfangen. Keine Begrüßung,nichts, nur verhaltene Aggression. »Schade,daß du nicht gelandet bist, bevor der Toddiesen Planeten entvölkerte.«

»Ich biete euch jede nur erdenkbare Hilfean.«

»Verschwinde, Atlan, und scher dich zudeinen terranischen Komplizen! Ach ja, siewollen auch nichts mehr von dir wissen?Wir haben davon gehört, daß das Solsystemverschwunden ist - solche Neuigkeiten ver-breiten sich schnell. Einem räudigen Hundgibt man einen Tritt, einem Verräter auch.«

»Ortung!« Sevia überspielte die Daten aufden Panoramaschirm.

Vier, fünf, sechs Schlachtschiffe des Kri-stallimperiums verließen nacheinander denHyperraum.

»Kollisionskurs! Steigende Energieemis-sionen - sie fahren die Waffensystemehoch.«

Die Arkoniden ließen die Muskeln spie-len. Noch war die Distanz zu groß, aber inwenigen Minuten würden die Kugelraumerauf Schußdistanz heransein.

Das wurde ein klassischer Hinauswurf,denn ein Gefecht war das letzte, auf was ichmich einlassen durfte. Zweifellos würde mirein Rückzug als Feigheit angekreidet wer-den, aber ich mußte schon mit so vielen Ver-

Ein kleiner Freund 27

leumdungen leben, daß es darauf nicht mehrankam.

Sie werden nie auf dich hören, Beuteter-raner. Nicht, solange du den Galaktikernkeine wirksame Waffe an die Hand gebenkannst. Und auch dann wird der arkonidi-sche Stolz schwer zu knacken sein.

»Höchste Beschleunigung!« befahl ich.»Wir drängen uns niemandem auf.«

»Kurs Camelot?«Ich nickte. »Kurs Camelot!« bestätigte

ich.Die GILGAMESCH erreichte Phönix, die

ehemalige Hauptwelt der Freihändler, amspäten Nachmittag des 4. Mai, Standardzeit.

*

Ich saß Myles Kantor gegenüber.Er schien durch mich hindurchzuschauen.

Myles wirkte blaß, Anzeichen seiner Über-arbeitung. Seit wie vielen Stunden mochte ernicht mehr geschlafen haben? Sein mageresGesicht war noch knochiger als für gewöhn-lich, die Augen lagen tief in den Höhlen. Mitfahriger Bewegung wischte er sich die langeblonde Haarsträhne aus der Stirn. Kurzum:alles war wie immer.

Fast alles. In der Luft lag eine ungeheureAnspannung.

»Das Solsystem ist also abgeschottet?«Wie Myles das sagte, klang es unglaublichtraurig.

Ich wußte, wo seine Gedanken weilten.Auf Mimas, in der Medoklinik. Es gab füruns keinen Weg ins Sonnensystem. Jetztnoch nicht.

Die folgende Stille wirkte bedrückend.Trotzdem ließ ich Myles den Moment derBesinnung.

Endlich hob er den Blick.»Du bist nicht gekommen, um mit mir zu

schweigen, Atlan.«»Ich denke, daß es Kallia gutgeht.«»Natürlich.«»Wie kommst du voran mit der Verbesse-

rung des Fünf-D-Indifferenz-Kompensators?«

»Falls du hoff st, das Gerät in Kürze inSerie in unsere Schiffe einbauen zu können,schlag dir das aus dem Kopf!«

»Wo liegt das Problem?«»Das Problem?« Myles Kantor erhob sich

und begann eine unruhige Wanderung. »Ichwäre glücklich, wenn wir nur ein Problemhätten. In Wahrheit sind es eine ganze Men-ge. Keiner aus unserem Team glaubt noch,daß die Neutralisierung des Stotterantriebsder Tolkander bald gelingen wird.«

Myles forderte vom Servo eine Projektionaus dem Sicherheitsbereich an. Hochkompli-zierte Versuchsanordnungen wurden sicht-bar, syntrongesteuerte Simulationen.

»Wir haben uns festgebissen«, sagte er.»Allen Voraussagen zum Trotz gelingt esnicht, die Rechenzeit auf weniger als zehnbis zwanzig Sekunden zu reduzieren. Abergerade das ist für die Erhöhung der Treffsi-cherheit von entscheidender Bedeutung. ZurZeit sind Spezialisten damit befaßt, das Zielunter unterschiedlichsten Voraussetzungenanzugehen. Was wir brauchen, wären meh-rere Igelschiffe, damit wir den Vektor-Sh-redder bis in die kleinste Schraube auseinan-dernehmen können.«

»Wir verfügen über ausreichende Meß-werte«, wehrte ich ab.

»Nicht genug.«Trotzdem. Ich konnte keine Menschenle-

ben einsetzen, um einige Schiffswracks nachCamelot zu bringen.

»Sieh es von der anderen Seite«, forderteich ihn auf. »Die Leistung der Kocos ist zugering.«

Das Herzstück eines jeden5-D-Indifferenz-Kompensators war ein Kon-tracomputer mit der Aufgabe, den wechseln-den Kursvektor eines Igelschiffs zu analy-sieren und den zugrundeliegenden Algorith-mus zuerkennen. Eine übliche Syntronik wä-re damit hoffnungslos überfordert gewesen.Nur Kontracomputer waren in der Lage, alleBewegungen aufgrund der hochgradigenUnwahrscheinlichkeit zu errechnen.

»An der Leistungssteigerung wird eben-falls rund um die Uhr gearbeitet«, erklärte

28 Hubert Haensel

der Wissenschaftler.»Wann?«Myles Kantor schüttelte bedauernd den

Kopf.»Ich kann keinen Termin nennen«, ant-

wortete er. »Alles andere würde nur falscheHoffnungen wecken.«

Ich dachte an Germes Behauptung, daßdie Tolkander bald neue Brutwelten okku-pieren würden.

Selten hatte ich mich so hilflos gefühlt.Aber auch selten so wütend.

*

Seit zwei Stunden befand ich mich wiederan Bord meines Schiffes, als jäh das Konter-fei von Homer G. Adams ein Feld des Pan-oramaschirms überlagerte. Der Blick seinerblaßgrauen Augen huschte durch die Zentra-le der RICO und blieb an mir hängen.

»Atlan«, seine Stimme klang so leise undzurückhaltend wie gewöhnlich, doch seinBlick signalisierte einen bedeutungsschwe-ren Vorfall. »Der Hyperraum-Resonator hatsoeben hyperdimensionale Verzerrungen an-gemessen …« Homer Gershwin sprach lau-ter. »… die erste Analyse läßt ein starkes pa-ranormales Phänomen vermuten.«

»Wo?«Mein erster Gedanke galt zweiundfünfzig

entvölkerten Brutwelten - Planeten, die einesTages zum Mahnmal für alle Galaktikerwerden würden. Bei jeder dieser Welten hat-te der Hyperraum-Resonator starke hyper-strukturelle Verzerrungen angemessen, ähn-lich der Meganon-Welle von Trokan. AufGaillon, einer dieser Welten, hatten wir Indi-zien dafür gefunden, daß eine starke para-mentale Macht entstanden und irgendwohinverschwunden war. Wohin? - Es gab nochkeine Möglichkeit, das zu rekonstruieren.

»Topsid«, durchbrach Homer G. Adamsmeine Überlegungen. »Das Orion-Del-ta-System ist betroffen.«

»Welcher Planet?«Er zuckte mit den Achseln - und ich warf

innerhalb dieses einzigen Augenblicks alle

meine Pläne um.»Der Start der GILGAMESCH wird vor-

verlegt. Wir verlassen Camelot in genau«,ich warf einen Blick auf die Standardzeitein-blendung, »fünfzehn Minuten. Kurs: Top-sid.«

»Alle Daten werden auf den Syntron derRICO überspielt«, sagte Homer.

Sein Konterfei stand noch auf demSchirm, als eine zweite Meldung eintraf:

»Hyperkom von Terra. Der LFTKommis-sar wünscht Atlan zu sprechen.«

Ich sah, daß Adams die Augen aufriß.Doch sein Tonkanal war schon ausgeblen-det, deshalb verstand ich nicht, was er sagte.

»Auf den Schirm mit Khan!«Ein weiteres Segment veränderte sich. Ci-

stolo Khan, der füllige Zwei-Meter-Mann,blickte auf mich herab.

»Hallo, Atlan«, begann er sofort, »meinAbschied fiel beim letzten Treffen den Um-ständen entsprechend leider etwas abruptaus …«

»Das kann man wohl sagen.«Er wirkt abgespannt, registrierte der Ex-

trasinn, beinahe erschöpft.»Ungewöhnliche Umstände erfordern

eben auch ungewöhnliche Maßnahmen.«Khans Charisma war trotz allem ungebro-chen. »Unsere Unterhaltung wurde nicht be-endet, Atlan - lediglich aus wichtigem Anlaßverschoben. Wir sollten uns schnellstenswieder treffen. Auf Hyperfrequenz zu redenist mir zu unsicher.«

Hatte er Neuigkeiten? Auf jeden Fallrannte er mit seiner Bitte bei mir offene Tü-ren ein.

»Ich erwarte dich auf Terra, Atlan. Dufindest den Weg; die Schleusenwächter sindinformiert, die GILGAMESCH passieren zulassen.«

Also hatte er die völlige Isolation aufge-geben. Aber das war vorherzusehen gewe-sen; das Solsystem war weit von einer Aut-arkie entfernt.

Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Nichtauf der Erde, Cistolo«, wehrte ich ab. »Ichschlage Topsid vor.«

Ein kleiner Freund 29

Der LFT-Kommissar kniff die Brauen zu-sammen.

»Ausgerechnet Topsid. Was ist los?«»Wir haben neuerlich Verzerrungen ange-

messen.«»Die Tolkander?« Er stieß den Namen

wie einen Fluch aus.»Vielleicht gibt es eine harmlose Erklä-

rung. Jedenfalls muß ich der Sache nachge-hen.«

»Du glaubst also wie ich, daß Nachlässig-keit in der augenblicklichen Situation töd-lich sein könnte?« Cistolo Khan verzog kei-ne Miene, als ich ihn forschend musterte.»Ich habe deine Verärgerung gespürt, Atlan.Hoffentlich verstehst du nun, weshalb ichdas Solsystem in die Zukunft versetzenmußte.«

Er gefiel mir, weil er selbst vor einsamenEntschlüssen nicht zurückschreckte. Khanhatte das Zeug, eines Tages den Posten desErsten Terraners zu bekleiden. Wußte PaolaDaschmagan, welch starke Persönlichkeitsie sich mit dem LFT-Kommissar ins Hausgeholt hatte?

Das spöttische Lachen des Extrasinns hat-te ich beinahe erwartet.

Vielleicht gibt es in einigen Monaten kei-nen Ersten Terraner mehr. Weil die Tolkan-der ihr Ziel erreicht haben.

Oder die Macht, die hinter den Tolkan-dern steht, gab ich in Gedanken zurück.

Laut sagte ich: »Ich erwarte dich in Tra-cham-Geich. Wann kannst du auf Topsideintreffen?«

»Der 9. Mai, 15 Uhr Standardzeit«,schlug Cistolo vor. »Ich informiere die Stän-dige Vertretung der LFT.« Er unterbrach dieVerbindung.

Homer G. Adams' Konterfei stand nochauf dem Schirm. Kurz hatte er sich zu einerunsichtbar bleibenden Person im Hinter-grund umgewandt, jetzt blickte er wiedermich an.

»Ich hörte eben, daß die Verzerrungen imRaum Topsid abgeklungen sind«, sagte er.»Keine besonderen Feststellungen mehr.«

Das änderte nichts an meinen Absichten.

Minuten später beschleunigte die GILGA-MESCH. Camelot blieb hinter uns zurück,schrumpfte zum Stern unter vielen.

»Die erste Überlichtetappe in acht Minu-ten dreißig«, verkündete Gerine.

Mittlerweile hatte ich die Meßdaten derhyperdimensionalen Verzerrung auf demSchirm. Die eingeblendeten Vergleichswerteder 52 Brutwelten standen daneben zur Aus-wahl. Ich mußte sie nicht miteinander ver-gleichen, das hatte die Syntronik längst erle-digt. Was auch immer auf den Brutweltenim Augenblick des Absolutums entstandenwar, die Amplituden im Heimatsystem derTopsider erreichten ähnliche Ausschläge,nur traten sie nicht so scharf hervor. DasPhänomen bei Orion-Delta wirkte recht ver-waschen - vielleicht eine Folge der längerenzeitlichen Dauer.

Ein wahnwitziger Gedanke durchzucktemich. Was, wenn das Absolutum sich aufTopsid manifestierte?

Ich lehnte mich zurück und schloß dieAugen. In wenigen Stunden würden wirmehr wissen. Hoffentlich.

Topsid gehörte zum Forum Raglund, indem sich vorwiegend einige der Nichthuma-noiden der Milchstraße zusammengeschlos-sen hatten, um gegen die Liga Freier Terra-ner und das arkonidische Kristallimperiumnicht unorganisiert dazustehen. Raglund warein Planet der galaktischen Eastside. De-mentsprechend gehörten Einzelvölker derBlues dem Forum an, ebenso Unither, Che-borparner und Topsider. Aber auch Akonenund Antis waren mit von der Partie.

Topsid, dritter von acht Planeten der Dop-pelsonne Orion-Delta, stand nur 815 Licht-jahre von Sol entfernt. Allein schon die ge-ringe Distanz machte eine Überprüfung derResonatorortung erforderlich.

»Funkspruch von Halut. Mehrfach ver-schlüsselt und gerafft.«

Die Meldung elektrisierte mich. Obwohlich schon lange darauf hoffte - eigentlichfast zu lange. Aber nach der Katastrophe aufden Brutplaneten konnten und durften dieHaluter sich nicht länger zurückhalten.

30 Hubert Haensel

Die Nachkommen der Bestien aus der Ga-laxis M 87 hatten sich endlich entschlossen,ihre gesamte Flotte für den Kampf gegen dieTolkander zur Verfügung zu stellen. Daswaren schätzungsweise zehntausend ihrerschlagkräftigen schwarzen Kugelraumer, ei-ne beachtliche Streitmacht.

Ich mußte an die Lemurer-Kriege denken.Vor fünfzigtausend Jahren hatten die Vor-fahren der heute friedfertigen Haluter Todund Verderben in der Milchstraße verbreitet.Ihre Nachfolger waren noch immer biologi-sche Kampfmaschinen. Wenn sie sich aufdie Laufarme niederließen und Geschwin-digkeiten von bis zu 120 Stundenkilometernerreichten, wenn sie außerdem den atomarenAufbau ihres Körpers strukturell umformten,daß sie in Härte und Widerstandskraft einemBlock aus Terkonitstahl entsprachen, warensie nahezu unbesiegbar. In vollem Laufdurchbrachen die dreieinhalb Meter hohenKolosse massivste Hindernisse.

Daß die Riesen von Halut sich sammel-ten, war für mich die erfreulichste Mittei-lung seit langem. Ich entschloß mich spon-tan zu einem Abstecher.

Die Haluter galten als sture Einzelgänger,die sich auf ihrem Planeten isolierten undihn nur zur Drangwäsche verließen. Sie ge-hörten keinem der galaktischen Machtblöckean, hatten es auch nicht nötig, in der Politikmitzumischen. Um so mehr hoffte ich, daßihr Beispiel Schule machen und einige Völ-ker zum Nachdenken bewegen würde. Viel-leicht war doch noch nicht alles verloren.

Seit wann hast du es nötig, dich auf dasWohlwollen anderer zu verlassen? spottetemein Extrasinn.

*

Drei Überlichtetappen brachten die GIL-GAMESCH nahe an das Aufmarschgebietder Haluter heran.

»Wir werden gescannt«, meldete Sevia.Die Haluter identifizierten die GILGA-

MESCH sofort nach dem Rücksturz in denEinsteinraum, nur wenige Lichtsekunden

von ihrer Flotte entfernt. Was in diesen Se-kunden ablief, war ein Ritual, unnötig imEinzelfall, jedoch standardisiert und deshalbunumgänglich.

»Sechstausend Einheiten sind bereits ver-sammelt.«

Die Position war gut gewählt. Große Dun-kelwolken lagen zwischen dem Aufmarsch-gebiet und 47 Tucani, zudem schirmten star-ke Hyperstrahler die Flotte ab. Die Tolkan-der konnten gewiß nicht auf Anhieb erken-nen, was sich zusammenbraute.

Und selbst wenn … Die Invasoren fürch-teten die Haluter nicht, davon war ich festüberzeugt. Ihre Daten über die Milchstraßewaren derart detailliert, daß sie von vornher-ein gewußt hatten, wo mit Widerstand zurechnen war.

Das Abbild eines Haluters entstand aufdem Panoramaschirm. Seine drei rotglühen-den Augen schienen mich durchbohren zuwollen. Der breite Mund mit den schmalenLippen entblößte das raubtierartige Gebiß.

»Ich bin Tomo Mirkus«, dröhnte er. »Siereden mit dem Sprecher der Flotte von Ha-lut.«

»Ich danke dem Volk der Haluter für sei-ne Solidarität.«

»Wenn es sein muß …« Der schwarzhäu-tige Koloß schob mir seine Augen eineHandspanne weit entgegen. Das war die ein-zige sichtbare Regung. »Wir werden die Si-tuation in 47 Tucani erkunden und unsereEntscheidung darauf aufbauen.«

»Das heißt, Sie werden die Tolkander an-greifen. Unter einem gemeinsamen Kom-mando?«

Tomo Mirkus' Mund verzog sich zu einerunheilvollen Geste, als er das Äquivalent ei-nes menschlichen Lächelns versuchte.

»Nein, Atlan«, erwiderte er. »Auf gar kei-nen Fall werden wir uns dem Befehl irgend-welcher Galaktiker unterstellen, mögen sieder LFT angehören, dem Forum Raglundoder dem Kristallimperium.«

Haluter besaßen einen eigenen Stolz, undihr Zusammenleben ließ keine festen Regelnin unserem Sinn erkennen. Abgesehen von

Ein kleiner Freund 31

extremsten Situationen konnte kein Halutereinem anderen Befehle erteilen. Falls Pro-bleme auftauchten, wurden diese frei ausdis-kutiert. Alles andere war undenkbar.

»Wenn es Ihnen recht ist, werden wir un-sere Aktionen mit den anderen galaktischenEinheiten abstimmen. Das bewahrt Effekti-vität und verhindert Reibungsverluste. Wirwurden von den Terranern um Beistand ge-beten - wir versagen unsere Hilfe nicht.«

»Könnte es sein, daß die Geschehnisseauf den Brutwelten dafür ausschlaggebendwaren?« wollte ich wissen.

Der Haluter blickte mich starr an.»In gewisser Weise«, sagte er. »Sie wis-

sen, daß Icho Tolot bei seinem Einsatz aufLafayette die Wirkung des Tangle-Scansneutralisieren konnte. Im nachhinein stelltesich jedoch heraus, daß sein OrdinärhirnSchaden genommen hat. Auch der Mausbi-ber Gucky war von dem Einfluß betroffenund hat sich deshalb Tolot angeschlossen.Ich meinerseits habe mich bereit erklärt, dietatsächliche Wirkung des Tangle-Scans aufuns Haluter zu testen und umfangreiche Un-tersuchungen auf einer der besetzten Weltenvorzunehmen. Meine Wahl fiel auf das Ar-loga-System und den Planeten Orgom - daßausgerechnet Orgom zu den Welten gehört,die entvölkert wurden, mag eine Ironie desSchicksals gewesen sein. Wir wissen nun,daß wir nur während und nach der Drangwä-sche durch den Tangle-Scan massiv gefähr-det sind. Indes unterliegt nur unser Ordinär-hirn der besonderen Strahlung, das Planhirnreagiert nicht darauf.«

Für einige Sekunden schien er zu erstar-ren, wirkte der Haluter so regungslos wieaus schwarzem Stein herausgemeißelt, dannschüttelte er sich.

»Eine kurze Irritation«, sagte er, »die aufdie Umstände auf Orgom zurückzuführenist. Taro Phontes nannte es einen Echoef-fekt, der jedoch fast abgeklungen ist.«

»Die Haluter werden eine unschätzbareHilfe sein, wenn es darum geht, von Tolkan-dern besetzte Welten zu erkunden«, sagteich anerkennend.

»Wir werden die Informationen allen zu-gänglich machen.«

»Den Terranern ist bewußt, daß es längstnicht mehr um Wohl und Wehe eines einzel-nen Volkes geht. Das Schicksal der Milch-straße steht auf dem Spiel.«

In Tomo Mirkus' lederhäutigem Gesichtlag ein Ausdruck, den ich nicht zu deutenvermochte.

Du Narr, raunte der Extrasinn. DeineWorte stehen in krassem Widerspruch zudem, was mit dem Solsystem geschehen ist.

Wußten die Haluter bereits von der Akti-vierung des Antitemporalen Gezeitenfelds?Dann mußten sie sich vorkommen wie Ka-nonenfutter. Sie wurden in die Schlacht ge-worfen, während andere sich im Schutz derZeit sicher wähnen durften.

»Ich gehe davon aus, daß es Sie interes-siert, Atlan«, fuhr der Haluter unvermitteltfort. »Von Icho Tolot und dem Mausbibergibt es noch immer kein Lebenszeichen.Sechs Schiffe sind nach Fornax aufgebro-chen, um das Verschwinden der beiden zuuntersuchen.«

Ein neuer Pulk einhundertundzwanzigMeter durchmessender mattschwarzer Ku-gelraumer materialisierte. Jedes Schiff konn-te von einem einzigen Haluter geflogen wer-den.

Der vorübergehend zu verzeichnende in-tensive Funkverkehr nahm Tomo Mirkus'Aufmerksamkeit in Anspruch. Dann wandteer sich wieder mir zu und entschuldigte sichfür die Unterbrechung.

Zwanzig Minuten später trafen wir unsauf der RICO zu einem»Gedankenaustausch«.

Tomo Mirkus wußte vom Verschwindendes Solsystems. Zweifellos verbreitete sichdie Nachricht wie ein Lauffeuer in derMilchstraße. Das war Wasser auf die Müh-len gewisser Kreise, die nur darauf warteten,Terra in einer schlechteren Position zu se-hen.

Der Haluter zeigte sich dennoch aufge-schlossen. Er verstand die tieferen Beweg-gründe.

32 Hubert Haensel

»Ich wünschte, wir hätten Haluta in dieZukunft versetzen können, als unsere Hei-mat von den Blitzern verwüstet wurde«,grollte er. »Das war der finsterste Zeitpunktin der Geschichte unseres Volkes.«

Wir redeten lange. Und wir waren uns ei-nig, daß die Bedrohung durch die Tolkanderdas Galaktikum wieder zusammenschwei-ßen mußte. Die Zeit taktischer Lippenbe-kenntnisse war vorbei, nun zählten Taten.

Weitere hundert Kugelraumer hatten sichder Flotte angeschlossen, als die GILGA-MESCH nach Stunden wieder Fahrt auf-nahm.

Das Orion-Delta-System war nach wievor unser Ziel, lächerliche 815 Lichtjahrevon Terra entfernt.

7.

Er hatte seine geistigen Fühler ausge-streckt und sich in die für ihn fremde Umge-bung vorgetastet. Ringsum war pulsierendesLeben - die beste Orientierungshilfe, die ersich wünschen konnte. Lebensimpulse wa-ren die stärkste Kraft des Universums.

Noch war er körperlich schwach und ver-letzlich. Er lernte aber schnell, sich in derfremden Umgebung zu behaupten.

»Wer bin ich?«Eine Frage ohne Antwort. Vorerst noch.

Andere würden ihm bei der Suche nach derAntwort behilflich sein, würden ihm jedeHilfe angedeihen lassen, bis er gelernt hatte,sich selbständig weiterzuentwickeln.

»Ich muß erfahren, wer ich bin. Und ichmuß meine Umgebung begreifen und diefremden Wesen um mich herum verstehen.«

8.

Ilara Clandor war glücklich. Sie hatteJack ihr Bett abgetreten, und der Kleine saßzwischen ihren Stofftieren und ließ die Bei-ne über den Bettrand baumeln. Mit seinengroßen Augen suchte er unaufhörlich dasZimmer ab.

Illie kauerte vor ihm. Sie himmelte ihren

neuen Freund an. Und sie redete fast unun-terbrochen. Sie erzählte von sich selbst, vonihren Freundinnen und den Nachbarn im Si-lo.

»… sag mir, was du gerne sehen möch-test, Jack! Wenn du willst, gehen wir zusam-men zum Raumhafen. Dort ist es toll, sageich dir. Erst aus der Nähe siehst du, wie rie-sig manche Schiffe sind …«

Dindra steckte den Kopf zur Tür herein.Sie lachte.

»Überfordere ihn nicht, Illie. Vielleicht ister noch schwach; du weißt nicht, wie langeer allein war.«

Mit einer wütenden Handbewegungscheuchte Ilara den Robothund zur Seite, derneugierig an Jacks Beinen schnüffelte.»Kusch, Pluto, laß das! Du machst Jackangst.«

»Ich werde ihn desaktivieren«, schlugDindra vor.

Augenblicke später stand Pluto regungs-los in einem Regal, und Ilara wirkte sichtlicherleichtert.

»Robotspielzeug ist für kleine Mädchen«,behauptete sie im Erwachsenentonfall. »Ichhabe ja jetzt Jack.«

»Ich will das Essen ordern«, entsann Din-dra sich, als sie dem neuen Familienmitgliedsanft über den Kopf strich. »Was mag Jackam liebsten?«

Ruckartig wandte der Kleine den Kopfund lächelte Dindra an. Sanfte Laute kamenüber seine Lippen - eine eigentümliche Me-lodie, die Dinnie angenehm berührte. Füreinen Moment war ihr, als sei sie nie in ih-rem Leben so zufrieden gewesen wie ausge-rechnet jetzt … bis Illies Stimme sie auf denBoden der Realität zurückholte.

»Jack ist mit allem einverstanden, Mum.«»Aber … ich will ihm eine Freude ma-

chen.«»Das weiß er. - Ich glaube, er hat keinen

Hunger.«Ilara tastete nach der Hand ihrer Mutter,

drückte sie fest. Das war ihre Art, Dankbar-keit zu zeigen. Und Dindra nickte nur knappund schwieg ebenfalls. Es war, als hätte sich

Ein kleiner Freund 33

eine Aura des Friedens und des Glücks übersie ausgebreitet.

»Behalten wir Jack?« wollte Ilara unver-mittelt wissen.

Ihre Mutter schreckte auf. Gedankenver-loren hatte sie eben begonnen, mit einemFinger bizarre Muster auf den Bezug desMehrzweckmöbels zu malen.

»Aber natürlich. Wie kannst du überhauptdenken, wir würden ihn jemals wieder her-geben?«

Jack hatte damit begonnen, einen Plüsch-Gucky zu untersuchen. Vorsichtig drehteund wendete er ihn, schließlich biß er kurz-erhand in den platten Biberschwanz.

Illie lachte hell auf. »Das ist Gucky, derRetter des Universums. Den kannst du nichtessen.«

Auf dem Schwanz herumkauend, legteJack den Kopf schräg.

»Guuh … ggi«, kam es dumpf über seineLippen.

»Sag Illie!« platzte das Mädchen heraus.»Illie!«

Jack produzierte eine Lautfolge, die sichentfernt so anhörte. Daß er gleich daraufdem Mausbiber den Schwanz abbiß und dasInnenleben der Puppe über den Boden ver-streute, interessierte Ilara schon nicht mehr.

Schritte näherten sich dem Kinderzimmer.Ronald erschien in der Türöffnung.

»Mir reicht's für heute«, verkündete er.»Was glaubst du, Dinnie, was in der Milch-straße los …« Er stockte, seine Miene ver-düsterte sich für einen Moment, dann be-gann er, seine Augen zu massieren. »Ichglaube, ich bin wirklich überarbeitet«, stießer seufzend hervor. »Wenn ich dir sage, wasich da neben euch sitzen sehe, wirst du mirnicht glauben.«

»Das ist Jack«, platzte Dindra heraus.»Ein Mon … - Jack?« Ron reagierte ver-

wirrt. »Wer zum Teufel ist Jack?« Er ließdie Hände sinken, und ein Lächeln ver-drängte seine angespannten Gesichtszüge.»Also, Illie, weißt du … Er ist dein Spielka-merad? Wird er bei uns schlafen?«

»Du hast nichts dagegen?«

Bevor Ron es sich versah, war Ilara auf-gesprungen, hatte sich ihm an den Hals ge-worfen und bedeckte sein Gesicht mitschmatzenden Küssen.

Lachend schob er das Mädchen von sich.»Ich bin müde, Illie. Und ich habe Hunger.Es ist längst Zeit fürs Abendessen.«

»Ich wollte eben die Bestellung …« Din-dra stutzte. »Wieso denn Abendessen?«

»Weil ich einen Tag hinter mir habe, wieich mir so schnell keinen zweiten wünsche.Im Transmitterbereich ist die Hölle los.Sechs Mehrstunden, das reicht fürs erste,aber wahrscheinlich wird es in den nächstenTagen nicht besser. Das Solsystem ist abge-riegelt; ich glaube, Sol und alle Planetenwurden irgendwie in die Zukunft versetzt.Keine Ahnung, wie das geht. Jedenfalls wur-de unser gesamter Zeitplan durcheinander-geworfen, ganz abgesehen davon, daß sichBerge von Containern stapeln und momen-tan niemand weiß, wohin damit.«

Seltsamerweise berührte die FeststellungDindra überhaupt nicht. Nur ihr flüchtigerBlick auf die Uhr verwirrte sie. Von wegen14 Uhr Ortszeit, wie sie eben noch geglaubthatte. Es war sechs Stunden später. Illie undsie hatten lange mit Jack gespielt.

Gedankenverloren betrachtete sie ihreHände und begann, die Fingerspitzen anein-anderzulegen.

Sekunden später gab sie sich einen Ruck.Im Weggehen hörte sie noch, wie ihr MannIlara fragte: »Wie alt ist er denn, dein klei-ner Freund?«

*

Eine sanfte Berührung an der Schulterschreckte Ronald Clandor aus tiefem Schlafauf. Er hatte Mühe, sich zurechtzufinden,war noch in dem Alptraum gefangen, derihm zugesetzt hatte. Dann aber spürte erDindras heißen Atem an seinem Ohr.

»Ich habe nachgedacht«, flüsterte sie ne-ben ihm. Ihre Hände gingen auf Wander-schaft, begannen an seinen Brusthaaren zuzupfen. Das tat sie immer, wenn sie mehr

34 Hubert Haensel

von ihm wollte als ein hingehauchtes »GuteNacht, Schatz«.

»… ich bin müde«, murrte Ron, schob ih-re Hände zur Seite und wälzte sich auf denBauch.

»Wir haben allen Grund, glücklich zusein«, fuhr Dinnie ungerührt fort. »Ich habenachgedacht. Ich bin zu dem Entschluß ge-kommen, daß wir Jack adoptieren sollten.Einen Sohn haben wir uns schließlich immerschon gewünscht.«

»Hm«, machte Ron schläfrig.»Du bist einverstanden?«»Ich freue mich auch, daß Illie den Jun-

gen mit nach Hause gebracht hat«, erklanges dumpf aus dem Antigravkissen. »Er istnur ein wenig dürr und schlaksig. Irgendwiemacht er auf mich den Eindruck, daß er vielzu schnell gewachsen ist. Vielleicht einGenschaden.«

Dindra richtete sich auf den Knien aufund stemmte die Fäuste in die Taille. »Ichweiß nicht, was du dir einbildest, aber Jackist für sein Alter eher zu klein. Und dürr? Duscheinst überarbeitet zu sein.«

»Adoptiere ihn, mach, was du für richtighältst, aber laß mich schlafen.«

»Ist das alles, was du willst?« DindrasStimme vibrierte vor Enttäuschung. »Ich binso glücklich …«

Ihre Finger marschierten Rons Rückgratentlang. Doch ehe sie ihr Ziel erreichten,verrieten gleichmäßig tiefe Atemzüge, daßRon Morpheus' Arme den ihren vorgezogenhatte.

Dindra schmollte. Sie konnte nicht schla-fen. Irgendwann stand sie auf und ging insKinderzimmer hinüber. Ein fahler Licht-schimmer zeigte ihr, daß Jack selig im Bettlag.

Ilara, in Embryonalhaltung zusammenge-kauert, hatte es sich zu Jacks Füßen bequemgemacht. Auch ihre Gesichtszüge wirktenentspannt und glücklich. Im Schlaf flüstertesie Jacks Namen.

Leise zog Dindra die Tür hinter sich insSchloß.

*

Sie schlief lange, viel länger als für ge-wöhnlich. Ron hatte den Weckservo abge-schaltet, und nur das glockenhelle Kinderla-chen aus dem Nebenraum hatte sie geweckt.

Elf Uhr vorbei. Dindra verzichtete den-noch nicht auf die übliche ausgiebige Kör-perpflege. In der Naßzelle fand sie eineNachricht von Ron: »Du hast so zufriedenausgesehen, daß ich es nicht fertigbrachte,dich aus dem Schlaf zu reißen. Ich lade fürheute abend Gäste ein - sie sollen Jack ken-nenlernen.«

Seltsam. Das hatte sie ebenfalls vorge-habt.

Das Kinderlachen wurde lauter - undbrach auf dem Höhepunkt ab. Ilara begannwütend zu schimpfen.

In fliegender Hast warf Dindra sich ihreKleidung über und hastete aus der Naßzellein den Korridor.

Tränen flossen. Anne und ein gleichaltri-ges Mädchen waren zu Besuch. Und Illiestand wie ein Racheengel vor der Tür zu ih-rem Zimmer und versperrte den Durchgang.

»Verschwindet!« keuchte sie. »Jack istmein Bruder.«

»Ilara!« Dindra Clandor nannte ihreTochter Ilara, sobald eine Strafpredigt folg-te. »Jack ist nicht dein Eigentum. Warumläßt du ihn nicht selbst entscheiden, mitwem er spielen will?«

Der Trotz blitzte in Ilaras Augen. »Siewollen Jack für sich«, protestierte sie.

»Das ist nicht wahr«, schluchzte Anne.»Wir wollen ihm nur helfen. Er ist so lieb,aber er braucht Hilfe.«

»Nur wenn sie mir Jack nicht wegneh-men.« Ilara stampfte trotzig mit dem Fußauf.

»Ihr habt es gehört.« Dindra wandte sichan die beiden Mädchen.

Anne schniefte und wischte sich mit demHandrücken die Tränen von der Wange.

»Sie sollen es mir versprechen!« beharrteIlara.

Ein kleiner Freund 35

»Ich verspreche es«, schluchzte Anne.»Aber bitte, laß uns wieder mit Jack spie-len.«

Eine Weile schaute Dindra den Kindernzu. Nein, dürr oder schlaksig war der Jungeüberhaupt nicht. Wo Ron nur wieder die Au-gen gehabt hatte! Sie fand, daß Jack einschönes Kind war, genau so, wie sie sich ih-ren Sohn immer vorgestellt hatte, den sie ei-ner Operation wegen aber nicht mehr be-kommen konnte.

Anne und Claudia, so hieß das andereMädchen, dachten gar nicht daran, nachHause zu gehen. Doch als sie sich zum drit-tenmal wegen Jack in die Haare gerieten,daß er erschrocken sein Heil in der Fluchtins Kinderzimmer suchte, hatte Dindra ge-nug und schickte die Mädchen heim.

»Was ich gesagt habe, gilt auch für dich«,wehrte sie entschieden ab, als Illie allein sostürmisch weitermachen wollte, wie sie auf-gehört hatten. »Denkst du nicht daran, daßJack auch mal Ruhe braucht? Er ist keinSpielzeug, mit dem du unermüdlich herum-tollen kannst.«

»Aber ich bin nicht müde«, protestierteIlara.

»Jack bleibt jetzt bei mir. Schluß undaus!«

Dindra suchte Schreibfolie und Stifte undbegann für Jack zu malen. Sie war aus derÜbung. Schön wurden die Bilder nicht, eherein Durcheinander geometrischer Figuren,aber der Junge schien daran Gefallen zu fin-den.

Inzwischen tobte Ilara ihren Zorn an Plutound etlichen ihrer Puppen aus. Nach einerhalben Stunde glich der Boden in ihremZimmer einem Schlachtfeld - verbogene,zerbrochene Gliedmaßen vermischten sichmit Chips, Steckverbindungen und Stoffet-zen. Ilara trampelte auf den Trümmern her-um und schluchzte heftig.

»Nehmt mir Jack nicht weg! Das dürft ihrnicht tun. Niemand darf das!«

Der Abend verlief wieder weitaus harmo-nischer. Ronald hatte zwanzig Freunde undArbeitskollegen eingeladen, und bis auf

zwei waren alle gekommen. Lediglich SybilMoltrans und ihr Mann wußten schon vonJack, die anderen waren überaus gespanntund neugierig.

»Ron hat wahnsinnig geheimnisvoll getanund von einer riesigen Überraschung ge-sprochen«, wandte sich eine der Frauen anDindra. »Was ist los bei euch? Bist du amEnde doch wieder schwanger? Ich würde esdir wünschen, Dinnie.«

Dindra schüttelte den Kopf.In dem Moment brachte Ronald Jack her-

ein. Schlagartig verstummte jede Unterhal-tung. Die nachfolgende Stille war keines-wegs bedrückend, vielmehr hatte jeder derAnwesenden das schwer zu beschreibendeEmpfinden einer erhebenden Begegnung.

Sybil war die erste, die ihren Gefühlen ineiner herzlichen Gratulation Luft verschaff-te.

»Ron, Dinnie, ich weiß gar nicht, was ichsagen soll. Nachdem Anne von eurem Ad-optivsohn so geschwärmt hat, war ich auf ei-niges vorbereitet, aber mir fehlen fast dieWorte. So ein schönes Kind habe ich nie ge-sehen.«

Von allen Seiten wurden die Clandors be-stürmt. Es war wie eine Flutwelle, die jähüber ihnen zusammenschlug und ihnenkaum noch Raum zum Atmen ließ. Nur Ilarastand dabei abseits und wurde kaum beach-tet. Aber das machte ihr im Augenblick we-nig aus. Sie war stolz auf ihr Brüderchen.

Die Gäste brachten einen Toast aus. Unddann ging die Knutscherei los, die Illie soverabscheute. Doch diesmal war nicht siedas Opfer, sondern Jack. Jeder wollte ihn imArm halten, ihn herumwirbeln und sein La-chen hören.

»Halt!« erklang es plötzlich. »Sag dochmal einer, wem der Junge ähnlich sieht. Ichfinde, er ist Dinnie wie aus dem Gesicht ge-schnitten.«

»Sie ist nicht seine leibliche Mutter«, er-innerte Sybil.

»Trotzdem. Diese ausdrucksvollen blauenAugen und das helle Haar …«

»Bist du farbenblind? Die Augen sind ein-

36 Hubert Haensel

deutig grün.«»Sie schimmern rötlich«, platzte ein drit-

ter heraus. »Ich sage euch, das Kind hat ar-konidisches Blut in den Adern.«

»Also, mir ist die Augenfarbe egal. Ichfinde den Jungen allerliebst. Und auf jedenFall kommt neues Leben ins Haus.«

Das konnte man wohl sagen. Jeder fandauf seine Weise etwas anderes, was ihm anJack besonders gefiel.

Als zu fortgeschrittener Stunde und nachetlichen Glas Vurguzz Ted Moltrans unver-mittelt ausfällig wurde, war es mit der gutenStimmung jäh vorbei.

»Soll ich euch die Wahrheit sagen?«ächzte er. »Ja? Der Junge gehört nicht hier-her. Und auf mich wirkt er abstoßend.Schaut euch doch die Schuppenhaut an unddiese dürren Knochenärmchen. Das ist keinMensch. Oder seit wann hat ein Mensch anjedem Arm zwei Ellenbogen?«

Endlich war es heraus. Nach Beifall hei-schend, blickte Ted um sich. Doch er sahnur abweisende Gesichter.

»Du bist betrunken«, sagte Ron. »Ich den-ke, es reicht für heute.«

»Ja? Glaubst du?« Ted kippte noch einGlas in sich hinein. »Ich denke, es ist Zeit,daß euch einer sagt, was los ist. Für mich istdas kein Kind, sondern ein …«

Er verdrehte die Augen, begann zu keu-chen. Zeitlupenhaft langsam sackte er insich zusammen und krümmte sich auf demBoden, ein Häufchen Elend.

»Ich muß mich für ihn entschuldigen.«Sybil war fassungslos. »Dinnie, Ron, das tutmir leid. So kenne ich meinen Mann nicht.«

»Er hat ein Glas zuviel getrunken«, stellteDindra sachlich fest.

Zwei Männer faßten Ted unter den Ach-seln und wuchteten ihn hoch.

»Bringt ihn nach Hause!« ordnete Sybilan. »Damit er seinen Rausch ausschlafenkann.«

Ilara nutzte die vorübergehende Konfusi-on und zog Jack einfach mit sich. »Hier istes nicht mehr schön«, wisperte sie.

Jacks Arme, fand sie, waren überhaupt

nicht knochig. Im Gegenteil. Eher wirkte ihrBrüderchen inzwischen pummelig. DerKleine hatte, seit sie ihn im Untergeschoßgefunden hatte, merklich zugelegt. Aberkein Wunder, er mußte halb verhungert ge-wesen sein.

Jack schlief ein, kaum daß er, angezogenwie er war, im Bett lag. Ilara kuschelte sichan ihn, legte schützend ihren Arm um ihn.Sie schlief noch nicht, als kurz darauf dieTür aufgestoßen wurde, aber sie kniff in-stinktiv die Augen zu.

»Lassen wir die beiden schlafen«, ver-nahm sie Dinnies Stimme. »Morgen ist auchnoch ein Tag.«

*

Über Nacht war Jack wieder ein Stück ge-wachsen. Ilara akzeptierte diese Feststel-lung, ohne darüber nachzudenken. Immerhinwar Jack, wenn er noch etwas größer wurde,der ideale Spielgefährte.

Dindra schien nichts davon zu bemerken.An diesem Morgen blieb ihr aber ohnehinkaum Zeit für sich selbst.

Zuerst wurde sie über Interkom angeru-fen. Die beiden Gäste, die am vergangenenAbend nicht erschienen waren, schienen al-les recht ausgiebig nachholen zu wollen.Mindestens eine halbe Stunde lang redetensie, bis Dindra endlich auf die Idee kam,Jack vor die Aufnahmeoptik zu holen. Dochder dachte nicht daran, sich stören zu lassen.Und als Illie es endlich schaffte, ihn in denNebenraum zu bugsieren, brach die Verbin-dung ab. Irgendeine Störung im Übertra-gungsmodul.

Den ganzen Tag über herrschte ein Kom-men und Gehen. Fast der gesamte Freundes-und Bekanntenkreis wollte Jack sehen. DieNeuigkeit sprach sich schnell herum.

Alle fanden Jack süß. Jeder bemutterteihn.

Zuerst empfand Ilara Stolz. Aber als sieüberhaupt nicht mehr mit Jack allein seinkonnte, reagierte sie allmählich ungehaltenund schließlich eifersüchtig. Vor allem schi-

Ein kleiner Freund 37

en Jack zunehmend Gefallen daran zu fin-den, daß jeder ihn verhätschelte.

Achtundsechzig Familien oder Einzelper-sonen gehörten zur Clandors Family, demengsten Bekanntenkreis. Fast alle kamen siean diesem Tag, und der eine oder anderebrachte weitere Nachbarn mit, die Jack ge-bührend bewunderten. Jeder freute sich mitden Clandors.

»lack ist mein Bruder«, schimpfte Ilara.»Ich habe ihn gefunden, nicht die alle!«

Der Tag wurde zur Qual.Die Nacht auch. Ilara war viel zu aufge-

wühlt, um wirklich schlafen zu können. UndJack saß auf der Bettkante und schaute ihraus seinen großen Augen zu, wie sie aus ih-rer Unruhe heraus eine Schreibfolie nach deranderen mit wirren Linien bernalte.

»Irgend etwas muß ich doch tun«, jam-merte sie. »Sonst platze ich. Ich muß hierraus aus dieser Enge, war schon lange nichtmehr im Silo unterwegs.«

Wir gehen. Morgen!Zuerst war sie sprachlos und starrte Jack

entgeistert an. Dann verstand sie, daß ernicht wirklich zu ihr gesprochen hatte. Viel-leicht hatte er auch die üblichen Laute aus-gestoßen, doch die Worte, die sie eben ver-nommen hatte, waren in ihrem Kopf entstan-den. Einfach so.

»Mann o Mann!« raunte sie. »Das glaubtmir keiner. Aber ich sag's auch keinem. Istdas richtig, Jack?«

Vergeblich wartete sie darauf, die Stimmewieder zu hören. Der Kleine war eingeschla-fen.

Auch Ilara fand ebenfalls bald Ruhe. Sieträumte von seltsamen Mustern, sah sichselbst vor einer Schreibfolie knien und mitweit ausholenden Bewegungen schwungvol-le Linien ziehen.

*

»Jack und ich sehen uns ein wenig im Siloum.«

Ilara hatte zwar gehofft, daß ihre Mutterkeine Einwände haben würde, daß Dinnie so

spontan nickte, überraschte sie dennoch.»Kommt nicht wieder so spät.«Das pulsierende Leben im Silo war Frei-

heit. Eingeengt zwischen den Wänden derWohnung verkümmerte Illie wie eine Blumeohne Wasser.

»Das warst du, oder?« wandte sie sich anJack. »Du hast Mum beeinflußt, damit sieuns gehen läßt?«

Sie erhielt keine Antwort. Aber das warauch nicht wichtig.

»Hallo, Illie! Du gehst mit deinem Brü-derchen spazieren? Ihr seid ein schönesPaar.«

Warum liefen ihr ständig Bekannte überden Weg? Illie sprang mit Jack in den näch-sten Antigravlift und verließ ihn erst zehnEtagen tiefer.

Wildfremde Personen blieben unvermit-telt stehen und lachten sie an.

»Ist das dein Bruder, Mädchen? Darf ichihn streicheln? Er ist süß, so ein nettes Kindsieht man selten.«

»Eure Eltern sind zu beneiden. Wo wohntihr beide?«

»Dein Bruder ist älter als du, nicht wahr?Aber ihr seid euch so ähnlich …«

Früher hatte sie noch Spaß gehabt, den Si-lo zu erkunden; heute war das anders. Allegafften, starrten sie an wie ein Weltwunder.Ilara atmete erleichtert auf, als sie endlichden Hauptkorridor verließen. Die Straße warzwar nicht mehr so belebt, dafür aber prunk-voll angelegt. Die Schaufenster spiegeltenEleganz, überwiegend Schmuck und kostba-re Kleidung wurden präsentiert.

Ilara hatte schon oft ihre Nase an den For-menergiescheiben plattgedrückt. Das Fun-keln in den Vitrinen erinnerte sie an dasSternengewimmel bei klarem Nachthimmel.

Ein Raumschiffsmodell war ausgestellt.Es sah aus wie ein großer Würfel. Nein,dachte Illie, ein Würfel hat weniger Seiten,das ist etwas anderes.

»Das ist die GILGAMESCH«, sagte einefreundliche Stimme hinter ihr. »Schaut sieeuch gut an! Dieses Schiff ist nicht wie an-dere, es gehört den Unsterblichen auf Came-

38 Hubert Haensel

lot.«Die Unsterblichen! Aus den Trivid-News

kannte Illie die Namen. Perry Rhodan undAtlan und Gucky. Dieses eigenartige Schiffgehörte ihnen? Sie versuchte, Einzelheitenzu erkennen. Ein Seitenblick verriet ihr, daßauch Jack von dem Raumer fasziniert zusein schien.

In einem halben Dutzend Facetten spie-gelte die kantige Oberfläche des Modellsplötzlich einen metallischen Reflex. Instink-tiv erkannte das Mädchen, daß ein großerKörper hinter ihr den Reflex verursacht hat-te.

Auf dem Absatz fuhr sie herum.Ein Wachroboter schwebte dicht über der

Straße, - eine menschenähnliche Maschinemit gut zweieinhalb Metern Höhe. Soebenentstand ein flimmerndes Abstrahlfeld. DieSehzellen des Roboters fixierten Jack.

Illie hatte jäh das Empfinden, daß ihr je-mand den Boden unter den Füßen wegzog.Das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrundzu stürzen, wurde übermächtig.

»Ich identifiziere eine unbekannte Le-bensform«, sagte der Roboter. »Geh bittezur Seite, Mädchen.«

Das war nicht wahr. Illie schüttelte heftigden Kopf, aber vor Aufregung brachte sienicht ein Wort heraus. Ihr Blick pendeltezwischen dem Wachroboter und Jack hinund her. Jack war ebenfalls auf den stähler-nen Koloß aufmerksam geworden.

»Das … ist mein … Bruder«, stieß Ilaraendlich tonlos hervor.

»Unmöglich«, schnarrte die Maschine.»Fremde Lebensform. Herkunft unbekannt.«

Der Roboter hüllte sich in ein Energie-feld. Ilara hatte keine Ahnung, ob der Waf-fenarm tödliche Energien abstrahlen würdeoder nur ein paralysierendes Feld.

Sie brüllte los. Aus Leibeskräften. Unddas war ungefähr so, als hätte jemand Alarmausgelöst. Schreien konnte Illie, hatte schonoft auf diese Weise ihren Willen durchge-setzt. Auch diesmal war der Erfolg durch-schlagend.

Passanten fuhren herum und versuchten,

die Ursache des Lärms zu ergründen. Sie sa-hen zwei Kinder, die offensichtlich von ei-nem Kampfroboter bedroht wurden. Undden Leuten, die aus den Geschäften auf dieStraße stürmten, erging es keinen Deut an-ders.

»Hilfe!« schrie Illie. »Der Blechkerl drehtdurch! Er will meinen Bruder töten.«

Sie stellte sich schützend vor Jack, derheute beinahe schon so groß war wie sieselbst, hob abwehrend die Arme.

»Du bist menschlich«, bemerkte derWachroboter unbewegt. »Das andere Wesenist es nicht. Bitte geh zur Seite!«

»Und dann?« keuchte Ilara.Das Flimmern des Waffenarms veränderte

sich.»Ich muß ihn betäuben«, schnarrte der

Roboter.»Aufhören!« Ein Mann in der Uniform

der LFT-Flotte hastete heran. »Sofort aufhö-ren! Ich verbürge mich für die Kinder.«

»Ich muß ihn betäuben«, wiederholte derRoboter. Er stand da wie erstarrt, bewegtesich nicht mehr um einen Millimeter. »Ichmuß ihn betäuben.«

Ilara schloß die Augen, als sie loslief.Aber schon nach zwei, drei Schritten wurdesie gestoppt. Der Uniformierte hatte sie auf-gehalten.

»Keine Sorge, Kind, die Gefahr ist vor-bei.«

»Ich muß ihn betäuben«, wiederholte derRoboter monoton.

Sein Defekt wurde offensichtlich. Die Ab-strahlmündung zielte unverändert auf dieStelle, an der Illie eben noch gestanden hat-te.

Alles ging dann sehr schnell. Die Stimmedes Roboters brach mit einem gräßlichenKrächzen ab, seine Sehzellen schienen auf-zuglühen; im nächsten Moment wurde derkantige Schädel von einer grellen Stichflam-me zerrissen. Da gleichzeitig das Schirmfeldin einem nebelhaften Aufwallen erlosch,wirkten die Bruchstücke des Roboterkopfesauf der engen Straße wie Geschosse.

Passanten stürzten verwundet zu Boden.

Ein kleiner Freund 39

Auch der Raumfahrer, der Illie geholfen hat-te, wurde getroffen. Er taumelte und preßtebeide Hände auf eine stark blutende Hals-wunde.

Bloß weg hier! war Ilaras einziger Gedan-ke.

Kampfroboter waren immer ihr Alptraumgewesen. Sie wußte nicht, wieso, aber sieschreckte instinktiv vor diesen Maschinenzurück.

Ein beruhigender Impuls traf sie. Es warihr, als streife eine unsichtbare Hand überihren Kopf. Verwirrt blickte sie um sich.Jack war bereits einige Meter entfernt; siebeeilte sich, ihm zu folgen.

Die Passanten, die von allen Seiten zu-sammenströmten, wichen spontan zur Seite.Keiner machte Anstalten, sie zurückzuhal-ten.

Hinter ihr ertönte eine Sirene. Aber dasinteressierte Ilara schon nicht mehr.

9.

»Energie wegnehmen! Sofort!«Der Aufschrei wurde zum wütenden Fau-

chen. Auf der Kontrollkonsole blinkten Dut-zende von Warnanzeigen. Aber noch kannteniemand die Ursache. Viel zu abrupt war derÜberlauf der Speicherbänke geöffnet wor-den.

»Zwei Sekunden.« Treccham-Mon droschdie Fäuste gegeneinander, ein deutlichesZeichen seiner aufsteigenden Wut. »Nurzwei Sekunden«, er blickte in die Runde derWissenschaftler und Techniker, »und vonder Waffenfabrik und Tracham-Geich wärenur ein glühender Kratersee geblieben.«

»Sabotage?«Das Mißtrauen kochte hoch. Natürlich be-

lauerten sie sich gegenseitig, das war ein Er-be der Vergangenheit, ein Fluch, der demVolk der Topsider noch lange Zeit anhängenwürde.

Bis vor wenigen Jahren hätte Treccham-Mon sofort Angehörige der anderen Macht-blöcke verdächtigt. Inzwischen gab es wie-der ein gewisses Zusammengehörigkeitsge-

fühl, Topsid war sich seiner kosmischen Be-stimmung bewußt geworden und der Tatsa-che, daß Eifersüchteleien den Blick auf dasgroße Ziel versperrten.

Tracham-Geich war die Millionenmetro-pole des ehemaligen Trukrek-Hun-Reiches,das sich über den östlichen Teil der nördli-chen Planetenhälfte erstreckte. Diese Stadtin Schutt und Asche zu legen hätte bedeutet,Trukrek-Hun eine Niederlage zuzufügen,von der das Reich sich womöglich nie wie-der erholte.

»Simulationsprogramm beendet!« erklärteTreccham-Mon. »Bevor wir weitermachen,will ich jedes Detail kennen. Und wehe dem,der versucht hat, den Testlauf für eine Ver-nichtungsorgie zu mißbrauchen.«

Topsid, einst eine bedeutende Macht, warwährend der Cantaro-Herrschaft in Bedeu-tungslosigkeit und eine primitive Gesell-schaftsform zurückgefallen, die Raumfahrtvöllig vergessen worden. Drei diktatorischgeführte Reiche hatten sich heftig bekämpft.Das waren außer Trukrek-Hun unter demImperator Trukrek-Anur die Guragkor-Gmen-Allianz gewesen, einfacher gesagt,die Vereinigten Inseln des Südens, und andritter Stelle der Enshgerd-Akh-Bund, derüber den gesamten Planeten verstreute klei-nere Staaten in sich vereinigte.

Auch im Jahr 1289 NGZ existierten dieMachtblöcke und außerdem viele Kleinstaa-ten - Topsid und die neugegründeten Kolo-nialwelten wurden jedoch inzwischen in ei-ner gemeinsamen Koalition regiert. Wasnicht gleichbedeutend war mit einer Beruhi-gung der Lage. Das ganz bestimmt nicht. InStreitfragen, und die waren an der Tagesord-nung, flogen nach wie vor die Fetzen, gin-gen die Machthaber schon mal mit Zähnenund Klauen aufeinander los und schlugensich die Schwänze um die Ohren.

Jeder Topsider war sich selbst der Näch-ste, Nöte oder Sorgen anderer interessiertenihn nicht, er nahm sie bestenfalls zur Kennt-nis und vergaß anschließend schnell wieder,was er gehört hatte. Daß sie sich nicht mehrbekriegten, galt als Fortschritt, doch ein Zu-

40 Hubert Haensel

sammengehörigkeitsgefühl fehlte nach wievor, selbst Familien waren reine Zweck-bündnisse, auf die Erhaltung der Art ausge-richtet.

Der Kulturschock, als sie nach dem Endeder Cantaro ihre Vergangenheit wiederent-deckt hatten, setzte den Echsenabkömmlin-gen weiterhin zu. Frauen, die früher ledig-lich für die Fortpflanzung wichtig gewesenwaren, mußten nun zu höheren Arbeiten her-angezogen werden - weil das Volk trotz sei-ner Fruchtbarkeit nicht mehr zahlreich ge-nug für die hochtrabenden Siedlungsprojektewar.

Während der Testleiter für das neue Waf-fensystem über die Strukturen der topsidi-schen Politik nachgrübelte, wurden zweiTechniker fündig.

»Das ist dilettantische Arbeit. Jeder nochso einfältige Saboteur hätte sich mehr Mühegegeben, seine Spuren im System zu verwi-schen. Zwei Anschlüsse wurden vertauscht.Sie bewirken, daß korrespondierende Syste-me das Ergebnis nicht weiterleiten könnenund die Abschaltsequenz versagt.«

So einfach. Treccham-Mons kräftigerEchsenschwanz peitschte über den Boden.Seine Kiefer mahlten krachend aufeinander.

»Wer ist zuständig für die Anschlüsse?«fauchte er. »Ich will den Kerl sehen - so-fort!«

»Waffenschmied Prempar-Ochir«, stießjemand hervor.

Der Projektleiter zerbiß den Namen wieeinen Fluch. Bei mehr als fünftausend Ar-beitern in der Waffenfabrik konnte er nichtjeden einzelnen kennen. Es war ihm auchvöllig egal, wer an der Entwicklung mitar-beitete - die Produktion erfolgte ohnehinweitestgehend robotisiert an Montagestraßen- solange schnell und zielstrebig gearbeitetwurde. Er erwartete, daß jeder sein Bestesgab; Männer, die eher als zum Schlafzyklusdie Fabrik verließen, waren fehl am Platz.

Treccham-Mon ließ sich am nächstenRechneranschluß die Personaldaten desWaffenschmieds überspielen.

Ein unbeschriebenes Blatt, bis vor sechs

Tagen. Bis dahin sehr gute Arbeit und hoheBetriebszeiten, ein Mann wie geschaffen fürdie Waffenfabrik. Aber dann der Unfall inder Entwicklung: der neueste Prototyp einerSteuerung für überlichtschnelle Impulsabga-be in einem Säurebad versenkt. Aufgrund ei-ner Verwechslung. Weil Prempar-Ochirnicht fähig gewesen war, die Augen offen-zuhalten.

Strafversetzt an eine der Montagestraßen.Dort vor zwei Tagen ein Zwischenfall, dernicht geklärt werden konnte. Zugunsten desWaffenschmieds war der Projektleiter bereitgewesen anzunehmen, daß zwei Frauen denDefekt verursacht hatten. Entsprechend ihrerniederen Stellung waren sie ohne Anspruchauf weitere Zahlungen sofort entlassen wor-den.

Zwei Sicherheitsleute schleppten denWaffenschmied herbei. Prempar-Ochir hatteschon erfahren, was geschehen war, seineKugelaugen fixierten ausschließlich seineKopfspitze, die Arme hingen schlaff seitlicham Körper herab.

»Diesmal machen wir dir den Prozeß!«fauchte Treccham-Mon den Waffenschmiedan. »Du bist zur Gefahr für die Fabrik ge-worden.«

Ruckartig fuhr Prempar-Ochirs Schädelhoch. »Ich habe nichts getan«, behaupteteer. »Die Anschuldigungen sind erlogen.«

Mit zwei schnellen Schritten stand derProjektleiter vor ihm, seine Hände zucktenhoch und verkrallten sich um das Maul desWaffenschmieds. Grollend stieß er denAtem aus.

»Du wagst es, mir zu widersprechen?Nach allem, was in dieser Woche geschehenist? Bist du aus einem faulen Ei geschlüpft,Prempar-Ochir, oder haben die Sonnen dirdas Hirn verbrannt? Du warst die längsteZeit Waffenschmied, ich mache dich zumRechtlosen.«

Der solcherart Herabgesetzte schüttelteheftig den Kopf. »Ich habe meine Arbeit zu-verlässig erledigt, ich …« Er stockte.

Nebelschleier hingen über seiner Erinne-rung. Was hatte er wirklich getan?

Ein kleiner Freund 41

Das Neugeborene …Zu seiner Arbeit bestand kein Zusammen-

hang. Er hatte stets gewissenhaft alle Pro-grammierungen überprüft.

Obwohl. Ungewöhnlich war es schon.Ein Waffenschmied hatte nicht die Zeit, sichum anderes als um seine Arbeit zu kümmern.Dennoch hatte er sich ablenken lassen, hatteIcci-Ecc zu sich genommen. Wieso eigent-lich?

»Sprich ruhig weiter!« herrschte der Pro-jektleiter ihn an. »Ich höre dir zu.«

Ganz im Gegensatz zu seinen Worten ver-stärkte er seinen Griff. Prempar-Ochirbrachte nur noch ein heiseres Ächzen überdie verhornten Lippen.

»Du bist kein Saboteur? Dann bist du einVersager. Das ist genauso schlimm. Du bistentlassen, Prempar-Ochir, und ich werde da-für sorgen, daß dir der Prozeß gemachtwird.«

Neue nebelhafte Erinnerungsfetzen. Erhatte gearbeitet wie besessen, hatte ver-sucht, vor sich selbst zu fliehen. Weil er sichseiner Gefühle geschämt hatte ein Topsiderin seiner beruflichen Position hatte rationellzu denken. Und Gefühle für einen anderen,für etwas, was er nicht einmal richtig be-schreiben konnte, das war … undenkbar.Trotzdem hatte er während der Arbeit fastunablässig an Icci-Ecc denken müssen, dasverängstigte Neugeborene, für das er sichverantwortlich fühlte.

»Schafft ihn weg!« herrschte der Projekt-leiter die Sicherheitsleute an. »Und sorgt da-für, daß der Prozeß gegen ihn anberaumtwird!«

Warum? Prempar-Ochir verstand immernoch nicht, wie es soweit hatte kommen kön-nen. Seine Gedanken schrien nach Icci-Ecc,dem kleinen hilflosen Topsider-Neuge-borenen, den er in seiner Wohnung versteckthatte. Icci-Ecc würde sterben, wenn sichniemand um ihn kümmerte.

»Das kannst du nicht tun, Treccham-Mon«, stieß er abgehackt hervor. »Ich mußin meine Wohnung, ich …«

Niemand hörte ihm zu. Der Projektleiter

sperrte überrascht den Rachen auf, seinBlick verlor sich im Hintergrund. Auch dieumstehenden Techniker reagierten mit Ver-wunderung, einige von ihnen stießen sogarLaute der Verzückung aus.

Prempar-Ochir kam unverhofft frei. Keinekräftigen Hände mehr, die sich unnachgiebigum seine Arme geschlossen hatten. Instink-tiv fuhr er herum.

»Icci-Ecc!« brachte er tonlos hervor.Der Projektleiter ließ sich unvermittelt in

die Hocke nieder. Sein Schädel befand sichdaraufhin mit dem des Topsider-Kindes aufgleicher Höhe.

»Komm zu mir«, hauchte er, »ich werdedich beschützen.« Und zu Prempar-Ochiraufschauend, fügte er hinzu: »Icci-Ecc istein schöner Name, er gefällt mir. Ist das deinSohn? Warum hast du seine Existenz ver-schwiegen? Das ist unverantwortlich!«

»Weil …« Der Topsider suchte vergeb-lich nach den richtigen Worten.

Er verstand das alles nicht, suchte vergeb-lich nach einer Erklärung. Vor allem hatte erIcci-Ecc stets wie seinen Augapfel gehütet,hatte eifersüchtig darüber gewacht, daß keinanderer den Kleinen zu Gesicht bekam.

Kinder mußten nicht umsorgt werden, siehatten ihren Weg durchs Leben weitgehendselbst zu finden. Alles andere war ein Zei-chen von Schwäche und Lebensuntauglich-keit.

Und nun das! Der Projektleiter hatte allesandere um sich her von einem Augenblickzum anderen vergessen. Gedankenverlorenkauerte er am Boden, in einer Haltung, dieihn vor allen anderen erniedrigte, und hieltIcci-Ecc mit beiden Händen fest. Von denUmstehenden schien sich keiner daran zustoßen. Ganz im Gegenteil. Jeder drängtenach vorne, um den Kleinen zu berühren.

Prempar-Ochir wußte zur Genüge, daß diegraubraune Schuppenhaut seines Schütz-lings weich und verlockend war. So etwashatte er nie zuvor erlebt.

»Warum hast du uns nie von Icci-Ecc er-zählt?« schimpfte einer der Techniker.

Prempar-Ochir wußte es selbst nicht. Im

42 Hubert Haensel

Nachhinein erschien es ihm wie ein unent-schuldbares Versäumnis. Es ging nicht an,daß er den Kleinen für sich selbst habenwollte. Das war unmöglich.

Eine eigenartige Leere ergriff von ihmBesitz. Mit jedem Topsider, der Icci-Ecc sei-ne Zuneigung schenkte, schien er selbst einStück von ihm zu verlieren. Es erschien ihm,als entgleite der Kleine unaufhaltsam seinemZugriff.

Aber wie war es möglich, daß Icci-Ecc inder Fabrik erschien? Prempar-Ochir hattedie Wohnung elektronisch verriegelt. Nie-mand konnte ohne seine Zustimmung hin-ein, aber auch niemand hinaus.

Und vor allem: Die Fabrik war nicht einex-beliebige Werkstatt. Es gab strengste Si-cherheitsbestimmungen. Icci-Ecc konnte un-möglich unbemerkt an den positronischenSicherungsanlagen und den Wachmann-schaften vorbei, ohne aufgehalten zu wer-den. Dennoch war er hier.

Als wäre er aus dem Nichts gekommen.Wie bei ihrer ersten Begegnung. Wie wardas eigentlich gewesen? Prempar-Ochir hat-te Mühe, seine Gedanken zu konzentrieren.Es erschien ihm, als liege das alles schonsehr lange zurück.

Zur Mittagszeit war es gewesen, in einemder neu eingerichteten Felsenparks. Er hatteein klägliches Wimmern vernommen undwar dem nachgegangen, ohne darüber nach-zudenken. Er hatte Eierschalen gefunden -und wenige Meter entfernt, in einer engen,von der Sonne nicht erhitzten Felsspalte, einverängstigtes Neugeborenes. Er hätte damalsnicht zu sagen vermocht, wie das Kind aus-sah, doch vom ersten Moment an hatte ergewußt, daß es zu ihm gehörte. Vielleichthatte ein Elternteil einen überzähligen Nest-ling loswerden wollen, das lag im Bereichdes Wahrscheinlichen. Mehr als fünf Kindergleichzeitig aufzuziehen bedeutete unnötigeMühe.

Auf jeden Fall war Prempar-Ochir klargewesen, daß er den Nestling beschützenmußte. Das war seine Aufgabe.

Icci-Ecc - der Name war ihm überaus tref-

fend erschienen. Das bedeutete ungefähr soviel wie »der zu beschützende Wohltäter«.

Mit der Freude über den Fund des Nest-lings war auch seine Scham gewachsen. Zu-gleich hatte er sich zu fragen begonnen, ober krank war, psychisch krank. Gefühle, wieer sie empfand, waren irrational. Heimlich,in einer Tasche, hatte er Icci-Ecc zu sichnach Hause geholt.

Der Nestling wuchs schnell. Schon nachdrei Tagen war er mehr als doppelt so groß.Prempar-Ochir hatte das Wachstum mitStolz verfolgt. Ein schönes Kind, mit einerSchuppenhaut wie modelliert.

Die Nachbarn waren gekommen. Wie In-sekten, die von einer Lichtquelle angelocktwurden. Sie alle hatten Icci-Ecc gesehen undhatten Prempar-Ochir gratuliert. Ihren Neidhatte er dennoch zu spüren bekommen.

Zuerst waren es nur zehn gewesen, diedas Geheimnis mit ihm teilten, dann hun-dert, danach hatte er beinahe durchgedrehtund mit Waffengewalt für Ruhe gesorgt.Das war heute morgen gewesen. Ja, daranentsann er sich, als spule ein Film vor sei-nem inneren Auge ab. Er hatte Icci-Ecc si-cher eingeschlossen und war in die Fabrikgefahren, und dann hatte er die Anschlüssevertauscht, weil er in Gedanken nur bei demKind gewesen war.

Ein gequältes Fauchen entrang sich seinerKehle. Er ertrug es nicht, wenn Icci-Ecc vonimmer mehr Topsidern angegafft wurde.Das Kind entwickelte sich überaus prächtig.Bald würde es erwachsen sein und alle Ban-de der Zuneigung zu ihm abschneiden.

»Natürlich behältst du deine Arbeit alsWaffenschmied«, sagte Treccham-Mon indem Moment. »Und wir alle werden Icci-Ecc beschützen. Wir sind eine einzige großeFamilie, in der jeder für den anderen daseinwird.«

Prempar-Ochir kam aus dem Staunennicht mehr heraus. Rein mechanisch voll-führte er die Geste der Zustimmung; derProjektleiter legte ihm freundschaftlicheinen Arm um die Schulter.

Von allen Seiten kamen die Arbeiter her-

Ein kleiner Freund 43

an, um Icci-Ecc zu sehen. Die Bandstraßenhielten an, als keine Kontrolle mehr erfolgte.

In dem Moment begriff Prempar-Ochirseine ganz große Chance.

»Das ist mein Sohn!« rief er laut aus.»Icci-Ecc ist mein Schützling!«

Fünftausend Kehlen riefen gleichzeitigden Namen.

»Icci-Ecc!«Es war ein unglaublich erhebender Au-

genblick.

*

»Unregelmäßigkeiten?« Ansgur-Egmo,der »starke Mann« in der politischen Füh-rung der Topsider, funkelte den Stadtbeauf-tragten zornig an. »Sag mir nicht, daß duTracham-Geich nicht unter Kontrolle hast!«

Stagros-Bald rang sichtbar nach Worten.Er war alt und nicht mehr der Schnellste inseinen Entscheidungen. Aber gerade deshalbhatte Ansgur-Egmo dafür gesorgt, daß erden vakanten Posten des Stadtbeauftragtenerhielt. Vielleicht ein wenig zu voreilig Sta-gros-Bald schien keinen Deut besser zu seinals seine vielen Vorgänger.

»Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst…«

»Sondern?«»Ein paar Meldungen von ungewöhnli-

chen Vorkommnissen aus einem unbedeu-tenden Stadtteil. Nach einem Gleiterabsturzhaben Passanten die Insassen aus dem bren-nenden Fahrzeug gerettet, obwohl die Ma-schine eindeutig zum Enshgerd-Akh-Bundgehört hat. Ich vermute, daß es ein Spiona-geflug war.«

»Die Insassen wurden verhört, nehme ichan.«

Stagros-Bald druckste um die Antwortherum.

»Also nicht«, stellte der Regierungscheffest. »Es gibt mindestens zehn neue Anwär-ter auf das Amt des Stadtbeauftragten.«

»Ich habe zwei meiner besten Männer los-geschickt«, sagte Stagros-Bald. »Seitdemsind sie wie verwandelt, beinahe geistesab-

wesend.«»Wie die Arbeiter in der Waffenfabrik?«Stagros-Bald riß den Rachen auf. »Das …

das ist erst wenige Stunden her. Was weißtdu davon?«

Ansgur-Egmo vollführte eine geringschät-zige Handbewegung. Er wäre längst nichtmehr Regierungschef gewesen, hätte er nichtdie besten Verbindungen in alle Winkel desPlaneten besessen. Nicht nur die technischeEntwicklung war in den letzten Jahren wie-der rasant aufwärtsgegangen, auch die politi-sche Ebene von Topsid war unaufhörlichenUmwälzungen unterworfen. Ein Erdbebenfolgte dem anderen. Wer heute den Nameneines maßgeblichen Politikers speicherte,mußte morgen schon die Daten wieder än-dern. Es gab nur wenige Größen, die wieFelsen in der Brandung aufragten; er selbstrechnete sich dazu.

»Fünftausend Arbeiter haben die Produk-tion lahmgelegt. Wenn wir das dulden, ha-ben wir bald einen Schlendrian, der unsereKultur untergehen läßt.«

»Sie arbeiten noch«, widersprach Stagros-Bald. »Aber - es ist seltsam, sie sind langsa-mer geworden, sie reden miteinander undhelfen sich gegenseitig. Es ist beinahe wie indem Stadtviertel. Das Verhalten erinnertmich an die nichtbrütenden Zweibeiner, sienennen diese kräftezehrende LebensweiseNächstenliebe und Familiensinn. Aber siekönnen sich solche Sentimentalitäten erlau-ben, weil sie in ihrem gesamten Leben nurwenig Nachwuchs aufziehen, meist nur zweioder drei Exemplare. Wenn sie jedes Jahreinen Wurf von fünf Kindern hätten …«

Ansgur-Egmo winkte ab. »Wir müssendie Ursache der Anomalie herausfinden. Be-vor sie um sich greift und die ganze Stadt in-fiziert.«

Stagros-Bald erschrak zutiefst.»Du glaubst an einen Virus? Oder ein

Gift, vielleicht dem Wasser beigemischt?Aber wer? - Die Allianz! Natürlich.« Erschlug sich mit der Faust gegen die aufge-wölbte Stirnpartie. »Kmurko-Kim hat jahre-lang mobilisiert und auf einen Krieg hinge-

44 Hubert Haensel

arbeitet. Seine Erben haben diese Teufeleiausgeheckt.«

»Oder die Menschen«, sagte Ansgur-Eg-mo ruhig.

»Die Terraner? Wie kommst du zu dieserVermutung?«

Der Regierungschef stieß ein heiseresKeckern aus. War Stagros-Bald wirklich sonaiv, oder verstellte er sich nur? Naiven Po-litikern traute die Bevölkerung nicht zu, daßsie über Affären stolperten, die anderenmanchmal innerhalb weniger Tage den Kopfkosteten. Es ging um Geld, meist um vielGeld. Querverbindungen von Wirtschaft,Raumfahrtindustrie und Siedlungsprojektenkonnten Männer über Nacht zu Millionärenmachen, sie aber auch ebenso schnell imSumpf der Korruption enden lassen. DieTopsider in Führungspositionen, die nichtbestechlich waren, konnte er an den sechsFingern einer Hand abzählen.

»Ist es nicht oft wiederholte Behauptungder Terraner, daß alle Intelligenzen Brüdersind?« spottete Ansgur-Egmo. »Brüder!« Erräusperte sich heftig. »Dabei wachsen sienicht einmal in einem gemeinsamen Nestauf. Und Brüder lieben einander und helfensich - so ein Quatsch! Manchmal glaube ich,es gibt nichts Weltfremderes als einen Terra-ner.«

»Ich verstehe nicht«, gestand Stagros-Bald.

»Den Terranern traue ich zu, daß sie unserVolk beeinflussen. Vielleicht wollen sie eineZusammenarbeit gegen die Tolkander er-zwingen. Es muß einen Grund haben, wa-rum dieser Atlan um ein Gespräch auf diplo-matischer Ebene nachgesucht hat. Auch eineDelegation der Liga ist angemeldet.«

In wachsender Unruhe rieb der Stadtbe-auftragte seine Nägel an den Schuppen. Erstörte sich nicht daran, daß das entstehendeGeräusch als wenig schicklich galt.

»Atlan ist Arkonide«, widersprach er nacheinigen Sekunden des Nachdenkens.

Ansgur-Egmo ließ den Einwand nicht gel-ten.

»Er gehört wie die Terraner zu den Le-

bendgebärenden. Von denen ist einer wieder andere. Atlan kommt nach Tracham-Geich, um herauszufinden, ob die Beeinflus-sung unseres Volkes Wirkung zeigt. Ichwill, daß du alle maßgeblichen Personeneinweihst und ihnen strikte Verhaltensmaß-regeln auferlegst. Es gibt keine Veränderun-gen, keine harmonischen Beziehungen inTracham-Geich. Der Vorfall muß auch vorder Bevölkerung vertuscht werden. Außer-dem wird er aus der Welt geschafft -egalwie. Meinetwegen veranlasse, daß alle Be-troffenen auf eine neu erschlossene Sied-lungswelt ausgesetzt werden.«

10.

Die GILGAMESCH beendete den Über-lichtflug außerhalb der Umlaufbahn des ach-ten Planeten; die Ortungen erfaßten keinenaußergewöhnlich intensiven Schiffsverkehr.Lediglich im stationären Orbit um Topsidwurden mehrere große Schiffe gescannt, dieauf ihre Abfertigung warteten. Den energeti-schen Werten nach zu schließenjederSchiffstyp besitzt seine eigenen, unverwech-selbaren Charakteristika - handelte es sichum Frachter, die Handelswaren von Sied-lungswelten der Echsen brachten.

»Kein Kontakt«, stellte Sevia fest.»Cistolo Khans PAPERMOON ist nochnicht eingetroffen.«

Mit wenig mehr als halber Lichtge-schwindigkeit flog die GILGAMESCH insOrion-Delta-System ein. Unser Hyperfunk-spruch nach Topsid blieb vorerst unbeant-wortet.

Gerine, meine Stellvertreterin auf der RI-CO, konnte sich eine spöttische Bemerkungnicht mehr verkneifen: »Vielleicht ist unsereAvisierung längst vergessen. Die politischeLandschaft auf Topsid wechselt schnell.«

»Ansgur-Egmo gilt als der starke Mannschlechthin«, erwiderte ich.

»Es heißt, daß auf Topsid die Amtsinha-ber wie die Hemden gewechselt werden«,erklang es aus dem Hintergrund der Zentra-le. Verhaltenes Gelächter kam auf.

Ein kleiner Freund 45

Wir passierten den äußeren Planeten. EineEiswüste. Zehn Minuten später zeichneteendlich der Funkempfang. Ein kantiger Ech-senschädel erschien in der Wiedergabe, ir-gendein unbedeutender Vorzimmersekretär.

»Die Identifikation der GILGAMESCHwird bestätigt, Anflugerlaubnis erteilt. Wirfordern die Vertreter von Camelot auf, einenParkorbit über Topsid zu beziehen; die exak-ten Daten werden rechtzeitig überspielt.«

»Wir haben um Landeerlaubnis nachge-sucht«, erinnerte Sevia.

Der Topsider blickte sie starr an. »Für einSchiff dieser Größenordnung besteht derzeitnicht die erforderliche Kapazität. Wir stellenein Landefeld für eine Space-Jet zur Verfü-gung. Vorausgesetzt wird, daß die Delegati-on aus maximal drei Personen besteht. Glei-ches gilt für die Abordnung der LFT«

Die Übertragung erlosch übergangslos.»Man will uns nicht haben«, bemerkte

Gerine. »Deutlicher können die Topsiderkaum zu verstehen geben, daß sie uns ledig-lich als notwendiges Übel betrachten. Atlan,mit Verlaub gesagt …«

»Keine Diskussion«, wehrte ich ab. »Wirsind wegen der hyperdimensionalen Verzer-rung hier, alles andere ist vorerst zweitran-gig.«

Im Verlauf der folgenden Stunden wurdenausgiebige Messungen mit dem Hyperraum-Resonator vorgenommen, die leider keineBestätigung der vorliegenden Daten brach-ten.

»Nichts«, berichtete Boran Skarros, derwissenschaftliche Leiter. »Abgesehen vonder üblichen Fünf-D-Strahlung, die im Um-kreis um Topsid ohnehin als stärkeres Hin-tergrundrauschen anzumessen ist, gibt eskeine außergewöhnlichen Feststellungen.Nichts, was erneut auf das Vorhandenseinparanormaler Phänomene schließen ließe.«

Noch drei Stunden bis zum Einschwenkenin den Orbit. Im Heimatsystem der Topsiderging das Leben seinen gewohnten Gang. Diesyntronische Auswertung des Funkverkehrswar Routine. Frachter materialisierten nahedem dritten Planeten, andere Schiffe starte-

ten und beschleunigten mit Höchstwerten,bis sie schon nach wenigen Minuten imHyperraum verschwanden.

»Ich registriere einen neuen Typ im pla-netaren Orbit«, meldete Sevia von den Or-tungen. »Zehn Einheiten der GILA3-Klasse,die vorwiegend als Kampf- und Wachschiffeeingesetzt werden.«

Nichts anderes hatte ich erwartet. Das warein Begrüßungskommando der Topsider:Ansgur-Egmo mißtraute uns.

Er mißtraut dir, verräterischer Arkoni-denfürst, berichtigte der Logiksektor.

Das Resultat ist wohl identisch, gab ichschroff zurück.

Ich ließ mir eine der Ortungen als Aufrißdarstellen. Bei der Konstruktion der neuenWachschiffe hatten die Topsider auf ihre al-ten Traditionen im Raumschiffsbau zurück-gegriffen, auf den zigarrenförmigen Grund-körper mit der zentralisierten Kommandoku-gel. Die GILA-3-Klasse maß lediglich 120Meter, die Zentrale war in den Bug verlegtworden, was den Charakter eines schnellenJägers unterstrich, im Kugelsegment befan-den sich dafür zwei Metagrav-Triebwerke.

Zehn Schiffe gegen unsere GILGAME-SCH. Das konnte nicht mehr als der Versuchsein, den Schein zu wahren. Für Ansgur-Eg-mo ging es dabei um seine politische Glaub-würdigkeit. Er mußte Stärke demonstrieren,wollte er nicht in den Ruf geraten, mit demunerwünschten Atlan gemeinsame Sache zumachen.

Weitere zehn Wachschiffe glitten soebenaus dem Ortungsschatten des vierten Plane-ten hervor. Sie hielten sich in respektvollerDistanz, bildeten aber ein unübersehbaresGeleitkommando.

Wir erhielten die Daten für den Orbit, alswir noch eine halbe Lichtstunde von Topsidentfernt waren.

Wenig später wurde vom Hyperraum-Re-sonator eine äußerst schwache Verzerrunggemeldet. Sie lag derart dicht am Pegel desallgegenwärtigen Hyperrauschens, daß eineIsolierung nur mittels spezieller Filter er-folgt war.

46 Hubert Haensel

Ich ließ mir die Meßwerte erklären. Siebesagten nicht mehr oder nicht weniger, alsdaß auf der Oberfläche von Topsid kurzzei-tig paramentale Kräfte frei geworden waren.

»… oder nahezu permanent vorhandensind«, widersprach Cerron Skarros dem wis-senschaftlichen Leiter an Bord des MER-LIN-Moduls. »Die Werte waren zu schwachfür eine eindeutige Aussage.«

Die Brüder lagen wieder einmal imClinch, weil sie die Daten unterschiedlichinterpretierten.

»Wie auch immer.« Boran Skarros ließsich nicht irritieren. »Ich definiere die Meß-werte von den Brutwelten als eine Art hype-renergetischen Fingerabdruck. Einzelne Bo-gen, Schlingen und Wirbel sind mit dem Ab-druck von Topsid identisch.«

»Die Wahrscheinlichkeit, daß der oder dieUrheber gleich sind, liegt rechnerisch nurbei fünfzig Prozent«, unterbrach ihn Cerron.»Damit ist überhaupt nichts bewiesen.«

»Fünfzig Prozent sind schon die halbe Be-stätigung«, fügte Boran hinzu.

»Macht das Zahlenspiel untereinanderaus.« Ich unterbrach die Konferenzschaltungmit einem knappen Befehl an den Servo.

Gefühlsmäßig schloß ich mich BoransMeinung an: Zwischen Topsid und denzweiundfünfzig Brutwelten bestand eine Be-ziehung. Es war unsere Aufgabe, die Hinter-gründe herauszufinden.

»Besteht eine Gefahr, daß auch Topsidentvölkert wird?« fragte meine Stellvertrete-rin in dem Moment.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich derWahrheit entsprechend. »Ich weiß es wirk-lich nicht.«

Ihr Blick verriet Besorgnis. Vielleichtwollte sie mich davon abhalten, auf Topsidzu landen - vielleicht spielte sie in Gedankenauch schon eine grauenvolle Katastrophedurch. Aber wir waren hier, um eine Wie-derholung des Geschehens wie auf denzweiundfünfzig Brutwelten zu verhindern.Und dazu gehörte eben auch, daß ich meinepersönliche Sicherheit hintenanstellte. Au-ßerdem äußerte der Extrasinn bisher keine

Bedenken.Die Ruhe vor dem Sturm bedeutet nicht,

daß der Sturm ausbleibt, lautete sein tief-schürfender Kommentar.

*

Nnak-Bir hieß der Raumhafen der Millio-nenmetropole Tracham-Geich. Das Lande-feld, das unserer Space-Jet zugewiesen wur-de, lag abseits der üblichen Geschäftigkeit.Ganz klar, der Regierungschef wollte dieAnwesenheit zweier Delegationen der Ca-meloter und der LFT weitgehend geheimhal-ten. Hinter Frachtern und kilometerlangenTerminals verborgen, war unsere30-Meter-Jet nicht eben ein Blickfang. Da-für sprach auch die Anweisung, das Eintref-fen eines Regierungsfahrzeugs abzuwarten,das meine Begleiter und mich zum Konfe-renzort bringen würde.

Das avisierte Fahrzeug war ein geschlos-sener Gleiter ohne Hoheitssymbole. Tausen-de Maschinen dieses Typs schwebten imLuftraum über der Stadt.

Homer G. Adams begleitete mich. UndAmbras, der Wissenschaftliche Leiter derRICO. Unmittelbar vor dem Ausstieg er-reichte mich die Mitteilung, daß die PA-PERMOON im System materialisiert war. Inzweieinhalb Stunden würde Cistolo Khan inTracham-Geich eintreffen. Pünktlich zurvereinbarten Zeit.

Außer dem Piloten befand sich nur nochein zweiter Topsider an Bord des Gleiters.Stagros-Bald stellte sich als Stadtbeauftrag-ter vor - eine Funktion, die zweifellos einemBürgermeister vergleichbar war.

»… Ansgur-Egmo läßt die Delegationendurch mich begrüßen. Er ist leider unab-kömmlich, doch er wird erscheinen, sobaldes seine Termine zulassen.«

Floskeln. Mit anderen Worten hieß das,der Regierungschef würde seine Pflicht ab-solvieren, nicht mehr.

Du hast doch nichts anderes erwartet.Wir überflogen dichtgepacktes, weitge-

hend automatisiertes Industriegebiet. Als ein

Ein kleiner Freund 47

pyramidenförmiger Gebäudekomplex inSicht kam, waren wir kaum länger als zweioder drei Minuten in der Luft. Die Maschinelandete auf einer energetischen Plattform imBereich der obersten Etagen.

Wir wurden abgeschoben, weit weg vomSchuß. Der Luxus, der uns im Innern erwar-tete, entsprach topsidischem Geschmack,nicht unserem. In der Luft hing der Geruchvon feuchtem Erdreich, Wasserdampf kon-densierte an kalten Metallteilen, Sumpf-pflanzen wucherten in üppigem Arrange-ments.

Entwicklungsgeschichtlich stammten dieTopsider aus einem längst ausgetrocknetenSumpfgebiet. Dem hatten sie sich körperlichangepaßt, aber Wasserbäder und Schlammbedeuteten für sie immer noch höchsten Ge-nuß. Zur Regulierung ihrer Schuppenfeuch-tigkeit dienten Wasser oder Sand und sogarAsche.

Der angebliche Konferenzsaal war in mei-nen Augen ein Biotop, ein schwüles Klima,das uns Menschen den Schweiß auf die Stirntrieb. Homer war nahe daran zu protestieren,ich sah es ihm an, er vermied dann aberdoch jeden möglichen Eklat.

Stagros-Bald erwies sich als wenig ge-sprächig. Von Belanglosigkeiten abgesehen,erfuhren wir von ihm nichts, was uns weiter-geholfen hätte. Eine Leuchte war er nicht,eher schon ein Mann der Tat, der lieber kräf-tig zupackte, als sich auf dem seifigen Par-kett der Diplomatie zu bewegen.

Vorsichtig begann ich ihn nach unge-wöhnlichen fünfdimensionalen Phänomenenauszufragen. Er wußte nichts, das wurde mirsehr schnell klar. Als er endlich über Inter-kom informiert wurde, daß die Landung derLFTDelegation bevorstand, atmete er sicht-lich erleichtert auf.

Wenig später konnten wir Cistolo Khanund seine Begleiter begrüßen. Stagros-Baldzog sich unter dem Vorwand zurück, denRegierungschef abzuholen.

»Alle Ausgänge sind energetisch verrie-gelt«, stellte Ambras fest. »Ansgur-Egmowill sichergehen, daß wir niemandem über

den Weg laufen.«Er suchte die Halle mit Meßgeräten ab.

Immerhin gab es keine versteckten Abhör-vorrichtungen.

Ich schaute Khan auffordernd an.»Terra ist mein Metier, Atlan«, begann er

ohne Umschweife. »Als LFT-Kommissarbin ich vor allem für die Sicherheit der Ter-raner verantwortlich. Sieh die Abschottungunter diesem Aspekt, nicht als Affront. Mirblieb unter den gegebenen Umständen keineandere Wahl, als das ATG-Feld zu aktivie-ren.«

»Es geht dabei nicht um uns«, wandte Ho-mer G. Adams ein. »Terra wird von den Ga-laktikern argwöhnisch beäugt. Derzeit kön-nen Mißverständnisse schwerwiegende Fol-gen nach sich ziehen.«

»Was ist daran denn mißverständlich,wenn wir einem gemeinsamen Gegner mög-lichst wenig Angriffsfläche bieten?«

Aus Khan sprach der Taktiker. Nicht um-sonst hatte er eine höchst erfolgreiche Ver-gangenheit als Kommandant eines LFT-Stützpunktplaneten hinter sich. Was er sag-te, war richtig und nicht zu widerlegen. Ausmenschlicher Sicht. Anders sah es schonaus, wenn er sich in die Rolle der Arkoni-den, Blues oder Springer hineinversetzte.Das in Jahrhunderten gewachsene Vertrauender Galaktiker zueinander existierte ebennicht mehr.

»Ich versichere dir, daß Terra niemalsvorhatte, sich abzukapseln. Nach wie vorstehen unsere Kräfte für die allgemeine Si-cherheit zur Verfügung.«

»Die Milchstraße ist ein Dorf, wie man soschön sagt«, warf Thooker ein. »Wir sitzenalle im selben Boot.«

Der Chefwissenschaftler der PAPER-MOON hatte sich eben noch intensiv mitAmbras unterhalten. Daß er nebenbei meinGespräch mit Cistolo verfolgt hatte, sah ihmähnlich. Thooker, Mönch der Streppen-Kir-che, bezeichnete sich gern als allwissendenGuru.

»Wer die Liga Freier Terraner ausschließ-lich mit Terra gleichsetzt, ist selbst schuld

48 Hubert Haensel

daran«, fuhr Cistolo unbeirrt fort. »Für michwar es wichtig, das Nervenzentrum der LFTabzusichern, das habe ich getan, und ich ha-be dazu gesagt, was es zu sagen gab.«

Selbst mit mir würde er nicht länger dar-über diskutieren. Er verschränkte die Armevor dem Leib - ein Monument von exaktzwei Meter Größe, das selbst einem Hurri-kan trotzen würde - und verzog seine Ober-lippe in einem leicht zynischen Ausdruck.

Wir sind aus einem anderen Grund hier,hieß das. Was ist mit den Messungen desHyperraum-Resonators? Thooker brenntebenfalls darauf, Details zu erfahren.

»Das Solsystem ist für uns wieder zu-gänglich?« fragte Ambras.

Khan nickte knapp. »Wir haben Zeit-schleusen geöffnet, die von Menschen be-setzt wurden. Das sichert individuelle Ent-scheidungen. Die Schleusenwärter habenkeine Anweisung, Cameloter nicht durchzu-lassen.«

»Sehr großzügig.« Ich konnte nicht an-ders, als seinen Spott zurückzugeben. »Gibtes so etwas wie einen Passierschein?«

»Genügt dir meine Zusicherung nicht?«Ansgur-Egmo erschien. Mit großem Ge-

folge. Dreißig bewaffnete Topsider verteil-ten sich auf einmal in der Halle. Ihre Strahl-waffen im Anschlag, erstarrten sie zu reglo-sen Statuen. Eine Demonstration der Macht,vielleicht auch von Überheblichkeit, obwohles sich nur um Paralysatoren handelte.

Cistolo Khan vollführte eine umfassendeArmbewegung. »Ist das die Gastfreund-schaft der Topsider? Eine Armee gegen Ab-gesandte, die nichts anderes wollen, als denFrieden in der Milchstraße wiederherstel-len?«

Ansgur-Egmo ließ ein heiseres Lachenvernehmen.

»Dir glaube ich das sogar, Terraner«, sag-te er bissig. »Ihm«, er deutete auf mich,»würde ich aber nie den Rücken zuwenden.Wie nennst du jemanden, der Angehörigeseines eigenen Volkes verrät?«

Überlaß die Antwort Cistolo, wurde ichvon meinem Extrasinn zurückgehalten. Der

Topsider will provozieren. Er konnte deinAnsinnen nach einem Gespräch nicht offizi-ell ablehnen, dafür sucht er nach einemGrund, dich rasch wieder loszuwerden.

»Bist du dabeigewesen?« fragte Khan.»Wo?« fragte Ansgur-Egmo irritiert zu-

rück.»An Bord des Kommandoschiffes der

Chaeroder. Dann weißt du natürlich auchschuppenscharf, was geschehen ist.«

Er lockte den Topsider aus der Reserve.Mit einer Gelassenheit, die nicht viele anseiner Stelle aufgebracht hätten. Die Echsenwaren nicht zimperlich, wenn es darumging, eigene Vorteile durchzusetzen.

»Es genügt zu wissen, daß von allen Dele-gationen nur eine einzige das Kommando-schiff wieder verlassen konnte«, zischte derRegierungschef: »Atlan und seine Leute.«

»Das könnte auch daran liegen, daß Atlanumsichtiger war als alle anderen. Außerdemgab er den anderen Gesandten die Chance,durch den Transmitter zurückzukehren.«

»Das behauptet er - und du warst eben-falls nicht dabei.« Die Geste des Topsiderswar eindeutig. Er würde von seinem Stand-punkt nicht abweichen. »Aber ich lasse mirnicht nachreden, Bittsteller nicht angehört zuhaben«, fuhr er weit versöhnlicher fort.»Worüber wollt ihr mit mir reden?«

»Über eine neue Allianz der Milchstra-ßenvölker«, sagte ich. »Wenn wir die Tol-kander jetzt nicht entschlossen hekämpfen,werden wir bald keine Gelegenheit mehr da-zu haben.«

»So entschlossen, wie Terra sich zeigt?«Er war aggressiv. »Ich sehe Parallelen zwi-schen dem Verhalten Terras und deinemTun, Atlan.«

»Unter solchen Umständen hat es wohlkeinen Wert, auf die Unterstützung der Top-sider zu hoffen«, sagte Homer. »Es ist be-dauerlich, daß wir von falschen Vorausset-zungen ausgegangen sind. Du solltest dar-über nachdenken, Ansgur-Egmo, ob viel-leicht auch eine Siedlungswelt der Topsiderzu den Brutplaneten gehört hat. - Ich nehmean, wir können Topsid ungehindert verlas-

Ein kleiner Freund 49

sen.«Ansgur-Egmo ging der Ruf voran, mit ei-

serner Faust zu regieren. Und er pokerte,wenn es darum ging, seinem Volk Vorteilezu verschaffen. Ich hatte damit gerechnet,daß er alles Negative hervorholen würde,um anschließend seine Forderungen zu stel-len.

»Sind leere Phrasen alles, was Terra zurRettung der Milchstraße beizutragen hat,Khan? Was erwartest du von Topsid?«

Ich antwortete an Cistolos Stelle und zähl-te an den Fingern ab: »Ein uneingeschränk-tes Ja zur Allianz. Beteiligung an einer ge-meinsamen Kriegsflotte, und zwar mit allenSchiffen, die über ausreichende Bewaffnungverfügen.«

»Unter dem Oberbefehl der Terraner?«Uralte Ressentiments kamen zum Durch-

bruch. Wieso benutzten intelligente Wesenihren Verstand immer erst dann zum Den-ken, wenn es fast schon zu spät war?

»Von mir aus unter der Führung der Halu-ter«, schlug Cistolo Khan vor. »An ihrerNeutralität wird niemand zweifeln.«

Ansgur-Egmo überging die Bemerkungmit einer Grimasse.

»Weiter!« forderte er mich auf.»Es gibt nur noch einen dringenden

Punkt: Topsid setzt sich bei den anderenVölkern im Forum für eine Zusammenarbeitein.«

»Eine schwere Aufgabe.«»Aber nicht unmöglich.«»Das habe ich auch nicht behauptet. Nur:

soviel Entgegenkommen hat seinen Preis.«»Was verlangst du?« wollte Cistolo wis-

sen.Ansgur-Egmos Blick bekam etwas Zwin-

gendes.»Die uneingeschränkte Beteiligung Top-

sids an terranischer Spitzentechnologie. Ein-sicht in alle waffentechnischen Entwicklun-gen, Lizenzvergaben nur nach Topsid …«

Der Topsider wandte sich wieder mir zu.»Ach ja«, fuhr er ungerührt fort, »über dieForschung auf Camelot wird viel geredet,aber alles wohl nur Halbwahrheiten. Ich er-

warte auch hier eine Beteiligung.«»Unmöglich!« platzte der LFT-

Kommissar heraus.»Das ist bedauerlich. Vor allem, wenn ich

bedenke, daß terranisches Gebiet am mei-sten von den Verwüstungen durch die Tol-kander betroffen ist. Sehr bedauerlich.«

Unsere Nähe behagte ihm nicht, doch erhatte unserer% Besuch nicht ablehnen kön-nen, ohne einen Eklat zu riskieren. Trotzdemwollte er uns schnell wieder loswerden. Sei-ne unverschämte Forderung war vor allem indieser Hinsicht zu verstehen.

Ich zahlte mit gleicher Münze zurück.»Vielleicht gibt es einen Weg, Topsid zu

beteiligen«, überlegte ich laut. »Aber wirmüssen uns besprechen und Zusagen einho-len. Ich denke, drei Tage sollten wohl genü-gen. Genießen wir bis dahin deine Gast-freundschaft, Ansgur-Egmo?«

Der Köder war groß. Doch der Topsiderschluckte ihn.

*

Drei Tage hatte der Regierungschef unszugestanden, die Habgier in seinen Augenwar dabei unübersehbar gewesen.

Wir wurden während dieser Zeit zwar mitallem versorgt, hatten aber so gut wie keineBewegungsfreiheit. Sogar die Space-Jetswurden auf ihren Landefeldern festgehalten.Da die GILGAMESCH und die PAPER-MOON weiterhin im Orbit standen, konnteAnsgur-Egmo die Anwesenheit unserer De-legationen von Terra und Camelot allerdingsnicht lange geheimhalten. Aber darum ginges ihm wohl auch gar nicht in letzter Konse-quenz. Eher schien es, als wolle er uns vongewissen Dingen in Tracham-Geich fernhal-ten.

Was immer er vor dir verbirgt, es wird dirnicht gefallen, behauptete der Extrasinn.

Die Ständige Vertretung der LFT, seit we-nigen Monaten nur ein Einmann-Büro, warfür uns nicht zu erreichen. Aus unerfindli-chen Gründen wurden unsere wiederholtenAnrufe zwar entgegengenommen, aber nie

50 Hubert Haensel

beantwortet.Wenigstens hielten wir über Minikom

Funkverbindung zu unseren Schiffen. Amzweiten Tag erfuhr ich, daß der Hyperraum-Resonator wirklich eine konstante fünfdi-mensionale Verzerrung anmaß. Sie warschwach, aber inzwischen eindeutig nach-weisbar.

Ursache: unbekannt.Übereinstimmung mit dem Absolutum auf

den zweiundfünfzig Brutwelten: nicht be-wiesen.

Obwohl wir uns im Kreis drehten, hatteich nicht das Empfinden, einem Hirnge-spinst nachzujagen. Den endgültigen Beweisdafür brachte mir die neue Besprechung mitdem Topsider.

Ansgur-Egmo erschien diesmal nur mitzwei Begleitern. Bedeutete das, daß er unsaus heiterem Himmel heraus als gleichbe-rechtigt akzeptierte?

»Es tut mir leid«, eröffnete Cistolo Khan,»deine Forderungen können nicht erfülltwerden. Der wirtschaftliche Faktor …«

»Das ist auch nicht mehr relevant«, unter-brach ihn der Topsider. »Ich habe erkannt,daß ich mich euren Argumenten nicht ver-schließen darf.«

Wir schauten uns an. Khan ließ sich keineRegung anmerken; Homer lächelte sparsam;Ambras zuckte ungläubig mit den Achseln,lediglich Thooker nickte zustimmend. Wenner in dem Moment behauptet hätte, er hättegenau das schon immer gewußt, ich hätteihm sogar geglaubt.

»Atlan«, der Regierungschef streckte mirin typisch menschlicher Geste seine Rechteentgegen, »ich glaube jetzt, daß du unschul-dig bist, was das Geschehen auf dem Kom-mandoschiff betrifft.« Daß ich die mir dar-gebotene Hand nicht ergriff, schien ihn nichtim mindesten zu stören. »Ich verstehe auchdie Handlungsweise der Terraner. Wir wer-den gemeinsam die Tolkander bekämpfen.«

»Du sprichst bereits für das Forum Rag-lund?« wollte Cistolo Khan wissen.

»Ich spreche vorerst nur für Topsid. Abersobald ihr unsere Welt verlassen habt, werde

ich die entsprechenden Zusagen einholen. Esist alles nur eine Formsache.«

Er hatte einen Schwenk um hundertacht-zig Grad vollzogen. Ich wollte es nicht glau-ben.

»Der heutige Tag wird in die galaktischeGeschichte eingehen als Gründungstag derneuen Milchstraßen-Allianz.«

Das war nicht der Ansgur-Egmo, den wirvor drei Tagen kennengelernt hatten. Er trugzu dick auf.

»Ein schöner Tag …« Jovial klopfte erKhan auf die Schulter, danach war Thookeran der Reihe. »Atlan, ich bedauere das Miß-verständnis zwischen uns. Es lag zum Teilan mir selbst.« Mit beiden Händen griff ernach meiner Hand und drückte sie. »LetztenEndes siegt immer die Vernunft.«

Er will uns endlich loswerden. Der Extra-sinn zog seine unmißverständliche Folge-rung. Wie er reagiert jemand, der seine ZeitWichtigerem widmen muß.

Was hatten wir erreicht? Eigentlichnichts. Ansgur-Egmos Versprechungen wa-ren keinen Galax wert. Er würde sich nichtmehr daran erinnern, sobald die Space-Jetsvom Raumhafen abgehoben hatten. Ob diedrei Tage letztlich völlig umsonst gewesenwaren, würde sich aus den Resonator-Ortun-gen ergeben.

Der Gleiter brachte uns zurück zumRaumhafen. Mit einer Zusage im Gepäck,die keine war, die aber jedem weiteren Ge-spräch die Grundlage entzog.

»Und die Ergebnisse?« fragte CistoloKhan.

»Nichts Greifbares außer deiner Zusiche-rung, uns einen Einflug ins Solsystem zu er-möglichen«, antwortete ich.

»Ich kehre mit der PAPERMOON nachTerra zurück«, sagte er. »Ich nehme an, dieGILGAMESCH bleibt vor Ort.«

»Bis wir herausgefunden haben, was aufTopsid nicht stimmt.« Oder bis Ansgur-Eg-mo uns seine Flotte auf den Hals hetzt, fügteich in Gedanken hinzu.

11.

Ein kleiner Freund 51

Jack wuchs. Jeden Tag um mindestens ei-ne Handspanne. Aber nur Illie schien daswirklich aufzufallen, nicht einmal ihre El-tern registrierten die Veränderung. Oder siescheuten sich, darüber zu reden. Wie vielessich zu verändern begann.

Ilara registrierte mit Verwunderung, daßihr Vater an einigen Tagen nicht mehr zurArbeit ging. Eine seltsame Unruhe schiendann von Ron Besitz zu ergreifen. Er holtealte Datenträger hervor, Aufnahmen aus sei-ner Kindheit, aber er schien die Holos nichteinmal bewußt wahrzunehmen.

Und Mutter vernachlässigte ihre täglicheMorgentoilette. Nie zuvor hatte sie mit ihrenKosmetika seltsame Zeichen auf den Spiegelgemalt.

Illie fühlte sich eingeengt in der Woh-nung. In ihrem Zimmer glaubte sie, er-sticken zu müssen. Daß sie die Luftumwäl-zung auf Maximum hochschaltete, ändertenichts daran. Sie mußte hinaus, brauchte dieFreiheit des Silos und wußte doch gleichzei-tig, daß sie auch damit nicht mehr lange zu-frieden sein würde.

Zum Glück zog es Jack ebenfalls hinaus.Illie war immer noch stolz auf ihn. Vor al-lem wurde ihr erst allmählich richtig be-wußt, wie freundlich die Bewohner des Silosihrem Bruder gegenübertraten. Sie vergöt-terten ihn. Ja, genau das war der richtigeAusdruck. Jack hätte wahrscheinlich nur einWort zu sagen brauchen, und sie hätten allesgetan, was er von ihnen verlangte.

»Mann o Mann!« das war Illies Lieblings-spruch geworden. »Du bist toll, Jack. Wenndu nicht mein Bruder wärst …«

Er war es nicht. So ein Blödsinn!Die Leute standen herum. Sie hatten viel

mehr Freizeit als früher. Manche wirktenschläfrig, andere hasteten von einem undefi-nierbaren Tatendrang getrieben ziellos um-her.

Die Basarstraßen waren ebenfalls lang-weilig geworden. Der Trubel an sieben Ta-gen in der Woche, der Ilara sonst mit ma-gnetischer Gewalt angezogen hatte, reiztesie kaum noch. Alles war fad und irgendwie

trostlos.Niemand regte sich auf, wenn sie Früchte

ohne zu bezahlen an sich nahm. Und sobalddas Verbotene erlaubt war, verlor es seinenReiz.

»Warte, Jack!«Ein Berg der seltenen Moran-Feigen hätte

Ilara noch vor wenigen Tagen nach allenmöglichen Tricks sinnen lassen. Jetzt war eseinfach. Der Verkäufer lächelte sogar, als siemit beiden Händen zugriff.

»Die sind köstlich, Jack, die …«»… wirst du auf der Stelle zurücklegen,

Ilara. Ich habe Ronald Clandor bisher füreinen Mann mit Prinzipien gehalten, aberdaß er seiner Tochter das Stehlen nicht ab-gewöhnen kann, verstehe ich nicht.«

Yütürüm. Wie lange hatte sie den Teller-kopf nicht mehr gesehen? Er schien den Silovorübergehend verlassen zu haben. Leidernicht für immer.

»Hier, nimm, Yütürüm! Ich habe genugdavon.«

Sie wußte selbst nicht zu sagen, ob sieden Blue provozieren wollte. Jedenfallsschlug er die Früchte zur Seite und begannschrill zu zirpen. Illie hielt sich krampfhaftdie Ohren zu. Dennoch verstand sie seineDrohungen.

»Laß mich in Ruhe!« herrschte sie ihn an.»Ich will dich nicht mehr sehen, nie, niemehr will ich mit dir zu tun haben.«

Yütürüm versteifte sich. Ein hoher Pfeif-ton kam aus seinem Mund, brach aber eben-so abrupt ab. Gleichzeitig zuckten seine Ar-me hoch, die Hände verkrampften sich umseinen Schädel. Langsam sackte er in dieKnie, kippte vornüber.

Illie wich erschrocken zurück, als der Tel-lerkopf vor ihr auf den Boden klatschte. Dieblaßrosa Farbe wurde dunkel, fast schon rot.

Rufe nach einem Medorobot wurden laut.Ilara Clandor achtete nicht darauf. Sie folgteJack, der wie selbstverständlich die Führungübernommen hatte.

*

52 Hubert Haensel

Vierzehn Tage war es her, daß sie Jackzum erstenmal gesehen hatte. Eine kleineEwigkeit, erschien es Ilara. Deshalb nahmsie es auch gelassen hin, daß ihr Freund großgeworden war. Nur sie selbst war nicht vielälter geworden das war ungerecht.

Illie war traurig. Heftig schniefte sie, alssie das leere Bett sah. Jack war irgendwannin der Nacht gegangen, ohne ein Wort desAbschieds.

»Jack …« Ein heftiges Schluchzen schüt-telte sie. »Ich liebe dich doch. Und wenn dumeine Hilfe brauchst, komm zurück zu mir.«

Sie war sicher, daß er sie hören konnte.Mit dem Handrücken wischte sie sich dieTränen aus den Augenwinkeln.

Je größer Jack geworden war, desto mehrhatte er sich ihr entzogen. Sie hatte es nurnicht einsehen wollen. Er war nicht allein ihrFreund - er war der Freund aller im Silo ge-worden. Alle hatten ihn lieb.

»Du bist nicht fort, nicht wahr? Dukommst zurück, Jack, ich spüre dich.« Su-chend wanderte ihr Blick durchs Zimmer.Jack war ein Geist, der für kurze Zeitmenschliche Gestalt angenommen hatte.Geister blieben nie lange an einem Ort.

Der Weckservo schreckte sie auf.Kurz darauf näherten sich Schritte.»Er ist fort?« fragte Dindra.Illie nickte schwer. Es tat gut, von Mutter

in den Arm genommen zu werden. Genau sohatte sie ihren Freund festgehalten und ge-tröstet. Aber inzwischen war er nicht mehrschwach und kam gut ohne ihre Hilfe zu-recht.

»Ich kann ihn noch spüren«, flüsterteMum. »Jack wacht über uns, und er weiß,daß wir ihn gern haben.«

»Alle haben ihn gern«, nickte Illie.»Alle«, pflichtete Ronald bei, der schlaf-

trunken unter der Tür erschien. Er blinzeltein die Helligkeit, schien erst nach und nachzu bemerken, daß Jack nicht mehr da war.»Er kommt wieder, ganz bestimmt«, ver-sprach er. »Jack läßt doch seine Illie nichtallein.«

»Und wenn wir ihn suchen?« platzte das

Mädchen heraus. »Du hast Zeit, Ron, undMum auch. Du hast in den letzten Tagen so-wieso nicht gearbeitet.«

Ronald Clandor schüttelte den Kopf.»Heute nicht, Kleines. Leider. Ich muß

zum Transmitter. Harry hat mich angerufenund zu sich gebeten. Ich glaube, er will et-was Wichtiges mit mir besprechen.«

Wenn Harry um etwas bat, mußte Ronspringen - das war sogar Ilara klar. Sie kann-te es nicht anders. Harry Anderson war RonsVorgesetzter, ein wichtiger Mann in TradeCity.

»Ich verspreche dir, ich komme zurück,sobald ich Zeit habe«, seufzte Ronald.»Dann können wir immer noch versuchen,Jack zu finden.«

Dindra und ihre Tochter saßen allein beimFrühstück, als Sybil Moltrans sich über In-terkom meldete. Sie streifte Illie mit einemvielsagenden Blick.

»Ich habe eben gehört, daß eine Wohnungin eurer Nachbarschaft frei geworden ist.«

»Yütürüm.« Dindra nickte wissend. »Illiehat mir davon erzählt.«

Sybil zuckte mit den Achseln. »Eigentlichist es ja völlig egal. Aber ich habe gehört, ersei einfach umgefallen. Hirnschlag.«

*

Das Transmitterzentrum lag außerhalb derStadt. Selbst mit dem Gleitertaxi brauchteRonald Clandor gut zwanzig Minuten vomTower bis zu seinem Arbeitsplatz. Er ertapp-te sich dabei, daß seine Gedanken unabläs-sig um Illie und Jack kreisten. Illie war trau-rig, das hatte er zum erstenmal gespürt. Abersie war auf gewisse Weise auch erwachsengeworden, war nicht mehr das unbekümmer-te kleine Mädchen, das sie noch vor knappzwei Wochen gewesen war.

»Jack …« Suchend blickte Ron über dieSkyline. Alles war so riesig, so unpersön-lich. Erst Illies kleiner Freund hatte ihm dasso richtig bewußt werden lassen.

Das Taxi landete vor dem Haupteingangzum weitläufigen Transmittergelände. Tau-

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sende von Containern stapelten sich für dieAbfertigung. Vor einigen Tagen hatte es be-reits geheißen, daß die Abwicklung baldwieder den normalen Standard erreichensollte und der Transmitterverkehr zur zeit-versetzten Erde erneut aufgenommen wer-den würde. Offensichtlich war das bereitsgeschehen. Ron wußte es nur noch nicht,weil er sich krank gemeldet hatte.

Harry Anderson residierte hoch über demGelände. Ron mußte den Kopf weit in denNacken legen, um zu der goldglänzendenKugel aufzuschauen, die am Ende eineszweihundert Meter hohen Turmes fast dieWolken erreichte. Zweimal war er bislangdort oben gewesen. Das Panorama war über-wältigend.

Minuten später stand Ron Anderson ge-genüber. Und nicht nur ihm. Drei Abtei-lungsdirektoren waren ebenfalls anwesend.Ihre düsteren Mienen verhießen wenig Gu-tes.

»Ich stehe zur Verfügung«, begann Ro-nald.

»Eben nicht.« Anderson schnitt ihm miteiner knappen Handbewegung das Wort ab.»Ich hoffe, deine Genesung macht Fort-schritte.«

Ron nickte knapp. Obwohl er unentwegtan Jack dachte, entging ihm nicht, daß sichGewitterwolken über ihm zusammenbrau-ten. Allerdings störte es ihn herzlich wenig.Es gab Wichtigeres zu tun, als sich mitTransmittertechnik herumzuärgern.

»Hörst du mir zu, Ronald Clandor?« frag-te Anderson überraschend.

Ron brauchte Sekunden, bis er nickte.»Ich habe nicht den Eindruck«, fuhr sein

Vorgesetzter fort. »Aber das ist wahrschein-lich unerheblich.« Er erhob sich hinter sei-nem Kommandopult und kam direkt auf Ronzu. Erst zwei Schritte vor dem Transmitter-techniker blieb er stehen. »Du bist ein guterTechniker, Ronald. Oder sollte ich besser sa-gen, du warst es? In letzter Zeit läßt deineArbeitsweise sehr zu wünschen übrig. Duglänzt durch Zerstreutheit und geistige Ab-wesenheit, falls du es überhaupt noch vor-

ziehst, zu erscheinen.«»Ich habe mich nicht wohl gefühlt«, sagte

Ron schwach.»Natürlich. Auch der behandelnde Medi-

ker scheint nicht besonders gut draufzu-sein«, pflichtete einer der Abteilungsdirekto-ren bei. »Ich habe versucht, Auskünfte ein-zuholen, aber irgendwie habe ich das Ge-fühl, bei allen Ansprechpartnern im Towerins Leere zu laufen. Was ist los mit dir,Ron?«

»Nichts. - Nichts ist los mit mir, garnichts. Ich gehe wieder an die Arbeit und…«

»Deine Kollegen werden dir auf die Fin-ger schauen, Ronald. Du hast einen der ver-antwortungsvollen Posten, auf denen Sicher-heitsdenken besonders großgeschriebenwird. Es tut mir leid, daß ich das sagen muß,aber im Augenblick entspricht deine Verfas-sung nicht den Vorschriften. Ich bin ge-zwungen, dich vom Dienst zu suspendie-ren.«

Clandor schüttelte den Kopf. »Das istnicht wahr. Ich bin der Beste, den du für denJob bekommen konntest.«

»Sagen wir, du warst der Beste.«Jack war da. Ron spürte es von einem

Moment zum anderen. Nein, nicht körper-lich. Es war Jacks Aura, die er wahrzuneh-men glaubte, diesen Hauch von Glück undZufriedenheit, der ihn umgab wie ein Netzaus dünnen Spinnweben.

Auch die Direktoren schienen diese Aurazu spüren. Sie reagierten mit zunehmenderUnruhe, fuhren sich mit den Fingern zwi-schen Hals und Hemdenkragen. Harry An-derson suchte nach einem Tuch, um sich denSchweiß von der Stirn zu tupfen.

Augenblicke später ebbte die Aura wiederab.

»Ich glaube nicht, daß es noch einenGrund für Vorbehalte gibt«, sagte RonaldClandor. »Ich denke, ich begebe mich jetztan die Arbeit.«

Anderson schien ihm nur mit halbem Ohrzuzuhören. Er nickte geistesabwesend.Gleichzeitig begann er, Notizen auf eine Fo-

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lie zu schreiben.Keine Notizen. Ron konnte es nicht recht

erkennen, doch es waren bestenfalls Kritze-leien, wie Illie sie als Zweijährige überallhinterlassen hatte.

Epilog

»Ich bin zufrieden.«Erst hatten ihm nur wenige Glückliche ge-

hört, bald darauf der Wohnsilo und wenigspäter schon das gesamte Stadtviertel. EinBruchteil nur von allem, aber doch ein viel-versprechender Anfang.

Seine Kreise wurden größer.Jetzt, in diesem Moment, herrschte er

über ganz Trade City, eine Stadt mit Millio-

nen intelligenter Lebewesen. Auch das warnicht genug. Er hatte geistig den bishergrößten Schritt getan auf dem Weg zu seinerBestimmung, doch er mußte weitere Kreiseziehen, sie immer noch ausdehnen.

Lebensenergie trieb ihn an und machteihn stark. Er hatte bereits so viel davon insich aufgesaugt, daß er keine neue Nahrungmehr brauchte. Nie mehr.

Wenigstens kannte er nun seine Bestim-mung.

»Ich weiß, was zu tun ist.«»Ich bin ein Philosoph.«

E N D E

Was sich auf -Planeten wie Olymp und Topsid entwickelt, steht in enger Beziehung - auchwenn die Bewohner dieser Planeten diese Beziehung aus nachvollziehbaren Gründen nochnicht erkennen können.

Doch mit dem PERRY RHODAN-Roman der nächsten Woche blendet die Handlung wiedereinmal um: nach Plantagoo, wo Perry Rhodan und Reginald Bull nach wie vor versuchen, zuden geheimnisvollen Galornen vorzustoßen und über dieses Volk die Heimkehr in die Milch-straße zu schaffen.

Susan Schwartz nimmt sich der weiteren Abenteuer Rhodans und Bulls vor. Ihr Romanträgt den Titel:

ZWISCHEN ZWEI HERREN

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