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v. Graefes Archiv fiir Ophthalmologie 167, 607--613 (1964)

Aus der Abteilung ffir Stoffwechselkrankheiten des Krankenhauses der Stadt Wien-Lainz (Primararzt: Dozent Dr. JOSEF BLScH)

Eine besondere Verlaufsform der Retinopathia diabetica V o n

F R A N Z l~I SCHER

1. Einfiihrung

Von der ersten Beobachtung his zur Erfa~sung der Retinitis diabetica brauehte es zwei Jahrzehnte (1855--1875, LEBEn); weir mehr Zeit noch beanspruehte die Festigung und Ausbreitung des neuen Begriffs. Lange ging es urn die Eigenheit des Brides, die Abgrenzung yon anderen, schon bekannten Rethfitisformen, namentlieh der Retinitis albuminurica (nephritiea). SehlieBlieh einigte man sich - - dann beinahe schon still- sehweigend - - auf einen , I d e a l t y p " : erweiterte Venen, H/~morrhagien, scharfbegrenzte Exsudatherde bei freibleibender Sehnervenpapille und unver/~nderten Retinaarterien. Aber schon LEBE~ reehnete mit einem ganz anderen Bride noeh, gesehaffen durch Neubildung und Proliferation yon Gefiif~en wie Bindegewebe, dureh GlaskSrperblutungen, sehlie~lieh daraus folgenden delet~ren Zust/~nden; nur war diese ,,Retinitis proli- ferans" damals - - und lange Zeit noeh - - yon soleher Seltenheit, dal3 sie praktisch unbeachtet blieb, freilieh um dann, erst vor etwa 20 Jahren, zu einem bedrohlichen Vormarseh anzusetzen. Zur Abrundung des Brides ware noch anzuftihren, dal~ es BALLA~TY~E und LOEWE~CSTEI~ im Jahre 1943 gelang, die ophthalmoskopisehen sog. Blutpunkte mit den retinalen Mikroaneurysmen (schon 1877 mikroskopisch beobachtet) zu identifizieren, weir mehr noch: einer modernen anatomisehen Forsehung das Tor zu 5ffnen.

Wir haben es somit mit zwei Erseheinungsformen zu tun: ,Einfache Retinopathie" (l~etinitis exsudativa) und ,,Proliferative l%etinopathie" (Retinitis proliferans). Letztere soll naeh Ansicht der meisten Autoren das Endstadium und nicht eine Sonderform der diabetischen Retino- pathie sein. Wit selbst sind in verschiedenen Arbeiten zur Einsieht ge- langt, daf3 die ,,proliferative Ret inopathie" zwar in j edem Falle yon ,,ein- facher Retinopathie" eingeleitet wird, t rotzdem aber unterschiedlieh ist. Die jeweflige Verlaufsform sei, so Ifihrten wir aus, sehon zu allem Be- ginne festgelegt: durch ehle diabetesspezifische Gef/~konstitution, die in einem der ,Nebengene" zum diabetischen , H a u p t g e n " ihre erbliche Verankerung hat. In diesem Zusammenhange ist noeh zu vermerken, dal~ das Bild der einfaehen, schliel~lieh aueh proliferativen Retinopathie nicht selten spontan fluktuiert; Weiterentwieklungen, Rfickbfldungen, Re- missionen weehseln einander ab.

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608 F~ANZ FISCHEr:

Angesichts dieser S i tua t ion und im besonderen Hinb l i ck anf die Un- geklgr the i t de r Pa thogenese de r d iabe t i schen Re t inopa th i e (und Angio- pa th ie f iberhaupt) dfirfte jeder neue Ges ich t spunk t zur Sache will- k o m m e n sein. Wenn wir bier yon einer besonderen, b isher u n b e k a n n t e n Re t inopa th ieve r l au f s fo rm ber ichten, dann wurde dies - - wir g lauben es be tonen zu mfissen - - nu r durch eine ungew6hnlich eingehende, lang- frist ige Beobach tung ermSglicht . Also entscheide t n ich t die Zahl sondern die Qual i t i i t der F~lle. Die Krankengesch ich ten kSnnen aus i~uBeren Grfinden nur s t a rk gekfirzt a n d vere infacht wiedergegeben werden.

2, Krankengeschich ten

L Fall. St., Alice, geb. 7. Januar 1924, Prot.-Nr. 6707/1947. 1935, im l l . Lebensjahr, Diabetes mellitus; Insulin-Behandlung. In den II~chst-

folgenden Jahren zweimal eiii schweres Coma diabeticum. 1947: Icterus paren- chymatosus. Erstes Angiopathiezeicheii: Proteiiiuriei Einstellung mit 18BE, 48-0-20 E Zink-Prot.-Insulin. 1950: Neuerdings Coma diabeticum. Moiiate sp~ter Erstauftreten yon ttypertonie und Retinopathie. Umstellung auf Di-Insulin. 1951: Nephropathie verst~rkt. An der Retinopathie (H~morrhagieii und Herde, besonders im Maeulagebiet) f~llt eine Papillenbliisse auf. Die Aa. iliacae zeigen rSntgenologisch Kalkeinlagerungen. 1952: Schwerer hypoglyk~mischer Schock; gleichzeitig Hochdruckkrise (RR 250/100 mm Hg). An der Nephropathie trit t eine Pyelitis hervor. Retinopathie: Arterien verengt, yon ungleichem Kaliber und mit ,,hartem" Reflexstreifen; neue Herde in der linken Macula. 1955: Gangr~ii der ]inken Gro~zehe; ehirurgische Behandlung. Sparer Gallenblasen-Operation. Ver- Ius tder letzteii Z~hne durch Paradentose. 1957: Gangr~n der Zeheii 2--3 links. M~l~iger Aiistieg der Nephropathie. An der Retinopathie teilweise Rfickbildung der H~morrhagien und Degeneratioiisherde. Eine Amputation des linken Unter- schenkels wird notweiidig. 1959: Nun Zehengangr~n rechts; Sympathektomie. 1961: Verschlechterung der peripheren Gef~sklerose. 1964: Pr~koma. Hypertonie verst~rkt, doch noch labil. Anstieg der Rest-N-Werte. Retinopathie: Papillen blaB, Arterien deutlich verengt, H~Lmorrhagien uiid ,,Blutpunkte" nur noch in der Fuiidusperipherie. Sehsch~rfe praktisch normal (6/8, Jgl). Gesamte Diabetes- kontrolle: fraglich gut. Keine familii~re diabetische Belastung bis zum Schlu~.

2. Fall. IVL, Peter, geb. 8. August 1914, Prot.-!~r. 7335/1949. 1935, im 21. Lebensjahr, Diabetes mellitus; Behandlung mit Insulin. Ein

Bruder stirbt 1938 als 14j~hriger an Diabetes. 1949: Einstellung nach einem hypo- glyki~mischen Schoek - - mit 22 BE und 48 Di-Insnlin. Ophth~lmoskopisch: Leichte Papillenbl~sse und Veneiierweiterung ohne sonstigen Befund. In der Folge- zeit h~iufig Hypoglyk~mie. 1951: Auftreten einer Retiiiopathie: feinste Degenera- tionsherde und H~morrhagien im Maculagebiet beiderseits, Papilleiibl~sse wie friiher, Kaliberschwankungen an den Arterien. An der Pulmo geringgradige Ober- lappenfibrose. Einstellung mit 16 BE, 52 Di-Insulin. In den folgenden 5 Jahren keine besonderen Ereignisse. Di~t wurde nicht gut eiiigehalten. Hiiufig Hypo- glyk~mie. 1956: Chronische Prostatitis. 1957: Retinopathie: neue auff~llige Ver- engerung der Retinaarterien, im fibrigen unver~ndert. Keine sonstige Angiopathie. Einstellung mit 15 BE, 44 Lente-Insuliiimorgens. 1958:Rfickgang der H~morrha- gien und Herde im Maculagebiet, Auitreteii einer helldunklen Fleckung (sekuiid~re Maculadegeneration). In den folgenden Jahren leiehtes Absinken der Sehsch~rfe. 1964: Papillen abgeblai~t, Retinaarterien deutlich verengt, ,,hurter" Arterien-

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reflex, in der Macula nur noch zarte helldunkle Fleckung, in der Fundusperipherie wenige H~morrhagien; Sehschgrfe beiderseits 6/18, Jga m. Korr. Peripheres Gesichtsfeld normal. Auch jetzt noch keine weitere diabetische Angiopathie - - bei einer Diabetesdauer yon 29 Jahren und einer I~etinopathiedauer yon 14 Jahren! Gesamte Diabeteskontrolle: absolut schleeht. Patient als Kaufmann roll t/itig.

8. Fall. W., Johann, geb. 20. Mgrz 1907, Prot.-Nr. 2732/1940. 1936, im 29. Lebensjahr, Diabetes mellitus; sofortige Behandlung mit Insulin.

1940: Pr/ikoma. Einstellung mit 9 BE und 40 E Bayer-Nativ-Insulin. 19~6: Erst- reals Retinopathie! Papillen hyper~misch, Retinavenen erweitert, Degenerations- herde in der Papillenumgebung. 1948." Retinopathie progredient, zahlreiehe neue Hi~morrhagien, insbesondere in der Fundusl0eripherie. 1949: ulcus pr/ipyloricum. Retinopathie: weiter progredient. 1952: Papillen blgsser geworden, Retina- arterien verengt mit ,,hartem" Reflexstreifen. Retinale tt/~morrhagien und Her@ zuriickgegangen. 1958: Sklerose der Retinaarterien noch deutlieher geworden. Keine sonstigen Angiopathiezeichen. 1961: Nur noch in der Fundusloeripherie wenige ,,Blutpunkte" und H~imorrhagien. 1964: Keine weiteren Vergnderungen an der Retinopathie. Sehsch~rfe beiderseits normal (6/6, Jg~). Auch heute nooh ist die Retinopathie das einzige Angiopathiezeichen - - bei einer Gesamtdiabetesdauer yon 28 Jahren und einer getinopathiedauer von 18 Jahren! Gesamte Diabetes- kontrolle: fraglich gut.

4. Fall. B., Karl, geb. 13. Januar 1899, Prot.-Nr. 7743/1949. 1938, im 39. Lebensjahr, Diabetes mellitus; Behandlung mit Insulin. In den

folgenden 10 Jahren vernachlgssigt Pat. seinen Diabetes fast zur Giinze; stets hohe Blutzuckerwerte. 1949: Korea, bald darauf Schock. Erstmals Retinopathie! Zahl- reiche H~morrhagien und Degenerationsherde am hinteren Augenpol; Papillen leieht abgeblalSt. Einstellung mit 20 BE, 52-0-32 Alt-Insulin. 1956: Auftreten yon Hypertonie, sp/iter aueh 10eriphere Gefgl~sMerose und Polyneuropathie. Retino- pathie: Papillen abgeblaSt, Retinaarterien verengt, gestreckt, mit ,,hartem" Reflexstreifen, Kreuzungsph/~nomene; Zahl tier HS~morrhagien und Iterde deutlich abgenommen. 1958: Coronarsklerose. 1960: Arterielle Itypertonie nunmehr fixiert. Keine sichere Nephropathie. An der Retinopathie tritt die Arterienver~,nderung noeh deutlicher hervor. 1963: P15tzlicher Exitus letalis im Anschlu$ an eine Obersehenkelhals-Fraktur. Gesamte Diabeteskontrolle: absolut schlecht.

5. Fall. Sch., Hilde, geb. 7. Juni 1912, Prot.-Nr. 3156/1940. 1922, im 10. Lebensjahr, Diabetes mellitus. Station~re Behandlung auf der

Kinderklinik dutch ein ganzes Jahr! Eine Schwester ist seit dem 20. Lebensjahr Diabetikerin. 1940: Auftreten von Par~sthesien an den Hiinden. Neurologisch: leichte St6rung der Tiefensensibilit~t. Keine Zeichen yon Angiopathie. Ein- stellung mit 56 E Nativ-Insulin. 1942: Appendektomie. 1946: Umstellung auf 36-0-28 Di-Insulin. 1957." Gef~hllosigkeit auf die Beine iibergegriffen. Neuro- logisch: ,,Funieul~re 3/Iyelose". Augenbefund: Papillen abgeblagt, Retinaarterien verengt, verstreut retinale Hgmorrhagien und ,,Blutpunkte". Sehsehgrfe: R. 6/12, Jg~; L. 6/8, Jgr Gesichtsfelder normal. Einstellung des Diabetes mit 15 BE, 40-0-16 E Di-Insulin. 1958 bis 1960: Wiederholte station~ire Behandlung auf der Neurologischen Abteilung. 1961: Retinale Hgmorrhagien und Herde nicht mehr naehweisbar ! Papillen weiterhin abgeblaftt, Retinaarterien deutlich verengt. Keine anderen Angiopathiezeiehen. Gyngkologischer Befund: Ca-uteri III. Radium- behandlung. Noch im gleichen Jahr 1961 Exitus letalis! Aus dem pathologisch- anatomischen Befund: Neuro- und Myelopathie mit ausgedehnten Entmarkungen in den Vorder- und Seitenstr/~ngen des Riickenmarks. Hochgradige neurogene Atrophie der Muskulatur der unteren Extremit/~ten. Atrophie des Pankreas mit

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absoluter Reduktion der Inselzahl. Collum-Carcinom des Uterus auf das vordere SeheidengewSlbe fibergreifend mit Einbruch in die Harnblase. Lymphknoten- metastasen, solitgre 3~etastasen im 5. LendenwirbelkSrper. Allgemeine Arterio- sklerose u.a.

6. Fall. C., Anna, geb. 2I. Februar 1893, Prot.-Nr. 72/1930. 1927, im 34. Lebensjahr, Diabetes mellitus. Die Behandlung wird l0 Jahre lang

yon der Pat. grob vernachl~tssigt. 1937: Proteinurie (1. Angiopathiezeichen). Augenbefund: Sklerose der RetinaarteHen (44 gahre!), sonst aber negativ. Ein- ste]lung mit 10 BE, 30-6-36 Insulin. 1947: Arterielle Hypertonie! 1949: Erstmals Retinopathie: verstreut feinste tIgmorrhagien. 1952: Retinopathie progredient: neue tt~morrhagien und Iterde im Maeulagebiet. Aueh die Nephropathie mgBig progredient. Aul3erdem die Erscheinungen einer Encephalomalacie. 1954: Retino- pathie und Nephropathie weiterschreitend. Auftreten yon coronarer und peripherer Gef~13sklerose. 1955: Cerebraler Insult, rech~sseitige Hemiparese. 1957: Hypertonie nunmehr hochfixiert. Nephropathie noch welter progredient (Isosthenurie). Retinopathie: Papillen nunmehr abgeblal3t, Rebinaarterien verengt. Dagegen weir weniger H~morrhagien und Herde als friiher. 1959: Exitus letalis (Alter 66, Diabetesdauer 32, Retinopathiedauer 11 Jab_re). Gesamte Diabeteskontro]le: absolut sehlecht.

7. Fall. Kl., Friedrich, geb. 18. September 1921, Prot.-Nr. 3272/1941. 1934, im 13. Lebensjahr, DiabeLes me]litus; Behandlung mit Insulin. 1941:

Arterielle Hypertonie (1. Angiopathiezeichen!). Einstelhmg mit 18BE, 72E Prot.-Zink-Insulin. 1944: Schwerer hypoglyk/~miseher Schock. 1947: Erstmals Proteinurie! An der Pulmo geringgradige Oberlappenfibrose. Aul3erdem Paraden- tose. 1951: Beginn einer Retinopathie mit einzelnen H~morrhagien in der Umgebung der reehten Papille! Nephropathie kaum progredient. 1953: Hypoglyk~mische Zust~nde. Retinopathie progredient: Auftreten yon Herden im Maculagebiet und yon H~morrhagien in der Fundusperipherie. 1957: Retinaarterien nunmehr ver- engt, mit ,,hartem" Reflexstreifen. Sonst Retinopathie unvergndert. Einstellung mit 10 BE, 60 E Prot.-Zink-Insulin. 1958: Nephropathie kaum weiterschreitend. Retinopathie: Hgmorrhagien und Herde des Maeulagebietes in Riickbildung. 1959: Arterielle I-Iypertonie fixiert. Retinopathie: Unregelm~Bigkeiten am Kaliber der Arterien, ,,Einseheidungen" kleinerer Arterien~ste, It~morrhagien und ,,Blutpunkte" nur noch in der l~undusperipherie vorhanden. 1962: Retinopathie: Papillen leicht abgeblagt, Arterien verengt, ansonsten wie friiher. 1964: Unveriinder- ter Augenbefund; Sehseh~rfe beiderseits normal (6/6, Jgl m.K.). Nephropathie m~Big progredient (Rest-N 43,3 rag- %). Dagegen Hypertonie hoeh fixiert. Erst- mals Erscheinungen einer Coronarsklerose. Gesamte Diabeteskontrolle: absolut schlecht. Pat. als Kaufmann vo]l t~tig.

3. Auswertung I n allen oben angefiihrten F/illen linden wir eine diabetische Retino-

pathie yon gleieher, hSchst eigentiimlieher Verlaufsart : Unte r immer st/irkerem Hervor t re ten einer Sklerose der ]getinaai~erien und einer Papillenbl~sse erfolgt l~/ickgang der H~morrhagien, Degenerationsherde und , ,Blutpunkte" , und zwar auf Dauer. Ein Verlauf, der bisher un- bekannt war! DaB bei diabetischer Ret inopathie Hgmorrhagien und Herde spontan verschwinden kSnnen, um allerdings meist an anderen Stellen wiederzukommen, ist ein, dem erfahrenen Untersucher ver t rautes

Besondere Verlaufsform der Retinopathia diabetica 6iI

Faktum, ebenso das gelegentliche auff~tllige Sklerosieren der Retina- arterien verbunden mit Papillenabblassung. Das UngewShnliche unseres Falles liegt in der Koppelung der beiden Vorg~nge, offenbar mit dem Ziele, den ganzen Augenprozeg zu einem giinstigen Endausgang zu bringen.

Wie nun ordneb sich nnsere Beobachtung dem gesamten Diabetes- geschehen ein ? Hier sehieben sich naturgemgB die fibrigen Angio- pathieformen, Nephropathie, Hypertonie, Coronarsklerose, periphere GefgBsklerose, in den Vordergrund. Beginnen wir mit folgendem: In zweien unserer F~lle (2 und 3) ist tiberraschenderweise die Retinopathie das einzige diabetische Angiopathiezeichen, bei einer Dauer der Retino- pathie selbst yon 14 bzw. 18 Jahren, des Diabetes von 29 bzw. 28 Jahren. Gewig eine Rarit~t ! Immerhin haben wit in unserem gesamten Material noch einige soleher F~lle mehr, doch natfirlieh ohne den eigenartigen, hier behandelten Retinopathieablauf. In einem anderen, dritten Falle (5) fehlt zwar ebenfalls jede andere Form der Angiopathie auBer der getino- pathie; daf/ir findet sieh eine ,,funieul/ire Myelose" (die bekanntlieh in ihrer ngheren Beziehung zum Diabetes mellitus noeh v611ig ungekl/~rt ist). In den restliehen F~llen (1, 4, 6 und 7) sind noeh versehiedene andere Angiopathieerseheinungen vorhanden: So im Falle 1 (St., Alice) eine Nephropathie (yon m~giger Progredienz in langer Zeit), eine arterielle Hypertonie (yon unver/~ndert labilem Charakter) und sehlieBlieh eine, stark im Vordergrunde stehende periphere Gefi~Bsklerose. Dann, im Fall 4 (B., Karl) fixiert sieh im Laufe der Zeit eine arterielle Hypertonie ; Coronarsklerose, periphere Gef/igsklerose und eine Polyneuritis treten in Erseheinung. Patient stirbt im 64. Lebensjahr. Im Falle 6 (C., Anna) finder sieh eine Nephropathie yon nur m/tgiger Progredienz, dann eine fixierte Hypertonie, Coronarsklerose und sehlieBlieh aueh eine ausge- pr/~gte eerebrale Gefi~Bsklerose. Die Patientin stirbt im 66. Lebensjahr. Im Falle 7 (K., Friedrich) zeigen sieh eine Nephropathie (sehubweise verlaufend, doeh nicht gerade bedrohlieh), eine, sieh fixierende arterielle Hypertonie, und am Ende, im 43. Lebensjahr, eine Coronarsklerose.

An allgemeinen Daten h/~tten wit folgende anzufiihren: Der Diabetes mellitus manifestierte sieh in drei F~llen im Kindesalter (10.--13. Lebens- jahr), in zwei F~llen im 21. bzw. 29. Lebensjahr, wieder in zwei F/~llen im 34. bzw. 39. Lebensjahr. Die Diabetesdauer bei Eintri t t der Angio- pathie oder Retinopathie liegt ausnahmslos hSher als 10 Jahre. Die Gesamtdiabetesdauer bewegt sich zwischen 25 und 39 Jahren. Die Diabeteskontrolle war in keinem Fa]le wirklieh gut, meistens absolut schtecht, obwohl in den hi~ufigen stationgren Behandlungen die besten Voraussetzungen gegeben waren. Entsprechend dem jfingeren Alter und der unzureichenden Diabeteskontrolle zeigt sich die Stoffwechsellage meistens sehr labil. Eine familis diabetische Belastung war nur in

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zwei Fi~llen nachzuweisen. Tuberculosis pulmonum, sonstige Infektions- krankheiten, Induratio hepatis, Paradentose - - sie alle sind die gewohnten Begleiterscheinungen des Diabetes mellitus.

Legt man sich nun die Frage vor, ob und inwieweit das totale Dia- betesgeschehen fiir den eigenartigen Retinopathieverlauf verantwortlich ist, so muB dies beantwortet werden wie folgt: Aus dem Verhal~en des gesamten Gefi~systems, aus der begleitenden Angiopathie, ist dies- bezfiglich nichts zu gcwinnen. Der Befund des danernden Fehlens son- stiger Angiopathie, aui~er der Retinopathie, wie in drei Fi~llen erhoben, wird durch das vielf~ltige, auch schwere Auftreten der diabetischen Angiopathie in allen iibrigen F~llen reichlich aufgewogen. Allerdings, in keinem unserer F~lle nimmt die Nephropathie einen deleti~ren Ablauf, etwa in Form der Kimmelstiel-Wilsonschen Glomerulosklerose. Da sich aber unsere Retinoputhie in die Kutegorie der ,,einfachen Retinopathie" (dauernd) einreiht, kann uns dies nicht fiberraschen; die Glomernlo- sklerose gehSrt doch zur ,,proliferativen Retinopsthie". Li~l~t sich in Beziehung auf dss Gef~i3system immerhin etwas entscheidend sagen, sei es such negstiv, die sllgemeinen diabetescharakteristischen Daten lsssen hier, schon aus Griinden der kleinen Zahl, gi~nzlich im Stich. Somit ergibt sich aus dem gessmten Diabetesgeschehen keine Erkls unseres Sonderfulles.

Um noch auf den Retinopathieabluuf selbst des n~heren zu kommen: Die Sklerose der Retinaar~erien, die Papillenbli~sse, sie wurden in drei Fi~llen bereits zu l%etinopathiebeginn oder bald hernach auff~llig, in zwei Fi~llen gingen sie sogar voran; in den restlichen zwei F~llen aller- dings traten sie erst Jahre sparer in Erscheinung. In keinem Falle wurde das Bild einer ausgepr~gten Opticusatrophie erreicht. Die Rfickbildung der retinalen H~morrhagien und Herde l~Bt sich zeitlich nur schwer zu den obengenannten Vorgi~ngen koordinieren; jedenfalls dfirfte sie nach den obigen Erhebungen erst spi~ter einsetzen, also sekund~rer Natur sein. In diesem Zusammenhang sei such auf unseren Fall 5 mit ,,funi- culi~rer Myelose" zuriickgekommen: Wie bekannt, kann bei dieser Er- krankung uuch eine Opticusatrophie eintreten. In unserem Falle abet lassen die sonstigen Befunde eine solche Deutung kaum zu. Schliei~lich, die Frage, ob die yon uns beobachtete Retinagef~B- und Papillen- ver~nderung dss Produkt einer diabetesspezifischen Erkrankung oder einer ,gewShnlichen" Arteriosklerose ist, muB offenbleiben, selbst dsnn, wenn wir im Besitze des anatomischen Substrates unserer F~lle w~ren. Mug sber sein, dub die moderne histologische Forschung mit ihren neuen Untcrsuchungsmethoden: Elektronenmikroskopie, Fluorescenz-Retino- graphie, Dsrstellung der retinalen Gef~Be mittels Trypsin-Methode u. a.m. in naher Zukunft eine Antwort darauf weigh. Die Anregung wfi.re geboten.

Besondere Verlaufsform der Retinopathia diabetica 613

Zusammenfassung

Es wird eine besondere, b isher unbeka nn t e kl inische Verlaufsform der R e t i n o p a t h i a d iabe t ica geschildert . Sie bes teh t im wesent l ichen dar in , dab un te r i m m e r s tg rke rem H e r v o r t r e t e n einer Sklerose der Re t i naa r t e r i en ve rbunden m i t Pap i l l enabb lassung ein Rf ickgang der H/~morrhagien und Degenera t ionsherde erfolgt, eine A r t yon Selbst- hei lung m i t n ich t e inmal sonder l ichem Defekt . Trotz e ingehender Ana- lyse des gesamten Diabetesgeschehens b le ib t die N a t u r dieser Erschei- hung ungekl~r t .

Summary

A new form of course of the d iabe t ic r e t i n o p a t h y is descr ibed: Gradua l appea rance of sclerosis of the re t ina l ar ter ies and pal lor of the opt ic nerv-disc under re t rogress ion of hemorrhages and exuda tes - - a sort of spon taneous heal ing wi thou t r emarkab le defect. I n spi te of thorough analys is of the ent i re d iabe t ic s i tua t ion this phenomenon remains un- explah~ed.

Li te ra tur

BALLANTYNE, A . J . , o. A. LOEWENSTEIN: Pathology of diabetic retinopathy. Trans. ophthah Soc. U.K. 68, 95 (1943).

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1 9 6 4 , 713. L~BER, Tm: Uber die Erkrankungen des Auges bei Diabetes mellitus. Albrecht

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Dozent Dr. F~A~z F I s c g ~ , Operm'ing 17, Wien I (0sterreieh)


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