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Page 1: Einfache und proliferative diabetische Retinopathie

v. Graefes Archiv fiir OphthMmologie 166, 220--228 (1963)

Aus der Abteilung fiir Stoffwechselkrankheiten des Kr~nkenhauses der Stadt Wien-Lainz (Primararzt: Doz. Dr. Jos ]~ Bn6c~)

Einfaehe und proliferative diabetische Retinopathie Von

FRANZ FISCHER

1. Einleitung In Jahre 1875 begriindet TItEODOR LEBEt~ den Begriff: Retinitis (Retino.

pathia) diabetica, schon unter Beiziehung der sog. Retinitis proliferans mit Glas- k6rperblutungen. J. HInSCHBERa folgt 1890 mit einer Einteilung in zwei Haupt- formen: die ganz charakteristische ,,Retinitis centralis punctata" und die ,,l%etinitis haemorrhagica" von schlechter Prognose. M. KAxo tr i t t 1903 ffir se]bst~ndige Retinitis-Formen ein, und betont die Unabh~ngigkeit der ,seltenen" GlaskSrper- blutung yon den retinalen Ver~nderungen. In der ersten Obersichtsdarstellung (Handbuch GRA~FE-SAE~mCH 1914) macht T~. L~BEn auf den weehselnden Chara.kter der t~etinaerkrankung in ihrem Verlaufe aufmerksam, ferner darauf, dab recht haufig die F~lle gar nicht in das Hirschbergsche Schema passen. Dann tr i t t eine lange, hauptsiichlich dutch die Zeitverh~ltnisse (1. Weltkrieg) beding~e Pause ein. Erst 1934 wieder erh~lt die Forschung neuen Antrieb: Die amerikani- schen Autoren WAG~NEn, Dnv und WILDER erkl~ren si6h dahin, daft die diabetische Retinitis verschiedene Stadien durchlaufe, um in Glask6rperblutung und Retinitis proliferans abzuschlieften; Schwere des Diabetes und die Diabeteskontrolle hatten darauf keinen Einfluft. Dagegen will REIN~ARD BnAUN (1937) die t%etinitis proli- ferans nicht einfach als fortgeschrittene Retinitis diabetica aufgefaftt wissen; sie verdiente besser den Namen einer ,,Hyalo-Retinitis maligns". ST. HANU~ unter- scheidet 1938 vier Formen: die exsudative, die circinoide, die hiimorrhagische und die proliferative Form. Letztere, die proliferative Form, differiert nach Ansicht des Autors so entschieden yon den drei anderen Formen, daI3 eine ganz andere Pathogenese wahrscheinlich gem~cht wird. Erneut ergibt sich ein tiefer Einschnitt in der Forschung (2. Weltkrieg).

Im Jahre 1950 teilt J. S. FP~IEDENWALD mit, d~ft das Verh~ltnis der Retinitis proliferans zur Schwere des Diabetes, zur Diabeteskontrolle (Art der Behandlung) und zur retinalen wie allgemeinen Arteriosklerose das gleiche sei wie in der ,,milden Gruppe". G . J . ScoTT unterscheidet 1951 vier Stadien und erld~rt, daft das letzte Stadium, die Retinitis proliferans, zuweilen unvermittelt aus den Anfangsstadien (I und II) hervorgehe; es werde iibrigens yon rund 75% der FgJle niemals erreicht. E. I-IEI~sIvs (1951) vcrmutet im Zwisehenhirn den entseheidenden F~ktor ffir den Ablauf der Retinopathie. H. E~LE~S (1953) h~lt einfache und proliferative Retino- pathie ffir so grundverschieden voneinander, dM] gleicher Diabetestyp bezweifelt werden k6nne, zumindest aber verschiedene Entstehungsbcdingungen denkbar w~ren. W. Po:as!rlgA~ und J. WIESE (195~) ri~umen ebenfalls der P~etinitis proli- ferans eine gewisse Sonderstellung ein. H. JA~E~T und G. MO~[~K]~ samt Mit- arbeitern geben in ihren ,,OphthMmologischen Diabetesstudien" (1956--1958) die Erld~rung ab, daft die l%etinopathia proliferans unter den gleichen Bedingungen zu beobaehten sei, wie die einfache l%etinopathie, aus der sie auch grunds~tzlich hervorgehe; sie werde um so hg, ufiger angetroffen und verlaufe um so maligner, je friiher der Diabetes mellitus und dann eine einfache Retinop~thie manifest wurde. L. AL~E~TS (1958, 1959) unterteilt die Retinoputhie in sechs Stadien, die jedoch

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nur die Schwere des retinalen Prozesses ausdriicken, nicht einer Evolution dienen. J. BAB]~L und B. RIn~IET (1958) unterziehen die bisherigen Retinopathie-Klassi- fikationen einer kritischen Untersuchung und kommen zu dem Schlu•, dal] keine yon ihnen wirklich a]lseits befriedige. F. FISCHE~a, der Verfasser dieser Arbeit, gelangt nach klinischen Ermittlungen, besonders aber auf Grund yon :Familien- untersuchungen (1958--1962), zu der Auffassung, da~ fiir Auftre~en undAblauf der diabetischen Retinopathie (Angiopathie iiberhaupt) eine diabetisch-spezifische Gefiil3konstitution mai3geblich set, deren natiirliche Wurzeln in die Erbanlage reichten, und zwar der ganzen Sachlage nach in eines der ,,Nebengene" zum diabetischen ,,Hauptgen". D. G. COGA~, D. TOVSSAI~T und T. KvWA~A~A (1961) kommen durch ihre histologischen Erhebungen zur Einsicht, daI~ die Retinitis proliferans eher eine ,,Variante" als das Endstadium der diabetischen Retinopathie darste]lt. R.T. COLLYER und BAaBA~A ]~AZLETT (1961) benutzen das Scottsche Schema, sehen aber in der Retinopathie eine ,,2-Stadien-Erkrankung" mit Tren- nungslinie zwischen Stadium 2 (Kleine H~morrhagien und Exsudatherde) und Stadium 3 (Ausgedehnte Exsudatherde und zahlreiche Blutungen). H. T. BLWIE~- THAL, Mo~IS ALEX and S. GOLDENBERG (1961) ]egen der diabetischen prolifera- riven Retinopathie einen immunologischen Mechanismus zugrunde.

Der obige geschichtliche Uberblick lehrt uns fo]gendes: Seit jeher, gesteigert in den letzten zwei Jahrzehnten, geht das Bemfihen hinsicht- lich der Erscheinungs- bzw. Verlaufsformen der Retinopathia zu einer klaren Vorstellung zu gelangen. Wenn dem bisher der Erfolg versagt blieb, so liegt dies haupts~chlieh, ja wahrscheinlich ausschliel31ich, an den Zeit- und Forschungsverhiiltnissen. In der Hauptsache steht die Stellung der sog. Retinitis proliferans (Proliferative Retinopathie) in oder zur Retinopathia diabetica (als Oberbegriff) in Frage. Zwei Meinungen befinden sich gegenfiber: Nach der einen Meinung, die durch die 1V[ehr- heir der Autoren zum Ausdrucke gebracht wird, ist die Proliferative Retinopathie als Endstadium anzusehen, nach der anderen, der durch erfahrene Autoren Gewichtigkeit verliehen wird, stellt sie eine ,, Sonder- form" dar. Ubergange bieten sieh an. Einer lYieinung sind sieh die Autoren darfiber, da~ die Mehrzahl der Fiille nie fiber die ,,einfache Retinopathieform" hinausgelangt, wenngleich dem lediglich die Tat- sache der h6heren Frequenz dieser Retinopathieform zugrunde ]iegt. ~be r die Ursaehen zu dem verschiedenartigem Verhalten der Retino- pathie besteht noch gro~e Unklarheit; Anf/~nge tier Erkenntnis zeichnen sich ab.

Bedenkt man, dai~ der Diabetes melhtus sich unausgesetzt im Vor- marsche befindet, die spezifische Angiopathie immer mehr in Erscheinung tr i t t und l~ngst schon schieksalsentscheidend ffir den Diabetiker gewor- den ist, dann ~ r d rasch verstandheh, warum der Ruf nach Abhilfe in dieser Riehtung hin immer dringlicher wird. Schon einige Male frfiher haben wir zur Sache Stellung genommen. Wenn wit es diesmal erneut tun, so mit einem besonders ausgewi~hlten und geeigneten Material. Grundidee ist: Gegenfiberstellung yon ,,einfacher Retinopathie" und ,,proliferativer Retinopathie".

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2. Material und Erhebungen Als wir unser Material sichteten, erst dann drang so richtig ins

Bewul3tsein ein, dab samtliche Falle yon proliferativer Retinopathie ein ,Vorstadium" hatten: in Form der einfachen l~etinopathie. Es dauerte meistens nur kurz an (in 29 der 40 Falle blol3 1--4 Jahre), in jedem FMle kfirzer Ms 10 Jahre. Verwechslungen mit wirklich (dauernd) ein- facher Retinopathie waren also mSglich. Wir konnten daher ffir unsere Grulope der einfachen Retinoloathie nur solehe Falle wi~hlen, die diese ihre Einfachheit bzw. Gutartigkeit durch wenigstens 10 Jahre, m6glichst noch ]i~nger (in unserem Material in 23 Fallen: 12--16 Jahre), exakt unter Beweis gestellt hatten. Aul3erdem mul3ten alle Falle der beiden Gruppen noch verschiedene andere Daten mit Genauigkeit liefern. Alles Bedingungen, die selbst yon sehr gro~em Material nur schwer zu erffillen sind! Soviel zur MateriMbeschaffenheit.

Unter Abrundung der Zahlen vereinigten wit 40 Falle yon einfacher Retinopathie in Gruppe I, und eben soviele Falle, 40, yon loroliferativer l%etinopathie in Gruppe II. Die Erhebungen lenkten wir vorsatzlich auf alle jene Erscheinungen hin, die erfahrungsgemaB tefls als Bedin- gungen und Folgen, teils als Symptome selbst, oder gar nur dutch Erlauterungen, das ,,wissenschaftliche Charakterbild" des Krankheits- falles zustande bringen. Darfiber wird nachfolgend abschnittsweise berichtet :

a) Diabetesmani/estationsalter. Diabetesbeginn im kindlichen wie jugendlichen Alter (einschlieBlich des 29. Lebensjahres) ist in unserer Gruppe I (Einfache l~etinopathie) haufiger vertreten, Ms in unserer Gruppe I I (Proliferative Retinopathie); das Verhaltnis ist 16:7 F/~llen. Mit dem hSheren Alter ist es umgekehrt. Ein ManifestationsMter yon 60 JMlren und aufw/~r~s finder sieh nur in wenigen F/~llen der Gruppe II.

b) Erstes Angiopathiezeichen. Am h/s ist es in Gruppe I die Retinopathie selbst, dagegen in Gruppe I I (1)roliierative Retinopathie) die Proteinurie ffir sich oder zusammen mit anderen Zeichen der Angio- pathie.

c) Diabetesdauer bei Retinopathiebeginn. Eingeteilt in 3-Jahres- Stufen erscheint die erste Stufe: 1--3 Jahre am st/~rksten frequentiert, gleich in beiden Gruppen (10:10 Fallen). ]3ei I-Iinzunahme der naehst- folgenden 3-Jahres-Stufen: 4---6 und 7--9 Jahre verschiebt sich dieses Verhaltnis zugunsten der Gruppe I I (20:13 F/~llen). Das heif3t mit anderen Worten: die relativ kurze Diabetesdauer yon 1--9 Jahren ist in Gruppe I I (Prohferative l~etinopathie) haufiger anzutreffen als in Gruppe I (Einfaehe Retinopathie), und umgekehrt in der Diabetesdauer yon 10 Jahren und aufwarts.

d) Diabetesdauer bei erstem Angiopathiezeichen. ~hnlieh verfahrend wie oben zeigt sich in Gruppe I I (Prohferative Retinopathie) diesmM

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schon die erste Stufe: 1--3 Jahre st/~rker frequentiert (15:10 F/~llen). Zieht man wiederum die n/ichsten Jahresstufen 4--6 und 7--9 Jahre heran, dann verschiebt sich dieses Verhaltnis noch weiter zugunsten der Gruppe I I (25 : 15 F/illen).

e) Die Nephropathie. Hier ist voranzustellen, dab es in Gruppe I (Einfache t~etinopathie) nicht weniger als 17 F/ille(!) gibt, die in der langen Beobachtung niemals Zeichen einer ~ephropathie darboten (in 6 Fallen auch keine ttypertonie !). Dagegen weist die Gruppe I I (Proli- ferative Retinopathie) nur 2 F/~lle ohne Nephropathie auf, die zudem, gerade sie, die kfirzest beobachteten F/ille dieser Gruppe sind. Was die Nephropathie betrifft, so iiberwiegen in Gruppe I (Einfache Retino- pathie) die leichten, kaum jemals wirklich progredienten Formen rund um das Doppelte die schwereren, nicht einmal schweren, Formen. Unter diesen schwereren Formen finder sich nicht 1 Full yon Glomerulosklerose (Kimmelstiel-Wilson); 4 F/~lle sind Mlerdings ad finem gekommen, 2 in Ur/~mie, 2 kardial. In Gruppe II (Proliferative Retinoioathie ) liegen die Verhaltnisse wesentlich anders: I-[ier beherrschen die schweren, loro- gressiven l~ephropathieformen das Feld. Von 18 F/~llen dieser Art haben sich bereits 14 Falle klinisch als Kimmelstiel-Wilson-Li~sion deklariert; 5 davon haben in Ur~mie geende~. Auch die sog. leichteren F~]le in dieser Gruppe stehen vielfach erst im Anfange.

/) Arterielle Hypertonie. Auch hier ist zun~chst die Feststellung zu treffen, dM] es in Gruppe I (Einfache Retinopathie) 7 Falle gibt, die niemMs eine Hypertonie erkennen liei3en (auch keine Nephropathie). Dagegen findet sich in Grulope I I (Proliferative Retinopathie) nur ein einziger hypertoniefreier Fall, der noch dazu nicht lunge beobachtet ist. Die Hypertonie selbst zeigt in der Uberzahl der Falle labilen Charakter, ganz gleich in beiden Gruppen (32:32 Fallen). In Gruppe I erscheint der Hochdruck in 1 Falle, in Gruppe II in 7 Fi~llen fixiert. Die systoli- schen Druckwerte ]iegen in mehr als der tti~lfte der Falle, gleich in beiden Gruppen, unter 200 mm Hg; nur sind in Gruppe I I doch etwas mehr Fi~lle mit hSheren systolischen Druckwerten. Diastolische Druck- werte yon 100 mm Hg und mehr sind selten. In beiden Gruppen erscheint das 50.--59. Lebensjahr am starksten frequentiert; die jfingeren Jahr- gi~nge, 20.--49. Lebensjahr, sind annahernd gleich vertreten (12: 16 Fallen).

g) Coronars]clerose. Sie trit t in Gruppe I I (Proliferative Retino- pathie) etwas h~ufiger in Erscheinung als in Gruppe I (25:20 Fallen). Am stiirksten besetzt erscheinen in beiden Gruppen die Altersstufen: 50.--59. und 60---69. Lebensjahr. Das 60.--69. Lebensjahr ist in Gruppe I I etwas mehr frequentiert als in Gruppe I (Einfache Retino- pathie). Nur wenige Falle in beiden Gruppen zeigen ein noch jiingeres oder noch h5heres Alter. Der Grad der Coronarerkrankung ist beinahe

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unterschiedslos in den Gruppen. In 2 F~llen der Gruppe I (Einfaehe Retinopathie) land ein Myokardinfarkt start.

h) Periphere Sklerose (Gangr5n). Die Gruppe II (Proliferative Retinopathie) weist 21 Fglle, die Gruppe I (Einfache Retinopathie) dagegen nur 14 Fglle auf (yon 40 Fgllen je Gruppe). In beiden Gruppen wird das Hauptkontingent an Fgllen vom 50.--59. und 60.--69. Lebens- jahr gestellt. Zwei Fglle der Gruppe Iund 5 Fglle der Gruppe II geh6ren jfingeren Altersstufen an. Eine, zu Amputationen Anlafl gebende Gan- grgn wurde in Gruppe I in 5 Fgllen und in Gruppe II in 4 Fgllen beobachtet.

i) Diabetische .Familiaritgt. Diabetes mellitus bei Familienmitglie- dern wurde in beiden Gruppen beinahe gleichhgufig angetroffen (in 15 bzw. 16 Fgllen). In Gruppe I (Einfache l~etinopathie) erscheinen Eltern bzw. GroBeltern und Geschwister ziemlich gleichartig, in Gruppe II (Proliferative Retinopathie) mehr die Eltern bzw. Grol~eltern betroffen. In 3 Fgllen der Gruppe I u n d in 1 Fall der Gruppe II weisen die diabeti- schen Geschwister gleich unseren Patienten eine Retinopathie auf.

j) Diabeteskontrolle (Diabetesffihrung). Weder in Gruppe I noch in Gruppe II finder sich 1 Fall yon wirklich guter Diabeteskontrolle. Mag sein, dab der Diabetes in 4 Fiillen der Gruppe I u n d in 6 Fgllen der Gruppe II wenigstens annghernd richtig geffihrt wurde. Alle anderen Fglle aber, praktisch Mle, waren erwiesenermM~en in ihrem Diabetes schlecht kontrolliert. Als absolut schlecht zu quMifizieren sind 22 Fiille der Gruppe I u n d 21 Fglle der Gruppe II. Dazu kommen 14 Fglle der Gruppe I u n d 13 Fglle der Gruppe I I m i t v611ig unzureichender Diabetes kontrolle. ]:)as ergibt die absolute Mehrheit ffir beide Gruppen. Ver- zSgerter Behandlungsbeginn, Einsetzen yon unzulgngliehen Mitteln, sind die hgufigsten Fehler. Das Mles wiegt um so schwerer, Ms gerade diese Patienten durch wiederholte stationgre Behandlung die beste Anleitung zu richtiger ]:)iabetesffihrung hatten.

k) Zur Sto//wechselstSrung. Eine Neigung zu hypoglykgmischem Schock, dann Korea and Schock, land sich auffglligerweise in Gruppe I (Einfache Retinopathie) welt hgufiger Ms in Gruppe II (22:9 Fgllen). Das heil~t mit anderen Worten, dab der Diabetes in Gruppe I (Einfache Retinopathie) welt mehr labil wirkt Ms in Gruppe II (Proliferative Retinopathie). Dementsprechend war auch die StoffwechselstSrung im allgemeinen in Gruppe II besser ansprechbar als in Gruppe I. Im Insulinbedarf, der sich in etwa der Hglfte der Fglle unter 50 Einheiten pro die hglt, besteht kaum ein Unterschied in den Gruppen.

l) Der Augenbe/und. Es bedarf hier nut einiger Erliiuterungen zur wirklich einfachen Retinopathie (Gruppe I) and zur einfachen Retino- pathie als ,,Vorstadium" der proliferativen l~etinopathie (in Gruppe II). Die Grundelemente sind die gleichen (l%etinMe Mikroaneurysmen,

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tIimorrhagien, Degenerationsherde usw.). Nur in der Weiterentwick- lung zeigen sich Untersehiede: Wi~hrend in Gruppe I (Einfache Retino- pathie) 24 F&lle eine Progression - - da nur unwesentlich und abwechselnd mit Riiekbildungen - - erkennen lassen, indes die restliehen 16 Fiille geradezu stationer erseheinen, zeigen in Gruppe I I (Proliferative Retino- pathie) nicht weniger ale 38 Fiflle !, also beinahe alle, sehon yore Beginn weg ein deutliehes Weitersehreiten (Zunahme der Blu~ungen, Iterde usw.). Demnach sind die beiden Formen yon einfaeher Retinopathie in ihrem Verlaufseharakter versehieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wit noch anfiihren, da~ die allermeisten Patienten der Gruppe I mit dauernd einfacher Retinopathie eine gute, durchaus nfitzliche Sehsch~rfe aufweisen, w~hrend die schlechte Sehprognose - - und anch Lebens- prognose - - bei der proli/erativen Retinopathie nur allzubekannt ist.

3. Auswertung und SchluBfolgertmgen Die Bevorzugung des kindlichen und jugendlichen Diabetesmani-

/estationsalters in unserer Gruppe I (Einfache Retinopathie) - - im Ver- gleich zur Gruppe I I (Proliferative Retinopathie) - - li~gt schliel~en, dal~ frfihem I)iabetesbeginn, in Kindheit und Jugend, nicht jene angio- pathief5rdernde Bedeutung zukommt, wie bisher gedacht wurde, zumindest nicht in der Entwicklung der Refinitis proliferans.

])as h~tufigste erste Angiopathiezeichen war in Gruppe I die Retino- pathie selbst, in Gruppe I I (Proliferative l~etinopathie) die Proteinurie (Nephropathie), was auf h5here Intensitiit des Prozesses schon vom Beginne an ira letzteren Falle hinweist.

Die Diabetesdauer zu Beginn der Retinopathie stellt sich in Gruppe II (Proliferative Retinopathie) kfirzer dar als in Gruppe I. Rechnet man his zum Angiopathiebeginn fiberhaupt, so wird dieser Untersehied zwi- schen den beiden Gruppen noch auffilliger. Es setzt also die spezifische Angiopathie bei kfinftig delet~ren Entwicklungen friiher ein, als im Falle des spi ter dauernd gutartigen Verlaufes.

Und nun zu den begleitenden Angiopathie]ormen: Nephropathie, arterielle Hypertonie, Coronarsklerose und periphere Sklerose (Gangriin). In den Bereiehen der Nephropathie fiberrascht zunichst die Tatsache, da~ es in Gruppe I (Einfache Retinopathie) nicht weniger als 17 F~lle (bei insgesamt 40 Fallen) gibt, die frei yon allen Nephropathieerschei- nungen sind, und zwar auf Dauer, wohingegen in Gruppe II (Proliferative Retinopathie) nur 2 FMle dieser Art, und da fraglich, vorkommen. Was die Nephropathie anlangt, so fiberwiegen in Gruppe I (Einfache ~etinopathie) die leichten, nahezu gleichbleibenden Formen. In Gruppe I I (Proliferative Retinopathie) beherrschen die schwer progredienten Nephropathieformen das Feld. Finder sich in Gruppe I nicht 1 Fall yon Glomerulosklerose (Kimmelstiel-Wilson), so weisen in Gruppe I I

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von den 18 schweren Nephropathiefallen bereits 14 F/~lle diese geffirchtete Komplikation auf. Es legt weitere Zeugenschaft ab fiir die Intensit/~t der Angiopathie in deletarer Retinopathieentwicklung.

In unserer Gruppe I (Einfaehe l%etinopathie) linden sich 7 Fi~lle, die in der langen Beobachtung niemals eine Hypertonie erkennen lieBen (auch keine Nephropathie). Die Gruppe I I (Proliferative Retinopathie) weist nut einen hypertoniefreien Fall auf, der zudem nicht gerade lange beobachtet ist. Die arterielle Hypertonie hat in beiden Gruppen vor- nehmlich den Charakter der Labiliti~t; eine Neigung zu Anstieg und Fixation ist in Gruppe I I (Proliferative Retinopathie) erkennbar. Zu- mindest also paint sieh die Hypertonie an die Sehwere des gesamten Prozesses an.

Was die Coronarslclerose als weitere Angiopathieform betrifft, so zeigen sich zahlenmaBig und im Charukter der Erkrankung so wenig Unterschiede zwischen den 2 Gruppen, dab eine Bewertung ffir uns praktiseh ausf/~llt.

Die Per@here Slclerose (Gangr/~n) t r i t t zwar in Gruppe I I (Prolifera- tive Retinopathie) etwas haufiger, wohl auch ausgepr/~gter, in Ersehei- hung als in Gruppe I (Einfaehe l%etinopathie), doch sind die Unterschiede nicht yon der Art, dab auf mehr als Anpassung an die Schwere des Gesamtprozesses gesehlossen werden kSnnte.

Die yon uns beobacktete diabetische ]~amiliarit~it ]~l]t mangels pian- m~Big darauf gerichteter Untersuchungen einen eehten SehluB nieht zu; als Notiz erscheint sic wertvoll genug.

Der Diabeteskontrolle (l~berwachung, Behandlung) muB f~r beide Gruppen ganz gleich die Qualifikation ,,Sehleeht" erteilt werden. Dies bei besten Voraussetzungen zu einwandfreier Diabetesffihrung. Wir sind welt davon entfernt, damit einer l~ssigen Diabetesbehandlung das Wort zu reden. GeradedieUbereinstimmungunserer 2 Gruppenimvollkommen Negativen zwingt zu gr61]ter Zuriickhaltung, auBerdem: richtige Dia- beteskontrolle ist ja in unserem Material gar nicht zum Zuge gekommen, die notwendige Gegenprobe f/illt aus. Gleichwohl diirfte hier nicht der Schltissel zum Ab]auf der Retinopathie (Angiopathie) ]iegen.

Nun noeh kurz zu Art und Umfang der Sto]/wechselstSrung selbst: Interessanterweise zeigt sieh auf seiten der Gruppe I (Einfache Retino- pathie) ein welt mehr labiles Verhalten und eine schlechtere Ansprech- barkeit als in Gruppe I I (Proliferative Retinopathie). Im Insulinbedarf bestehen nahezu keine Unterschiede.

Somit liegen eine Reihe gewichtiger Indizien daftir vor, dab die spezifisehe Angiopathie im Falle sp/~terer ungfinstiger Entwicklungen (Proliferative Retinopathie) eine welt st~rkere ,Durchsehlagskraft" hat als in jenem des zukfinftig gutartigen Verlaufes (Einfaehe Retinopathie). Dafiir zeugt bis zu einem gewissen Grade schon das ophthalmoskopische

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Bild, bei aller anfiinglieher J~hnliehkeit. Demnaeh besteht Berechtigung : der ,proliferativen diabetischen Retinopathie" eine gewisse Sonder- stellung einzuri~umen, ohne da~ damit die Krankheitseinheit der Retino- pathia diabetica gest6rt w~re, wie sich ja schon aus dem regelm~l~igen Vorstadium in Form einfacher Retinopathie ergibt.

Es miissen ,,inhere" Kr~fte entscheidend am Werke sein, dab im gegebenen Falle die Retinopathie so und nicht anders abli~uft. Unweiger- lieh ffihrt dies zu unserer frfiheren, durch Famflienuntersuchungen gefestigten Vorstellung : Danach werden Au~treten und Fortentwicklung der diabetischen Retinopathie (Angiopathie iiberhaupt) yon einer diabetesspezifisehen GefiiBkonstitution diktiert, die so wie jede andere Konstitutionsform in der Erbanlage wurzelt, im besonderen Falle in einem der ,Nebengene" zum diabetischen ,,Hauptgen". Davon also Mngt es im Grunde ab, wie sieh das Schieksal des einzelnen Kranken gestaltet.

Zusammenfassung Die zwei Erscheinungs- bzw. Verlaufsformen diabetiseher Retino-

pathie: Einfache l%etinopathie und Proliferative l%etinopathie werden in Gruppen zu je 40 Fifllen einander gegenfibergestellt. Ffir die proli- ferative Retinopathie wird auf Grund der Erhebungen eine Sonder- stellung beansprueht, ohne da~ damit die Krankheitseinheit gest6rt wi~re. Ferner wird auf heredit~re, yon einem der ,N.ebengene" des diabetischen ,,Hauptgens" ausgehende Einflfisse im Ablauf der diabeti- schen Retinopathie gesehlossen.

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Doz. Dr. F~ANz FISCHER, Wien I., Opernring 17 (~)sterreich)


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