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Freitag, 17. Januar 2020

Ohne Sprache läuft auch in Mathe nichtsWer keinDeutsch kann, hat in allen FächernMühe. FremdeMuttersprachen im Schulzimmer zu verbieten ist aber kein guterWeg.

Larissa Flammer

«2+2=?» So stellt man sich Ma-thematik inderVolksschule vor.Tatsächlich lernen Kinder aberschon früh Textaufgaben ken-nen. Zum Beispiel: «Im Dia-gramm ist der Verbrauch derelektrischenEnergiederFamilieMüller in kWh (kWh ist eineEnergieeinheit) aufgetragen.Die Energiekosten betragendurchschnittlich 20RappenprokWh. Berechne, wie viele Fran-ken Familie Müller an ihrenEnergieanbieter für den MonatNovember bezahlenmuss!»

Diese Aufgabe hätten dieSchüler, denen sie gestellt wur-de, lösen könnenmüssen. Vielekonnten es nicht. Das BeispielstammtvonClaudiaSchmellen-tin, die amMittwoch inBerg re-ferierte. Sie erklärte: «WirSprachwissenschafter habenschnell gemerkt, fachlich ist dieAufgabe zwar nicht schwierig,aberderSatz ist zukompliziert.»GuteMatheschüler scheiterten,weil sie die Aufgabe sprachlichnicht verstanden haben.

Schmellentin, die anderPä-dagogischen Hochschule (PH)Nordwestschweiz die ProfessurDeutschdidaktik leitet, kamaufEinladung des Amts für Volks-schule und der PH Thurgau aneine Thementagung. Vor mehrals 200LehrernundSchulleite-rinnenzeigte siedieWichtigkeitder Schulsprache Deutsch auf.DennSchmellentinhatnachge-zählt: Im neuen Lehrplan kom-me 174-mal das Ziel «beschrei-ben können» und 78-mal «er-klären können» vor. Früherhiess es dort «Schüler kennenden Wasserkreislauf», heute«Sie können ihn beschreiben.»

FremdeMuttersprachenbeschäftigenLehrerAuch der Thurgauer AmtschefBeatBrüllmannbetonte: «Spra-che ist der Schlüssel zu nicht-sprachlichenFächern.»DasPro-blem: Nur rund 80 Prozent derSchüler erreichen am Ende derobligatorischen Schulzeit dieGrundkompetenzen inDeutsch.

Als ein Grund dafür wird dieMehrsprachigkeit von Migran-tenkindern genannt. Migra-tionssprachenwarendennauchdas Thema von eines der 21Workshops, welche die Lehreram Mittwoch besuchen konn-ten. Geleitet wurde er von Eva-maria Zettl, die an der PHTGDeutschdidaktik unterrichtet.Sie verdeutlichte den Anstiegder Mehrsprachigkeit. Heutewürden sogar schon innerhalbeiniger Familien zwei, drei odermehr Sprachen gesprochen. Injungen Jahren resultierediesbeiKindern in einer sprachenüber-greifenden Kommunikation –früher abschätzigKauderwelschgenannt. Tatsächlich funktio-niere der Spracherwerb jedochvernetzt. Zettl sagte: «WennKinder Türkisch sprechen, hatdas Deutschlernen trotzdemPlatz.»

Die vielenRückmeldungenundFragen in diesem Workshopzeigten, dassdasThemaMigra-tionssprachen die Lehrer be-schäftigt. Sie fühlen sich zumeinen verpflichtet, den Kinderndas von der Schule verlangteDeutschbeizubringen.Zuman-deren können sie nicht verste-hen, wie und über was die Kin-der untereinander auf Türkischsprechen. Aus diesem Grundwürden dann zum Teil die ver-schiedenenMuttersprachen imKlassenzimmer verboten.

DazubrachteEvamariaZettlein Beispiel aus der Praxis mit:Der fünfjährige Kuba, derDeutsch und Polnisch spricht,bekommtdieAufgabe, einSpra-chenporträt zu machen: Er sollin den gezeichneten UmrisseinesMenschen farbigdie Spra-chen malen, die ihm wichtigsind. Er wählt Rot für Polnisch

und malt damit den Brust- undBauchraum aus. Zum Schlussnimmt er einen schwarzen Stiftundübermalt grosszügigdie ge-samteSilhouette.AufNachfrageantwortet Kuba, dass diesDeutsch sei, und fügt hinzu:«Ich soll keinPolnischmit ande-ren reden.»

Die Muttersprache zu ver-bieten, schade dem sprachli-chenSelbstbewusstseinderKin-der, ist dieDozentin überzeugt.Es könne sogar dazu führen,dass siekaumnochetwas sagen.«Wenn man beim Lernen nurauf einenTeil seinesWortschat-zes zurückgreifen kann, blo-ckiert das den Lernprozess»,sagte Zettl weiter. Es sei an-strengend und das Lernen ma-che dadurchweniger Spass. Fürdas Problem, dass Kinder ohnegute Deutschkenntnisse in derSchule benachteiligt sind, hatZettl keineLösung.Aber sie plä-diert klar dafür, Mehrsprachig-keit zuzulassenunddenKindernin der Schule Deutsch auf ver-schiedeneEbenenzugänglichzumachen. Sie habe noch nie er-lebt, dass ein Kind mit der Zeitnicht lerne, die verschiedenenSprachenzu trennenund jenachSituation anzuwenden.

TextevereinfachenaberFachsprache lassenReferentin Schmellentin siehtfürden sprachbewusstenUnter-richt Handlungsbedarf in dreiBereichen: Zuerst sollen unnö-tige sprachliche Hürden abge-baut werden. Das bedeute abernicht, Schultexte gänzlich vonFachsprache zu befreien. «Essind ja eben diese Begriffe, wel-chedie SchülerinnenundSchü-ler verstehen und lernen sol-len.» Zweitens sollen die Schü-ler im Leseprozess unterstütztwerden, indem etwa vorab er-klärt wird, was einem Text ent-nommen werden soll. Undschliesslich soll die Förderungder SchulspracheDeutschmög-lichst einheitlich strukturiertwerden. Dazu seien entspre-chendeKonzepteundWeiterbil-dungen nötig.

Lehrerinnen, Lehrer und Schulleitungsmitglieder erhalten Inputs zur Förderung der Schulsprache Deutsch. Bilder: Andrea Stalder

«BiologielehrmittelSek I sindsprachlichmindestensaufeinerStufeanzusiedeln,dieetwa75Prozentder Jugendlichennicht erreichen.»

ClaudiaSchmellentinSprachwissenschafterin

Terrorismus missbraucht MärtyrertumAm4. InterreligiösenGespräch diskutierten Vertreter aus Judentum, IslamundChristentumdenBegriff desMärtyrers.

Johannes derTäuferwar seit je-her der Patron der katholischenGemeinde inWeinfelden.Er seiderjenige, der die MenschenzumGlaubenbekehrthabe, sagtArminRuf, PfarrerderGemein-de St. Johannes. Als Märtyrerwird er verehrt, weil er für sei-nen Glauben einstand und denToddafür inKaufnahm.Der ita-lienische Künstler CaravaggiowidmetederKöpfungdesHeili-gen gleich zwei Gemälde: «DieEnthauptung des Täufers» und«Salome mit dem Kopf Johan-nes des Täufers». Sein Hauptmusste rollen,weil JohannesKö-nig Herodes dafür kritisierte,dass er seine erste Frau ver-stiess, umHerodias zur Frau zunehmen.DerenTochter SalomebezirzteHerodesAntipas,König

vonGaliläa und Peräa, und ver-langte von ihm–beeinflusst vonihrer Mutter – Johannes Kopf.«Als Herodes diesen Wunschhört, kann er nicht mehr zu-rück», erläutert Ruf. «Erwar si-chernicht glücklichüberdiesenBefehl, aber zu feige, ihn abzu-lehnen.» Johanneshingegen seivon seinerÜberzeugung bis zurletzten Konsequenz nicht abge-wichen. «Sein Lebensplan warsicher nicht, als Märtyrer in dieGeschichteeinzugehen, erwoll-te einfach nur ehrlich sein.»

AttentatewerdenreligiösgerechtfertigtInZusammenhangmitdenTer-roranschlägen der letzten Jahr-zehnte ist derBegriffdesMärty-rers zunehmendnegativbesetzt.

AttentatewieaufdasWorldTra-deCenter, dieRedaktionderSa-tirezeitschrift«CharlieHebdo»,aber auch Anschläge auf Syna-gogenodergegenMenschenausder LGBTQ-Szene werdenmeistmit einemreligiösenHin-tergrund gerechtfertigt. Doch«diejenigen, die Terrorakte be-gehen haben mit dem islami-schenoder christlichenGlaubennur insofern etwas zu tun, dasssie sich darauf berufen», sagtMichael Loretan, Präsident desInterreligiösenGesprächsThur-gau. Er lud amMittwochabendzumAustauschüberdasThema«Märtyrer – Zeugen des Glau-bens oder verblendeteTerroris-ten?» ein. Nach einer kurzenFührungdurchdie Johanneskir-che, diskutierte der pensionier-

tePastoralraumleitermitVertre-tern aus verschiedenenReligio-nen undKonfessionen darüber,was für sie einMärtyrer sei.

WahreMärtyrer sinddie,diehelfenund liebenZur Idee für dieses GesprächkamLoretanüberRehanNeziri,dem Imam der albanisch-isla-mischen Gemeinschaft inKreuzlingen; denndieser liefer-te gerade einen Beitrag zumThema Märtyrer für die Publi-kation der Schweizerischen Bi-schofskonferenz. In seiner Fa-milie sei der Islam nicht sehrausgeprägt gewesen, «aber ichhatte schon als Kind Interessedaran», erklärt Neziri seinenWerdegang.DasBeten seiwäh-rendder kommunistischenZeit

in Jugoslawien teils verbotenge-wesen.«Manchmalmusstenwirzu Hause beim Imam verstecktbeten.» Der Begriff des Märty-rers sei ihm zunächst wenig be-gegnet.Erst abden1990ernundmitdemAufkommendesDschi-had oder Al-Kaida habe dasMärtyrertum an Bedeutung ge-wonnen. «Hier kam es zu einerVermischung, bei dernicht ganzklar ist, was dahintersteht.»

Der Islam sei in einer Ge-gend entstanden, in der mankämpfenmusste, umzu überle-ben. Wüstenstämme verteidig-ten ihreKlans, und für dieFrau-en sei es mehr ein Trost gewe-sen, wenn ihre gefallenenMänner als Märtyrer galten.«Doch der Begriff ist im Korannicht im Detail definiert», so

Neziri. «Im frühen Islam gab eskeinLebennachdemTod.»DieIdeevonden70 Jungfrauen, dieim Paradies warten, sei neuerundmehrRhetorikundMotiva-tion fürdenGlauben.DieseVor-stellungwerdeaber längst nichtvonallen islamischenStrömun-gen vertreten. «Der Weg insParadies durchMärtyrertum istnur ein winziger Weg von vie-len.» Extremisten stellten ihnaber oft als den Einzigen dar.Mark Kilchmann, der die Ge-meindederBahaj-Lehrevertritt,fügt hinzu: «Religion kann per-vertiert werden. Der Menschbläst gerne sein Ego auf.»Dochder Kern der Religion liege inder Zuwendung zuGott.

Judith Schuck

Das Beispiel Basel-Stadt

Im Kanton Basel-Stadt gibt esdas Projekt «SprachbewussterUnterricht» an der Volksschule.Max Hürlimann, der daran mit-arbeitet, hat dieses am Mittwochin einem Workshop den Thurgau-er Lehrern vorgestellt. Eine Bro-schüre vermittelt Grundlagen-wissen zu Lese- und Schreibpro-zessen, zu Wortschatzarbeit undzum Gestalten von mündlichemUnterricht. Checklisten unter-stützten Lehrpersonen dabei,verschiedeneUnterrichtssitua-tionen so vorzubereiten und zugestalten, dass Schüler dabeisprachlicheHürdenüberwindenkönnen. Ausserdem gibt es inBasel-Stadt fachspezifischeWeiterbildungskurse zum The-ma. (lsf)

skbau
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TZ 17.1.20, S. 25

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