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Hausarztzentrierte Versorgung aus Sicht der AOK Baden-W€urttemberg

Christopher Hermann und Jurgen Graf

Eine flachendeckende, fur alle Burger

zugangliche hausarztliche Versorgung

ist das Ruckgrat eines modernen,

leistungsfahigen Gesundheitssystems.

Hausarzte sind die primare medizini-

sche Anlaufstelle fur Menschen mit

gesundheitlichen Problemen. Sie be-

urteilen, ob weitere Behandlungs-

schritte, wie beispielsweise die Uber-

weisung zu einem Facharzt oder eine

stationare Aufnahme, erforderlich

sind. Besondere Bedeutung kommt

der hausarztlichen Versorgung imMa-

nagement der Volkskrankheiten zu,

wie es sich etwa in den Disease-Ma-

nagement-Programmen als explizit

hausarztbasierten Versorgungskon-

zepten widerspiegelt.

Aber trotz der Bedeutung einer quali-

tativ hochwertigen hausarztlichen

Versorgung fur das Gesundheitssys-

tem nahm die Zahl der Hausarzte zwi-

schen 1993 und 2009 um fast acht

Prozent ab, wahrend die Zahl der

Facharzte im gleichen Zeitraum um

mehr als 50 Prozent stieg. Um dieser

Fehlentwicklung entgegenzuwirken,

hat die Politik seit annahernd 20 Jah-

ren wiederholt Anlaufe gestartet, die

hausarztliche Versorgung zu starken

undweiterzuentwickeln. Bei der haus-

arztzentrierten Versorgung (HZV)

steht bewusst die Qualitat der medi-

zinischen Versorgung im Vorder-

grund: Teilnehmende Arzte mussen

sich spezifisch fortbilden und sind ver-

pflichtet, an Qualitatszirkeln etwa zur

Arzneimitteltherapie teilzunehmen.

Ein weiterer Baustein der HZV ist

die Berucksichtigung von evidenzba-

sierten Leitlinien. In der Kunst der

Vertragsgestaltung liegt es, Regelun-

gen und Rahmenbedingungen zu

schaffen, die diese gesetzlichen

Anforderungen sowie weitere vertrag-

liche Ziele auch tatsachlich befordern

und unterstutzen.

DieAOKBaden-Wurttemberg schloss

im Mai 2008 als bundesweit erste

Krankenkasse einen Hausarztvertrag

mit Vollversorgungsanspruch und Be-

reinigung der kollektivvertraglichen

Gesamtvergutung ab. Die im Vertrag

festgelegte deutlich pauschalierte Ver-

gutungssystematik mit wenigen Ein-

zelleistungen, qualitats- und ergebnis-

abhangigen Zuschlagen, einem Zu-

schlag fur chronisch Kranke und der

Wegfall von fallzahlorientierten Men-

genbegrenzungen stellen einen Para-

digmenwechsel dar, der den auch im

Gutachten des Sachverstandigenrats

2009 benannten Veranderungsbedarf

in vielen Punkten bereits umsetzt.

Des Weiteren setzt der Vertrag finan-

zielle Anreize zur Beschaftigung von

speziell weitergebildeten Versor-

gungsassistentinnen in der Hausarzt-

praxis (VERAH). Damit befordert die

HZV der AOK Baden-Wurttemberg

bewusst einen Entwicklungspfad in

den Hausarztpraxen hin zu professio-

nellen Betreuungsstrukturen fur chro-

nisch Kranke im Rahmen von Team-

strukturen und arztlicher sowie nicht-

arztlicher Arbeitsteilung. Neben einer

Intensivierung von vorausschauender

Behandlungsplanung und Strukturie-

rung der Versorgung unmittelbar aus

Patientensicht geht damit auch eine

Entlastung der knapper werdenden

hausarztlichen Ressourcen einher,

ohne die Gesamtverantwortung aufzu-

losen oder neue Schnittstellen zu

bilden.

Um die Wirkungen des AOK-Haus-

arztvertrages zu messen, beauftragten

die Vertragspartner das Institut fur

Allgemeinmedizin der Universitat

Frankfurt am Main und die Abteilung

fur Allgemeinmedizin und Versor-

gungsforschung der Universitatsklinik

Heidelbergmit der wissenschaftlichen

Evaluation.

Die aus versorgungspolitischer Sicht

spannendste Frage ist, ob es den teil-

nehmenden Hausarzten tatsachlich

gelingt, mehr Verantwortung fur chro-

nisch Kranke zu ubernehmen und de-

ren Versorgung besser zu strukturieren

und zu koordinieren. Die Ergebnisse

fur 2009/2010 sprechen eindeutig da-

fur: Die am Hausarztvertrag teilneh-

menden Versicherten sind zum einen

alter und kranker als die Versicherten

in der Regelversorgung, zum anderen

werden sie intensiver betreut. So hat

ein im Hausarztvertrag eingeschriebe-

ner Versicherter durchschnittlich zwei

Kontakte mehr im Halbjahr als ein

Versicherter vergleichbarer Morbidi-

tat in der Regelversorgung. Gleichzei-

tig sank die Zahl der unkoordinierten

Facharztbesuche um 12,5 Prozent.

Durch die Entlastung der Facharzte

werden dort die Kapazitaten fur me-

dizinisch notwendige Behandlungen

frei. Die in den Qualitatszirkeln ver-

mittelten Inhalte zur Arzneimittelthe-

rapie zeigen ebenfalls Wirkung: Die

Zahl der Verordnungen von Medika-

menten ohne therapeutischen Zusatz-

nutzen und die Anzahl der Patienten,

die regelmaßig funf oder mehr Medi-

kamente einnehmen und dadurch be-

sonders durch Arzneimittelwechsel-

wirkungen gefahrdet sind, entwickeln

sich gunstiger als in der Regelversor-

gung. Zudem erzielt die HZV eine

deutlich hohere Umsetzungsquote

von Rabattarzneimitteln, was in

hohem Maße zur okonomisch

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ausgeglichenen Vertragsumsetzung

beitragt (Evaluationsergebnisse unter:

www.hzv-aktuell.de).

Uber 1.000 VERAHs, die inzwischen

in einem Drittel der HZV-Praxen be-

schaftigt sind, ubernehmen vom Me-

dikamenten- und Wundmanagement

bis hin zuHausbesuchen wichtigeMa-

nagement- und Unterstutzungsfunk-

tionen und optimieren so die Versor-

gung von chronisch kranken Patienten

(Quelle s.o.). Dabei sind VERAHs

und Hausarzte einer Meinung: Die

Patientenversorgung hat sich durch

die Tatigkeit der VERAH verbessert

und der Arzt wird spurbar entlastet

(Quelle s.o.). Eine Befragung der

Hausarzte (Quelle s.o.) zeigt außer-

dem, dass HZV-Arzte trotz hoherer

Arbeitsbelastung zufriedener sind,

sich weniger gestresst fuhlen und mo-

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tivierter sind, Veranderungsprozesse

anzustoßen, als Hausarzte, die nicht

an dem Programm teilnehmen. Damit

leistet die HZV sowohl einen wichti-

gen Beitrag zur Steigerung der Attrak-

tivitat des Hausarztberufs, aber auch

zum Umbau von Versorgungsstruktu-

ren, die dasGesundheitssystem auf die

demografischen Herausforderungen

und die Entwicklungen in der arztli-

chen Berufsausubung einstellen.

Die aufgefuhrten Erfolge beruhen auf

einer konstruktiv vertrauensvollen Zu-

sammenarbeit der Vertragspartner und

erfordern soviel Geduld wie Ausdauer

als auch Innovationsfreude. Die auf-

gebaute Struktur bietet vielfaltige An-

knupfungspunkte fur die weitere Ent-

wicklung von leistungsfahigen Praxen

und Vernetzungsoptionen zu weiter-

fuhrenden Versorgungsstrukturen wie

Vertragen mit Facharzten nach § 73c

SGB V. Vor diesem Hintergrund stellt

der Finanzierungsvorbehalt in § 73b

Abs. 5a SGB V eine Gefahrdung fur

die Weiterentwicklung nachweislich

erfolgreicher HZV-Strukturen dar

und gehort schnellstmoglich ersatzlos

gestrichen.

Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur siehe Literatur zum Schwerpunkt-thema.http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2012.12.005

Dr. Christopher HermannAOK Baden-WurttembergVorsitzender des VorstandsHeilbronner Straße 18470191 [email protected]

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Einleitung

Die AOK Baden-Wurttemberg startete fur ihre Versicherten am 1. Oktober 2008 gemeinsam mit ihren Vertragspartnern

Hausarzteverband und MEDI die deutschlandweite Premiere zur hausarztzentrierten Versorgung (HZV) mit Budgetbe-

reinigung. Dermittlerweile evaluierte Vertragmit 1,1Millionen teilnehmendenVersicherten und 3.500 aktivenHausarzten

setzt Maßstabe und bestatigt die Intention des Gesetzgebers zur Starkung der hausarztlichen Versorgung in einer alter

werdenden Gesellschaft.

Summary

The AOK Baden-Wurttemberg launched for its insured on October 1st 2008 together with its partners Hausarzteverband

(GPs Association) and MEDI the Germany-wide first contract on GP-centered care including budget adjustment. The

contract evaluated with meanwhile 1.1 million participating insured and 3,500 active practitioners sets standards and

confirms the intention of the legislator to strengthen primary care in an aging society.

Schlusselworter:

Hausarztzentrierte Versorgung = GP-centered care, Evaluation = evaluation

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