Häusliche Gewalt. „Für wen kann ich was tun?“
28. Oktober 2014, 12:30-13:30 Uhr DIENSTAGMITTAG-FORTBILDUNG, Psychosomatik Basel
André Karger Klinisches Institut und Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Düsseldorf
Agenda
Einleitung Befunde zur (partnerschaftlichen) Gewalt Akutmedizinische Versorgung von Gewaltopfern
Ansprechen-Dokumentieren-Vernetzen
Fazit
Einleitung – Typologie der personalen Gewalt
Einleitung – Dimensionen des Gewalterlebens
Einleitung
Seit den 1970er Jahren vermehrte wissenschaftliche
Beschäftigung mit Gewaltphänomen in Familien & Beziehungen (sexuelle Übergriffe, häusliche Gewalt etc.)
In der Erforschung s.g. partnerschaftlicher Gewalt (syn. intimate partner violence, häusliche Gewalt) zwei unterschiedliche Forschungsrichtungen: Feminismus versus Systemische Theorie.
Einleitung
Feministische Theorie versteht partnerschaftliche Gewalt als
Ausdruck von Machtungleichheit, die sich aus den klassischen Geschlechterrollen ableitet
Studien aus dem Kontext feministischer Gewaltforschung zeigte ein Geschlechterasymmetrie für partnerschaftliche Gewalt
Systemische Theorie versteht partnerschaftliche Gewalt als Konflikt- und Kommunikationsstrategie zwischen Partnern
Studien aus dem Kontext der systemischen Gewaltforschung zeigte eine Geschlechtersymmetrie
Der Diskurs über partnerschaftliche Gewalt
Die Annahme, dass Gewalt im sozialen Nahraum vornehmlich Gewalt von Männern an Frauen ist, hat dazu geführt, dass Forschungen und Interventionen zu partnerschaftlicher Gewalt danach ausgerichtet wurden.
EU-weite Studie zur Gewalt gegen Frauen N=42.0000, 28 EU-Mitgliedstaaten Standardisiertes Interview zu körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt
Deutsche Studie zur Gewalt gegen Frauen * N=10.264, Erhebung 2003 Standardisiertes Interview (mündlich & schriftlich) zu körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt und Belästigung
* Möller, Schröttle (BMFSFJ Hrsg.) 2004
Deutsche Studie zur Gewalt gegen Frauen N=10.264, Erhebung 2003 Standardisiertes Interview (mündlich & schriftlich) zu körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt und Belästigung
Rheinisches Ärzteblatt, 2/2013
Das öffentliche Bild
N=5.939, repräsentative Bevölkerungsstichprobe, Erhebung im Rahmen der Studie zur Gesundheit Erwachsener (DEGS), Gesundheitsmonitoring des RKI Standardisiertes Interview (schriftlich), 6 Fragen körperlicher und psychische Gewalt in den letzten 12 Monaten, Lebenszeit,
Kindheit Unterschiedliche Sozialräume Opfer- und Täterperspektive Belastungserleben durch Viktimisierung
Aktuelle Studien zu Gewalt (DEGS1)
3,3% der Frauen und 6,2 % der Männer gaben an, in den letzten 12 Monaten einmal oder mehrfach körperliche Gewalt widerfahren zu haben
3,4% der Frauen und 3,9% der Männer gaben an, in den letzten 12 Monaten einmal oder mehrfach körperliche Gewalt ausgeübt zu haben
20,2% der Frauen und 17,3 % der Männer gaben an, in den letzten 12 Monaten einmal oder mehrfach psychische Gewalt widerfahren zu haben
9,9% der Frauen und 11,3% der Männer gaben an, in den letzten 12 Monaten einmal oder mehrfach psychische Gewalt ausgeübt zu haben
Weitere Ergebnisse
Frauen waren tendenziell häufiger Opfer im häuslichen Bereich, aber gaben auch häufiger an Täterinnen von körperlicher und psychischer Gewalt gewesen zu sein
Männer gaben häufiger an, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum sowohl Täter als auch Opfer gewesen zu sein
Junge Erwachsene mit niedrigem Sozialstatus waren häufiger von Gewalt betroffen
3/4 der Opfer von körperlicher Gewalt und 2/3 der Opfer von psychischer Gewalt gaben an, in ihrem Befinden dadurch stark bis sehr stark beeinträchtigt zu sein
N=2.343, repräsentative Bevölkerungsstichprobe in Österreich Standardisiertes Interview (anonym schriftlich & face-to-face) Körperliche, psychische und sexuelle
Gewalt, sexuelle Belästigung Letzte 3 Jahre, Lebenszeit, Kindheit Unterschiedliche Sozialräume Opfer- und Täterperspektive Belastungserleben durch Viktimisierung
* Kapella et al. (ÖIF Hrsg.) 2011
Aktuelle Studien zu Gewalt (Österreichische Prävalenzstudie)
Psychische Gewalt (letzte 3 Jahre) Körperliche Gewalt (letzte 3 Jahre)
Ergebnisse Frauen erfahren häufiger psychische und sexuelle Gewalt als Männer
Frauen schildern eine stärkere Viktimisierung und häufiger Widerfahrnis einer
Kombination verschiedener Gewaltformen
Männer und Frauen erfahren gleich häufig körperliche Gewalt; bei Männern primär an öffentlichen Orten, bei Frauen in der eigenen Wohnung
Psychische Gewalt erfahren Männer und Frauen am häufigsten an der Arbeitsstelle
93,2 % der Männer und 95,7% der Frauen berichten, psychische Gewalt selbst
angewendet zu haben. 57% der Männer, 59% der Frauen berichten, mindestens einmal körperlich gewalttätig zu sein
Gewalterfahrungen (in den letzten 12 Monaten) bei PatientInnen einer psychotherapeutisch-psychosomatischen Hochschulambulanz
N=861, PatientInnen, die sich im Jahr 2011 zu einem Erstgespräch vorstellten; Standardisiertes Interview (schriftlich) Körperliche und psychische Gewalt,
sexuelle Belästigung Letzte 12 Monate, Kindheit Unterschiedliche Sozialräume Opfer- und Täterperspektive Belastungserleben, Grad der Belastung
Aktuelle Studien zu Gewalt (Karger et al. 2014)
Gewaltwiderfahrnis und –ausübung (letzte 12 Monate)
Geschlechterunterschiede
Belastung bei Patienten mit und ohne Gewaltwiderfahrnis
Faktoren, die die Untersuchung von Gewalt beeinflussen Stichprobe Kontext der Erhebung (Gewaltsurvey, oder im Rahmen anderer Befragungen) Hellfeld-, Dunkelfeldstudie Region (z.B. LZ-Prävalenz von IPV bei Frauen in Dänemark 32%, in Kroatien 13%) Querschnitt-/Längsschnittstudie Täter- und Opferperspektive (gleichgewichtet) Probanden sind Einzelpersonen / Partnerdyaden schriftlich-anonym, face-to-face …
Zusammenfassung der Ergebnisse zur Häufigkeit “aktueller Gewalt” “aktuelle” Gewalterfahrungen sind für Frauen und Männer häufig und relevant
partnerschaftliche Gewalt erleben tendenziell Frauen häufiger, besonders schwere körperliche Gewalt, chronische Gewalt und sexuelle Gewalt. Schwere Gewaltformen sind eher selten
bei ambulanten Psychotherapiepatienten 2-3 fach erhöhte Häufigkeit
Der öffentliche Diskurs über partnerschaftliche Gewalt unterliegt einem Gender-Bias. Stattdessen: Geschlechtersensible Forschung, die auf Gewaltdynamik und –prozesse in
Beziehungen, in Abhängigkeit von Kontextfaktoren, zielt
Diversifizierung öffentlicher Kampagnen gegen Gewalt in Beziehungen
Intervention, auch für die Zielgruppe der Männer
Opfer ist, wer durch eine Gewalttat oder ein Ereignis unmittelbar oder mittelbar geschädigt wurde, sei es physisch, psychisch und / oder materiell. Gewaltopfer Häusliche Gewalt Vergewaltigung Gewalt gegen Kinder .... Unfallopfer schwere Haushaltsunfälle Unfälle im Straßenverkehr Naturkatastrophen
Gewaltopfer in der akutmedizinischen Versorgung
Weshalb sind Gewaltopfer „besondere“ Patienten?
Ausmaß an psychosozialer Belastung
Gewaltopfer verstehen sich i.d.R. nicht als psychisch belastet
rechtlicher Kontext (Gewaltschutzgesetz, Opferentschädigungsgesetz, zivil- und strafrechtliche Folgen etc.)
Bedeutung des adäquaten Umgangs für den weiteren Krankheitsverlauf („sekundäre Viktimisierung“)
Gewalt-opfer
Höhere Prävalenz
psychischer /somatischer Störungen
Verlust von Sicherheit, Vertrauen,
Selbstachtung
Erhöhtes Risiko für spätere
Viktimisierung
Ambivalenz sozialer
Reaktionen
Welche psychosozialen Folgen?
Psychische Beschwerden von Gewaltopfern sind eine „normale“ Reaktion auf ein „unnormales“ Ereignis. Typische akute auftretende psychische Beschwerden sind:
unwillkürlich sich aufdrängende Erinnerungen (Intrusionen) Schreckhaftigkeit (Hyperarousal) Vermeidungsverhalten Ängste, Schlafstörungen
Aber ...
Psychische Beschwerden?
... nach einem Gewaltereignis entwickeln ca. 50 –60 % der Betroffenen eine Akute Belastungsreaktion ist die Wahrscheinlichkeit in der Folge eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln, deutlich erhöht:
• Frauen 20 – 30 % • Männer 8 – 13 %
erhöhtes Vorkommen von Depression, Somatoformen Störungen, Angst und Sucht (Komorbidität)
Art und Intensität des Traumas (sexualisierte Gewalt, Kriegsereignisse)
Peritraumatische Reaktion (Bedeutung dissoziativen Erlebens)
Soziale Unterstützung
Mehrfachtraumatisierung in der Vorgeschichte
weibliches Geschlecht (?)
Sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund
Risikofaktoren
Risikofaktoren – Art und Intensität des Traumas
Akutmedizinische Versorgung Screening? Häufigster Grund der Unterlassung psychosozialer Hilfen ist das Nicht-Ansprechen der Gewalterfahrung und des damit verbundenen psychosozialen Kontextes.
Herstellen einer sicheren Umgebung!!
Opferhilfe – Was ist zu tun? _1
Erkennen von „Risikofaktoren“
Peritraumatische Dissoziation Mehrfachtraumatisierung Gewaltereignis
Opferhilfe – Was ist zu tun? _1
Checkliste Kölner Risikoindex
Ärztliche Befunddokumentation
Einschätzung des akuten Gefährdungspotentials Berücksichtigung der akuten emotionalen Belastung des Gewaltopfers (Leitemotionen: Scham, Angst) Initiierung von (meist nur längerfristig zu erreichenden) Ablösungsprozessen aus der von Abhängigkeit geprägten gewaltsamen Beziehung zum Täter Aber: Entscheidungsdruck vermeiden Bei sexueller Gewalt: HIV-/STD-/Antikonzeption-Postexpositionsprophylaxe
Opferhilfe – Was ist zu tun? _2
Schuldverhältnisse eindeutig benennen Handlungsperspektiven aufzeigen (Empowerment)
Opferhilfe – Was ist zu tun? _3
Informationen über die typischen psychische Erlebensprozesse und Hilfsangebote (in schriftlicher Form) Hinweise zur Förderung der rechtlichen / sozialen Unterstützung (Opferentschädigungsgesetz, Opferhilfenetzwerk etc.), ggf. Weitervermittlung Folgetermine anbieten
Opferhilfe – Was ist zu tun? _4
Verharmlosen, Bagatellisieren, Nicht-Glauben
Emotionale Distanzierung oder Überengagement
Zeitdruck
Stigmatisierende Diagnosen oder Nicht-Erkennung der Ursache
Verletzung der Vertraulichkeit (z.B. bei Anwesenheit von Familienmitgliedern)
Schuldzuweisungen
keine standardisierte „gerichtsfeste“ Dokumentation
Unzureichende Kenntnisse über rechtliche Situation des Opfers, mangelndes Wissen über spezifische Hilfseinrichtungen
Opferhilfe – Was ist nicht zu tun?
Wenn die Symptome moderat sind: Aufmerksames Abwarten Beurteilen, ob sich eine natürliche Erholung einstellt (4-12 Wochen)
Wenn sich nach 4-12 Wochen keine Remission eingestellt hat, oder die Symptome schwer sind:
Innerhalb eines Monats psychotherapeutische Behandlung beginnen
Die angemessene Versorgung von Gewaltopfern ist nur interdisziplinär zu realisieren.
Indikation zur Psychotherapeutischen Behandlung?
WHO-Leitlinie (2013)
www.signal-intervention.de
Avoid genderstereotyping ...
http://youtu.be/Y1CfNIZKFiQ