Identitätim afrikanischen Film
1
Zur Diversifizierung von Repräsentationstrategien
*****Malte Knipping
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2
Malte Knipping, Identität im afrikansichen Film - Zur Diversifizierung von Repräsentationsstrategien, Berlin, 2010
3
Einleitung................................................................................ 4
1. Die Diversifizierung des afrikanischen Films..................... 6
2. Zur Vielfalt des „neuen afrikanischen Films“.................... 12
3. Argumente für den „Dorffilm“............................................ 32
Fazit......................................................................................... 41
Literaturverzeichnis................................................................ 44
Einleitung
In einschlägigen Darstellungen zur Geschichte des
unabhängigen afrikanischen Films wird die Repräsentation einer
freien unabhängigen Identität Afrikas als zentraler
Ausgangspunkt für das kreative Schaffen afrikanischer
Filmemacher beschrieben. Das Streben danach hat nachweislich
zu einer immer weiter zunehmenden Vielfalt von Filmsprachen,
Stilen, Genres, sprich: Strategien geführt, um dieses Ziel zu
erreichen.
Zwei jüngere Betrachtungen zu diesem Thema stehen im
Mittelpunkt dieser Arbeit. Zum einen hat Melissa Thackway im
Jahre 2003 den Prozess dieser Diversifizierung unter dem
Gesichtspunkt der Repräsentation von Identität reflektiert. Zum
anderen findet sich eine Analyse von Manthia Diawara von 2010
über die Beschaffenheit des Gegenwartsfilms in Afrika unter
dem selben Gesichtspunkt.
Während Thackway eine Vielfalt gewachsener Traditionen
verschiedener Film‘schulen‘ sieht, die heute nebeneinander
existieren, betrachtet Diawara die gegenwärtige Vielfalt als das
Phänomen eines neuen afrikanischen Films, der sich in der
afrikanischen Filmgeschichte als eine neue Entwicklungsstufe
abhebt. Jenen zum Teil höchst unterschiedlichen Stilen der
Gegenwart liegt demnach ein hybrides Konzept zugrunde,
welches sie von älteren Stilen wie dem Sozial-Realismus oder
den Back-to-Source-Filmen unterscheidet. Im Gegensatz zu 4
Thackway betrachtet Diawara dabei nicht nur Filme von Bekolo
oder Bakupa-Kanyinda als Vertreter eines solchen hybriden
Stils, sondern auch Filme, die recht eindeutig zunächst das
Genre des Dorffilms bedienen, welche gemeinhin im Ruf stehen,
(vor-)koloniale, stereotype Selbstbilder zu zementieren. Dies
sind Filme, gegen die sich Filmemacher wie Bakupa-Kanyinda
mit ihren hybriden Filmen aber gerade abzugrenzen bemühen.
So stellt sich die Frage, ob sich die Vielfalt des gegenwärtigen
Films wirklich auf eine gemeinsames Prinzip zurückführen lässt
und es sich entsprechend um eine neue Entwicklung handelt, die
dem Ziel der Repräsentation unabhängiger afrikanischer
Identität näher kommt als Generationen zuvor oder ob es sich
nicht doch um eine Vielfalt wirklich divergenter Stile und
Identitätskonzepte handelt, die unterschiedlichen filmischen
Traditionen entstammen und darüber hinaus auch noch den
afrikanischen Gegenwartsfilm auf sehr unterschiedliche Weise
in dem genannten zentralen Aspekt des afrikanischen Kinos
bereichern können.
Wie also ist die Vielfalt des afrikanischen Gegenwartsfilms
beschaffen? Die Ausführungen münden in eine Bewertung der
Relevanz von Genres wie dem Dorffilm, wenn diese sich
entgegen Diawaras Analyse nicht als hybride Filme ausweisen
lassen.
5
1. Die Diversifizierung des afrikanischen Films
Diawara gibt in seinen Buch1, welches anlässlich eines
Filmfestivals2 in Berlin erschienen ist, einen Überblick über
verschiedene Kategorien des afrikanischen Gegenwartsfilms, die
er zugleich als Vertreter einer neuen Welle in der Entwicklung
des afrikanischen Films betrachtet. Diese vielfältigen Stile
verbinde ein sie alle leitendes Prinzip. „Was unser Programm
entwirft, ist die Vision eines ,neuen afrikanischen Films‘, der
sich selbst nicht mehr in den binären Gegensätzen von Afrika
und Europa begreift, sondern frei von alten Komplexen erzählt
und einen universellen Anspruch hat, insofern er an den
Diskursen anderer Länder partizipiert - und dennoch eine
afrikanische Perspektive einnimmt. So etwas gab es bisher nicht.
Denn auch Ousmane Sembène ist nicht bis zu diesem Punkt in
seiner Kunst vorgedrungen, ...“3 Einer kritischen Betrachtung
dieser These Diawaras zum ,neuen afrikanischen Film‘ soll hier
zunächst ein alternativer Blick von Melissa Thackway4 auf die
gegenwärtige Vielfalt von Stilen und Genres des afrikanischen
Film vorangestellt werden. Thackway betont ebenfalls die
wachsende Vielfalt im afrikanischen Film bis zur Gegenwart.
Auch bei ihr findet eine jüngere Entwicklung Erwähnung, die
durch ein hybrides Selbstverständnis geprägt ist. Allerdings
identifiziert Thackway die Grundsätze dieser Bewegung nicht
mit dem ganzen Spektrum des afrikanischen Gegenwartsfilms,
6
sondern betrachtet diese Bewegung lediglich als Teil der
gegenwärtigen Vielfalt.
Repräsentation afrikanischer Identität
Laut Thackway habe sich solch ein Wandel hin zur Vielfalt von
Stilen und Genres bereits in den 70iger Jahren vollzogen. Doch
im Gegensatz zur einsetzenden formalen Diversifizierung sei ein
für den afrikanischen Film zentraler Aspekt seit den Anfängen
bis zur Gegenwart erhalten geblieben: gegenüber den
(Neo-)Kolonialmächten eine unabhängige Identität mittels des
Mediums Film zu artikulieren. „As Francophone African
filmmakers have ,come to voice‘ and reclaimed control of their
own images and art forms, they have seized the opportunity to
provide alternative representations of their disfigured selves.
Film has become a means of constituting and interrogating the
diverse and multiple identities by which people define
themselves and their realities.“5 Weiter heißt es: „As discussions
with the directors themselves reveal, the questions of
representation, identity and voice constitute central
preoccupations in their work, providing constants in an
otherwise heterogeneous cinematic landscape.“6
Verschiedene noch gegenwärtige Filmstile
So habe zunächst der Sozial-Realismus von Ousmane Sembène
einen Trend gesetzt, der die afrikanische Filmlandschaft bis in
die 70iger dominierte, doch auch im Zuge der Diversifizierung
weiter bis in die Gegenwart hinein wirkt. „This social realist 7
style, which is sometimes referred as the Sembènian school after
its earliest practitioner, can still also be identified in a number of
contemporary films“7 Dazu gehörten unter anderem Clarence
Delgados Niiwam, 1991, Mahamat Saleh Harouns Maral Tanié,
1994 oder auch Issa Serge Coelos Daresalam, 2000.
In den 70igern seien dann experimentelle Stile hinzugekommen,
wie die sehr politischen Filme eines Med Hondo oder jene Filme
von Djibril Diop Mambety, die Thackway als ,formally
experimental, highly symbolic and at times surreal‘ beschreibt.
Wie Diawara, so beschreibt auch Thackway Mambety als
starken Einfluss für spätere Filmemacher wie Jean-Pierre
Bekolo, welchen Diawara als einen wesentlichen Vertreter
des ,neuen afrikansichen Films‘ sieht. Mambetys Stil bezeichnet
Thackway bereits als ,hybrid intertextual collage‘ 8 , eine
Mischung aus urbanen und traditionell senegalesischen
Einflüssen.
Tradition eines Genres: Dorffilm
Von besonderem Interesse ist darüber hinaus hier noch eine
Entwicklung, die Thackway zufolge in den späten 70igern
einsetzte. Es handele sich dabei um Filme, die sich im
Gegensatz zu den bisher genannten Formen im besonderen mit
der Vergangenheit Afrikas auseinander setzten. Thackway
beschreibt sie als Filme, die Lösungen für die Gegenwart und
Zukunft suchen, indem sie die Vergangenheit reflektieren. Die
Filme nähmen thematisch vorkoloniale Traditionen in den Blick, 8
ohne sie im Namen der Modernität systematisch zu verdammen.
Hierin unterschieden sie sich von einem sozialistischen
Realismus eines Sembène, darüber hinaus aber auch von dessen
didaktischem Anspruch, welchen Sembène, interessanterweise,
wiederum dem klassischen afrikanischen Verständnis vom
Künstler-sein entliehen habe. Filme von Ouedraogo, Cissé oder
Sissoko seien aber keinesfalls entsprechend unpolitisch, wie
ihnen oft vorgeworfen werde. Sie seien tatsächlich in ihrem
po l i t i s chen An l i egen a l l ego r i s che r, sub t i l e r und
bedeutungsoffener, wohingegen ihnen immer wieder unterstellt
werde, mit ihren Bildern vom traditionellen Afrika lediglich die
westlichen Bedürfnisse nach einem exotistischen Afrika-
Klischee zu befriedigen.9
Nachdem der Euphorie der ersten Jahre afrikanischer
Unabhängigkeit die Ernüchterung über Fortschritte eines
modernen Afrikas gefolgt sei, habe sich eben auch der Blick für
komplexere Analysen der afrikanischen Situation geweitet.
Thackway bezeichnet die Dorffilme auch als Back-to-Source-
Filme und betont: „...its stylistic influences also remain strong
today, as can seen in recent films such as Dai Kouyaté‘s Keita!
L‘Heritage du Griot (Burkina Faso, 1995) and Sia, le rêve du
python (Burkina Faso, 2001) Cheick Oumar Sissoko‘s Guimba
(Mali, 1995), and Adama Drabo‘s Taafe Fanga (Mali,
1997), ...“10
9
Hybrider Stil // Hybrides Genre
Schließlich habe sich die Diversifizierung in den 90igern weiter
fortgesetzt, womit wir bei jenen Filmen angekommen sind, die
als unangefochtene Vertreter in Diawara Beschreibung der
neuen Welle betrachtet werden können. Verschiedene Stile
wären gemischt worden. „Many filmmakers have increasingly
experimented with styles and forms, making it impossible to
class their work in a single category.“11 Die Filme reflektieren
Thackway zufolge stilistisch wie inhaltlich kulturelle Synthesen
urbaner Zentren in Afrika, in denen afrikanische und
internationale kulturelle Werte gleichermaßen beständen. Sie
verweist auf Bekolos Quartier Mozart, in dem urbane
Jugendkultur mit traditionellem übernatürlichem Glauben in
einer schnellen, hybriden Form verwoben würde. Entsprechend
würde afrikanisches Leben hier als eine hybride, internationale
Kultur dargestellt, in der das Moderne mit dem Traditionellen
koexistiere. Damit bildet diese hybride Art Film aber auch einen
Gegenentwurf zum Dorffilm, der sich allein mit der
traditionellen Lebensweise der Afrikaner auseinandersetzt.
„These and other recent urban films […], all tend to develop
their different characters‘ multiple stories in a fragmented style
that reflects the chaotic pace of life in African urban centres.“12
Die Repräsentation einer zeitgenössischen afrikanischen
Identität, so betonen Diawara wie Thackway, sei nach wie vor 10
ein wesentliches Anliegen afrikanischer Filme. Die
Gemeinsamkeiten in der vielfältig gewordenen afrikanischen
Filmlandschaft gehen Thackway zufolge über diesen Aspekt
aber nicht hinaus: „However, the communalities and shared
preoccupations in the work of these filmmakers who come from
highly divergent backgrounds and cultural spheres, can never be
placed above their pronounced diversities and individual
creative agendas.“13
11
2. Zur Vielfalt des ,neuen afrikanischen Films‘
Demgegenüber betrachtet Diawara die gegenwärtige Vielfalt
von Stilen und Genres als Ausdruck der Fortentwicklung des
afrikanischen Films hin zu einem, in dem die Repräsentation
von Identität nun in hybrider14 Weise die ,Dichotomie von Afrika
und Europa überwinde‘. Ihnen sei eine radikalere an Frantz
Fanon geschulte postkoloniale Kritik zu eigen, während sich
Sembène aber auch Souleymane Cissé eher auf eine anti-
neokoloniale Kritik beschränkten. „Wichtig scheint mir, diese
Kr i t ik am Neoko lon ia l i smus von de r Kr i t ik des
Postkolonialismus zu unterscheiden.“15 Der Unterschied sei
wohl darin zu sehen, dass die Generation Sembènes in ihrem
Bemühen um eine durch Abgrenzung vom „Westen“
unabhängige Identitätskonstruktion Afrikas die binären
Gegensätze zwischen dem modernen Europa und dem
traditionellen Afrika und die damit verbundenen Stereotypen
von Afrika letztlich stabilisierten. Der ,neue afrikanische Film‘
hingegen würde sich nicht aus dem Widerstand gegenüber dem
Westen definieren.16
Interessant ist nun Diawaras Systematisierung dieses neuen
Films. Es gebe drei wesentlich zu nennende Gruppen: den Arte-
Film, Filme der ,Gilde‘17 sowie das Erzählkino, welches
Diawara auch als Populärkino kennzeichnet. Interessant ist dies,
weil die Beispiele, die Diawara anführt, in zwei der drei
12
Kategorien Filme sind, denen man schon auf den ersten Blick
schwerlich eine hybride Beschaffenheit attestieren mag.
Vielmehr mag man sie als Dorffilme einordnen, welche von
ihren Kritikern abwertend auch als ,Kalebassenkino‘ bezeichnet
werden. Im Folgenden werden diese drei Kategorien und
Diawaras Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzogen. Es
wird deutlich werden, warum Diawaras Systematisierung des
afrikanischen Gegenwartsfilms nicht haltbar ist, um an- und
abschließend darzustellen, warum aber gerade deshalb all seine
Beispiele berechtigte Vertreter eines afrikanischen
Gegenwartsfilms sind.
Zur Gruppe der Gilde zählen Filmemacher wie Jean-Pierre
Bekolo oder Balufu Bakupa-Kanyinda. Die Gilde ist eine
Bewegung junger afrikanischer Filmemacher in Paris (!).
„Zweck der Bewegung ist es, den Film Afrikas und der
afrikanischen Diaspora um neue politische und ästhetische
Inhalte zu bereichern. Die Mitwirkenden haben sich von
Féderation Panafricaine des Cinéastes (FEPACI) losgesagt, weil
sie ihnen veraltet und ineffizient erschien. Nicht zuletzt soll die
Gilde Interessen von Filmemachern aus Afrika und afrikansicher
Herkunft in Europa besser vertreten.“18 Hier zeigt sich in der
Programmatik also nochmals deutlich das Interesse dieser
Filmemacher, sich dem „Westen“ zu öffnen und zugleich die
eigenen Interessen zu wahren. Aus der Verknüpfung der Öffnung
Afrikas zur Welt und der damit verknüpften Überwindung 13
ausgrenzender und abwertender Stereotypien Afrikas mit dem
Wunsch der Filmemacher, neue politische und ästhetische
Inhalte zu produzieren und sich zugleich von der alten
panafrikanischen Interessenvertretung, der FEPACI,
abzugrenzen, erwächst gemäß Diawara wesentlich neuen
afrikanischen Films insgesamt, der sich damit auch von älteren
Generationen abgrenzen lässt. Diawara stellt anhand der Filme
von Bekolo und Bakupa-Kanyinda ein Prinzip dieser neuen
Ästhetik dar. Bei diesen Filmemachern handelt es sich eben um
jene, welchen bereits Thackway einen hybriden, urbanistischen
Stil attestiert. Betrachtet man nun Diawaras plausible
Ausführungen zu dieser Filmkategorie, kann man daraus
Kriterien für die Hybridität von Filmen entnehmen, welche die
weiteren von Diawara genannten Kategorien des hybriden Films
jedoch fragwürdig erscheinen lassen.
Kriterium 1: Das neue Dritte eines hybriden Films
Gemäß Diawara kann man den neuen afrikanischen Film auch
als eine Reaktion auf ein afrikanisches Kino verstehen, welches
er als Weltkino bezeichnet. Solche Filme kämen in Europa gut
an, weil sie einer linksliberal eingestellten Kulturszene
entsprächen. Diawara selbst sieht sich als einen Vertreter dieser
Zielgruppe, die sich ein zeitgenössisches, globales
Kunstverständnis angeeignet habe. Aufgrund der hohen Kosten
von Filmproduktionen und der damit einhergehenden
14
finanziellen Abhängigkeit afrikanischer Filmemacher vom
„Westen“ entstehe ein Druck, sich dieser ,Sicht auf die
Gegenwart‘ anzuschließen. „Insofern sie dem nachkommen,
machen sie eben ein Weltkino. Dessen Kehrseite ist, wie gesagt,
die Entfremdung vom afrikanischen Kinopublikum.“19 Denn
diese könnten sich in solchen Filmen nicht wiedererkennen. Das
Weltkino ist also als ein solches zu verstehen, dass bereits an
einen globalen Kunstmarkt partizipiert, dabei allerdings auch
dessen stereotype Fremdbilder und Vorstellungen über Afrika
bedienen muss. Die eigene Stimme der Afrikaner bleibe dabei
auf der Strecke. Filmemacher der Gilde bemühten sich nun,
dieses Weltkino zu überwinden, ohne dabei hinter dessen
Offenheit zurückzufallen. Dies ist ein ausgesprochen wichtiger
Aspekt zum Verständnis der hybriden Filme. Ihnen geht es
darum, eine afrikanische Identität zu formulieren, die sich weder
aus einer essentialistischen Abgrenzung vom „Westen“, also
einem Rückzug in vorkoloniale afrikanische Traditionen, noch
aus einer Assimilation westlich-moderner Kultur zu definieren
versucht. Will man den hybriden Stil im afrikanischen Kino
identifizieren, ist es also dringlich, ihn von solchen Filmen zu
unterscheiden, die sich ebenfalls der westlichen Kultur öffnen
und durch die Aufnahme fremder Elemente jedoch eine eigene
unabhängige Stimme (bzw. Sprache) zu verlieren scheinen.
Filmemacher wie Bekolo oder Bakupa-Kanyinda scheinen
diesen Anspruch gerecht zu werden, indem sie in ihren Filmen 15
„westliche“ und afrikanische Elemente miteinander zu etwas
neuem Drittem verschmelzen. Dies gelingt ihnen, indem sie das
zu integrierende Fremde dekonstruieren und dadurch
(an-)verwandeln. Hier zeigt sich die Distanz zu Filmen des so
genannten Weltkinos, welche Diawara deutlich heraus stellt. Auf
der Ebene der filmischen Grammatik gilt ein kreativer Umgang
mit den aufgenommenen Elementen. „Bekolos bevorzugte
Filmsprache ist die Dekonstruktion konventioneller
Dramaturgien des Geschichtenerzählens. [...] Das Unterhaltsame
an den Werken von Bekolo sind nicht die Geschichten, die sie
erzählen, sondern die politischen Unterbrechungen ihrer
Erzählweise“20 wie beispielsweise bei der Dekonstruktion der
aristotelischen Dramaturgie. „Das Beispiel von Bekolos Le
complot d‘Aristide und seinen anderen Filmen zeigt: Die
Filmemacher der neuen afrikanischen Welle erlangen ihre
Eigenschaften nicht dadurch, dass sie die Machart der
Hollywood-Plots kopieren oder auf den Primitivismus des
afrikanischen Kalebassenkinos zurückgreifen. Bekolo
improvisiert neue und alte Stile. [...].“21 Und: „Für Bakupa-
Kanyinda führt die Wiedergewinnung eines authentischen
Afrika-Bildes nur über den Weg einer Dekonstruktion der
westlichen Afrika-Ikonografie. Er weiß, dass ein afrikanischer
Filmemacher Hollywood nicht einfach ignorieren und sich bei
der Arbeit am Film nur auf die eigenen Traditionen verlassen
kann. Denn dann ist die Gefahr groß, dass er nur die aus dem 16
Westen stammenden und mittlerweile von Afrikanern selbst
verinnerlichten Afrika-Klischees wiederholt.“22
Kriterium 2: Gesamtheit des Films in Form und Inhalt
Filmemachern wie Bekolo geht es aber dezidiert nicht nur
darum, eine hybride Filmsprache zu entwickeln. Vielmehr ist sie
nur konsequenter Ausdruck einer eigenen hybriden
Lebensweise; Konsequenz ,seiner Geschichte, die nur er
erzählen könne‘23 und selbst erzählen will. Summa summarum
geht es also um den Film insgesamt als Möglichkeit, (hier:
diasporische afrikanische) Identität zu repräsentieren. Es geht
nicht allein um das Medium, sondern auch um die Mitteilung.
„Es gibt also einen Imperativ der Dekonstruktion und der
Dokumentation, dem afrikanische Filmemacher gerecht werden
müssen.“24 Die Dekonstruktion auf der formalen Ebene ignoriert
nicht die Wichtigkeit der Bedeutungsebene der Filme. Eine
solches Zusammenwirken scheint das entscheidende Kriterium
für die Identifizierung der Hybridität von afrikanischen Filmen
in Bezug auf ihre Funktion zu sein, afrikanische Identität zu
repräsentieren: Filme nicht nur auf der Ebene der Filmsprache
zu untersuchen, sondern zu reflektieren, was die Form erzählt
bzw. bewirkt.
Unter diesen beiden Prämissen soll nun ein Blick auf die
anderen von Diawara vorgeschlagenen Kategorien des hybriden
Stils geworfen werden.
17
Eine non-hybride Arte-Welle: ,La vie sur terre‘
Diawara stellt drei Filme von Abderrahmane Sissako vor, den er
als Galionsfigur der Arte-Welle25 betrachtet. Bamako (2006), das
dritte Beispiel entpuppt sich Diawara zufolge als für Sissako
ungewöhnlich experimenteller und politischer Film, dessen
besonderes Merkmal sein dekonstruktiver Stil sei. Dieser Film
wäre nun demnach besser in der Kategorie der Gilde-Filmer
einzuordnen, der Sissako Diawara zufolge tatsächlich auch
angehört. Seine früheren Filme, La vie sur terre von 1998 und
Heremakano von 2002, charakterisiert Diawara hingegen durch
deren poetische Filmsprache.
Auffällig bleibt Diawaras Abgrenzung Sissakos von Sembènes
Filmsprache, dessen Realismus dem Poetischen bei Sissako
gegenüber stehe, sowie das Prinzip der Identifikation in Sissakos
Filmen, welche ebenfalls ein besonderes Merkmal der neuen
Welle sei. Allerdings stellt Diawara an keiner Stelle einen
Zusammenhang her zwischen der poetischen Filmsprache und
wie die Filme Sissakos die binären Gegensätze zwischen Afrika
und Europa überwänden. Es wird bei Diawara nicht explizit
formuliert, worin die hybride Qualität einer solchen Bildsprache
zu sehen ist.
La vie sur terre dokumentiert in essayistischer Weise Sissakos
Besuch seines Vaters in dessen afrikanischen Heimatdorf. Die
Einstellungen des Films würden dabei ,noch jenseits der
Montage‘ wie Plansequenzen funktionieren und je eigene 18
Geschichten erzählen, die in loser Verbindung ein Portrait des
Dorflebens böten. Der Blick auf das Dorf sei ein nostalgischer.
Zugleich trete aber die Inszeniertheit dieses poetischen,
filmischen Zugangs durch den Aufbau der Szenen selbst explizit
zutage. Einen Kontrapunkt zu dieser nostalgischen Darstellung
des Dorflebens bildeten jene Szenen, die jenseits jeder
nostalgischen Ästhetisierung die Härte dieses Lebens im
afrikanischen Dorf zeigten, welches sich mühe, das 20.
Jahrhundert zu erreichen. „In meinen Augen ist La vie sur terre
gerade wegen solcher widersprüchlicher Bilder von der Heimat
des Autors so überzeugend. Manche Dinge sind darin
ästhetisiert, wie es nur der romantische Blick des lange
exilierten Heimkehrers vermag. An anderen Stellen überwiegt
der dokumentarische Impuls, die Dinge so zu zeigen, wie sie
sind.“26 Hier wird ein Widerspruch in Diawaras Darstellung
deutlich, der sich einerseits bemüht, den neuen poetischen Stil
von Sembènes Realismus deutlich abzugrenzen. Nun aber
entdeckt er gerade in der Kollision des Poetischen mit dem
Realistischen innerhalb des selben Films eine besondere
Qualität. Da Diawara sich hier nicht explizit ausdrückt, kann
man nur spekulieren, dass er mit der Abgrenzung von der
Filmsprache Sembènes als eine afrikanische, die poetische als
eine „westliche“ Form betrachtet. Der nostalgisch verklärte
Blick des Heimkehrers (oder eines uninformierten Besuchers)
konterkariert dann die Erfahrung der Härte des Alltags im 19
afrikanischen Dorf. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals daran,
dass es Diawaras Hauptthese zufolge nicht einfach nur um
irgendwelche heterogenen Filmsprachen geht, die verschiedene
bestehende Genres oder Stile mischen, sondern um Hybridität in
einem postkolonialen Kontext, d.h. um die ,Überwindung von
Binaritäten zwischen Afrika und Europa‘, mithin die
Überwindung afrikanischer Stereotypen. Deshalb ist bei einer
kritischen Betrachtung seiner Ausführungen hier auf diesen
Aspekt besonders sorgfältig zu achten. Erinnert sei deshalb an
Filmemacher wie Mambety, Bekolo, etc., an Filme, die in
urbanen afrikanischen Lebensräumen angesiedelt sind, die
formal wie inhaltlich urbane Kultur wie Hip-Hop, Comicstrips
mit afrikanisch-traditionellen Elementen vermischen und in
einem kreativen Akt zu einer neuen Einheit verschweißen.
Daran gemessen: Welches Bild von Afrika spiegelt sich in einem
Film wie La vie sur terre? Sissako zeigt uns ein Dorf, das an der
Welt nur insofern angeschlossen ist, dass es abhängig ist von
den Geldsendungen aus dem Westen; dass es im Radio das
Weltgeschehen verfolgen kann, ohne sich selbst Gehör
verschaffen zu können. Wir sehen nostalgische Bilder von
diesem Dorf, die Sissako bewusst durch ,dokumentarische‘
Zugriffe bricht, welche die ,ungeschminkte Wahrheit‘ hinter den
Postkartenidyllen entlarvt. Wir sehen einen Filmemacher als
Protagonisten im Film, der im Film Césaires Rede Über den
Kolonialismus liest und Schwierigkeiten hat, über die 20
Infrastruktur des Dorfes eine Telefonverbindung nach Paris
herzustellen. Hier verbindet sich der schwärmerische Blick des
Heimkehrenden auf seine Heimat mit dem Bewusstsein für die
realen Probleme derselben. Zum Bild, dass Sissako von dem
Dorf zeichnet, passt dann auch die Art und Weise der
Darstellung. Die langen Einstellungen, welche schon jenseits der
Montage kleine Geschichten erzählen, bilden eher einen
Kontrapunkt zu modernen Filmsprachen. Es erinnert, pointiert
formuliert, eher an die ersten Filme der Gebrüder Lumière, die
in den 1890iger Jahren in Plansequenzen den Pariser Alltag
dokumentierten. Die Montage solcher Sequenzen zu einem
Portrait eines Lebensraumes lässt seinerseits an einen Pionier
des afrikanischen Films denken: Paulin S. Vieyra. L‘Afrique sur
Seine allerdings zeigt die afrikanische Diaspora auf der Höhe
ihrer Zeit in Paris, nicht ein afrikanisches Dorf des 21.
Jahrhunderts, welches in frühmodernen Zeiten stecken geblieben
ist.
Sissakos portraitiert sein Heimatdorf nicht als ein zeitgenössisch
hybrides, sondern zeichnet ein differenziertes Bild eines vom
Fortschritt des „Westens“ abgehängten Lebensstils. Es zeigt ein
Dorf, das sich keineswegs der modernen Welt des 21.
Jahrhunderts öffnet, sondern eines das von dieser Welt zwar
abhängig, aber weit abgeschlagen ist; das Mühe hat, das 20.
Jahrhundert zu erreichen. Er übt Kritik an der Rückständigkeit,
ohne das Schöne dieses Lebens zu unterschlagen oder den 21
Portraitierten ihre Würde zu nehmen. Darin erinnert Sissako
allerdings vor allem an Sembène, an Le Mandat beispielsweise.
Eine postkoloniale hybride Lebensweise, wie sie Sissako als in
Paris lebender Filmemacher selbst praktiziert, vermag der Film
nur indirekt als eine für das Dorf mögliche Zukunft zu
evozieren. Dargestellt ist im Film aber der Ist-Zustand eines
schönen, „exotischen“ Dorflebens, über dem die Sonne trotz
aller Probleme nicht aufzuhören scheint. Und zu diesem Bild
passt eben, wie schon beschrieben, auch die gedehnte, langsame
und in Bezug auf die plansequenzhaften Szenenkompositionen
malerische Filmsprache, die so gar nicht Assoziationen an die
westliche Moderne zu evozieren vermag, außer durch deren
konsequente Nicht-Präsenz, durch die Distanz zu dieser, in die
der Film den Zuschauer vermittels der Identifikation mit jenen
aus der Ferne auf die Welt schauenden Protagonisten versetzt.
Dies ist kein hybrider Film, denn er konstatiert lediglich den
Mangel an Öffnung gen „Westen“ und einer hybriden
Lebensweise. Dieser Film spiegelt gerade nicht eine
afrikanische Identität, die sich bereits vom Neuen wie vom
Alten das nimmt, was sie braucht, so wie es das Credo eines
Bekolo ist.
Macht man sich Thackways Position zu eigen, könnte man zu
der Einsicht gelangen, dass auch jenseits eines postkolonial-
hybriden Ansatzes afrikanische Filme wie Sissakos La vie sur 22
terre dennoch einen wichtigen Beitrag zum Gegenwartsfilm in
Afrika leisten, auch wenn sie inhaltlich wie formal wohl eher die
Tradition des Dorffilms fortsetzen. Diawaras assoziative
Verbindung zwischen Sissako und Ouedraogos Tilai ist da
durchaus „verräterisch“27... Denn in der Tat erinnert Sissakos
Stil eher an Ouedraogo als an Mambety und steht in der
Tradition dieser Back-to-Source-Filme. Wie bei Tilai fehlt es
auch Sissakos poetisch-nostalgischen Blicken auf das
traditionell geprägte ländliche Leben Afrikas gleichermaßen
nicht an offenem Interesse wie kritischem Bewusstsein,
wenngleich Sissakos La vie sur terre anders als Tilai eben doch
die Anbindung an die moderne Welt indirekt fordert.
Interessanterweise ist es Diawara selbst, der darauf aufmerksam
macht, dass viele Kritiker oft den kritischen und politischen
Impact der Dorffilme übersehen, sie als Kalebassenfilme
herabstufen, die lediglich Negativ-Stereotypen von Afrika
reproduzierten, sich zumindest aber in weltfremden
vorkolonialen Traditionen Afrikas verfangen würden. Solchen
vorverurteilten Filmen dann den Stempel der Hybridität
aufzudrücken, verdeckt möglicherweise aber die ganz eigenen,
unverzichtbaren Qualitäten dieser Filme. Dazu mehr im dritten
Kapitel.
Ein non-hybrides Erzählkino: ,Le Prix du Pardon‘
Auch Diawara kann eben Filme in dieser Tradition als
zeitgenössisch relevant, d.h. als Teil des neuen afrikanischen 23
Films nur gelten lassen, wie die Betrachtung seiner
Ausführungen zeigen, sofern sie ihm in ihrer Anlage hybrid
erscheinen. Besonders deutlich wird dies bei dem Beispiel der
dritten Kategorie, das ich nun als letztes etwas ausführlicher
besprechen möchte. An diesem Beispiel lässt sich auch
besonders deutlich zeigen, was das Besondere an der
Beschaffenheit der Dorffilme ist und warum ihre Notwendigkeit
für den afrikanischen Gegenwartsfilm gerade aus der
Ermangelung einer Hybridität in Form und Inhalt hervorgeht.
Zunächst erfolgt nun eine kritische Betrachtung der Kategorie
des Erzählkinos, um aufzuzeigen, warum auch Diawara
wichtigstes Beispiel in dieser Kategorie, Le Prix du Pardon,
kein hybrider Film ist, sondern ebenfalls eher an die Tradition
der Dorffilme anschließt.
Diawara sieht das Erzählkino als eine Form der populären Kunst
an. Es handele sich dabei um Genrefilme nach amerikanischen
Muster: „ Sie erzählen ihre Geschichten, indem sie afrikanische
Zutaten und Gewürze in den alten Genretöpfen zubereiten.“28 Es
würden afrikanische Geschichten mit afrikanischen
Schauspielern erzählt. Dabei folgten die inszenatorischen
Strategien im allgemeinen aber dem Ideal des Hollywood-Films
eines ungestörten Erzählflusses. „Die Regisseure versuchen hier
nicht wie Ousmane Sembène, das Bewusstsein anzusprechen,
und sie bewegen sich auch nicht auf einer meta-filmischen und 24
intellektuellen Ebene wie Bekolo oder Bakupa-Kanyinda.“29
Populärfilme gäben den afrikanischen Zuschauern die
Möglichkeit, sich in diesen Filmen wiederzuentdecken und ihre
bestehende Identität gespiegelt zu bekommen. „Was die oben
genannten Filme in diesem Sinne populär macht, sind ihre
Erzählstrukturen und Motive, ebenso wie die emotionalen
Erwartungshaltungen der afrikanischen Populärkultur, an die sie
anknüpfen: Volks- und Aberglaube, Brauchtum und überlieferte
Lebensweisheiten. […] Sie holen afrikanische Kinogeher dort
ab, wo diese stehen.“30 Diawara unterscheidet hier wohl
zwischen einer den kritischen Blick des Betrachters
aktivierenden Ästhetik des Films und einer, die bereits
bestehende Identitätsbilder lediglich aufgreifen und bestätigen.
Auch letzteres sei aber ungemein wichtig, weil es die einzige
Form sei, den afrikanischen Zuschauer ernst zu nehmen. Die
anderen Kategorien könnten dies nicht leisten, so Diawara.31
Entsprechend richteten sich die Angriffe der der Gilde besonders
gegen diese Filme. Sie „werfen den Vertretern des populären
Films oft genau das vor, was sie auch am westlichen Film
kritisieren: die essentialistische Darstellung Afrikas, die
exotischen Bilder und den Primitivismus, den Mangel an
Reflexion und das Festhalten am Bild eines Afrika, das so
archaisch ist, dass es die Moderne nicht versteht.“32 Diawara
bestätigt deren Distanz zum afrikanischen Genrekino, indem er
d iesem beschein ig t , wenig gemein zu haben mi t 25
den ,eklektischen, experimentellen und avantgardistischen
Stilformen‘33 eines Diop Mambety, der ja seinerseits ein
wesentlicher Wegbereiter für Bekolo war.
Denselben Populärfilm betrachtet Diawara nun dennoch als
ebenso hybrid wie die Kategorie der Gilde-Filmer und Le Prix
du Pardon von Mansour Sora Wade entsprechend als ein
wichtiges Beispiel für das hybride Erzählkino. Es sei zugleich
der senegalesischste Film, denn er habe den wohl am meisten im
Denken der Négritude verankerten Film Senegals geschaffen.
Wade habe auf volkstümliches Brauchtum zurückgegriffen, um
seinen Erzählstil zu entwickeln. Er schaffe also ein populäres
Genrekino, das Rhythmen, Gefühle, Farben einsetze, wie es
Senghor in seiner ästhetischen Theorie der Négritude
vorschwebte. „Die Filmemacher der neuen Welle im
senegalesischen Film - Moussa Séne Absa, Joseoph Ramaka
Gaye, Mansour Sora Wade und andere - haben aus dem
ästhetischen Denken Senghors gelernt, dass eine nationale
Filmsprache auf volkstümlichen, mündlichen Traditionen und
Ritualen voller Rhythmus, Poesie und Fantasie aufbauen kann.
[…] Sie nutzen Puls und Rhythmus ihrer Kultur und lassen
beide ihre Erzählweisen und deren filmtechnische Umsetzung
weitgehend bestimmen.“34
Der Film spielt in einem durch und durch vom traditionellen
Leben geprägten senegalesischen Fischerdorf. Diawara nimmt
Bezug auf Szenen innerhalb der dargestellten Handlung, in 26
denen Ringkämpfe und Tänze aufgeführt stattfinden.
Entsprechend der Vorstellungen Senghors sei Kunst nichts
Statisches. Kunst sei hier ein sich in Bewegung realisierendes
System, in das Zuschauer wie Akteure und über die rituellen
Handlungen auch die Verbindung zu den Ahnen einbezogen
würde. „Afrikanische Kunst zu verstehen bedeutet, das rituelle
Handeln zu betrachten, in dem alle diese Elemente in Bezug
zueinander und zu dem sie umgebenden Bedeutungssystem
treten. Afrikanische Kunst erwacht zum Leben, sobald der
Rhythmus die Aktion durchdringt und zum Geist jenes Ahnen
wird, der die Akteure mit den Zuschauern verbindet […]
Rhythmus ist Dichtung. Rhythmus ist Kunst. […] Die Tänze
und Ringkämpfe in Le Prix du Pardon machen sich diese
Kunstauffassung zu eigen.“35 Yatma, einer der Protagonisten im
Film, führt vor der Dorfgemeinschaft einen Tanz auf, bei dem er
in die Rolle seines Totems, dem Löwen, schlüpft. „Auch die
Maske des Löwen ist für sich genommen nur ein Gegenstand.
Yatma muss sie erst tragen und sie zum Leben erwecken, damit
die Kraft seiner Ahnen durch ihn hindurch strömt. Mit anderen
Worten: Erst wenn Yatma die Maske des Löwen, seines Totems,
aufsetzt und mit ihr tanzt, kann Kunst entstehen.“36 Man kann
diese Szene ohne weiteres nur als Teil der Handlung des Films
verstehen und darüber hinaus auch als eine Reflektion des
Filmemachers über das négritude Kunstverständnis des
senegalesischen Dorfes. 27
Diawara geht aber einen Schritt weiter, indem er die filmische
Repräsentation einer künstlerischen Handlung zur Präsentation
négrituder Kunst erklärt und den Zuschauer im Film gleichsetzt
mit dem Zuschauers des Filmes. Er überträgt, ohne dies
argumentativ weiter zu stützen, die von Wade dargestellte
Kunstauffassung (in lediglich einer einzigen Szene des Films)
auf das Medium Film. „Die Ringkampfszene in Le Prix du
Pardon ist aber mehr als eine Übertragung von Senghors
Kunstauffassung auf das Medium Film. Sie zeigt auch, wie sehr
diese Theorie Afrikas Filmsprachen noch bereichern könnte.
Zum Beispiel wechselt der Rhythmus der Montage im Übergang
vom Tanz zum Ringkampf von schnell zu langsam und danach
zu einer Art krampfartigen Bilderzucken. Der Film nimmt auf
mimetische Art und Weise die Kultur der Ringkämpfe in
Senegal, Gambia und im übrigen Westafrika in seine
Bildsprache auf.“37 An dieser Stelle muss man Diawaras
Ausführungen zu diesem Film ganz entschieden widersprechen.
Die Szene des Tanzes geht zunächst einmal nicht in einen
Ringkampf über! Der Rhythmus der Montage verändert sich
nicht signifikant während dieser Szene. Vielmehr wird in
gleichbleibend ruhigen Montagerhythmus dieses Ereignis
erzählt. Entscheidend ist aber, dass Diawara die Ebenen der
Repräsentation und Präsentation unbegründet vermischt, die
Form des dargestellten Tanzes mit der Form der Darstellung
dieser Handlung gleichsetzt. Wades Kamera wird aber nicht zum 28
Auge der anwesenden Dorfbewohner. Sie zeigt das gesamte
Ereignis: die Kamera zeigt die theatrale Situation, in der Yatma
für die anderen Bewohner des Dorfes diesen rituellen Tanz
aufführt. Folgte man im übrigen der Argumentation Diawaras,
wonach das Medium Film in diesem rituellen Rhythmus selbst
zum négrituden Kunstereignis würde, dann drängte sich auch
eine vielleicht naiv klingende, aber berechtigte Frage auf: Es
handelt sich bei der von Diawara angesprochenen um eine
einzige Szene in einem ,abendfüllenden‘ Spielfilm. Was ist also
mit dem Rest des Films. Versinkt dieser wieder in kunstloses
Genrekino? Seiner eigenen Argumentation zufolge wäre der
Rest des Films entsprechend kein hybrides Konstrukt aus
Négritude und „westlichem“ Genrekino.
Des Weiteren würde sich auch die Frage aufdrängen, wozu das
alles gut sein sollte. Denn selbst wenn: Würde mit solch einem
Film, wie ihn Diawara zu erkennen glaubt, der binäre Gegensatz
zwischen Afrika und Europa sinnstiftend überwunden? Allein
die afrikanische Négritude als filmsprachliches Mittel in einem
„westlichen“ Genre-Muster zu identifizieren, erspart nicht, das
Zusammenwirken dieser Elemente zu betrachten und zu
bewerten. Diawara selbst hatte auf den Unterschied zwischen
Weltkino und dem ,neuen afrikanischen Film‘ hingewiesen. Die
Übertragung eines traditionell négrituden Kunstverständnisses
auf das neue Medium Film würde ohne weiteres nicht mehr
leisten, als ,alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten‘. Man 29
würde sich dem „westlichen“ Genremuster von Hollywood
bedienen, um solche Vorstellungen von Afrika zu verbreiten,
denen Filmemacher wie Bekolo gerade den Kampf angesagt
haben; von breitenwirksamen Filmen, wie sie laut Diawara
bereits die FEPACI förderte, um afrikanisches Publikum dem
Hol lywood-Impor ten zu en t re ißen . Die négr i tude
Kunstauffassung würde sich dann in den unkritischen,
konsumistischen Erzählfluss der Genreunterhaltung integrieren
und sie ihrerseits ebenso wenig stören, wie sich afrikanische
Schauspieler in afrikanischen ,Hollywood‘-Produktionen à la
Blood Diamond38 integrieren, ohne gängige westliche
Stereotypen zu durchbrechen. In einer solchen Mischung
entsteht kein hybrides Drittes, wie es Diawara eigentlich selbst
fordert, weil in Bezug auf die Repräsentation afrikanischer
Identität keine synthetische Transformation ihrer Teile
stattfindet. Es handelt sich entsprechend nicht um eine Synthese,
um ein neues Drittes, sondern um ein heterogenes, binäres
Konstrukt wie beispielsweise dem Hybridmotor eines Autos.
Auf den Inhalt des Films und ein Zusammenwirken beider
Ebenen geht Diawara nicht weiter ein. Wie schon bei La vie sur
terre kann Diawara auch hier nicht plausibel machen, wie dieser
Film zur Repräsentation einer hybriden Identität beiträgt.
Vielmehr handelt es sich um einen typischen Genre-Vertreter
des Dorffilms, der im Vergleich zu La vie sur terre auch nur
geringste Hinweise auf eine „westlich-moderne“ Welt erkennen 30
lässt. Der ungestörte Erzählfluss des Genrekino trägt seinen Teil
zur Immersion des Zuschauers in die Welt der Négritude bei.
Hier bestätigt sich die Thackways Blick auf eine zeitgenössische
Filmkultur Afrikas, zu der gleichermaßen der junge hybride
Film eines Bekolo wie auch ein Dorffilm eines Sissako oder
eines Mansour Sora Wade gehören. Bleibt noch die Frage zu
beantworten, was dem Dorffilm neben dem hybriden Film
überhaupt noch Relevanz verleiht.
31
3. Argumente für den ,Dorffilm‘
Es ist deutlich geworden, dass Sora Wade entgegen der
Einschätzung von Diawara keineswegs die Kunstauffassung der
Négritude auf das Medium Film überträgt und dieser
entsprechend auch nicht als Ritual funktioniert. Höchstens kann
man die Négritude als Teil des verhandelten Filminhalts
betrachten, wenn Le Prix du Pardon das traditionelle Leben in
einem senegalesischen Dorf darstellt und dabei unter anderem
die sich innerhalb der Erzählung vollziehende theatrale
Darbietung von Yatma, der in Verbindung zu seinem Totem
einen Tanz vor der Dorfgemeinde vorführt. Wenn ich im
Folgenden nun noch mal genauer auf die Erzählung des Films
eingehe, soll deutlich werden, dass man den Film durchaus als
einen populären Genrefilm auffassen kann, der aber ein
differenziertes Bild vom traditionellen Leben in einem
senegalesischen Fischerdorf zeichnet. Vordergründig reflektiert
der Film im Rahmen eines Liebesdramas den Umgang mit
Schuld und Sühne. Darüber hinaus reflektiert er aber die
Beschaffenheit des traditionellen Dorf-Lebens.
Erzählt wird die Geschichte von zwei Fischern, Mbanick und
Yatma, die miteinander befreundet und zugleich in dieselbe
Frau, Maxoye, verliebt sind. Die Erzählung beginnt damit, dass
ein dichter Nebel sich über das Meer und das Dorf gelegt hat
und es den Fischern unmöglich erscheint hinaus zu fahren, um
ihre Arbeit zu machen.39 Der anhaltende Nebel wird dadurch zu 32
einer existentiellen Bedrohung, welche die Bewohner des
Dorfes ängstigt. Mbanick ist der Sohn des Marabuts im Dorf,
welcher zu diesem Zeitpunkt im Sterben liegt. Ein Hexenmeister
wird geholt, um durch Opfergaben die Götter milde zu stimmen,
jedoch ohne Erfolg. Mbanick lehnt das Wissen seines Vaters und
die Praktiken des Hexenmeisters gleichermaßen ab. Anstatt
untätig zu warten, fällt er schließlich den heiligen Baum, unter
welchem der inzwischen gestorbene Vater begraben liegt und
welcher symbolträchtig seitdem seine Blätter verloren hat.
Mbanick schnitzt aus dem Holz ein Boot und fährt damit aufs
Meer. Bei seiner Rückkehr ist der Nebel verschwunden und
Mbanick wird als Held gefeiert. Auch Maxoye bewundert ihn
und ihre Liebe scheint ihm sicher. Yatma erträgt dies nicht und
erschlägt Mbanick eines Nachts heimtückisch. Maxoye rächt
sich an Yatma, indem sie ihn zum Mann nimmt, um ihn täglich
ihre Verachtung spüren zu lassen. Viele Jahre später wird sie ihm
allerdings vergeben und sich ein zartes Band zwischen den
beiden geknüpft haben. Doch Yatma ist dann ebenfalls ein
anderer geworden und bereut nicht nur seine Tat, sondern sucht
auch verzweifelt nach seinem inneren Frieden. Yatmas Totem ist
der Löwe, Mbanicks war der Hai. Eines Tages bittet Yatma, in
der Brandung des Meeres stehend, Mbanick um Erlösung. Eine
Antwort bekommt er nicht. Ein anderes Mal wendet er sich an
den Hexenmeister, um zu erfahren, wie er Buße tun kann, um
seinen Frieden wiederzuerlangen. Der Zorn des Meeres sei ihm 33
sicher, Vergebung gebe es nicht. Yatma möge sich für eine
bestimmte Zeit vom Meer fern halten und so dem Zorn zu
entgehen. Maxoye trug bereits Mbanicks Kind aus, als Yatma
diesen erschlug. Als Mbanicks Sohn schließlich erfährt, dass
Yatma seinen Vater erschlagen hat, fährt der kleine Junge im
Schmerz darüber aufs Meer hinaus. Yatma verwirft die
Ratschläge des Hexenmeisters, um dem kleinen Mbanick aufs
Meer zu folgen und ihn zu bergen. Er bemüht sich, seinen
Respekt vor sich selbst und vor dem kleinen Mbanick
zurückzuerlangen, indem er vor dessen Augen ins Meer springt
und wütend den toten Mbanick herausfordert, mit ihm zu
kämpfen.
Die Geschichte ist gerahmt durch den Erzähler, der als Sohn des
damaligen Griots Zeuge dieser Geschehnisse war. Der Film
endet mit seinen Worten, wonach alle drei bis zum Ende ihren
Leidenschaften gefolgt seien. Maxoyes Hass auf Yatma wandelt
sich schließlich in Liebe. Yatma liebt Maxoye und bricht immer
wieder die Regeln, um seiner Liebe gerecht zu werden. Er
verstößt gegen die Regeln der Gemeinschaft, indem er Mbanick
ermordet. Er verstößt schließlich auch gegen die Auflagen des
Hexenmeisters und fordert die höheren Kräfte zum Kampf
heraus. Auch Mbanick selbst hatte diese Kräfte herausgefordert
bzw. infrage gestellt, indem er allen Befürchtungen des Dorfes
zum Trotz und entgegen der Tradition nicht auf rituelle
Opfergaben, sondern auf Pragmatismus setzte und hinaus fuhr, 34
um zu fischen. Der Erzähler des Films verweist am Ende auf
genau diesen Umstand, dass alle drei ihr Verhalten nicht nach
äußeren Zwängen ausrichten, die traditionell normativ sind,
sondern ihren ganz eigenen Bedürfnissen folgen. Am
deutlichsten zeigt sich dies an der Fortführung der Würde des
Marabuts durch dessen Sohn Mbanick, der den heiligen,
verdorrten Baum fällt und damit die Möglichkeit des Wandels
im traditionellen Leben des Dorfes überdeutlich versinnbildlicht.
Ebenso zeigt sich auch eine Wandlungsfähigkeit der beiden
verbliebenen Protagonisten Maxoye und Yatma in Bezug auf
ihre Gefühle und ihre Verhaltensweisen.
Das Besondere an Sora Wades Film ist also, dass seine Figuren
in ihrem Verhalten nicht determiniert sind; weder durch die
gesellschaftlichen Normen, noch durch eine höhere Kraft, die in
der traditionellen Lebensweise des Fischerdorfes sehr präsent
scheint.
Das Meer habe ihnen vergeben, so berichtet der Griot am Ende
des Films. Auch Yatma glaubt bis zum Schluss an die
übernatürlichen Kräfte, welche er herausfordert. Während Wade
die gesamte Geschichte aus der Sicht eines Augenzeugen, des
noch jungen Griots, erzählen lässt, nimmt er nie eindeutig
Stellung dazu, in wieweit die mythischen Kräfte wirklich
existieren. Er nutzt nicht die Möglichkeiten des Mediums aus,
um dem Zuschauer das Phantastische im Film als ,objektive‘
Realität darzustellen. Es obliegt dem Zuschauer, zu 35
interpretieren, ob Mbanick den Nebel vertrieben hat oder ob er
nicht einfach nur fischen ging und es eben Zufall war, dass
zugleich der Nebel verschwand. Immerhin stellt Wade Mbanick
explizit als jemanden dar, der nicht an Zauber glaubt, sondern an
die Tatkraft der Menschen, sich selbst zu helfen. Es gibt keine
eindeutigen Zeichen, die die Existenz einer höheren Macht
belegen, aber auch keine, die eindeutig ihrer Existenz
widersprechen. Wir sehen nicht, dass das Meer etwas vergibt.
Wir sehen keine unwiderlegbare kausale Verbindung zwischen
dem eigenwilligen Verhalten der Menschen und einer direkten
Reaktion höherer Kräfte wie beispielsweise dem Meer auf ein
solches „Fehl“-Verhalten. Wir sehen nur zu den Worten des
Griots den Anblick eines mild wogenden Meeres in der
Schlusseinstellung. Auch die Opferrituale zur Vertreibung des
Nebels zeitigen keine erkennbare Wirkung. Wade zwingt durch
seine Erzählweise den Zuschauer nicht dazu, die traditionelle
Sicht der Dorfbewohner zu teilen und er macht auf diese
Offenheit des interpretatorischen Zugriffs auf die Geschehnisse
durch die konterkarierende Haltung Mbanicks, dem Sohn des
Marabuts, sehr deutlich aufmerksam.
Wenn Wade in seiner Darstellung der Geschehnisse nicht Partei
ergreift und die Möglichkeiten der Interpretation in der Schwebe
hält, könnte man das Ende des Films in Bezug auf Yatma
durchaus so interpretieren, dass er im Meer ertrinkt und damit
letztlich seiner gerechten Strafe zugeführt wird und hierin der 36
Preis der Vergebung liegt. Man kann aber das Ende auch im
Zusammenhang mit Yatmas nagendem Gewissen verstehen.
Sein mögliches Ertrinken ist die Folge seines Handelns aus der
Notwendigkeit heraus, Achtung vor sich selbst und damit seinen
inneren Frieden wiederzuerlangen. Denn Maxoye hatte ihm
bereits vergeben. So zeigt der Film, wie das Meer letztlich zur
Projektionsfläche für die Menschen wird: für Mbanick und die
ängstlichen Dorfbewohner im Nebel, wie schließlich auch für
Yatma. Und daraus erwächst eben die Freiheit und der
Handlungsspielraum dieser Menschen, ohne dass der
Naturglaube deshalb gänzlich abgelegt werden müsste. Jeder
hört eben die Nachrichten, die er hören will. Und: „Alle folgten
ihren Leidenschaften bis zum Ende.“40
Damit zeigt Wade eine traditionelle Dorfgemeinschaft, die nicht
in statischer Ordnung gefangen ist. Besonders über Mbanick
zeigt er die traditionelle Ordnung als eine, die dem Wandel in
dem Maße offen steht, wie auch ihre Protagonisten frei in ihrem
Verhalten agieren. Wade selbst hat sich dazu wie folgt geäußert:
„Was mich an dieser Geschichte vor allem interessiert hat, war
das Phänomen, dass eine Person nicht ein für alle Mal ein
vorweg bestimmtes Verhalten haben muss. Sie kann sich
entwickeln und oft widersprüchlich oder zwiespältig sein.“41
Ich habe den Inhalt des Films so ausführlich besprochen, um
damit zu zeigen, dass ein Film, der zunächst wie ein
herkömmlicher Dorffilm erscheint, welcher schnell im Verdacht 37
steht, übliche Stereotypen eines provinziellen, in Traditionen
erstarrten afrikanischen Landlebens zu reproduzieren, durchaus
das Klischee der Statik afrikanischer Traditionen gerade infrage
zu stellen vermag. Der Film zeichnet ein Bild der Offenheit und
Wandlungsfähigkeit menschlichen Verhaltens, ohne dafür
hybride, durch ein westliches Moderneverständnis geprägte
Szenarien eines urbanen afrikanischen Fortschritts bemühen zu
müssen. Er zeigt eine Dorfgemeinschaft, in der Menschen wie
Mbanick ihr Verhalten den Situationen und ihren konkreten
Bedürfnissen anpassen und sich aus eigener Kraft und Initiative
modernisieren können. Er zeigt insofern eine alternative
Begrifflichkeit von Moderne, als sie sich nicht auf dessen
„westliche“ Definition zurückzieht, und afrikanische Traditionen
gerade nicht als Gegenteil der Moderne versteht, sondern
Moderne als eine je spezifische Moderne: als gewandelte
Tradition. „Man sollte auch nicht vergessen, dass im Grunde
genommen der Gegensatz von ,modern‘ nicht ,traditionell‘ ist,
sondern ,altertümlich‘. Indem man jedoch afrikanische
Traditionen als Gegensatz zur Moderne versteht, wird ein neuer
Bezugsrahmen hergestellt, der die fortgesetzte Projektion eines
narzisstischen (ver)westlich(t)en Selbstbildes erlaubt.“42
Mbanick teilt seinem Vater am Sterbebett mit, dass er das
Wissen des Vaters ablehne. Dieser verlangt nicht von ihm, einer
bestimmten Tradition entsprechend zu handeln, er teilt ihm aber
mit, dass sein Wissen längst in ihn, in seinen Sohn übergegangen 38
sei. Man kann das auch so verstehen, dass Mbanicks Vater ihm
damit bedeutet, dass es nicht auf die Fortführung bestimmter,
konkreter Tradi t ionen ankommt, sondern auf den
identitätsstiftenden Mythos, der durch sich wandelnde
Traditionen weiter fortbesteht.
Wades Film kann man damit durchaus in der Tradition Filmen
von Yeelen sehen, der seinerseits die Erstarrung afrikanischer
Tradition kritisch hinterfragt und damit nicht auf die Tradition
als identitätsstiftendes Element setzt, sondern auf die
Kontinuität des Mythos, der dem Wandel der Tradition zugrunde
liegt; mit Filmen also die danach fragen, wie man Tradition für
die Gegenwart transformieren kann. Dies scheint ein weit
verbreitetes Missverständnis von solchen Filmen zu sein, dass
sie in Bezug auf die Identitätsdebatte als Aufruf verstanden
werden, afrikanische Tradition oberflächlich zu rekonstruieren
und nicht als Plädoyer für eine Transformation der Tradition in
etwas zeitgenössisch adäquates, das man Moderne nennen kann,
ohne dabei automatisch auf technologischen Fortschritt zu
rekurrieren.
Diawara behauptet die Notwendigkeit für Afrika, durch die
(„westliche“) Moderne gehen zu müssen43 und meint dabei eine
hybride Konstruktion, die Einflüsse aus dem Westen aufnimmt
und mit afrikanischer Tradition vermischt. Diese Haltung liegt
seiner Idee des neuen afrikanischen Films zugrunde, die eine 39
Hybrid i tä t in a l len Kategor ien des af r ikanischen
Gegenwartsfilms konstatiert. Nicht in der Hybridität als solcher,
sondern genau in dieser imperativen Formulierung einer
hybriden Kultur, hier am Beispiel des „neuen afrikanischen
Films“, liegt eine eurozentristische Haltung verborgen. Denn
eine unabhängige afrikanische Moderne kann dann nicht mehr
ohne den Einfluss eines westlichen Moderneverständnisses
gedacht werden. Ein Fortschritt Afrikas, der den Einfluss der
westlichen Moderne als obligatorisch betrachtet, hebt die
binären Gegensätze nicht auf, sondern bestätigt sie zunächst
einmal. Denn modern wäre ja demnach nur das, welches sich
der Welt bzw. dem ,Westen‘ öffnet und dessen Einflüsse
integriert. Dies schwingt unausgesprochen in einer imperativen
Hybridität immer mit; selbst dann, wenn sie auf eine
Transformation fremder Einflüsse abzielt. Eine alternative
Moderne zu formulieren muss darüber hinaus nicht bedeuten,
sich von der Welt abzuwenden. Aber wenn Freiheit und damit
auch die Freiheit, eine eigenständige Identität zu definieren aus
der Möglichkeit zu wählen hervorgeht, dann entsteht doch aus
der Ablehnung eines Exklusivrechts des „Westens“, Standards
für Moderne zu definieren, genau diese Freiheit zur eigenen
unabhängig formulierten Identität.
Das Besondere des afrikanischen Gegenwartsfilms scheint
entsprechend gerade in dieser Vielfalt zu bestehen, wie sie
Thackway beschrieben hat: eine diversifizierte Filmkultur, in der 40
Platz ist für hybride Identitätsbilder, wie sie ein Bekolo entwirft
und Dorffilme, die alternative moderne afrikanische Identitäten
behaupten, indem sie ein nicht westlich geprägtes Dorfleben
nicht automatisch als Sackgasse in erstarrte Traditionen
begreifen. Erst durch beide zusammen wird letztlich das reale
Spektrum afrikanischer Lebensweisen zwischen weltoffenen,
urbanen Zentren und traditionellen Lebensweisen gespiegelt, mit
der Aussicht, nicht auf ideologische Haltungen akademischer
Trends reduziert zu werden. Im Ideal postkolonialer Realität
wird auch die hybride Identität erst durch die Möglichkeit ihrer
Wahl zu einer selbstbestimmten Identität. Deshalb sollten auch
ältere, aber immer noch vitale Kategorien wie der Dorffilm, die
eine andere als die westlich-geprägte urbane Welt Afrikas
repräsentieren, nicht geringer geschätzt werden als jene
hybriden Stile.
Fazit
Die hybriden Filme vermögen afrikanische und „westliche“
Kultur miteinander zu vermischen und in einem kreativen
Vorgang etwas neues Drittes daraus zu gestalten. Manche wie
Bakupa-Kanyinda oder Diawara sehen darin einen neue
afrikanische Identität repräsentiert, die sich dem „Westen“
öffnet, ohne sich darin zu verlieren. Andere wie Keita fragen
nach dem verbleibenden Sinn von Zuschreibungen wie
„afrikanisch“ angesichts der globalen Verflechtungen. Ihr Credo, 41
sich von allem das zu nehmen, was brauchbar erscheint, führt zu
Filmen, in den Elemente afrikanischer Tradition Platz finden
und interagieren mit einem westlich-urbanen Lebensstil.
Dennoch sollte die Hybridität nicht dazu verleiten, in ihr die
umfassende Repräsentation einer afrikanischen Vielfalt
unterschiedlichster Lebensweisen gespiegelt zu sehen. Solche
Filme repräsentieren doch zunächst nur das Leben jener in
urbanen afrikanischen Zentren, die dem „westlichen“ Lebensstil
aufgeschlossen gegenüber stehen. Jener Teil der Afrikaner, die in
weitgehend traditionsgebundenen ländlichen Regionen leben,
oder wie der Film La vie sur terre anschaulich zeigt, nahezu
abgekoppelt von der Moderne des 21. Jahrhunderts sind, dürfte
sich in Filmen eines Bekolo kaum repräsentiert fühlen.
Die kritische Lektüre von Diawaras Darlegungen zum
afrikanischen Gegenwartsfilm haben gezeigt, dass es aber in der
Tat divergente Filmtraditionen in Afrika jenseits der hybriden
Avantgarde gibt, die in der Lage sind, kritisch aber differenziert
solche non-hybriden Lebensweisen ins Bild zu setzen. Das
Genre des Dorffilms erweist sich dabei auch in der Gegenwart
noch als äußerst relevant. Denn entgegen allen Vorurteilen, die
diesem immer wieder entgegen gebracht wird, ist er durchaus in
der Lage, Identität zu formulieren, welche die Stereotypisierung
Afrikas als einer zum Stillstand verurteilten Kultur überwindet,
indem er einen westlich geprägten Moderne-Begriff nicht als
Gegensatz zur afrikanischen Tradition versteht, also dieses 42
Begriffspaar als zu überwindende Dichotomie betrachtet,
sondern Moderne als je spezifische Wandlung einer spezifischen
Tradition versteht. Dies als Chance sehen zu können, war ein
Anliegen dieser Arbeit.
43
Literatur
+ Diawara, Manthia, Neues afrikanisches Kino - Ästhetik und
Politik, München, 2010
+ Akudinobi, Jude, Tradition versus Moderne - Scheingefechte,
in: Gutberlet, Metzler, Afrikanisches Kino, Bad Honnef, 1997
+ Thackway, Melissa, Africa Shoots Back - Alternative
Perspectives in Sub-Saharan Francophone African Film,
Oxford, 2003
Sekundärliteratur
+ Balet, Olivier, Afrikanische Kinowelten, Bad Honnef, 2001
+ Gutberlet, Marie-Hélène, Auf Reisen - Afrikanisches Kino,
Frankfurt am Main, 2004
+ Gutberlet, Marie-Hélène; Metzler, Hans-Peter, Afrikanisches
Kino, Bad Honnef, 1997
+ Kaboré, Gaston, L‘image de Soi, Un Besoin Vital, in: FEPACI
(ed.) L‘Afrique et le Centenaire du Cinema, Paris/Dakar, 1995
+ Rosenstein, Johannes, Die schwarze Leinwand - Afrikanisches
Kino der Gegenwart, Stuttgart, 2003
44
1 Diawara, Manthia, Neues afrikanisches Kino - Ästhetik und Politik, München, 20102 Filmfestival African Screens im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 20083 Diawara, 2010, S.2024 Thackway, Africa Shoots Back - Alternative Perspectives in Sub-Saharan Francophone African Film, Oxford, 20035 Thackway, 2003, S.36 ebd.7 ebd., S.9
45
8 ebd., S.109 Thackways Darstellung der Dorffilme: vergleiche ebd., S. 1110 ebd., S.1111 ebd., S.1212 ebd.13 ebd., S.414 Der Begriff der Hybridität wird von Diawara nicht explizit benutzt, findet zur sprachlichen Vereinfachung in dieser Arbeit aber Verwendung und bezieht sich in diesem in erster Linie auf Diawaras Ausführungen zu dem Sachverhalt, den er auf die Formel der ,Überwindung binärer Gegensätze zwischen Afrika und Europa‘ bringt. 15 Diawara, 2010, S. 198-19916 ebd., siehe S.94-95, aber auch 199 ff17 Guilde des Cinéastes18 Diawara, 2010, S.12019 ebd., S.20020 ebd., S.12221 ebd., S. 12522 ebd., S. 127 23 Darstellung Bekolos über seine Arbeit: siehe ebd., S.20424 ebd., S.12725 Dabei handelt es sich um Filme, die vom Sender Arte ohne „künstlerische Einflussnahme“ in Auftrag gegeben wurden.26 Diawara, 2010, S.10527 ebd., S.10128 ebd., S.14229 ebd., S.14430 ebd., S.14331 siehe ebd., S.144 (Solche Formulierungen werfen Fragen auf. Wenn es sich so verhält, warum spricht Diawara dann überhaupt noch über die anderen Kategorien...)32 ebd., S.14433 ebd., S. 14634 ebd., S.14935 ebd., S. 14736 ebd.37 ebd., S.14838 Blood Diamond, USA, D, 2006, Regie: Edward Zwick (Diawara nennt diesen Film als Negativbeispiel für den fremden Blick auf Afrika. siehe Diawara, 2010, S.)39 Die Darstellung dieser Situation und ihrer Auflösung nimmt einen beträchtlichen Umfang im Film ein.40 Worte der Griot-Figur am Filmende
46
41 am 14.4.2011: https://www.trigon-film.org/de/shop/DVD/Le_prix_du_pardon_-_Ndeysaan42 Akudinobi, Jude, Tradition versus Moderne - Scheingefechte, in: Gutberlet, Metzler, Afrikanisches Kino, Bad Honnef, 1997, S.17643 Diawara, 2010, S.127