Die Upanishaden sind Inbegriff altindischer Weisheit und Philoso-
phie. Sie weisen den Weg zu der Erkenntnis, daß das eigene Selbst
mit dem Urgrund der Realität identisch ist. Wer dies erkennt,
wird vom Kreislauf der Leiden und der Wiedergeburten befreit.
Wegen ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung wurden die Upa-
nishaden mit dem Neuen Testament verglichen. Ihre philosophi-
schen Dialoge lassen an Platon denken. «Aus jeder Seite treten uns
tiefe, ursprüngliche Gedanken entgegen, während ein heiliger
Ernst über dem Ganzen schwebt. ... Es ist die belohnendste und
erhebendste Lektüre, die auf der Welt möglich ist», bekannte
Schopenhauer, «sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird
der meines Sterbens sein.» Die vorliegende Auswahl in der klassi-
schen Übersetzung von Karl Friedrich Geldner versammelt die
eindringlichsten Texte aus dem umfangreichen Werk, das etwa seit
der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends über einen lan-
gen Zeitraum entstanden ist.
KARL FRIEDRICH GELDNER (1 852-1929) war Professor für Indolo-
gie in Berlin und Marburg. Er hat zwanzig Jahre an der kritischen
Ausgabe des Avesta, des heiligen Buchs der Parsen, gearbeitet, be-
vor er sich der erst posthum in Harvard veröffentlichten Überset-
zung des Rigveda, der Sammlung altindischer Hymnen, wid-
mete — nach wie vor ein Standardwerk. Seine einnehmende
Übersetzung von ausgewählten Partien der Upanishaden erschien
erstmals 1911.
AXEL MICHAELS (geb. 1949) ist Professor für Klassische Indologie
an der Universität Heidelberg und gilt «international als einer der
kreativsten Köpfe seiner Disziplin» (Die Zeit). Bei C. H. Beck er-
schienen von ihm u. a. «Der Hinduismus» (Sonderausgabe 2006),
«Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der As-
kese» (2004) und «Jesus oder Buddha» (mit U. Luz, 2002) .
Die Weisheitder Upanishaden
Aus dem Sanskrit
von Karl Friedrich Geldner
Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Axel Michaels
dtvC.H.Beck
Dezember 2006Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH&Co.KG,
München
© 2006 Verlag C.H.Beck oHG dtv, MünchenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen
Umschlagentwurf David Pearson, LondonPrinted in Germany
ISBN- IO: 3 423 34379 6ISBN-13: 97 8 3 42 3 34379 4
wunv.dtv.de
Inhalt
I. Die Hauptsätze der Upanishaden
7
II. Die Brahman-Atman-ErkenntnisI0
III. Die falsche und die wahre Brahmanburg20
IV. «Das bist Du» — Die Lehren des Uddalaka Aruni
33
V. «Frei von Freud und Leid» — Yajnavalkyas Lehren
46
VI. Könige als Lehrmeister
7 1
VII. Die alte und die neue Wissenschaft
75
VIII. Tod und Seelenwanderung
77
IX. Die Erlösung
8 4
X. «Von wem getrieben fliegt der Gedanke?» —
Die Kena-Upanishad
89
XI. Das große Rätsel von Tod und ewigem Leben —
Die Katha-Upanishad
94
Nachwort
von Axel MichaelsI13
Abkürzungen127
Literaturhinweise128
Stellennachweise und Anmerkungen131
Verzeichnis der übersetzten Stellen150
Glossar
153
I.
Die Hauptsätze der Upanishaden
1
«Das bist du»
2
«Ich bin das Brahman»
Im Anfang war nämlich das Brahman diese Welt. Das wußte
nur sich selbst: ich bin das Brahman. Dadurch wurde es zum
Weltall. Wer immer unter den Göttern es erkannte, der
ward zu ihm, desgleichen unter den Rishis und Menschen.
Das erschauend stimmte der Rishi Vamadeva das Lied an:
«Ich ward Manu und die Sonne» (Rigveda 4.26.1). Darum
wird auch heutigen Tages, wer also weiß: «ich bin das Brah-
man», zu diesem Weltall. Auch die Götter haben keine
Macht über ihn, daß er es nicht werde, denn er wird ja zum
eignen Selbst dieser.
3«Das Brahman ist dieser Atman»
Dieses Brahman hat nichts vor ihm und nichts nach ihm,
nichts was in ihm oder was außer ihm wäre. Das Brahman
ist dieser Atman, der sich als das All fühlt.
7
4
«Das ist deine Seele, der innere Lenker, der Unsterbliche»
Der in der Erde ruht und doch ein anderer als die Erde ist,
von der die Erde nichts weiß, dessen Körper die Erde ist,
der die Erde innerlich lenkt, das ist deine Seele, der innere
Lenker, der Unsterbliche.
5
«Er, der hier im Menschen und der dort in der Sonne ist,
der ist Einer»
6
«Erkenntnis ist die Wurzel, das Brahman ist Erkenntnis»
«Wer ist der, den wir uns als Atman vorstellen? Welcher von
beiden (der allgemeine oder der individuelle) ist der At-
man? Womit man die Form (Farbe) sieht oder womit man
den Ton hört oder womit man Gerüche riecht oder womit
man die Sprache gliedert oder womit man Süßes und Nicht-
süßes unterscheidet (i)?
Dieses Herz und Denken, dieses Bewußtsein, Wahrneh-
men, Verstehen, Erkennen, Verstand, Einsicht, Entschlos-
senheit, Nachdenken, Bedacht, Trieb, Erinnerung, Ent-
schließung, Wunsch, Lebensgeist, Liebe, Wille, alles das
sind nur Ausdrücke für die Erkenntnis (2) .
Er (der wahre Atman) ist Brahman, er ist Indra, Prajapati,
er ist all diese Götter, und diese fünf Elemente: Erde, Luft,
Raum (als feinste Substanz gedacht, der Äther), Wasser,
Licht und was sozusagen das Kleinzeug ist, die unterschied-
lichen Keime: die eigeborenen, die als Leibesfrucht gebore-
nen, die schweißgeborenen und die hervorgesprossenen
8
Rosse, Rinder, Menschen, Elefanten, alles Lebendige, was
kriecht und fliegt und was unbeweglich ist, alles das wird
von Erkenntnis gelenkt, wurzelt in der Erkenntnis: Die
Welt wird von Erkenntnis gelenkt, Erkenntnis ist die Wur-
zel, das Brahman ist Erkenntnis (d. h. nur Gegenstand der
Erkenntnis) (3).
7
«Das Brahman ist Erkenntnis, Wonne»
8
«Das Brahman ist Wahrheit, Erkenntnis ohne Ende»
Der Brahmanwissende erlangt das Höchste. Davon spricht
folgende Strophe:
Das Brahman ist Wahrheit, Erkenntnis ohne Ende. Wer
das Brahman kennt, das im Verborgenen ruht, im höchsten
Himmelsraum, der erlangt alle Wünsche zugleich mit dem
redekundigen Brahman.
9
«Eben dieser Geist (Purusha) ist das Brahman»
10
«Wahrlich, das Brahman ist dieses All»
11
«Nur Seiendes war im Anfang diese Welt, o Lieber, nur Eins
ohne ein Zweites»
II.
Die Brahman-Atman-Erkenntnis
Das Brahman
Wenn einer überzeugt ist, daß das Brahman ein Nonsens
sei, so ist er selbst nur ein Nonsens. Wenn er aber überzeugt
ist, daß das Brahman ist, von dem weiß man dann, daß er
ein Seiender ist.
Woraus diese Wesen geboren werden, durch den die gebo-
renen [Wesen] leben, in das sie verscheidend eingehen, das
suche zu erkennen, das ist das Brahman!
Das Brahman ist Speise, — das Brahman ist Odem — das
Brahman ist Denken — das Brahman ist Erkennen, — das
Brahman ist Wonne.
Vor dem die Worte umkehren samt dem Denken, ohne es
zu erfassen, wer die Wonne des Brahman kennt (die in sei-
ner vollen Erkenntnis liegt), der fürchtet sich niemals
mehr.
Nun die Veranschaulichung: Nicht ist es nicht so; denn es
gibt außer diesem nichts anderes Höheres, von dem man sa-
gen könnte: es ist nicht so. Und sein Name ist: die Wahrheit
der Wahrheit.
10
2
Die coincidentia oppositorum
Unbeweglich ist das Eine und doch schneller als der Ge-
danke, auch die Götter holen es nicht ein, wenn es voraus-
eilt. Stillstehend überholt es die anderen Läufer, der Wind-
hauch (Atman) wirkt in ihm das Werk.
Es bewegt sich und bewegt sich auch nicht, es ist fern und
auch nahe, es ist in allem diesem enthalten und zugleich
außerhalb von all dem.
Ohne Füße und ohne Hände läuft er und greift er (der At-
man oder der Purusha beziehungsweise das Brahman als
Person oder Geist gedacht), ohne Augen sieht er und hört
ohne Ohren. Er weiß alles Wißbare, und es gibt keinen, der
ihn kennt. Ihn nennen sie den großen uranfänglichen Geist.
3Die zwei Formen des Bratiman:
Als Erscheinungswelt und Ding an sich
Das Brahman hat fürwahr zwei Formen, eine körperliche
und eine unkörperliche, eine sterbliche und eine unsterbli-
che, eine stehende (bleibende) und eine gehende (wandel-
bare), die reale und die jenseitige.
4
Der Atman (Seele, Weltseele) = Brahman
Denn dieses alles ist Brahman, das Brahman ist dieser At-
man, dieser Atman ist vierfach (nämlich: der wachende,
träumende, im Tiefschlaf ruhende und der absolute) .
II
Kein inneres Bewußtsein, kein Bewußtsein der Außenwelt
habend, ohne dieses beiderseitige Bewußtsein, nicht durch
und durch Bewußtsein, nicht bewußt, nicht unbewußt, un-
sichtbar, nicht mit Worten auszudrücken, unfaßbar, unbe-
stimmbar, unvorstellbar, unbeschreibbar, ganz in der Idee
des eignen Selbstes aufgehend, die Erscheinungswelt austil-
gend, stillzufrieden, glücklich, zweitlos, das betrachten sie
als die vierte (höchste) Stufe, das ist der Atman, den soll
man erkennen.
«Aus Denken bestehend, im Odem verkörpert, lichtfarbig,
der Gegenstand der wahrhaften Wünsche, ätherisch, allwir-
kend, allwünschend, allriechend, allschmeckend, im All
aufgehend, ohne viele Worte, nicht eifernd (2), das ist meine
Seele im Herzen, kleiner als Reis oder Gerste oder Senf
oder Hirse oder ein Hirsekorn, — das ist meine Seele im In-
nern des Herzens, größer als die Erde, größer als das Luft-
reich, größer als der Himmel, größer als diese Welten (3),
allwirkend, allwünschend, allriechend, allschmeckend, im
All aufgehend, ohne viele Worte, nicht eifernd. Das ist
meine Seele im Innern des Herzens, diese ist das Brahman.
In diesem (Atman) werde ich von hinnen scheidend aufge-
hen. Wem das zur Gewißheit werden sollte, dem kommt
kein Zweifel mehr», so sprach Shandilya (einer der alten
Upanishadlehrer) (4) .
«Der Überfluß der ist Freude; nicht hat man am Mangel
Freude. Nur der Überfluß ist Freude. Den Überfluß
muß man zu erkennen suchen», (sagt der Weise Sanatku-
mara) .
I2
«Ich wünsche, Hochwürden», (sagt Narada), «den Über-
fluß zu erkennen» (23) .
«Wo man nichts anderes sieht, nichts anderes hört, nichts
anderes erkennt, da ist Überfluß. Und wo man etwas ande-
res sieht, etwas anderes hört, etwas anderes erkennt, da ist
Mangel. Der Überfluß ist das Unsterbliche, der Mangel das
Sterbliche.»
«Worauf, Hochwürden, ist der (Überfluß) gegründet?»
«Auf seine eigene Größe oder auf gar keine Größe. Als
Größe bezeichnen sie in dieser Welt Rind und Roß, Elefan-
ten und Gold, Diener und Frauen, Ländereien und Woh-
nungen. Ich sage nicht so, sage nicht so, also sprach (der
Lehrer), denn eins ist auf das andere gegründet (24) . Er (der
wahre Überfluß) ist unten, er ist oben, er ist hinten, er
vorne, er ist rechts, er links. Er ist dieses All. Nun seine Ver-
anschaulichung an der Ich-Vorstellung: Ich bin unten, ich
oben, ich hinten, ich vorne, ich rechts, ich links. Ich bin
dieses All. Nun seine Veranschaulichung am Atman: Der
Atman ist unten, der Atman oben, der Atman ist hinten,
der Atman vorne, der Atman ist rechts, der Atman links.
Der Atman ist dieses All. Der also Schauende, also Den-
kende, also Erkennende freut sich am Atman, spielt mit
dem Atman, paart sich mit dem Atman, hat seine Lust am
Atman. Er wird sein eigener Herr, bewegt sich nach Wunsch
in allen Welten. Die ihn aber anders als so verstehen, die
werden abhängig, haben nur eine vergängliche Welt und
können sich nicht in allen Welten nach Wunsch bewegen
(25). Für den nämlich, der also schaut, also denkt, also er-
kennt, kommt aus dem Atman der Lebenshauch, aus dem
Atman die Hoffnung, aus dem Atman die Erinnerung, ...
1 3
aus dem Atman dieses All. Darüber gibt es einen Merk-
vers:
Der Schauende schaut nicht den Tod, nicht Krankheit,
nicht Leidwesen. Der Schauende schaut ja alles, erlangt
alles vollständig... (26).
Er ist der ungesehene Seher, der ungehörte Hörer, der un-
gedachte Denker, der unerkannte Erkenner. Nicht gibt es
außer ihm einen anderen Seher, einen anderen Hörer, einen
anderen Denker, einen anderen Erkenner: Er ist deine
Seele, der innere Lenker, der unsterbliche. Alles andere au-
ßer diesem ist hinfällig.
Dieses (All) war damals noch ungeschieden, es schied sich
nach Namen und Gestalt: so und so heißt er, die und die
Gestalt hat er. Auch heutigen Tages wird dies (alles) nach
Namen und Gestalt geschieden: so und so heißt er, die und
die Gestalt hat er. Er (der Atman als Weltseele und Einzel-
seele) ging in dieses ein bis in die Nagelspitzen. Wie wenn
ein Schermesser im Futteral steckt, oder das Feuer in dem
Feuergehäuse (dem Reibholz), so sieht man ihn nicht, denn
er ist nicht der Ganze. Atmend heißt er Atem, sprechend
Rede, sehend Auge, hörend Ohr, denkend Verstand. Das
sind alles nur Namen für seine Tätigkeit. Wer davon nur das
eine oder das andere sich vorstellt, der kennt (ihn) nicht,
denn er ist es nicht als der Ganze, sondern nur mit je einem
Teil davon. Nur als Atman soll man sich ihn vorstellen, denn
in diesem werden alle jene zur Einheit. Was dieser Atman
ist, der ist die Wegspur zum All (d. h. der Schlüssel und die
Lösung des Welträtsels), denn durch ihn versteht man dieses
z4
All, gerade so wie man durch die Fußspur etwas (Versteck-
tes oder Verlorenes) auffindet. Ruhm und klangvollen Na-
men erlangt, wer solches weiß (7) .
Denn dieser Atman ist etwas lieberes als der Sohn, etwas
lieberes als Geld, etwas lieberes und dem Herzen näherste-
hendes als alles andere. Wenn man von einem, der einen an-
deren als den Atman für lieb erklärt, sagte: er wird noch ein
Liebes beweinen, so könnte es wirklich so geschehen. Nur
den Atman soll man sich als sein Liebes vorstellen. Wer nur
den Atman als sein Liebes sich vorstellt, dem wird nie ein
Liebes wegsterben» (8) .
5
Im eignen Innern zu erkennen
Wie Öl in den Sesamkörnern, wie Butter in der Butter-
milch, wie Wasser in den Flüssen und Feuer in den Reib-
hölzern, so wird jener Atman im eignen Atman erfaßt, wer
nach ihm mit Wahrhaftigkeit und heißem Bemühen
forscht.
6
Einheit in und mit Atman-Brahman
Wer aber alle Wesen nur im Atman (im Selbst) sieht und in
allen Wesen den Atman (das Selbst), vor dem sucht er (der
Atman) sich nicht mehr zu verstecken (6). In dem alle We-
sen zum eignen Selbst des Erkennenden geworden sind,
welche Täuschung, welchen Schmerz sollte es für den ge-
ben, der in ihm die Einheit erschaut (7)?
IS
7
Keine anderen Götter neben Atman!
Und wer eine andere Gottheit (außer dem Atman, dem
Selbst) verehrt, indem er denkt: jener (Gott) ist ein anderer
und ich bin ein anderer, der weiß nicht Bescheid. Er ist für
die Götter wie ein Stück Vieh. So wie viele Haustiere dem
Menschen zum Nutzen gereichen, so gereicht jeder ein-
zelne Mensch den Göttern zum Nutzen. Wenn auch nur
ein Stück Vieh weggenommen wird, so ist das unange-
nehm, um wie viel mehr wenn viele! Darum ist jenen (den
Göttern) das nicht angenehm, daß die Menschen dieses (das
Geheimnis des Atman) wissen.
8
Bratiman-Atman ist der Gott (Ishvara)
Die einen Weisen nennen es Natur, andere gleichfalls irrend
nennen es Zeit. Dies ist vielmehr des Gottes Allmacht, wo-
durch dieses Brahmanrad (der Kreislauf: Samsara) in der
Welt sich umdreht (6.1).
Von dem dieses All ja ewig umschlossen ist, er ist der
(Welt-) Intellekt, der Zeitmacher, mit den Gunas behaftet,
allwissend. Von ihm regiert, entfaltet sich das Werk (die em-
pirische Welt) als Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther: so
muß man es denken (6.2) .
Nachdem er dieses Werk getan, zieht er es ein, wieder
eins werdend mit dem Sein des Seins (dem absoluten
Sein) ... (6.3) .
Nicht gibt es in der Welt einen Herren und Gebieter über
ihm. Ohne Kennzeichen ist er; er ist die Ursache (der Welt),
i6
der oberste Lenker der Sinneswerkzeuge. Nicht hat er einen
Erzeuger und Oberherrn (6.9) .
Der wie eine Spinne mit seinen aus dem Urstoff ent-
standnen Fäden sich von selbst (in die Welt) einspinnt, der
möge uns das Aufgehen in Brahman erwirken (6.10) .
Wenn die Menschen sich einmal den Raum wie ein Fell
umlegen werden (d. h. wenn sie zu ätherischen Wesen ge-
worden sind, oder wenn einmal das Unmögliche möglich
sein wird), dann wird auch ohne den Gott erkannt zu ha-
ben, das Ende des Leides da sein (6.20).
Alles trägt der Gott in sich vereint: das Vergängliche und
Unvergängliche, das Entfaltete und Unentfaltete. Die Seele
ohne Gott bleibt gebunden, weil sie ein Genießer (der an
der Sinnlichkeit hängt) bleibt. Wer den Gott erkannt hat,
wird von allen Banden erlöst (1.8) .
Wer den Gott erkannt hat; streift alle Fesseln von sich und
mit den geschwundenen Leiden streift er (Wieder) geburt
und Tod ab (I.11).
Ihn, der höher als dieser steht, das höchste Brahman, den
großen, Leib für Leib in allen Wesen verborgenen (als Ein-
zelseele), den einen Umhüller des Alls, den Gott erkannt
habend, wird man unsterblich (3.7).
Ich kenne diesen Geist, den großen, den sonnenfarbigen
jenseits des Dunkels (der Unwissenheit). Wer den erkannt
hat, entrinnt dem Tod: es gibt keinen andern Weg zum
Vorwärtskommen (3.8).
17
Es gibt nichts über ihm, nichts unter ihm, nichts kleineres,
nichts größeres. Fest wie ein Baum steht der Eine im Him-
mel. Von diesem Geist ist das Weltall erfüllt (3.9)
9Atman-Brahman (der Gott) und die Welt
In dem der Himmel und die Erde und das Luftreich einge-
woben sind und das Denken samt allen Lebensorganen, ihn
kennet ihr als die einzige Seele, gebt die anderen Worte auf;
er ist die Brücke zur Unsterblichkeit.
Wie die Spinne (die Fäden) ausspinnt und einzieht, wie auf
der Erde die Kräuter hervorwachsen, wie aus dem Men-
schen, so lang er lebt, die Haupt- und Leibeshaare, so wächst
aus dem Ewigen diese ganze Welt hier hervor.
10
Die empirische Welt ist nur eine Illusion
Man wisse, daß die Natur nur Blendwerk ist und der große
Gott der Blender. Aber die ganze Welt ist erfüllt von Ele-
menten, die nur Teilchen von ihm sind.
Die Vielheit, falls sie überhaupt bestünde, würde ohne
Zweifel aufhören (wenn die wahre Erkenntnis im Men-
schen zum Durchbruch kommt). Diese Zweiheit (Gott und
die Welt) ist (aber) nur ein Blendwerk, im höchsten Sinne
gibt es keine Zweiheit (17).
Die Doppelheit (Gott und Welt) würde aufhören (wenn
die wahre Erkenntnis im Menschen zum Durchbruch
kommt), wenn sie von einem behauptet wird. Jene Behaup-
Iô
tung stammt aus dem Unterricht (ist nur der besseren An-
schaulichkeit halber aufgestellt). Wenn (das Brahman) er-
kannt ist, gibt es keine Zweiheit mehr (i8).
III.
Die falsche und die wahre Brahmanburg
Das Thema dieses achten und letzten Kapitels der Chandogya-
Upanishad wird in 8.1.1 und 8.1.E angegeben und in 8.7.1 noch-
mals zusammengefaßt. Ähnlich der Kena-Upanishad (Kapitel X)
zerfällt es in zwei Teile, einen mehr theoretischen über die Wege
und Ziele der Brahman-Atman-Erkenntnis und eine Geschichte
(7-12), in der die falsche und die wahre Atman-Erkenntnis veran-
schaulicht wird.
z . Was nun in dieser Brahmanburg (dem Leib) diese kleine
Lotusblume (das Herz) als seine Behausung und darin der
kleine Raum ist, was darin enthalten ist, das soll man su-
chen, das fürwahr soll man kennen lernen (1) .
Wenn (die Schüler) ihn fragen sollten: «Was in dieser
Brahmanburg diese kleine Lotusblume als seine Behausung
ist und darin der kleine Raum ist, was befindet sich
dort, das man suchen, das man fürwahr kennen lernen soll»
(2)?
So soll er sagen: «So groß nämlich dieser (Welt)raum ist,
so groß ist dieser Raum im Herzen. In ihm sind beide,
Himmel und Erde vereinigt, beide, Feuer und Luft, beide
Sonne und Mond, Blitz und Gestirne, und was einer
hienieden hat und was er nicht hat, das alles ist in ihm ver-
einigt» (3).
Wenn sie zu ihm sagen sollten: «Wenn dies alles in der
Brahmanburg vereinigt ist, und alle Geschöpfe und alle
20