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>Die Psychologie des Kindes< ist eines der Hauptwerke Jean Piagets.Er untersucht hier, zusammen mit Bärbel Inhelder, das geistigeWachstum des Kindes bis zu dem Zeitpunkt, wo das Individuumsich etwa im 16. Lebensjahr in die Erwachsenengesellschaft einfügt.Piaget und Inhelder zeigen die stufenweise Entwicklung der Intelli-genz: von den spontanen und totalen Aktivitäten des Organismusund der reflexartigen Differenzierung dieser Aktivitäten bis hinzum formalen Denken, dessen Entwicklung etwa im 12. Lebensjahrbeginnt und während des ganzen späteren Lebens andauert.Jean Piaget hat durch die Ergebnisse seiner Forschung ein neuesBild vom Kind geschaffen. Seine Untersuchungen über die Ent-wicklung des menschlichen Erkennens haben das Selbstverständnisdes modernen Menschen auf neue Grundlagen gestellt, denn dasKind erklärt ebenso den erwachsenen Menschen »wie der erwach-sene Mensch das Kind, denn der Erwachsene erzieht zwar dasKind durch mannigfaltige Mittel sozialer Weitergabe, doch jederErwachsene, auch der schöpferische, hat als ein Kind begonnen — invorgeschichtlicher Zeit ebenso wie heute« (Jean Piaget).

Jean Piaget, geboren 1896 in Neuchâtel/Schweiz, war zwischen1926 und 1954 Professor für Psychologie in Neuchätel, Genf undLausanne. Bis 1967 war er Direktor des »Internationalen Erzie-hungsbüros«, ab 1932 leitete er auch das »Institut Jean-JacquesRousseau«. Er starb am i6. September 198o in Genf. Piaget wareiner der Hauptvertreter der Entwicklungspsychologie (GenferSchule); er befaßte sich vor allem mit der Entwicklung der kogniti-ven Strukturen beim Kind sowie mit erkenntnistheoretischenFragen.Bärbel Inhelder wurde 1913 in St. Gallen/Schweiz geboren. Sie stu-dierte Biologie, Pädagogik und Psychologie und wurde zur wich-tigsten Mitarbeiterin von Jean Piaget. Sie ist seit 1948 Professorinfür Kinderpsychologie an der Universität Genf.

Jean Piaget/Bärbel Inhelder

Die Psychologie des Kindes

Aus dem Französischen vonLorenz Häfliger

Klett-CottaDeutscher Taschenbuch Verlag

Von Jean Piagetsind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:Das Weltbild des Kindes (3 5004)

Ungekürzte AusgabeJuni 1986 (dtv 15021)9. Auflage Februar 2004Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww_ d tv_ cl

1996 Presses Universitaires de France, ParisTitel der französischen Originalausgabe:La psychologische de l'enfant

O der deutschsprachigen Ausgabe:1972 Walter Verlag AG, OltenISBN 3-S3o-65003-xi98o J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 16S9,StuttgartISBN 3-596-26339-5Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: >Junge mit Hund< (1905) von Pablo Picasso(O Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 1 997)Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany • ISBN 3-423-3 5030-x

Inhalt

Vorwort .................................... 9

Erstes Kapitel: Die senso-motorische Stufe . . . . . . .. . . . . . 13

I. Die senso-motorische Intelligenz . . . .. . . . . . .. . . . . . 15

i. Reiz-Reaktion und Assimilation . . .. . . . . . . . ... . . 16

2. Das Stadium I . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 . Das Stadium II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i g

4. Das Stadium III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zo

S Die Stadien IV und V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

6. Das Stadium VI . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

II. Die Konstruktion des Wirklich en . . . . . . . . . . . . . . . . 23

i. Der permanente Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 24

2. Der Raum und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 53. Die Kausalität . . . . . . . . . . . . 26

III. Der kognitive Aspekt der senso-motorischen

Reaktionen . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

IV. Der affektive Aspekt der senso-motorischenReaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

i. Der ursprüngliche Adua lismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

2. Intermediäre Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 z3. Die Objektbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Zweites Kapitel: Die Entwicklung

der Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

I. Wahrnehmungs-Konstanzen und Wahrnehmungs-

Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

i. Die Formkonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Die Größenkonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3. Permanenter Gegenstand und Wahrnehmung . . . . .. . . 42

4. Die Wahrnehmungs-Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . • 43II. Die Feldeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

III. Die Wahrnehmungs-Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

IV. Wahrnehmungen, Begriffe und Operationen . . ... . . . . . 52

i. Methoden ................ .............. 5 2

2. Begriffe und projektive Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . 533. Wahrnehmungskonstanzen und operative Erhaltungen . . S44. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . .

Drittes Kapitel: Die semiotische oder symbolische Funktion . . . 59

I. Die semiotische Funktion und die Nachahmung . . . . . . . . 61

i. Das Auftreten der semiotis chen Funktion . .. .. . . . . . . 622. Die Rolle der Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 . Symbole und Zeichen . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . 65

II. Das symbolische Spiel . . . ..... . . . . . .... . . . .. . . 66III. Die Zeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70IV. Die inneren Bilder . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

i. Die Probleme des Bildes . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . 752. Zwei Typen von Bildern . .... . . . . . . . . . . .. .. . . 763. Die Kopien-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774. Bewegungs- und Transf ormationsbilder . . . . . . . . . . . . 79S. Bilder und Operationen . . . . . . . ... . . . . . . . . .. . . 82

V. Das Gedächtnis und die Struktur derBild-Erinne . . . . . . . . . .. . . . . . ... . . . .. . . 84

........ .VI. Die Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88i. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 8 82. Sprache und Denken . .. . . . .. . . . . . . . .... . ... . 893. Sprache und Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . ... . go4. Sprache und Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92S. Schlußfolgerung . . ... . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . 94

Viertes Kapitel: Die »konkreten« Denkoperationen und dieinterindividuellen Beziehungen ... . . . . . . . . . . . .. . .. . . 9 S

I. Die drei Stufen beim Ubergang von der Aktion zur Opera-tion .................................... 97

II. Die Entstehung der »konkreten« Operationen . . . . . . . . . iooi. Erhaltungsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . i o i2. Die konkreten Operationen . . . . . . . . . . . . . .. . . . . P033 . Die Aneinanderreihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044. Die Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105S . Die Zahl ............................... i o66. Der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . io87. Zeit und Geschwindigkeit . . . .. . . .. . . . . . .. .. . . 109

III. Die Vorstellung des Universums. Kausalität und Zufall . . . ..................

i ioIV. Die sozialen und affektiven Interaktionen .... . . . . . . . ii 14

I. Die Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . ... . . .. .. . . I 152. Das Problem . ... . . . . . . .. ... . . . . . . . . . . . . . . 1163. Die Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 17

V. Gefühle und moralische Urteile . . .. . . ... . . . . . . .. . . 122i . Entstehung und Verpflichtung . . . . .. . . . . . . . . .. .. 1222. Die Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Iz3

3. Der moralische Realismus . . . . . . . . . . .. . . . .... . 124

4. Die Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

VI. Schlußfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Fünftes Kapitel: Die Voradoleszenz unddie Aussage-Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I i9

I. Das formale Denken und die Kombinatorik . .. .... . . . . 132

i. Die Kombinatorik . . . . . . . . .... . . .. . .... . . . . 132

2. Kombinationen von Gegenständen . . . . . . . . .. . . . . . 133

3. Aussage-Kombinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134II. Die »Gruppe« der beiden Reversibilitäten . . . . . . . . . . . . 13 5

......... 139III. Die formalen operativen Schemata . . . . . . . . . ... . . . . 139

i. Die Proportionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 392. Doppelte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 141

3. Hydrostatisches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

4. Die Wahrscheinlichkeitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

IV. Die Induktion der Gesetze und die Trennungder Faktoren . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. ... . . 1 43i. Die Elastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . I 442. Das Pendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

V. Die affektiven Transformationen . . . . . . . . . . . .. . . .. . 1 47

Schlußfolgerung: Die Faktoren der geistigen Entwicklung . . . . . i S i

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 59

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . i 6 i

Vorwort

>Die Psychologie des Kindes< , untersucht das geistige Wachs-tum oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Entwicklung derVerhaltensweisen (das heißt des Verhaltens einschließlich desBewußtseins) bis in die Ubergarigsphase der Adoleszenz, wäh-rend der sich das Individuum in die Erwachsenengesellschafteinfügt. Das geistige Wachstum ist nicht zu trennen vom kör-perlichen Wachstum, insbesondere nicht von der Reifung desNerven- und Hormonsystems, die etwa bis zum i6. Lebensjahrdauert. Will man dieses geistige Wachstum verstehen, so genügtes also nicht, bis zur Geburt zurückzugehen, denn es gibt eineEmbryologie der Reflexe (Minkowski), die sich mit der Moto-rik des Fötus beschäftigt, und man hat auch schon auf ein prä-perzeptives Verhalten des Embryos in Bereichen wie der Wahr-nehmung taktilokinästhetischer Kausalität hingewiesen (Mi-chotte)2. Daraus geht, unter einem theoretischen Gesichts-punkt, auch hervor, daß die Psychologie des Kindes als eineWissenschaft anzusehen ist, die einen besonderen Ausschnitteiner allgemeinen Embryogenese studiert, die weit über die Ge-burt hinausreicht und das ganze, organische wie geistige,Wachstum bis zu jenem Zustand relativer Ausgeglichenheitumfaßt, den das Erwachsensein darstellt.

Die Einflüsse der Umwelt werden freilich, vom Organischenwie vom Geistigen her gesehen, von der Geburt an immer be-deutungsvoller. Die Psychologie des Kindes kann sich deshalbnicht damit begnügen, auf biologische Reifungsfaktoren zu-rückzugreifen, denn andere zu beachtende Faktoren ergebensich aus der Übung und der erworbenen Erfahrung, aus demsozialen Leben allgemein.

Die Psychologie des Kindes studiert das Kind an sich undseine geistige Entwicklung. Man muß sie in dieser Hinsicht vonder »genetischen Psychologie« unterscheiden, obwohl sie deren

I Dieses Buch soll eine Synthese verschiedener Arbeiten, auch eigener, über die Psy-chologie des Kindes sein. Es wurde für die Reihe >Que sass-je< des französischen Origi-nalverlags geschrieben.

z A. Michotte: La perception de la causalité.

grundlegendes Werkzeug darstellt. Um jedes Mißverständnis inder Terminologie auszuschließen, wollen wir zuerst festhalten,daß das Wort »genetisch« im Ausdruck »genetische Psycholo-gie« von den Psychologen schon in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts eingeführt wurde, also bevor es die Biologenin einem engeren Sinne verwendeten. In der heutigen Spracheder Biologen bezieht sich »Genetik« ausschließlich auf Mecha-nismen der Vererbung und gerade nicht auf embryogenetischeoder ontogenetische Prozesse. Der Begriff »genetische Psycho-logie« hingegen bezieht sich auf die individuelle Entwicklung(Ontogenese). Man könnte jetzt versucht sein, die Ausdrücke»Psychologie des Kindes« und »genetische Psychologie« alsgleichbedeutend anzusehen, aber sie unterscheiden sich durcheine wichtige Nuance: die Psychologie des Kindes studiert dasKind an sich, während man heute unter »genetischer Psycholo-gie« eher die allgemeine Psychologie (Studium der Intelligenz,der Wahrnehmungen) versteht, insofern diese die geistigenFunktionen von ihrer Bildungsweise, also von ihrer Entwick-lung beim Kind her zu erklären versuchte. Nachdem man zumBeispiel die logischen Gedankengänge, Operationen und Struk-turen allein beim Erwachsenen, also im vollendeten und stati-schen Zustand, untersucht hatte — was gewisse Autoren (diedeutsche Denkpsychologie) dazu brachte, im Denken einen»Spiegel der Logik« zu sehen —, fragte man sich schließlich, obdie Logik angeboren sei oder schrittweise aufgebaut werdeusw. Um solche Probleme zu lösen, befaßte man sich dann mitdem Kind, und in diesem Zusammenhang wurde die Psycholo-gie des Kindes in den Rang einer »genetischen Psychologie«erhoben, das heißt, sie wurde zu einem wichtigen Werkzeugder erklärenden Analyse, mit dessen Hilfe die Probleme derallgemeinen Psychologie gelöst werden sollten.

Da die genetische Methode heute auf allen Gebieten der Psy-chologie (man denke nur an die beträchtliche Rolle, welche diePsychoanalyse der Kindheit zumißt) eine große Bedeutung er-langt hat, erhält die Psychologie des Kindes eine Art Schlüssel-stellung in den verschiedensten Bereichen. In diesem Buch wol-len wir uns vor allem auf den Standpunkt der genetischen Psy-chologie stellen: das Kind ist an sich schon von hohem Interes-se; dazu kommt, daß das Kind ebensosehr, wenn nicht noch

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mehr, den erwachsenen Menschen erklärt, wie der erwachseneMensch das Kind, denn der Erwachsene erzieht zwar das Kinddurch mannigfaltige Mittel sozialer Weitergabe, doch jeder Er-wachsene, auch der schöpferische, hat als ein Kind begonnen —in vorgeschichtlicher Zeit ebenso wie heute.

Erstes KapitelDie senso-motorische Stufe

Wenn das Kind zum Teil den Erwachsenen erklärt, muß manauch sagen, daß jede Entwicklungsstufe zum Teil für die fol-genden verantwortlich ist. Das ist in der Zeit besonders klar, dadas Kind noch nicht sprechen kann. Man kann sie die »senso-motorische« Stufe nennen, - weil das Kleinkind, mangels einersymbolischen Funktion, noch kein Denken und keine Affekti-vität zeigt, die mit Vorstellungen verbunden wären, durch diees Personen oder Gegenstände in ihrer Abwesenheit bezeich-nen könnte. Doch trotz dieser Lücken ist die geistige Entwick-lung im Laufe der ersten achtzehn Monate , des Lebens beson-ders rasch und besonders wichtig, weil das Kind auf dieserStufe die Gesamtheit der kognitiven Substrukturen aufbaut, dieals Ausgangspunkt für seine späteren perzeptiven und intellek-tuellen Konstruktionen dienen, und ebenso eine gewisse Zahlelementarer affektiver Reaktionen, die zum Teil seine kommen-de Affektivität bestimmen.

I. Die senso-motorische Intelligenz

Für welche Kriterien der Intelligenz man sich auch entscheidet(gelenktes tastendes Versuchen nach Claparède, plötzlichesVerstehen oder Insight nach W. Köhler oder K. Bühler, Koor-dinierung der Mittel und der Ziele usw.), alle sind sich darineinig, daß es vor der Sprache eine Intelligenz gibt. Diese Intelli-genz ist in ihrem Wesen auf das Praktische ausgerichtet, dasheißt, sie erstrebt Erfolge und will nicht Wahrheiten ausspre-chen, aber es gelingt ihr doch schon, eine Gesamtheit von Ak-tionsproblemen (entfernte, verborgene usw. Gegenstände errei-chen) zu lösen, indem sie ein komplexes System von Assimila-tionsschemata konstruiert, und die Wirklichkeit gemäß einemSystem von raum-zeitlichen und kausalen Strukturen zu orga-nisieren. Mangels einer Sprache und einer symbolischen Funk-tion stützen sich diese Konstruktionen ausschließlich auf Wahr-

Es sei hier ein für allemal festgehalten, daß Altersangaben in diesem Buch immer nurein durchschnittliches und erst noch ungefähres Alter meinen.

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nehmungen und Bewegungen, sie vollziehen sich also mittelssenso-motorischer Koordination, ohne daß die Vorstellungs-kraft oder das Denken mitwirken.

I. Reiz-Reaktion und Assimilation

Es gibt somit eine senso-motorische Intelligenz, aber es ist sehrschwierig, den Zeitpunkt zu bestimmen, da sie auftritt. Genau-er gesagt, die Frage ist sinnlos, denn ihre Lösung hängt immervon der willkürlichen Wahl eines Kriteriums ab. Gegeben isteine bemerkenswert kontinuierliche Abfolge von Stadien, diejeweils einen neuen Teilfortschritt markieren, bis schließlich dieerreichten Verhaltensweisen Merkmale aufweisen, die dieseroder jener Psychologe als die der »Intelligenz« anerkennt (wo-bei sich alle Autoren darin einig sind, diese Qualifikation zu-mindest dem letzten dieser Stadien, zwischen 12 und 18 Mona-ten, zuzuerkennen). Von den spontanen Bewegungen und demReflex zu erworbenen Gewohnheiten und von diesen zur Intel-ligenz gibt es eine kontinuierliche Progression, und das eigent-liche Problem besteht darin, den Mechanismus dieser Progres-sion zu erfassen.

Für viele Psychologen ist dieser Mechanismus die Assozia-tion, die es gestattet, die bedingten Reflexe und viele andereErwerbungen kumulativ zu addieren: jede Erwerbung, von dereinfachsten bis zur komplexesten, wäre folglich aufzufassen alseine Reaktion auf die äußeren Reize, und zwar eine Reaktion,deren assoziativer Charakter eine einfache Unterordnung dererworbenen Beziehungen unter die äußeren Beziehungen zumAusdruck bringt. Einer der Autorene hat im Gegensatz dazuangenommen, dieser Mechanismus bestehe in einer Assimila-tion (vergleichbar der biologischen Assimilation im weitestenSinne), das heißt, jede neue Beziehung werde in ein bereitsbestehendes Schema oder in eine bereits bestehende Strukturintegriert: das organisierende Tun des Subjekts ist dann alsebenso wichtig wie die den äußeren Reizen inhärenten Bezie-

2 J. Piaget: La naissance de l'intelligence. Deutsch: Das Erwachen der Intelligenz beimKinde. Vgl. für diesen und alle weiteren genannten Titel die Bibliographie am Schluß desBuches.

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hungen zu betrachten, denn das Subjekt wird für diese nur indem Maße empfänglich, wie sie an bereits aufgebaute Struktu-ren assimilierbar sind; diese Strukturen würden durch neue As-similationen verändert und bereichert. Mit anderen Worten, derAssoziationismus begreift das Schema Reiz-Reaktion in dereinseitigen Form Reiz — Reaktion, während der Gesichtspunktder Assimilation eine gegenseitige Beziehung Reiz Reaktionoder, was auf dasselbe hinausläuft, eine Mitwirkung des Sub-jekts oder des Organismus3 — nach dem Schema Reiz --^ Orga-nismus —s Reaktion — annimmt.

2. Das Stadium I

Der Ausgangspunkt der Entwicklung ist tatsächlich nicht inden Reflexen zu suchen, die als einfache, isolierte Reaktionenaufgefaßt werden, sondern in spontanen und totalen Tätigkei-ten des Organismus (wie sie von Holst und andere studierthaben) und in dem Reflex, der zugleich als eine Differenzierungdieser Tätigkeiten und in gewissen Fällen (Reflexe, die sichdurch Übung entwickeln, anstatt zu verkümmern oder unver-ändert zu bleiben) als zu einer funktionellen Aktivität befähigtverstanden wird, welche die Bildung von Assimilationsschema-ta nach sich zieht.

Man hat nämlich einerseits gezeigt — und zwar durch dieUntersuchung der tierischen Verhaltensweisen und der elektri-schen Wellen des Nervensystems —, daß der Organismus niepassiv ist, sondern spontan und global in rhythmischer Weisetätig ist. Andererseits hat die embryologische Analyse der Re-flexe (Coghill u. a.) erbracht, daß sich diese durch Differenzie-rung aus globaleren Aktivitäten entwickeln: im Falle der Bewe-gungsreflexe der Frösche zum Beispiel bewirkt ein Gesamt-rhythmus eine Folge von differenzierten und koordinierten Re-flexen und nicht umgekehrt.

Was die Reflexe des Neugeborenen betrifft, so geht daraushervor, daß diejenigen unter ihnen, die für die Zukunft von

3 Der Organismus wirkt schon bei Hull als intermediäre Variable mit, aber im Sinneeiner bloßen Reduktion der Bedürfnisse und nicht als eine organisierende Struktur.

uh

besonderer Bedeutung sind (die Saugreflexe oder der Greifre-flex, der in das spätere absichtliche Zugreifen integriert wird),die Ursache von dem sind, was einer der Autoren eine »Reflex-Übung«, das heißt eine Konsolidierung durch funktionelleÜbung, genannt hat. Nach einigen Tagen saugt das Neugebore-ne mit mehr Sicherheit, es findet die Brustwarze, nachdem essie verloren hat, leichter wieder usw. als bei den ersten Versu-chen.4 Die reproduktive oder funktionelle Assimilation, diediese Übung gewährleistet, setzt sich andererseits fort in einerverallgemeinernden Assimilation (leeres Saugen zwischen denMahlzeiten und Saugen an neuen Gegenständen) und in einerwiedererkennenden Assimilation (Unterscheidung der Brust-warze von anderen Gegenständen).

Ohne daß man in diesen Fällen von Erwerbungen im eigentli-chen Sinne des Wortes sprechen kann — denn die assimilierendeÜbung geht nicht über den gegebenen Rahmen der erblich fest-gelegten Mechanismen hinaus —, spielt ebendiese Assimilationdennoch eine grundlegende Rolle, denn die Tätigkeit, die esverbietet, den Reflex als einen reinen Automatismus zu be-trachten, trägt andererseits späteren Ausweitungen des Reflex-schemas und der Ausbildung der ersten Gewohnheiten Rech-nung. Um beim Beispiel des Saugens zu bleiben: bisweilen er-lebt man schon im zweiten Monat jenes alltägliche, aber den-noch lehrreiche Phänomen des Daumensaugens, und zwarnicht unerwartet oder zufällig, wie es schon am ersten Taggeschehen kann, sondern systematisch durch Koordinierungder Arm-, Hand- und Mundbewegungen. Dort, wo die Asso-ziationisten nur einen Wiederholungseffekt sehen (doch woherkommt hier die Wiederholung, da sie nicht durch äußere Bezie-hungen aufgedrängt wird?) und wo die Psychoanalytiker be-reits, in der vorstellungsmäßigen Gleichsetzung von Daumenund Brust, eine symbolische Verhaltensweise sehen (doch wo-her soll lange vor der Ausbildung der ersten inneren Bilderdieses symbolische oder evokatorische Vermögen kommen?),schlagen wir vor, diese Erwerbung durch eine einfache Auswei-tung der zur Diskussion stehenden senso-motorischen Assimi-

4 Solche Reflex-Übungen lassen sich auch bei Tieren beobachten, zum Beispiel beitastenden Versuchen, welche die ersten Kopulationsversuche der Schlammschneckenkennzeichnen.

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lation schon auf den Reflex zu interpretieren. Halten wir präzi-sierend fest, daß es sich hier um eine Erwerbung im eigentli-chen Sinne des Wortes handelt, denn es gibt kein reflexmäßigesoder instinktives Daumensaugen (das Auftreten und die Häu-figkeit dieser Verhaltensweise sind variabel). Doch diese Erwer-bung ist nicht irgendeine zufällige: sie schreibt sich in ein be-reits ausgebildetes Reflexschema ein und beschränkt sich dar-auf, es durch Integration bis jetzt von ihm unabhängiger senso-motorischer Elemente auszuweiten. Diese Integration kenn-zeichnet bereits das Stadium II.

3. Das Stadium II

Nach einem solchen Modell bilden sich die ersten Gewohnhei-ten aus, die sich ihrerseits, wie im eben beschriebenen Fall,direkt von einer Tätigkeit des Subjekts ableiten oder, wie imFalle der bedingten Reflexe, von außen aufgezwungen zu seinscheinen. Ein bedingter Reflex ist nämlich nie allein durch dieseAssoziationen stabil und wird es nur durch die Ausbildungeines Assimilationsschemas, soweit nämlich, als das erzielte Er -

gebnis das der entsprechenden Assimilation inhärente Bedürf-nis befriedigt (wie beim Pawlowschen Hund, der zum Ton derGlocke Speichel absondert, solange diese einem Nahrungssi-gnal entspricht, aber keinen Speichel mehr abgibt, sobald aufdas Signal nie mehr tatsächlich Nahrung folgt).

Doch selbst wenn man die in ihrer Ausbildung als auch inihren automatisierten Ergebnissen erworbenen Verhaltenswei-sen (mangels eines besseren Wortes) »Gewohnheiten« nennt, istdie Gewohnheit noch nicht die Intelligenz. Eine elementare»Gewohnheit« beruht auf einem senso-motorischen Gesamt-schema5, in dem unter dem Gesichtspunkt des Subjekts nochkeine Unterscheidung zwischen den Mitteln und den Zweckengemacht wird, da der erstrebte Zweck nur durch eine notwen-dige Abfolge von Bewegungen erreicht wird, die zu ihm füh-ren, ohne daß man, am Anfang des Verhaltens, einen zum vor-

5 Ein Schema ist die Struktur oder Organisation der Aktionen, so wie sie sich bei derWiederholung dieser Aktion unter ähnlichen oder analogen Umständen übertragen oderverallgemeinern.

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aus verfolgten Zweck und, später, aus verschiedenen möglichenSchemata ausgewählte Mittel unterscheiden kann. In einem Aktder Intelligenz hingegen wird ein von allem Anfang an gesetztesZiel verfolgt und werden dann geeignete Mittel gesucht, wobeidiese Mittel durch die bekannten Schemata (oder »Gewohn-heits«schemata) geliefert werden, die sich aber bereits vom An-fangsschema unterscheiden, das dem Tun sein Ziel zuwies.

4. Das Stadium III

Interessant an der Entwicklung der senso-motorischen Tätig-keiten im Laufe des ersten Lebensjahres ist, daß sie nicht nur zuelementaren Fertigkeiten, Ursachen einfacher Gewohnheiten,führt — und zwar auf einer Stufe, wo sich noch keine Intelligenzim eigentlichen Sinne des Wortes beobachten läßt —, sonderndaß sie auch eine kontinuierliche Reihe von Zwischenstufenzwischen diesen beiden Reaktionsmöglichkeiten liefert. Nachdem Stadium der Reflexe (I) und dem der ersten Gewohnheiten(II) weist nun ein drittes Stadium (III) von dem Zeitpunkt an(im Durchschnitt etwa mit viereinhalb Monaten), da das Sehenund das Greifen koordiniert werden (das Kleinkind ergreiftund bewegt alles, was es in seinem engsten Lebensraum sieht),die folgenden Übergangsformen auf: Ein Kind dieses Altersgreift zum Beispiel nach einer Schnur, die vom Dach seinesStubenwagens herunterhängt, was zur Folge hat, daß alle daranaufgehängten Spielsachen geschüttelt werden. Es wiederholtdiesen Griff mit so unerwarteten Auswirkungen mehrere Male,was eine »Zirkulärreaktion« im Sinne von J. M. Baldwin dar-stellt, also eine im Entstehen begriffene Gewohnheit ohne Dif-ferenzierung zwischen vorgängiger Absicht und angewandtenMitteln. Doch später genügt es, ein neues Spielzeug unter demStubenwagendach aufzuhängen, damit das Kind die Schnursucht, was den Anfang einer Differenzierung zwischen demZweck und dem Mittel darstellt. An den folgenden Tagen suchtund ergreift das Kind die magische Schnur wieder, wenn manzwei Meter vom Stubenwagen entfernt einen Gegenstand aneiner Stange schwingen läßt usw. und sogar, wenn man hintereinem Wandschirm einige unerwartete und mechanische Töne

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