PAN TextdatenbankArtikel - Zusammenstellung
Inhaltsverzeichnis
Die Zeit vom 04.09.2014, Seite: 65Haltet zusammen! / Wir sind dabei, eine Gesellschaft sozialer Autisten zu werden. Deutschland braucht einsoziales Pflichtjahr. Ein Plädoyer
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Stuttgarter Nachrichten vom 28.07.2014, Seite: 3Von der Safari zur Behindertenarbeit / Helfer in der Fremde: Immer mehr ausländische Jugendliche wollen einFreiwilliges Soziales Jahr in Deutschland absolvieren
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Stuttgarter Nachrichten vom 30.06.2014, Seite: 5Soziales Jahr ein Erfolg / Die Zahl der Freiwilligen wächst, die staatliche Hilfe aber nicht
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Stuttgarter Zeitung vom 18.06.2014, Seite: 8Ministerin: Jugendliche verdienen mehr Anerkennung
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Stuttgarter Zeitung vom 15.04.2014, Seite: 22Wie ein Drahtesel das Selbstbewusstsein steigern kann
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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23.02.2014, Seite: 31Die neuen Zivis sind jetzt über 50 / Zivis gibt es nicht mehr, jetzt kümmern sich Freiwillige um Kranke undBehinderte: ein Jahr lang, für wenig Geld. Erstaunlich viele Altere machen das. Warum?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.2013, Seite: C12Erst mal was Praktisches / Schulabgänger können im freiwilligen sozialen Jahr wichtige Erfahrungen in derArbeitswelt sammeln öder schon gezielt auf die spätere Karriere hinarbeiten. / Welche Freiwilligendienste es gibt
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Stuttgarter Zeitung vom 28.09.2013, Seite: 6Bund feiert Freiwilligendienst als Erfolg
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Badische Neueste Nachrichten / Baden-Baden vom 23.08.2013, Seite: 9ARTIKELSPERRE Freiwillig im Museum
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Stuttgarter Zeitung vom 11.07.2013, Seite: 20Der DJ als Nationalparkwächter
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Mannheimer Morgen vom 11.05.2013, Seite: 20Die Nachfolger der Zivis: offen, fleißig - und zu wenig? / Freiwillige: "Bufdis" - nach knapp zwei Jahren sind die
Meinungen in Mannheim über die Reform im Sozialwesen gespalten 17
Stuttgarter Nachrichten vom 26.03.2013, Seite: 19Vom Hilfslehrer in Afrika zum Buchautor / Ein junger Stuttgarter veröffentlicht seine Internet-Einträge vomFreiwilligendienst in Namibia in gedruckter Form
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Stuttgarter Nachrichten vom 14.12.2012, Seite: 22Ältere Bufdis suchen oft richtigen Job / Jeder fünfte Freiwillige beim Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg ist über27 Jahre - Die Hälfte war davor arbeitslos
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Stuttgarter Zeitung vom 28.08.2012, Seite: 22'Hier wird erwartet, dass du funktionierst'
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Badische Neueste Nachrichten / Karlsruhe vom 30.06.2012, Seite: 27ARTIKELSPERRE "Bufdi war die richtige Entscheidung"
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Mannheimer Morgen vom 16.04.2011, Seite: 19Zivi-Pionier fühlte sich akzeptiert / Rückblick: Vor 50 Jahren traten die ersten anerkanntenKriegsdienstverweigerer ihren Ersatzdienst an - in Mannheim am städtischen Krankenhaus
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Süddeutsche Zeitung vom 25.03.2011, Seite: 5Freiwillige vor / Bundestag setzt die Wehrpflicht aus, Minister fordert "ehrenvollen Dienst" / Von PeterBlechschmidt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.12.2010, Seite: 3Die Jugendfreiwilligendienste und der neue Bundesfreiwilligendienst
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Die Zeit vom 25.11.2010, Seite: 2Schönen Dank auch / Zivildienstleistende sorgen seit fast 50 Jahren dafür, dass unsere Gesellschaft einbisschen liebevoller ist. Mit der Wehrpflicht endet auch das. Ein Nachruf auf den Zivi
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Chancen
Haltet zusammen!Wir sind dabei, eine Gesellschaft sozialer Autisten zu werden. Deutschland braucht ein soziales Pflichtjahr. Ein PlädoyerVon Rudi Novotny
Irgendwo in den Gassen Istanbuls musste jemand die Rakete gezündet haben. Wo genau, war von der Dachterrasse des Restaurants aus nicht zu sehen. Wir blickten ihr hinterher, wie sie ihren Schweif durch den Nachthimmel zog, über den Bosporus. Wir, das waren die Reste einer Hochzeitsgesellschaft. Das Brautpaar hatte gefeiert, wie die türkische Oberschicht feiert: 300 Gäste, vier Fotografen, ein Kameramann, das Brautkleid aus Paris und die Popmusik aus Amerika.
Die Rakete verglühte. Ein Mann sagte: "Die war für Tayyip. Sie zelebrieren ihren Sieg über uns." Während wir gefeiert hatten, hatte Erdoğan die Präsidentschaftswahl gewonnen. Ein islamischer Politiker aus den Gassen Istanbuls. Bei seiner Feier gab es keine Kleider aus Paris. Dafür Frauen in Kopftüchern. Auf der Terrasse flüsterte ein Mädchen: "Sag nicht wir und sie, du klingst, als wären wir verschiedene Völker." Der Mann antwortete: "Sind wir auch. Wir hatten nie etwas miteinander zu tun."
Ich blickte mich um. Die Männer auf dem Dach waren glatt rasiert, die Frauen trugen die Haare offen. Sie hatten im Ausland studiert, arbeiteten für Konzerne. Sie waren mir ähnlicher als den Türken dort unten. Wie ist das in Deutschland?, fragte das Mädchen.
Wie ist das in Deutschland? War auch ich ihnen ähnlicher als den Deutschen, die nicht im Ausland studiert, sondern eine Lehre absolviert hatten? Hatte ich Kontakt mit solchen Menschen? Ich dachte an den Sportverein, das Ferienlager, dann fiel es mir ein: im Zivildienst.
Elf Monate war ich Zivi in einer Freiburger Behindertenwerkstatt, arbeitete als Werkstattgehilfe und lernte Lkw fahren. Die Behinderten kamen aus den umliegenden Dörfern. Ihre Eltern waren Bauern und Handwerker. Ich wollte nicht in die Werkstatt. Ich wusste nicht, wie man mit Lastwagen umgeht oder mit Menschen mit Behinderung. Doch es war nichts anderes mehr frei. Und so stand ich eines Tages vor einer Eingangstür, hinter deren Glas sich fünf Dutzend Werkstattmitarbeiter die Nasen platt drückten und riefen: "Zivi! Zivi!" Ich kam mir vor wie ein Tier.
In den ersten Wochen bekam ich in der Kantine keinen Bissen runter und walzte mit dem Lkw den Zaun der Nachbarn nieder. Nach drei Monaten schaffte ich das Mittagessen und die Landstraße. Nach sechs Monaten aß ich den Nachtisch, den mir die Behinderten zusteckten, und fuhr singend durch den Schwarzwald. Und als alles vorbei war, herzte ich fünf Dutzend Menschen mit Behinderung und fuhr meinen Umzugs-Lkw vom Hof. Typische Zivildienst-Erfahrungen.
2011 stellte eine Studie des Familienministeriums fest, der Zivildienst sei eine "gelungene Instanz der persönlichen und sozialen Entwicklung junger Männer". Egal, mit welcher Einstellung die Dienstzeit angetreten worden war, am Ende hatten die Zivis bessere soziale Kompetenzen. Sie waren teamfähiger und selbstständiger. Sie hatten mehr Verständnis für andere gesellschaftliche Gruppen, übernahmen mehr soziale Verantwortung und traten eher für die Rechte anderer ein. "Zivilgesellschaftliche Auswirkungen" nennt das der Report und konstatiert, dass "Strukturen erlebt wurden, die davor und danach ... in der Form nicht mehr erlebt wurden".
Ein Jahr zuvor befragte das Deutsche Jugendinstitut ehemalige Zivildienstleistende und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Fast 90 Prozent der befragten Ex- Zivis gaben an, teamfähiger zu sein, andere Menschen besser zu verstehen und ihnen mehr zu vertrauen.
Im Zivildienst erfuhren wir jungen Männer, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein. Wir verstanden, dass unser Land nicht nur aus Akademikern und deren Kindern besteht. Und, ja, wir lernten Demut, als wir dem Jungen im Rollstuhl den Sabber vom Mund putzten und der Greisin im Krankenhaus den Kot vom Körper. Wir übernahmen Verantwortung und wurden zu Bürgern. Es ist eine Erfahrung, die nicht nur jungen Türken fehlt, sondern auch jungen Deutschen, seit die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt wurde und damit der Zivildienst verschwand.
Aber eine Gesellschaft braucht diese Erfahrung, sonst zerfällt sie. Deutschland braucht ein soziales Pflichtjahr für alle jungen Deutschen. Abzuleisten von jenen,
die jetzt noch in der Schule sind, bevor sie mit Studium und Ausbildung beginnen. Die Einsatzorte können soziale, kulturelle oder andersartig gemeinnützige Institutionen sein. Innerhalb Deutschlands - denn nur so begreift man, wer die anderen sind, mit denen man dieses Land teilt.
Das soziale Pflichtjahr ist eine Idee, die in der Geschichte der Bundesrepublik bereits mehrfach aufkam. Meist wurde sie abgetan. Manchmal verlacht. Doch nie war sie notwendiger als heute. Denn nie war diese Gesellschaft gespaltener, nie waren die Lebenswelten getrennter.
Seit Jahren ist die soziale Ungleichheit massiv gestiegen. Laut einem Gutachten des Paritätischen Gesamtverbandes ist der soziale Zusammenhalt im Land bedroht. Nie war die Armut größer, nie gab es mehr Privatvermögen. In der Arbeitswelt wuchern Minijobs und Zeitverträge. Unter Eltern hat ein Rennen um die besten Zukunftschancen für ihre Kinder eingesetzt. Die Oberklasse schickt ihre Sprösslinge auf das Internat Schloss Salem. Die Mittelklasse kämpft um die Plätze am besten Gymnasium vor Ort. Der Rest muss mit Schulformen vorliebnehmen, deren Namen sich keiner merken kann. Spätestens ab der fünften Klasse haben das Akademikerkind Charlotte und das Hartz-IV- Kind Chantal nichts mehr miteinander zu tun.
Wenn sie einander überhaupt kannten. Denn die Mieten in dem Viertel, in dem Charlotte wohnt, können sich Chantals Eltern nicht leisten. Die Gentrifizierung ist der räumliche Ausdruck einer zerfallenden Gesellschaft. Wie auf auseinanderdriftenden Eisschollen sitzen die verschiedenen Teile der Bevölkerung in ihren Bezirken. Wer sein Kind auf eine sogenannte Brennpunktschule schickt, wird von Bekannten gewarnt. Als ob es auf eine Expedition zu wilden Tieren im Dschungel ginge.
Die Strukturen, in denen die Jugendlichen ihre Jugend verbringen, atmen diesen Geist. Es geht darum, schnell zu sein, um eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Und so hetzen Teenager vom achtjährigen Gymnasium zum Bachelorstudium und von dort in den Job, unterbrochen durch zwei Monate in einem afrikanischen
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Die Zeit, Nr. 37 Donnerstag, der 04. September 2014, S. 65
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Waisenhaus, weil sich etwas Engagement und internationale Erfahrung im Lebenslauf dann doch gut machen. Auch hier bleibt man unter sich. Die besseren Kreise schicken das Kind nicht auf eine öffentliche deutsche Universität, sondern in die Schweiz oder auf US- Eliteunis, während halbwüchsige Berufsschüler verkünden, dass sie "Hartzer" werden. Beide Gruppen machen nicht mehr mit in diesem Staat.
Bei so viel Entfremdung und Leistungsdruck erstaunt es kaum, dass laut Uni Bielefeld die Hälfte der Deutschen glaubt, dass Langzeitarbeitslose nicht arbeiten wollen.
Und wenn es unangenehme Dinge gibt, denen man nicht entkommt, wie Tod und Siechtum, werden sie ausgelagert. Professionelle Helfer in professioneller Umgebung kümmern sich um Kranke und Alte. Die Bezahlung ist schlecht, aber irgendwer findet sich immer.
Wir sind dabei, eine Gesellschaft von sozialen Autisten zu werden.
Die Spuren, die dieses Leben bei jungen Menschen hinterlässt, sind belegt. Klaus Hurrelmann, Herausgeber der Shell- Jugendstudie, charakterisiert die nach 1985 Geborenen als Egotaktiker, die opportunistisch von einer Option zur anderen hüpfen, immer fleißig, immer auf der Suche nach dem größtmöglichen Gewinn. Eine Studie der Universität Michigan beschreibt, wie die Fähigkeit zur Empathie bei College- Studenten seit zehn Jahren stark sinkt, während ihr Narzissmus in die Höhe schießt.
Ich, ich, ich. Das Wir ist Zeitverschwendung.Was passiert mit einer Gesellschaft, in der einzelne Gruppen nichts mehr miteinander zu tun haben? Studien zeigen, dass Gesellschaften, die sich als homogen wahrnehmen, eher bereit sind, höhere Sozialausgaben zu akzeptieren. Wer sich mit dem anderen identifiziert, vertraut ihm eher, schließt leichter Kompromisse. Vertrauen undKompromisse sind das Fundament der Demokratie. Ohne sie wird aus der Demokratie die Diktatur der Mehrheit. Im schlimmsten Fall. Im weniger schlimmen Fall wird aus ihr die USA.
Unter den westlichen Staaten sind die USA jene, in denen sich die meisten Menschen ein passgenaues soziales Umfeld geschaffen haben. Wer konservativ ist, wählt die Republikaner, schaut Fox News, geht ins Steakhaus und in die Kirche. Ge
lebt wird in den weiten Landschaften in der Mitte des Landes. Wer liberal ist, der lebt an den Küsten, wählt demokratisch und schaut linke Sender. Gegessen wird vegan, gefahren im Elektroauto. Die Politikberater der Rand- Corporation haben herausgefunden, dass Amerikaner zunehmend in Viertel ziehen, in denen sie Gleichgesinnte vermuten. Robert Livingstone, langjähriger Sprecher des US- Repräsentantenhauses, klagt über eine "Balkanisierung". Tatsächlich erinnerte der Streit um Obamas Gesundheitsreform an Krieg. Als Nazis und Kommunisten beschimpften sich die jeweiligen Gegner. Wer dem anderen nicht vertraut, traut ihm alles zu. Kompromisse gibt es in Washington kaum noch.
Sicher rettet ein soziales Pflichtjahr kein politisches System. Aber es ist ein Anfang. Es geht nicht um billige Pflegekräfte. Es geht auch nicht um die Pflicht junger Menschen, dem Gemeinwesen zu dienen, wie Konservative glauben. Es geht darum, dass es sonst kein Gemeinwesen gibt. Wer in einem Altenheim Windeln im Akkord gewechselt hat, blockiert keine Pflegereform. Und wer erlebt hat, wie sich Alte und Kranke über neue Zivis freuen, begreift, dass deren Perspektive nie in den Erklärungen irgendwelcher Verbände auftaucht.
Das Verständnis für andere gesellschaftliche Gruppen, wie es im Zivildienst gefördert wurde, ist eine Voraussetzung für die Demokratie. Daran müssen sich die Argumente der Gegner eines Pflichtdienstes messen lassen. Ihre Bedenken fallen in drei Kategorien: politisch, juristisch, wirtschaftlich.
Die politischen Bedenken verweisen darauf, dass es diverse freiwillige soziale Dienste gäbe, etwa das Freiwillige Soziale Jahr. Das ist richtig. Doch sprechen diese Dienste nur jene an, die sich engagieren wollen. Es geht aber um die anderen: die Karrieristen, die Abgehobenen, die Abgehängten. Die werden nur soziale Arbeit leisten, wenn sie müssen. Deshalb laufen auch Vorschläge, die Freiwilligendienste attraktiver zu machen, ins Leere. Mehr Geld? Weniger Wartesemester? Die Oberschicht dieses Landes wird sich weder durch 150 Euro extra im Monat beeindrucken lassen noch durch die Aussicht, schneller in eine Uni zu kommen, in die man nicht will.
Juristisch wird darauf verwiesen, dass Artikel 12 des Grundgesetzes eine Dienstpflicht nur in Ausnahmesituationen er
laubt. Zudem verstoße Pflichtarbeit gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Als ob das Grundgesetz nie geändert worden wäre. Einer der tiefsten Eingriffe war die faktische Abschaffung des Artikel 16 Anfang der 1990er. Seither ist es kaum möglich, auf legalem Wege in Deutschland Asyl zu bekommen. Ähnlich restriktiv ist die Flüchtlingspolitik der EU. Angesichts dessen ist es pure Heuchelei, wenn Politiker davon reden, dass ein soziales Pflichtjahr dem Geist des Grundgesetzes widerspreche und gegen Menschenrechte verstoße.
Zu guter Letzt die wirtschaftlichen Argumente. Kosten von bis zu 20 Milliarden Euro führen Volkswirte ins Feld, weil die jungen Menschen dem Arbeitsmarkt später zur Verfügung stehen würden. Die Finanzkrise, ausgelöst von einer abgehobenen Gruppe Banker, hat Deutschland 500 Milliarden gekostet. Den selbst ernannten Masters of the Universe fehlten genau die Fähigkeiten, die jemand lernt, der ein Kind im Rollstuhl mit der Schnabeltasse füttern muss. Vielleicht hätte ein anderes Bewusstsein für die Gesellschaft nicht die Finanzkrise verhindert, aber die schlimmsten Auswüchse.
Als "Zwangsdienst" verunglimpfen die Gegner das soziale Pflichtjahr gerne. In Wahrheit ist ihr Kampf gegen den Zwang eine Verteidigung von Privilegien.
Was es in Krisenzeiten bedeutet, wenn sich einzelne Gruppen in diesen Privilegien einmauern, lässt sich in Frankreich beobachten. Dort feiert die Rechtsradikale Marine Le Pen einen Wahlsieg nach dem nächsten mit Attacken gegen eine abgehobene Pariser Elite.
Lange bevor ich auf dem Dach in Istanbul stand, saß ich mit einer dieser Töchter der französischen Elite in einem Café. In dicken Plüschsesseln unterhielten wir uns über Studium und Leben. Ich würde gerne mal mit dem Auto an die Küste fahren, meinte ich. - "Mach doch", antwortete sie. - "Dazu brauchte ich erst ein Auto." - Sie sah mich erstaunt an und sagte dann: "Wieso sagst du deinen Eltern nicht, dass sie dir eines kaufen sollen?" Ich blickte sie an. Sie lächelte nicht. Sie meinte das ernst. Fast hätte ich ihr verraten, dass ich einen Lastwagen fahren kann.
VON RUDI NOVOTNY
Illustration: Julia Krusch für DIE ZEIT
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Hintergrund
Von der Safari zur BehindertenarbeitHelfer in der Fremde: Immer mehr ausländische Jugendliche wollen ein Freiwilliges Soziales Jahr in Deutschland absolvieren
Sie kommen aus Kolumbien, Simbabwe und Tansania in den Südwesten, um hier ein Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren. Für die Einrichtungen im Land sind die ausländischen Helfer eine Bereicherung - in fachlicher und menschlicher Hinsicht.Von Steffen Rometsch
Bad urach/ reutlingen Ihre Augen funkeln, ihr strahlendes Lachen wirkt ansteckend, wenn Linda von ihrer Arbeit erzählt. 'Ich habe viele interessante Menschen kennengelernt, der Umgang mit den Behinderten ist großartig', sagt die 25- Jährige aus Simbabwe.
Seit elf Monaten ist Nomangwe Linda Ndiweni in Deutschland. Sie hat sich entschieden, ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Alten- und Pflegeeinrichtung für behinderte Menschen der Bruderhaus-Diakonie in Bad Urach zu machen. 35 Bewohner mit körperlicher oder geistiger Behinderung im Alter zwischen 22 und 85 Jahren werden hier betreut. Linda hilft ihnen beim Waschen und Anziehen, übernimmt die Essensversorgung und hauswirtschaftliche Arbeiten, spielt, malt oder bastelt mit ihnen. 'Linda ist eine große Entlastung für uns', sagt Nico Steiner, Gruppenleiter des Behinderten- Pflegeheims. Dabei ist die Arbeit mit behinderten Menschen für Linda Ndiweni völliges Neuland.
Zu Hause ist sie in Bulawayo, der mit 1,5 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt Simbabwes im Südwesten des südafrikanischen Binnenstaates. Dort lebt sie mit ihrer Mutter und arbeitet als Safari-Führerin im Antelope-Tierpark. Sie führt ausländische Touristen meist zu Fuß durch die weiten Steppen des zwölf Quadratkilometer großen Parks, in dem Antilopen, Löwen, Elefanten und Giraffen leben. Da Linda die einzige Mitarbeiterin des Tierreservats ist, die Deutsch spricht, begleitet sie vor allem die Besucher aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Die Sprache hat sie schon bei ihrem ersten Deutschland- Aufenthalt vor vier Jahren gelernt, als Au-pair in der Nähe von Köln.
Weil das Tierreservat auch Safari- Spaziergänge mit Löwen anbietet, musste sie in ihrer Ausbildung zum Safari-Guide auch einen einjährigen Schießlehrgang absolvieren. 'Wir schießen aber höchstens, um die Löwen zu betäuben, nicht, um sie zu töten', betont sie. Im kommenden Jahr will
die 25-Jährige ihre dreijährige Ausbildung zum Tourguide abschließen.
Bis dahin widmet sie sich den behinderten Menschen am Rande der Schwäbischen Alb. Auf dem Gelände des ebenfalls zur Bruderhaus- Diakonie gehörenden Biolandhofs Bleiche lebt sie in einer WG mit sieben Deutschen. Weil ihr die Arbeit so viel Spaß macht, hat sie jetzt ihr ursprünglich auf zwölf Monate angelegtes Freiwilliges Soziales Jahr noch einmal um sechs Monate verlängert. Mehr ist gesetzlich nicht erlaubt.
Und das sei gut so, meint Gruppenleiter Nico Steiner. Nicht, weil er Linda nicht gerne noch länger als Mitarbeiterin in seinem Team gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. 'Die zeitliche Beschränkung ist richtig, sonst besteht die Gefahr, dass hier Billigjobs zu Lasten der regulären Arbeitsplätze geschaffen werden', begründet Steiner.
Das Diakonische Werk der evangelischen Kirche in Württemberg bietet seit 1998 ausländischen Freiwilligen die Möglichkeit, in seinen Einrichtungen ein FSJ zu absolvieren. Zunächst lag der Schwerpunkt des Programms auf Osteuropa, seit 2007 ist es weltweit geöffnet. 45 junge Menschen aus 22 Ländern arbeiten derzeit in den Einrichtungen der württembergischen Diakonie. Sie kommen aus China, Ghana, Kirgistan, Kolumbien, Madagaskar, Venezuela oder Vietnam. Die meisten kehren danach wieder in ihr Heimatland zurück, andere beginnen eine Ausbildung oder ein Studium in Deutschland.
Im Vergleich zu den 1800 Freiwilligen aus Deutschland sind die ausländischen Helfer zwar weit in der Unterzahl. Doch 'die Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen', sagt Karl Wagner, Referent für Freiwilliges Engagement bei der Diakonie Württemberg. Einrichtungen, in denen ausländische FSJler tätig waren, hätten positive Erfahrungen gemacht.
'Es ist auffällig, mit welcher Motivation und Auffassungsgabe die ausländischen Freiwilligen hierherkommen', bestätigt Steiner. 'Der Wille, sich einzubringen, sich zu inte
grieren und lernen zu wollen, ist enorm.' Dies mache auch den anfangs höheren Betreuungsaufwand bezüglich der Sprache und der Einarbeitung wett.
Im Schnitt sind die ausländischen Teilnehmer mit 23 Jahren etwas älter als die Deutschen und bringen deshalb häufig auch mehr Lebenserfahrung mit. Im Gegensatz zu den deutschen FSJlern gebe es bei den Freiwilligen aus dem Ausland praktisch keine Abbrecher, sagt Steiner.
Ähnlich lobend äußern sich die Pflegekräfte der Bruderhaus-Diakonie-Behindertenhilfe in Reutlingen über ihren Teilzeit-Kollegen Timotheo Swallo. Für den 23-Jährigen aus Tansania neigt sich sein Soziales Jahr bald dem Ende zu. Derzeit versuchen alle Kollegen auf der Station, ihre Dienstpläne so zu jonglieren, dass sie bei seinem Abschiedsfest dabei sein können. 'Für uns war Timo eine klare Entlastung in der täglichen Arbeit, aber auch eine große menschliche Bereicherung', sagt Pflegefachfrau Karin Tschepella. 'Er hat vom ersten Tag an einen guten Draht zu den Bewohnern gefunden. Durch seine Art konnte er auch ohne viel Worte Freude verbreiten.'
Immer wieder schallt das freudige Lachen des jungen Mannes von der Dachterrasse auf den Gang, während er mit einer betagten Bewohnerin Mensch- ärgere- dich-nicht spielt. Trotz eines viermonatigen Deutschkurses machte ihm die Sprache zu Beginn zu schaffen, erinnert sich Timotheo. 'Die Menschen hier reden alle nur schwäbisch. Das war schwierig. Ich habe zu den Bewohnern immer gesagt: Du musst hochdeutsch reden und langsam.'
Nach dem Abitur hat Timotheo in seiner Heimatstadt Njombe im Hochland von Tansania zunächst als Journalist bei einem Radiosender gearbeitet. Von einem deutschen Freiwilligen in Tansania hat er vom FSJ-Programm erfahren und sich beworben. Er habe sich viele Vorstellungen gemacht vor seiner ersten Reise nach Europa. 'Aber es war alles anders', sagt er schmunzelnd. Auch die Arbeit mit Behinderten war für ihn Neuland. Doch er stellt
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klar: 'Ich bereue es nicht. Es war eine gute Erfahrung, ich wäre gerne länger geblieben.'
Linda hat sich ganz bewusst für eine Behinderteneinrichtung entschieden. Ihr Cousin war von Geburt an an den Rollstuhl gefesselt. Vor zwei Jahren ist er mit nur zehn Jahren gestorben. 'Ich bin damals noch zur Schule gegangen und hatte
leider immer zu wenig Zeit für ihn', erzählt Linda mit trauriger Stimme. 'Bei uns in Simbabwe ist es oft schwer, in Familien mit behinderten Menschen zu leben und zurechtzukommen. Deshalb wollte ich mehr erfahren über die Arbeit mit Behinderten in Deutschland', sagt Linda. 'Es war sehr überraschend und interessant zu
sehen, wie man sich hier um behinderte Menschen kümmert.'
Ein bisschen schwäbische Lebensart haben Linda und Timotheo schon verinnerlicht. Von den 400 Euro Taschengeld im Monat, die die Freiwilligen bekommen, legen sie sich einen Teil zur Seite. ''S bleibt a bisle was übrig - zom Schbare', sagt Linda in einwandfreiem Schwäbisch.
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Landesnachrichten
Soziales Jahr ein ErfolgDie Zahl der Freiwilligen wächst, die staatliche Hilfe aber nichtVon Bendix Wulfgramm
STUTTGART wul Immer mehr junge Erwachsene entscheiden sich nach der Schule für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). In Baden-Württemberg hat sich ihre Zahl in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt. Nicht gestiegen ist hingegen die Höhe der staatlichen Förderung für den Freiwilligendienst. Knapp 11 000 Jungen und Mädchen legten im Jahr 2013 eine Pause zwischen Schule und Beruf ein und arbeiteten in Krankenhäusern, Altenheimen und Kindergärten.
Das Land unterstützt das Soziale Jahr. 2013 wurden Fördermittel in Höhe von 2,9 Millionen Euro bereitgestellt. Einrichtungen, die Arbeitsplätze für ein Freiwilligenjahr anbieten, erhalten pro Stelle 500 Euro Ausbildungskosten. Verwenden dürfen sie
das Geld für die pädagogische Betreuung der Freiwilligen und zur Organisation von Schulungen.
Seit 2009 wurde die Höhe der Fördergelder nicht an die wachsende Zahl der FSJ-Stellen angepasst. Vor fünf Jahren gab es 5350 Stellen, die vom Land unterstützt wurden. Hinzu kamen 400 Stellen ohne Zuschuss. 2013 förderte das Land 5800 Stellen. Ohne staatliche Hilfe mussten 5131 Stellen auskommen. 'Nur 50 Prozent der FSJ- Stellen in Baden- Württemberg bekommen den staatlichen Zuschuss', beklagt Gisela Gölz. Die Sprecherin des Arbeitskreises Freiwilliges Soziales Jahr in Baden- Württemberg ist zwar grundsätzlich mit der Arbeit des Sozialministeriums zufrieden. Dennoch wäre eine finanzielle
Förderung aller FSJ- Stellen in Baden-Württemberg wünschenswert.
Kritisch sieht das auch Wilfried Klenk (CDU). In einem Antrag hat der Landtagsabgeordnete das Sozialministerium aufgefordert, die FSJ-Träger und Einsatzstellen mit ausreichend Mitteln auszustatten. Nach derzeitigem Kenntnisstand reiche die Gesamtförderung aktuell nicht aus.
Das Sozialministerium räumt in einer Stellungnahme ein, dass die Förderung eigentlich ausgebaut werden müsste. Festlegen wollte man sich aber nicht. Die Verantwortung dafür trage der Bund, dieser lege die Höhe der Fördermittel fest, heißt es in der Antwort. Man wolle sich aber gegenüber dem Bund in Zukunft für eine Stärkung des Freiwilligendienstes einsetzen.
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Landespolitik
Ministerin: Jugendliche verdienen mehr AnerkennungBürgerengagement Das freiwillige soziale Jahr erfreut sich großer Beliebtheit - obwohl das Land nicht mehr zahlt. Thomas BreiningIn Baden- Württemberg engagieren sich gegenwärtig weniger junge Menschen als noch vor ein paar Jahren. Der Anteil der Engagierten sei von 40 Prozent im Jahr 2010 auf 32 Prozent im vergangenen Jahr gesunken. Der Südwesten liegt damit unter dem Bundesdurchschnitt von 36 Prozent. Das haben die Experten herausgearbeitet, die der Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) geholfen haben, die Engagement-Strategie Baden-Württemberg zu entwickeln. Sie haben eine Vielzahl von Empfehlungen ausgesprochen.
Dazu gehört auch, mehr Landesgeld zu investieren, um diejenigen zu fördern, die ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ) machen. Doch dieses Angebot ist offenbar entgegen dem Trend ein Dauerbrenner. Im laufenden Jahr werden voraussichtlich fast 11 000 Jugendliche im Land ein FSJ machen. Das sind mehr als 2012, wo man nach einem doppelten Abiturjahrgang auf ein erhöhtes Personalreservoir blicken konnte.
Von den 11 000 FSJ-lern werden aber nur 6000 vom Land gefördert. Wenn es zuschießt, fließen 500 Euro für einen Platz, aber eben nicht für jeden. Man achte freilich darauf, dass sich die Fördermittel im Verhältnis gleichmäßig auf die 40 Träger von FSJ- Angeboten verteile, heißt es im Haus von Katrin Altpeter.
Fürs Jahr 2012 habe man angesichts des doppelten Abiturjahrgangs die Landesmittel um 150 000 Euro auf 3,01 Millionen Euro aufgestockt. 2013 seien sie wieder auf 2,9 Millionen Euro zurückgefahren worden. Als sich abzeichnete, dass das freiwillige soziale Jahr ungebrochen Zulauf hat, seien die Mittel für das laufende Jahr wieder aufgestockt worden, auf 3,1 Millionen Euro. Über die Jahre ist die Förderung aber wegen der gestiegenen Teilnehmerzahlen kontinuierlich von 715 Euro pro Jahr und Teilnehmer (2003) auf jetzt 265 Euro gesunken. Das haben die Engagement-Spezialisten so festgehalten.
Die CDU-Opposition im Landtag kritisiert, dass sich die Landesregierung nicht klar
äußere, 'ob sie der Forderung vieler Träger nachkommen und die Landesförderung an die gestiegenen Teilnehmerzahlen anpassen wird', wie der sozialpolitische Sprecher, Wilfried Klenk, sagt.
Im Sozialministerium sieht man die Notwendigkeit, 'Anerkennungen zu schaffen oder zu intensivieren', um das FSJ attraktiv zu halten. Derartiger Zuspruch könne materieller Natur sein, etwa in Form von Ermäßigungen. Man könne den Freiwilligen aber auch auf andere Art einen Vorteil verschaffen, 'den sie beispielsweise bei der Bewerbung um einen Ausbildungs- oder Studienplatz einsetzen können'. Der Austausch mit den Trägern des Freiwilligendienstes soll 'geeignete Möglichkeiten zur Stärkung der Anerkennungskultur und zu deren Umsetzung aufzeigen'.
Das FSJ dient den Freiwilligen freilich auch zur Berufserkundung. Es sei eine eindeutige Tendenz erkennbar, 'dass junge Menschen, die ein FSJ leisten, im Anschluss vermehrt einen sozialen Beruf wählen', heißt es in dem Bericht aus dem Sozialressort. In vielen Einsatzstellen seien Freiwillige in die Teamarbeit fest eingeplant. Sie werden aber pädagogisch begleitet, was einer einseitigen Instrumentalisierung entgegenwirke und ihre individuellen Ziele berücksichtige. 'Die Tätigkeit der Freiwilligen bildet in der Einsatzstelle insofern eine Leistung mit maßvoller Verantwortung, die jedoch keinesfalls die Leistungen des Fachpersonals ersetzen kann.'
Am beliebtesten ist ein Einsatz in Kitas und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. 23 Prozent der Freiwilligen sind dort tätig. Der Dienst im Krankenhaus folgt mit 19 Prozent. 17 Prozent der Freiwilligen arbeiten in Einrichtungen für behinderte Menschen. Altenpflege, Rettungsdienst, Ganztagesbetreuung in Schulen, aber auch kirchliche Einrichtungen, Museen, Theater, Archive, Orchester oder Sportvereine sind weitere Betätigungsfelder.
50 Jahre Freiwilligendienst
FSJ Am 17. August 1964 ist das Gesetz zur Förderung des freiwilligen sozialen Jahres in Kraft getreten. Wer höchstens 27 Jahre alt ist, kann den Freiwilligendienst für sechs bis 24 Monate leisten. Die Regel ist ein Jahr. Die Teilnehmer erhalten ein Taschengeld. Dieses wird vom Träger festgelegt und beträgt erfahrungsgemäß zwischen 150 und 200 Euro pro Monat. Unterkunft und Verpflegung sind frei. In Baden- Württemberg machten im Jahr 2000/01 rund 2300 junge Menschen ein FSJ. In diesem Jahr werden es knapp 11 000 sein.
FÖJ Eine Form des FSJ ist das freiwillige ökologische Jahr. Das gibt es im Land seit 1990 mit damals erst 30 Plätzen. Es bietet die Chance, ein Jahr im Umwelt- und Naturschutz zu arbeiten und sich parallel dazu ökologisch und umweltpolitisch weiterzubilden. Inzwischen unterstützt das Land aus dem Topf des Umweltministeriums 210 Plätze.
BFD Der Bund bezuschusst sowohl das FSJ als auch das FÖJ. Er hat daneben mit dem Bundesfreiwilligendienst eine weitere Alternative geschaffen. Der BFD trat am 1. Juli 2011 an die Stelle des Zivildienstes. Auch der 'Bufdi' erhält ein Taschengeld (345 Euro), einen Verpflegungs- sowie einen Fahrtkostenzuschuss. Um den BFD zu machen, darf man auch älter sein als 27. Im Mai 2014 waren im Land gut 5000 Bufdis tätig, die meisten von ihnen waren freilich auch noch keine 27.
Verteilung Bei den Einrichtungen des Diakonischen Werkes Württemberg zum Beispiel absolvierten im Jahrgang 2012/13 exakt 1317 junge Menschen ein FSJ, genau 465 leisteten den BFD und 45 ein FÖJ. tb
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Stuttgarter Zeitung, Nr. 138 Mittwoch, der 18. Juni 2014, S. 8
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Region Stuttgart
Wie ein Drahtesel das Selbstbewusstsein steigern kannWaiblingen Maik Baier ist einer der besten BMX-Fahrer. Als Bufdi zeigt er Schülern, wie sie Rennstrecken meistern . Annette ClaußWaiblingen Die Verabredung zum Gespräch muss Maik Baier kurzfristig verschieben: Nach dem Training ist er so lädiert, dass er zunächst in ein Krankenhaus muss, um sich verarzten zu lassen. Stürze seien der ganz normale Alltag eines BMX-Rennfahrers, sagt der 24-Jährige einige Stunden später. Da sitzt er im Olympiastützpunkt in Stuttgart-Bad Cannstatt hinter dem Stadion, zwischen Wasserflaschen, einem Rechner und zwei Großpackungen Energydrinks. Sein Ellbogengelenk ist bandagiert, das Knie geschwollen, schwarzes Lymph- Tape schlängelt sich am Bein entlang.
Platzwunden, Sehnenrisse und Knochenbrüche sind keine Seltenheit bei BMX-Rennfahrern wie Maik Baier. Seine Erfahrungen gibt er an rund zehn Schülerinnen und Schüler des Berufsbildungswerks Waiblingen (BBW) weiter - seit Oktober trainiert er die Truppe. Denn beim BBW macht er den Bundesfreiwilligendienst (Bufdi) mit dem Schwerpunkt Sport an der Sonderberufsschule, die sich um junge Menschen kümmert, welche aus verschiedensten Gründen spezielle Hilfe und das ein oder andere Erfolgserlebnis brauchen. 'Ich arbeite im Freizeithaus, weise beispielsweise die Leute im Kraftraum ein und zeige ihnen Übungen.' Baier und seine BMX- Teamkollegen werden bisweilen auch als 'Rampensäue' tituliert. Die erste Rampe, die die Radler nehmen müssen, ist die am Start: acht Meter tief geht es von dort bergab, sobald das Kommando 'Watch the gate' und ein Signalton erklungen sind. In zwei Sekunden beschleunigt Maik Baier sein Rad mit den 20-Zoll-Rä
dern von Tempo Null auf 65. Das Spezialfahrrad hat einen Gang und lediglich eine Bremse am Hinterrad. 'Aber die braucht man nur am Ziel.'
Im Jahr 1996 hat Maik Baier, der aus Walheim im Kreis Ludwigsburg stammt, seine ersten BMX- Rennen gefahren - als siebenjähriger Steppke. 'Man muss früh anfangen, um die schwierige Technik zu lernen', sagt er. Und schon der Start sei eine Herausforderung, denn da müssten die Fahrer, acht davon nebeneinander, auf ihren Pedalen balancierend parat stehen, bis die Startklappe fällt und sie losrauschen können. Auf der Strecke wird gerast und gesprungen und mit harten Bandagen gekämpft, die Konkurrenten werden in der Kurve schon mal rausgekegelt. 'Wenn man es nicht selbst macht, dann tut es ein anderer', sagt Baier. 'Angst darf man nicht haben. Wenn man das hat, braucht man erst gar nicht zu starten.' Doch nicht nur die anderen Rennfahrer, auch das eigene Gefährt kann einem gefährlich werden. 'Es kommt vor, dass das Rad den Menschen unter Kontrolle hat statt andersherum', sagt Baier. Dann schieße der Drahtesel den Fahrer ab wie der Bulle den Reiter beim Rodeo.
Diese Erfahrung machen auch seine Schützlinge in der Sonderberufsschule. Einige Unerschrockene wagen sich zudem mit dem 24- jährigen Rennfahrer in den Sportspeicher, um zu üben - eine zur BMX-Strecke umgebaute alte Lagerhalle. 'Das große Ziel für Anfänger ist, nicht zu stürzen und ein Gefühl aufzubauen für das Rad. Das dauert schon eine ganze
Weile', sagt Baier, der vor zwei Jahren bei den Olympischen Spielen in London gestartet ist. Seine nächste sportliche Herausforderung ist die Weltmeisterschaft im Juli in Rotterdam.
Den BBW- Schülern zeigt er Schritt für Schritt, worauf es ankommt: 'Wir machen Grundübungen und fahren langsam über die Hindernisse. Es ist schon schwierig und ein Erfolgserlebnis, da drüberzukommen, ohne mit dem Pedal aufzusitzen.' Die Jugendlichen sind voll dabei: 'Manche wollen gar nicht mehr absteigen.'
Um sich auf internationale Wettkämpfe vorzubereiten, müssen Baier und seine Mannschaftskollegen ins Ausland reisen, denn rund um Stuttgart gibt es zwar einige BMX-Strecken, aber keine, die den internationalen Standards entsprechen. Das werde sich ändern, sagt Baier. Bei Weil der Stadt solle eine Trainingsroute entstehen, die dem Weltcupstandard entspricht.
Im Winter ist Trainingszeit, im Sommer steht für die Fahrer fast jedes Wochenende ein Rennen auf dem Plan. Maik Baiers Arbeitgeber, die Firma Daimler, hält seinen Arbeitsplatz für die nächsten vier Jahre für ihn frei. Unterdessen kann sich der Industriemechaniker, der im Sportinternat in Bad Cannstatt wohnt, auf den Sport konzentrieren. Sein nächstes großes Ziel sind die Olympischen Spiele in zwei Jahren, die Qualifikation dafür beginnt Ende Mai. In Rio de Janeiro will er 'richtig angreifen', weiß aber nach seiner ersten Olympiateilnahme in London: 'Da ist schon viel Glück dabei.'
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Stuttgarter Zeitung, Nr. 88 Dienstag, der 15. April 2014, S. 22
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Bund feiert Freiwilligendienst als ErfolgSoziales Die Nachfolger der Zivis sind gefragt, aber Träger im Land klagen über bürokratische Hürden. Nora StöhrGeld verdienen' steht handschriftlich auf einem Plakat geschrieben, darunter stehen Begriffe wie 'Selbstfindung' oder 'Überbrückungsjahr'. Bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen im Jugendzentrum Plochingen (Kreis Esslingen) diskutierten Jugendliche aus ganz Baden- Württemberg darüber, warum sie in diesem Herbst den Bundesfreiwilligendienst in einer der Einrichtungen der Diakonie Württemberg antreten. 'Bei mir geht es vor allem um die berufliche Orientierung', erzählt Daniel Kurutz. Der 19- jährige Abiturient hofft, nach dem Jahr bei der Stiftung Tragwerk in Kirchheim (Kreis Esslingen) zu wissen, was er studieren möchte oder, ob es doch lieber eine Ausbildung sein soll.
Seit zwei Jahren gibt es den Bundesfreiwilligendienst, kurz BFD, als Nachfolger des Zivildienstes. Die Bundesregierung feiert ihre Errungenschaft als Erfolgsmodell. Von einer starken Nachfrage ist die Rede. 'Der Bundesfreiwilligendienst hat alle Erwartungen übertroffen', sagte die noch amtierende Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) unlängst. Bei den religiösen und humanitären Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege in Baden- Württemberg fällt das Urteil differenzierter aus.
'Wir haben mehr Bundesfreiwillige als im letzten Jahr', sagt Claudia Mann, Sprecherin der Diakonie Württemberg. Die Referatsleiterin für den Bundesfreiwilligendienst beim Roten Kreuz Württemberg, Christina Frank, bestätigt den Trend: 'Bei uns ist die Nachfrage in diesem Jahr größer als das Angebot.' Viele der Verbände führen dieses große Interesse vor allem auf den doppelten Abiturjahrgang zurück.
Aus Sicht von Sebastian Lützen, Sprecher der Freiwilligendienste in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hat sich der Bundesfreiwilligendienst noch nicht etabliert: 'Wir hören selten, dass jemand gezielt nach dem BFD fragt.' Viele Bewerber verwirre zudem auch die Parallelstruktur von BFD und Freiwilligen Sozialem Jahr (FSJ). Es sei schwierig, den Freiwilligen den Unterschied zu vermitteln, da sich dieser vor allem auf politischer Ebene abspiele, hört man.
Auch manche der Organisationen sehen in der Struktur des Bundesfreiwilligendienstes ein Problem. Vom 'Ärger über bürokratische Hürden' spricht etwa Wolfgang Hinz-Rommel, Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement der Diakonie Württemberg: 'Da alles über das Bundesamt in Köln läuft, ist der BFD umständlicher zu organisieren und zu verwalten als das FSJ.' Auch die Planungssicherheit und Verlässlichkeit sei beim BFD nicht mehr gegeben, wie Christina Frank vom Roten Kreuz aus Erfahrung weiß: 'Manche bekommen kurz nach ihrem Antritt doch noch die Zusage für einen Studienplatz und brechen dann ihren Freiwilligendienst ab.'
Etwa 1500 Zivildienstleistende waren im Jahr 2010 bei der Diakonie Württemberg im Einsatz, derzeit sind es gut 500 'Bufdis', wie die Bundesfreiwilligen auch genannt werden. Die Lücken, die seither entstanden sind, konnten nur in einigen Bereichen - in der Betreuung oder in der Pflege - kompensiert werden. 'Fahrdienste oder Hausmeisterjobs, die früher gerne von Zivildienstleistenden übernommen wurden, funktionieren nun nicht mehr', berichtet Hinz-Rommel.
Bei der Diakonie handhabt man dieses Problem ganz pragmatisch, wie der Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement erzählt: 'Der Hausmeister hat nun eben keine Hilfskraft mehr.' Bei der Körperbehindertenförderung (KBF) mit Sitz in Mössingen (Kreis Tübingen), die derzeit knapp 160 Bundesfreiwillige beschäftigt und zu Hochzeiten bis zu 600 Zivildienstleistende hatte, reagiert man auf das Defizit mit der Einstellung von manchen Angeboten. 'Außerdem wurden einige Stellen mit Praktikanten, FSJlern oder geringfügig Beschäftigten besetzt', fügt Helmut Gutekunst, Leiter der Freiwilligendienste bei der KBF, hinzu.
Der Kritik am Bundesfreiwilligendienst, er gefährde reguläre Arbeitsplätze im sozialen Bereich, stimmt der Großteil der Wohlfahrtsverbände im Land nicht zu. 'Bundesfreiwillige können niemals eine Pflegekraft ersetzen, sie haben auch ganz andere Tä
tigkeitsfelder als das Fachpersonal', sagt Frank vom Roten Kreuz.
Auch der Vorwurf, immer mehr ältere Menschen mit wenig Rente sähen sich gezwungen, ihr mageres Auskommen durch den BFD aufzubessern, scheint zumindest bei den Verbänden in Baden-Württemberg kaum ein Thema zu sein. Vielmehr gehe es der vergleichsweise geringen Anzahl an Rentnern im Land, die den Bundesfreiwilligendienst leisten, um Anerkennung und Wertschätzung und um das Gefühl, gebraucht zu werden, lautet der Tenor der Organisationen.
Bildunterschrift: Seniorenheime wie hier im Bild sind ein klassischer Einsatzort für Bufdis. Foto: dpa
Unterschiede zwischen Ost und West
Angebote Der Bundesfreiwilligendienst (BFD) ergänzt die bisherigen auf Länderebene bestehenden Freiwilligendienste, das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr.
Finanzierung Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln fördert jährlich 35 000 Plätze mit 200 Millionen Euro. Das Ministerium weist jedem Träger ein bestimmtes Kontingent an Plätzen zu. Die Freiwilligen erhalten ein Taschengeld von maximal 348 Euro.
Interesse Am 4. September trat der 100 000 Bundesfreiwillige in Berlin den Dienst an. Deutschlandweit waren im Juli 2013 bei unterschiedlichen Trägern rund 35 200 Bufdis im Einsatz. Im gleichen Monat des Vorjahrs waren es rund 32 000. Auch in Baden-Württemberg ist die Nachfrage gestiegen: Im Juni 2012 gab es 3397 Freiwillige, ein Jahr später 3881.
Altersgrenze Der BFD steht Menschen jedes Alters offen. Laut einer aktuellen Studie macht in Ostdeutschland die Gruppe der Über-27-Jährigen Dreiviertel der Freiwilligen aus. In den westlichen Bundesländern sind es nur rund 20 Prozent. noa
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Stuttgarter Zeitung, Nr. 226 Samstag, der 28. September 2013, S. 6
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LOKA
Der DJ als NationalparkwächterSerie: Besser leben
Porträt Robin Hofmann ist Gestalter. Momentan versucht er sich aber lieber als Forstarbeiter. Ingmar VolkmannNeulich bei der Eröffnung der Stuttgarter Bar Romantica: Die Menschen sind schön, die Gläser voll, die Luft ist stickig. Über das Publikum bei Cluberöffnungen wird gerne gelästert. Meist tuscheln diejenigen, die keine Einladung abbekommen haben: Das Premierenpublikum bestehe aus Bescheidwissern, die irgendwas mit Medien machen und mit Vorliebe Jeans von ausgesuchten skandinavischen Jungdesignern tragen, die außer ihnen keiner kennt. Den Club besuchen sie nach dem ersten Abend nie wieder, weil dann längst schon wieder ein angesagterer Laden drei Straßen weiter eröffnet hat.
Robin Hofmann ist Teil dieser in sich geschlossenen Szene. Er trägt einen gepflegten Hipster- Vollbart, lehnt lässig an der Bar und erzählt etwas von einem Projekt, das ansteht. Bei seinem Projekt handelt es sich aber nicht um seinen nächsten Auftritt als DJ oder die nächste Musikproduktion, die er für seine Firma HearDis! konzipiert. Hofmann erklärt zwischen den House-Beats, dass er Anfang Juli für ein Jahr in die Sächsische Schweiz geht, um sich beim Bundesfreiwilligendienst (Bufdi) als Nationalparkwächter zu versuchen. Vom Geschäftsführer einer Agentur mit 15 Mitarbeitern und einer Zweigstelle in Berlin zum Waldschrat 50 Kilometer hinter Dresden? Hofmann holt weit aus und erzählt vom Wunsch, sich zu hinterfragen. 'Ich wusste, dass ich eine Auszeit brauche und wollte nicht warten, bis es nicht mehr geht.' Der Diplom-Gestalter hat sich mit 21 Jahren selbstständig gemacht. 'Es ging mir nie darum, reich und erfolgreich zu sein, sondern frei entscheiden zu können', sagt der 37-Jährige. Also habe er sich um eine Stelle als Bufdi beworben. 'Ich wollte mal keine Verantwortung ha
ben, mal nicht der Leithammel sein.' Und da sage noch einer, Smalltalk im Club sei oberflächlich.
Ortswechsel. Robin Hofmann arbeitet mittlerweile seit zwei Wochen im Nationalpark Sächsische Schweiz. Am Telefon erzählt er von seinen ersten Eindrücken. 'Es ist natürlich eine komplett andere Welt hier. Vor dem Alleinsein im Winter habe ich schon jetzt Respekt. Bad Schandau bietet nicht gerade Abwechslung pur', so Hofmann. Früher hat Hofmann in Clubs von Kopenhagen bis Moskau aufgelegt. 'Irgendwann hat das Auflegen aber keinen Spaß mehr gemacht. Das Herumreisen und nachts arbeiten hat mich gestresst.'
Mit seiner Band Dublex Inc. produzierte er im Jahr 2000 das Stück Tango Forte, aus dem die britische Popgruppe Sugababes einen Charthit machte. Er gründete die Plattenfirma Pulver Records und die Agentur HearDis!, deren Erfolgsgeschichte die Verfechter der sogenannten Kreativwirtschaft ganz kirre machen dürfte. Aus der 'Zwei-Mann-Butze', wie Hofmann sie nennt, ist eine Agentur entstanden, die sich auf Corporate Sound spezialisiert hat.
Seine neuen Kollegen in der Waldarbeiter-Branche dürften mit solch einer Unternehmensbeschreibung eher weniger anfangen können. 'Die nennen ihren Computer Klimperkiste.' An seiner Klimperkiste hat Hofmann Musik komponiert. HearDis! entscheidet, wie sich eine Marke anhört: 'Für die Shops von Hugo Boss suchen wir die Musik heraus, für die Schweizer Supermarktkette Migros durften wir erarbeiten, wie die Firma klingt, um deren Werbung nun mit Musik unterlegen zu können.'
Im Nationalpark Sächsische Schweiz hat er jetzt die Aufgabe, die Natur zu bewahren. Er muss darauf achten, dass die Gäste behutsam mit der Umwelt umgehen. 'Der Austausch mit den Kollegen ist spannend. Wenn die über ihren Arbeitsalltag schimpfen, erinnere ich sie daran, wie paradiesisch ihr Arbeitsplatz ist.' Im Gegenzug lernt Hofmann Wissenswertes über Flora und Fauna. 'Ich kann hier in Ruhe beobachten und als Unternehmer lernen, wie Menschen in einer strengeren Hierarchie miteinander umgehen.'
Sein altes Ich hat er noch nicht abschütteln können. 'Manchmal möchte ich einen Ablauf optimieren. Dann erinnere ich mich aber daran, dass ich hier tiefstapeln möchte.' Sein alter Job lässt ihn auch noch nicht los. 'Mit meinen Kollegen habe ich vereinbart, dass wir einmal die Woche per Videokonferenz sprechen, falls es etwas Dringendes gibt.' Nachdem Hofmanns Team seinen Wunsch, eine Auszeit zu nehmen, akzeptiert hatte, wurden zwei neue Mitarbeiter eingestellt. Hofmann ist gespannt, wie es nach der Auszeit weitergeht. 'Vielleicht habe ich eine ganz neue Vision für die Firma, wenn der Akku wieder aufgeladen ist.' Vielleicht wird aus der Auszeit aber auch ein längerer Lebensabschnitt: Derzeit scheint Hofmann seinen Wald gegen keine Cluberöffnung eintauschen zu wollen.
Serie 'Besser leben' Auf der Seite 'Stuttgart kulinarisch' zeigen wir morgen, dass Internethandel nicht schlecht sein muss.In der 'Kultur' erklärt Daniel Hackbarth , was die großen Philosophen der Zeitgeschichte für ein besseres Leben empfehlen.
Bildunterschrift: Foto: privat
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Stuttgarter Zeitung, Nr. 158 Donnerstag, der 11. Juli 2013, S. 20
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Vom Hilfslehrer in Afrika zum BuchautorEin junger Stuttgarter veröffentlicht seine Internet-Einträge vom Freiwilligendienst in Namibia in gedruckter Form
Philipp Walter wollte seine Familie und Freunde während seines Auslandseinsatzes auf dem neuesten Stand halten. Doch weil sein Blog immer mehr Leser bekam, wurde ein Buch daraus.
Von Christoph Meyer
Stuttgart Wie schön wäre es, noch einmal 20 zu sein. Das Abitur gerade bestanden, die erste große Liebe noch frisch, und die große weite Welt wartet nur darauf, entdeckt zu werden. So ging es zumindest Philipp Walter. Der 22- Jährige hat ein Buch darüber geschrieben. Genauer gesagt, ein Buch über seinen Freiwilligendienst in Namibia. Der gebürtige Stuttgarter hat nach dem Abitur ein Jahr in der ehemaligen deutschen Kolonie im Südwesten des afrikanischen Kontinents gelebt. Jetzt sitzt er in einem Café in der Stuttgarter Innenstadt, trinkt eine heiße Schokolade und erzählt, wie er dabei ganz unverhofft zum Buchautor wurde.
'Ich habe regelmäßig von Namibia aus gebloggt, um mit meiner Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben', erinnert sich Walter. Das heißt, er hat ein Tagebuch im Internet geführt, das für jeden zugänglich war - und offensichtlich viele Menschen zum Träumen gebracht hat. 'Bald hatte ich viel mehr Leser als Bekannte', sagt er.
Warum? Das weiß der Student selbst nicht so recht. Doch kaum war er zurück in Deutschland, fragte ein Verlag bei ihm nach, ob er den Blog nicht zu einem Buch machen wolle. 'Ich habe natürlich zugesagt', erinnert sich Walter. Katrin Martin vom Verlag Bloggingbooks, der Philipp Walters Blog nun unter dem Titel 'Richtungswechsel' in gedruckter Form herausgegeben hat, begründet das so: 'Er liefert uns eine andere und sehr persönliche Sicht auf ein wunderbares Land und einen wunderbaren Kontinent.'
Dabei ist das Buch kein literarisches Paradestück, wie Philipp Walter selber zugibt. 'Ich habe darin keinen literarischen Mehrwert gesehen, ich wollte nur andere Men
schen an meiner Entwicklung dort teilhaben lassen.'
Philipp Walter hat in einem Bildungsprojekt für Kinder in Okakarara im Norden von Namibia gearbeitet. Bei Steps for children, einer deutschen Initiative, hat er Kindern Nachhilfe in Englisch gegeben, eine Theatergruppe geleitet, eine Fußballmannschaft trainiert und nebenher noch ein Gästehaus vermarktet. Es sind afrikanische Alltagsgeschichten, die er im Buch erzählt. 'Nach Namibia zu gehen war die beste Entscheidung meines Lebens', sagt Walter noch heute, zwei Jahre nach dem Freiwilligendienst.
Philipp Walter ist ein junger Mann mit rechteckiger Brille und sportlicher Figur. Er gehört zu der Generation junger Leute, die sich in der virtuellen Welt wie ein Fisch im Wasser bewegen und trotzdem nicht vergessen haben, dass es da draußen auch eine reale Welt gibt.
Diese Welt hat er in Namibia in Reinkultur erlebt. Es sind Erfahrungen, die ihn tief beeindruckt haben und die ein anderes Afrika zeigen, als man es vom Fernsehen kennt. Eine Welt, in der man intensiver lebt als in Europa, wo alles industriell gefertigt wird und die Lebensmittel mit Chemie vollgepumpt sind.
In seinem Buch schwärmt er von dem frischen Ziegenfleisch und der würzigen Soße, Chakalaka, die er so oft in Namibia gegessen hat. Überhaupt ziehen sich die Geschichten von kulinarischen Genüssen wie ein roter Faden durch sein Buch. Kein Wunder, dass Philipp Walter ein Kapitel seinen Kochrezepten widmet.
Auch das namibische Bier hat es Walter angetan. Es ist nach deutschem Reinheitsgebot gebraut, ein Erbe der kolonialen Vergangenheit. Doch die hat auch ihr
düsteres Kapitel. Okakarara ist eines der Zentren der Hererobevölkerung. Die Herero gehören zu den Volksgruppen in Namibia, die von deutschen Kolonialtruppen während eines Aufstandes zwischen 1904 und 1908 zu Zehntausenden ermordet wurden. 'Wir haben keine Ressentiments gespürt, weil wir Deutsche sind', sagt Walter. Aber ihm ist aufgefallen, dass es unter den Nachfahren der deutschen Siedler in Namibia noch heute Rassismus gegen die schwarze Bevölkerung gibt.
Inzwischen lebt er in Tübingen, studiert Internationale Volkswirtschaftslehre und hat einen ambitionierten Ansatz: 'Ich möchte durch mein Studium gerne herausfinden, warum der Wohlstand auf der Welt so ungerecht verteilt ist.'
Natürlich engagiert er sich weiter für Namibia. Er hat mit anderen ehemaligen Freiwilligen die Initiative 'Welwitscha' ins Leben gerufen, die Jugendlichen einen Bildungsabschluss ermöglicht.
Vielleicht sind es ja der ungetrübte Idealismus und die Hoffnung, etwas verändern zu können, die das Buch von Philipp Walter so interessant machen. Ein Lebensgefühl, das viele Menschen aus der eigenen Jugend kennen, das aber im späteren Leben allzu oft der Realität des grauen Alltags weichen musste.
Das Buch 'Richtungswechsel' von Philipp Walter ist bei verschiedenen Buchhandlungen in Stuttgart und im Internet erhältlich. Es kostet 19,80 Euro. ISBN: 978-3-8417-7019-6.
Bildunterschrift: Im namibischen Okakarara hat der Stuttgarter Philipp Walter Nachhilfe in Englisch gegeben, seinen Blog darüber gibt es nun in Buchform. Foto: StN
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Stuttgarter Nachrichten, Nr. 72 Dienstag, der 26. März 2013, S. 19
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Ältere Bufdis suchen oft richtigen JobJeder fünfte Freiwillige beim Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg ist über 27 Jahre - Die Hälfte war davor arbeitslos
Das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg hat die älteren Bundesfreiwilligendienstler der ersten Generation nach ihren Erfahrungen befragt. Viele sehen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt.
Von Christian Ignatzi
Stuttgart Absolventen des Bundesfreiwilligendienstes, die älter als 27 Jahre sind, waren zuvor meist arbeitslos und erhoffen sich eine berufliche Perspektive von ihrem Engagement. Das ergibt eine Umfrage, die das Wohlfahrtswerk Baden- Württemberg unter seinen Bundesfreiwilligendienstlern (Bufdis) über 27 Jahre jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Von den 161 Teilnehmern am Freiwilligendienst im ersten Jahrgang beim Wohlfahrtswerk für Baden- Württemberg waren 32 älter als 27. Das entspricht 19 Prozent der Bufdis.
Jeder zweite der Befragten war vor dem Beginn seines Freiwilligendienstes arbeitslos oder arbeitsuchend. 20 Prozent hatten einen Ein- Euro- Job. 12 Prozent waren vorher angestellt, 4 Prozent in Rente und weitere 4 Prozent gaben Sonstiges an, etwa Sprachkurse oder Elternzeit. 50 Prozent der Befragten bestätigten zudem, dass sie den Freiwilligendienst mit der Hoffnung verbinden, im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
'Der große Vorteil am Freiwilligendienst ist für diese Menschen, dass sie durch die Tätigkeit sozialversichert sind', sagt Gisela Gölz, die beim Wohlfahrtswerk die Freiwilligendienste leitet. Damit haben Bufdis
den gleichen Status wie Zivildienstleistende. Auch bei der Agentur für Arbeit werden sie behandelt wie zuvor die Zivis. 'Bufdis werden nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik geführt', sagt ein Sprecher der Agentur für Arbeit in Stuttgart. 'Wenn sie wollen, dürfen sie aber arbeitsuchend bleiben.'
Yvonne Stephanie Hielscher ist eine von jenen Bufdis, die anschließend gerne wieder einen richtigen Job hätten. Die 35 Jahre alte medizinische Fachangestellte aus Balingen hat vier Kinder. 'Seit zwölf Jahren habe ich deshalb nicht mehr in meinem Beruf gearbeitet', sagt sie. Ihr bietet der Bundesfreiwilligendienst eine neue Möglichkeit. Seit September arbeitet sie Vollzeit in einer Jugendhilfe-Wohngruppe. 'Nach dem Bufdi werde ich eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin machen', sagt sie.
Auch Edeltraud Grasser (64) gehört zu den Rentnern, die den Freiwilligendienst nutzen. Sie fühlte sich alleine. 21 Stunden pro Woche in einer Behindertenwerkstatt geben ihr die Möglichkeit, ihre Zeit sinnvoll zu verbringen. 'Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. In der Werkstatt gefällt es mir so gut, dass ich darüber nachdenke, nach dem Bufdi noch weiter dort zu arbeiten', sagt sie.
Bruno Felsinger (60) hat seinen Bundesfreiwilligendienst mittlerweile hinter sich und arbeitet im Haus am Weinberg in Obertürkheim als Pflegehelfer. Damit gehört er zu den 36 Prozent der Bufdis über 27 aus dem ersten Jahrgang, die nach dem Dienst weiter in ihrer Einrichtungsstelle arbeiten. Zuvor war er viele Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit in Asien und Afrika tätig. Für die letzten Berufsjahre suchte er eine neue Herausforderung. 'Für mein Umfeld ist das kein Problem. Meine Frau arbeitet selbst im sozialen Bereich', sagt er. Nicht bei jedem Bufdi ist die Akzeptanz so hoch. 44 Prozent gaben in der Umfrage des Wohlfahrtswerks an, dass sie sich als Teilnehmer des Bundesfreiwilligendienstes nur in geringem Maß gesellschaftlich anerkannt fühlen.
Trotzdem identifizieren sich die Freiwilligen meist mit ihrer Tätigkeit. 96 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, ihre Arbeit sei gesellschaftlich in einem hohen Maß sinnvoll und nützlich. 'Es ist klar, dass die Freiwilligen zu einem höheren Prozentsatz zufrieden mit ihrer Tätigkeit sind, als es die Zivis waren, denn sie machen ihre Arbeit aus freien Stücken', sagt der Leiter des Hauses am Weinberg, Erwin Müller.
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Stuttgarter Nachrichten, Nr. 290 Freitag, der 14. Dezember 2012, S. 22
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'Hier wird erwartet, dass du funktionierst'Kernen Freiwillige, die sich in der Diakonie Stetten engagieren, klagen über die Zustände. Die Einrichtung verteidigt sich. Annette ClaußRund 100 junge Menschen im Alter von 16 bis 26 Jahren arbeiten derzeit im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres (FSJ) oder des Bundesfreiwilligen Dienstes (Bufdi) in den Bereichen Wohnen und Werkstätten der Diakonie Stetten (Rems-Murr-Kreis). Die meisten der Freiwilligen dürften eine gute Portion Idealismus nach Stetten geführt haben. Doch die Wohn- und die Arbeitssituation in der Einrichtung erzeugen bei einigen Jugendlichen Frust, weshalb sie sich an unsere Zeitung gewandt haben.
Zum einen bemängeln die jungen Leute ihre Unterkünfte in den Wohnheimen Tannäcker 5, 7 und 9 - drei Gebäude, die wohl aus den späten 60er oder frühen 70er Jahren stammen und eine grundlegende Sanierung nötig hätten. Besonders die Gemeinschaftsküchen sowie die gemeinsam genutzten sanitären Anlagen - pro Flur zwei Toiletten, eine mit einer Badewanne in der Kabine - machen einen abgewohnten und vernachlässigten Eindruck.
Die Aufenthaltsräume auf jedem Stockwerk geben ein ähnliches Bild ab: kahle Wände, durchgesessene Sofas und bunt zusammengewürfeltes Mobiliar. 'So wie es hier aussieht, fühlt man sich einfach nicht wohl', sagt die 22- jährige Rebecca, die ihr FSJ nun beendet hat und sich endlich nicht mehr über den Fernseher im Gemeinschaftsraum ärgern muss, der bereits vor Monaten den Geist aufgegeben hat.
Wenn es Konflikte gebe, dann würden die Aufenthaltsräume einfach abgeschlossen, klagen die jungen Bewohner. Auch sonst hagele es 'Abmahnungen und Drohungen', zum Beispiel, weil ein Zimmer nicht aufgeräumt sei. Die für die Wohnheime Tannäcker Verantwortlichen 'gehen einfach in Zimmer rein - man wird behandelt wie in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche', klagt Rebecca.
'Haufenweise Überstunden'
Problematisch sei auch der Standort der drei Gebäude: Sie befinden sich mitten auf dem Diakoniegelände und sind umge
ben von den Unterkünften der Diakonie-Bewohner. Selbst an freien Tagen sei man gewissermaßen ständig im Dienst, sagt Martin: 'Man hat hier nie seine Ruhe, der Geräuschpegel ist enorm. Es war eine absolute Schnapsidee, die Wohnheime direkt in der Diakonie zu bauen.'
Die Freiwilligen wollen sich regenerieren können, denn während der Arbeitszeit wird voller Einsatz erwartet: 'Wir machen dieselbe Arbeit wie eine Fachkraft und haben haufenweise Überstunden', klagt der Bufdi Norbert. Er sagt, zwölf Arbeitstage in Folge seien keine Seltenheit. Normalerweise müsse er drei, bisweilen auch vier Bewohner eigenverantwortlich duschen, waschen und für die Werkstatt richten, lediglich das Verabreichen von Medikamenten falle nicht in seinen Aufgabenbereich. 'In der Diakonie wird erwartet, dass du funktionierst und nach ein bis zwei Wochen alles verstanden hast', sagt der 19-jährige Martin. Er selbst habe als FSJler auch Nachtwachen für drei Häuser schieben müssen - zwischen 22 und sechs Uhr morgens: 'Sie haben mir einen Piepser in die Hand gedrückt. Man ist verantwortlich für Leute, die man nicht kennt, in Räumlichkeiten, die man nicht kennt.' Wer krank sei, werde schon mal als Drückeberger hingestellt, die regulären Diakoniemitarbeiter seien oft im Dauerstress.
Insgesamt bleibe viel zu wenig Zeit für das, was die Freiwilligen ursprünglich in die Diakonie gelockt hat: die Unternehmungen und den Austausch mit den behinderten Bewohnern. 'Das Gemeine ist, dass sie nichts für die Situation können, aber darunter am meisten leiden', sagt Rebecca. Sie betont, dass es aber durchaus schöne Momente gegeben habe. 'Und meine Arbeitskollegen waren super - ohne sie wäre ich schon längst weggegangen.'
Diakonie nimmt Stellung
Die Diakonie Stetten hat auf Nachfrage unserer Zeitung zu den Vorwürfen schriftlich Stellung genommen. Zur Wohnsituation heißt es darin: 'Die Räume und die Ausstattung sind in der Tat einfach, aber
aus unserer Sicht angemessen angesichts der sehr günstigen Miete' - diese bewege sich je nach Zimmergröße zwischen 150 und 240 Euro Warmmiete. Zudem sei niemand verpflichtet, dieses Wohnangebot zu nutzen. Die Zimmer würden nur ohne Anmeldung betreten, wenn 'Gefahr im Verzug' sei. In diesem Fall 'wird vor Eintritt selbstverständlich geklopft'. Was die Arbeitssituation angehe, so sei man sich bewusst, 'dass junge Mitarbeitende in dieser Lebensphase eine gute Begleitung benötigen und wir nicht die gleichen Maßstäbe anlegen können, wie bei unseren festangestellten Mitarbeitern'. Man nehme 'eine gute Einarbeitung und Begleitung sehr ernst' - zu diesem Zweck gebe es 'eine eigens beauftragte Mitarbeiterin'.
In einem gewissen Rahmen müssten die Freiwilligen aber Verantwortung übernehmen. 'Es ist jedoch immer eine Fachkraft anwesend, die bei Bedarf unterstützt. Dass ein FSJ oder Bufdi zur Nachtwache verpflichtet wird, schließen wir aus.' Pauschale Vorwürfe gegen die Freiwilligen in Bezug auf 'Blaumachen' gebe es nicht.
Regelmäßige Befragungen
Die Diakonie führe regelmäßig Befragungen durch. Angesichts der aktuellen Vorwürfe plant die Diakonie im Herbst eine erneute Befragung. Die Umfragen in der Vergangenheit hätten ergeben, 'dass die jungen Leute sich insgesamt bei uns wohlfühlen und zufrieden sind'. Geschätzt würden 'der günstige Wohnraum, die Möglichkeiten zum eigenverantwortlichen Arbeiten und zum realistischen Kennenlernen des Berufsfelds', teilt die Diakonie mit.
Eine junge Freiwillige, die nicht namentlich erwähnt werden will, sagt dazu: 'Ich bin mit der Einstellung gekommen, dass ich helfen will. Deshalb kann ich auch nicht einfach gehen. Eigentlich hatte ich mir überlegt, eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin zu machen. Aber das kommt für mich nun nicht mehr infrage.'
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Stuttgarter Zeitung, Nr. 199 Dienstag, der 28. August 2012, S. 22
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Politik
Freiwillige vorBundestag setzt die Wehrpflicht aus, Minister fordert "ehrenvollen Dienst" / Von Peter BlechschmidtBerlin - Der Bundestag hat am Donnerstag den Weg frei gemacht für die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligen- Armee. Das Parlament beschloss die Aussetzung der seit 1957 geltenden Wehrpflicht zum 1. Juli dieses Jahres. Parallel dazu billigte der Bundestag mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit die Einführung eines neuen Bundesfreiwilligendienstes als Ersatz für den bisherigen Zivildienst. Die Wehrpflicht bleibt aber im Grundgesetz verankert und kann bei Bedarf per einfachem Gesetz wieder eingeführt werden.
Die Quasi-Abschaffung der Wehrpflicht ist Teil der eingeleiteten umfassenden Bundeswehr- Reform, an deren Ende die Streitkräfte - nach jetzigem Stand der Planung - nur noch maximal 185 000 statt bisher 250 000 Soldaten umfassen sollen. An die Stelle des Pflichtdienstes soll ein Freiwilliger Wehrdienst treten, der zwischen 12 und 23 Monate dauern soll. Er wird auch Frauen offen stehen. Die Bundeswehr rechnet mit einem Bedarf von 15 000 freiwilligen Kurzdienern. Der Dienst soll ihnen mit einem steuerfreien Wehr
sold von 777 bis 1146 Euro im Monat sowie mit Verpflichtungsprämien und einem Entlassungsgeld schmackhaft gemacht werden.
Ob dies gelingt, erscheint allerdings zweifelhaft. Die Kreiswehrersatzämter haben zu Jahresbeginn rund 162 000 junge Leute angeschrieben und auf die künftige Möglichkeit des freiwilligen Dienstes hingewiesen. Darauf haben nur knapp 4000 Männer und Frauen ein konkretes Interesse bekundet. Die Bundeswehr rechnet aber mit einem Bedarf von 12 000 Bewerbern pro Jahr. Hinzu kommt ein sogenannter Regenerationsbedarf von 17 000 Männern und Frauen pro Jahr als Zeit- beziehungsweise Berufssoldaten.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hob in der Schlussdebatte hervor, der freiwillige Dienst in der Bundeswehr müsse als "ehrenvoller Dienst für das Land" verstanden werden. Wer ausschließlich des Geldes wegen komme, sei vielleicht genau derjenige, den die Bundeswehr nicht wolle. Der SPD-Wehrexperte Hans- Peter Bartels erklärte, alle Frak
tionen seien sich einig, dass die Wehrpflicht nicht haltbar sei. Mit der Ausgestaltung des neuen Wehrrechts sei die SPD jedoch nicht einverstanden. Er warnte vor einer Bundeswehr- Reform nach Kassenlage.
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht entfällt auch die Grundlage für den zivilen Ersatzdienst, zu dem 2009 noch 90 000 junge Männer einberufen wurden. Für den neuen, in der Regel einjährigen Freiwilligendienst erhofft sich das Familienministerium 35 000 Interessenten pro Jahr. Er soll Männern und Frauen jeden Alters offen stehen. Sie werden ein Taschengeld von 550 Euro im Monat sowie Unterkunft und Verpflegung erhalten. Daneben sollen das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ) erhalten bleiben. Beide Programme zählen derzeit ebenfalls etwa 35 000 Teilnehmer.
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Süddeutsche Zeitung, Nr. 70 Freitag, der 25. März 2011, S. 5
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Politik
Die Jugendfreiwilligendienste und der neue BundesfreiwilligendienstUnter "Jugendfreiwilligendienste", deren Anfänge wie jene des Zivildienstes in den fünfziger Jahren liegen, werden das "Freiwillige Soziale Jahr" (FSJ), und das "Freiwillige Ökologische Jahr" (FÖJ) zusammengefasst. Sie stehen jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren nach vollendeter Schulpflicht offen. Grundlage ist seit 2008 das Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten. Der Dienst, der jeweils im Sommer angetreten werden kann, dauert in der Regel ein Jahr und kann in sozialen Einrichtungen, im Umweltschutz, im Sport, in der Kultur oder in der Denkmalpflege geleistet werden. Bis zum 25. Lebensjahr besteht ein Anspruch auf Kindergeld. Die Freiwilligen sind über die Träger und/oder die Einsatzstelle sozialversichert und erhalten während ihres Einsatzes ein Taschengeld. Auch Unterkunft und Verpflegung werden in der Regel gestellt, das Geld kann aber auch ausgezahlt werden.
Kriegsdienstverweigerer können als Ersatzdienst auch FSJ oder FÖJ leisten. Die Organisation der Jugendfreiwilligendienste liegt in der Hand der Länder, die dafür Geld aus dem Europäischen Sozialfonds bekommen. Die Förderung fällt sehr unterschiedlich aus: Einige Länder, wie etwa
Bayern oder Baden-Württemberg, fördern FSJ sehr stark, andere wie Schleswig-Holstein oder Mecklenburg- Vorpommern geben kein Geld aus ihrem Etat.
Nach der Aussetzung der Wehrpflicht - vom 1. Juli 2011 an geplant - sind von den insgesamt 350 Millionen Euro, die der Bund für den neuen Dienst aufwendet, 50 Millionen Euro als Förderpauschalen für bestehende FSJ-Stellen vorgesehen. Bisher fördert der Bund nach Angaben des Familienministeriums rund 19 400 Stellen im In- und Ausland (von insgesamt 40 000) und zudem 6700 Stellen für Kriegsdienstverweigerer, die sich für FSJ/ FÖJ entschieden haben.
Der neue Bundesfreiwilligendienst (BFD) ist ein Ersatzdienst für den Pflichtdienst für Wehrdienstverweigerer, der mit der Wehrpflicht entfällt. Die Einsatzgebiete werden entsprechend den Jugendfreiwilligendiensten auf die Bereiche Sport, Kultur, Denkmalpflege und Integration erweitert. Er soll von der Erfüllung der Vollzeitschulpflicht an allen Interessierten offenstehen und kann jederzeit angetreten werden. Der Dienst wird in der Regel zwölf, mindestens aber sechs und maximal 24 Monate geleistet. Die Zahl der Bildungsta
ge wird auf 25 erhöht, von denen mindestens fünf in den Bereich "politische Bildung" fallen. Die 17 staatlichen Zivildienstschulen sollen in diese Ausbildung eingebunden werden. Ob auch freiwillige Senioren Bildungstage absolvieren müssen - Ministerin Schröder hofft auf eine Beteiligung von etwa 20 Prozent -, ist noch unklar. Freiwillige ab dem Alter von 27 Jahren können den Dienst auch in Teilzeit leisten.
Auf Trägerebene werden die BFD-Stellen an die FSJ- Stellen gekoppelt; bei jedem Träger werden also jeweils gleich viele BFD- wie FSJ- Stellen gefördert. Im Gegensatz zu den Jugendfreiwilligendiensten kann der BFD nicht im Ausland geleistet werden. In den 500 Euro, die der Bund pro Platz aufwenden will, sollen die Leistungen, die beim FSJ die Träger erbringen - Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld -, enthalten sein. Die Höhe des Taschengeldes wird sich im Gegensatz zum Zivildienst zwischen den neuen und alten Bundesländern nicht mehr unterscheiden. (nbel.)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 287 Donnerstag, der 09. Dezember 2010, S. 3
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Schönen Dank auchZivildienstleistende sorgen seit fast 50 Jahren dafür, dass unsere Gesellschaft ein bisschen liebevoller ist. Mit der Wehrpflicht endet auch das. Ein Nachruf auf den Zivivon Drieschner, Frank
Im April nächsten Jahres wird er 50. Gerne hätte man ihm zum Geburtstag gratuliert, nun ist ein vorzeitiger Nachruf fällig. Soeben hat die Bundesregierung beschlossen, die Wehrpflicht zur Mitte des kommenden Jahres abzuschaffen. Damit wird es auch keine Zivildienstleistenden mehr geben.
Der Zivi. »Wenn man heute das Wort in unserer Gesellschaft benutzt, dann hat es eigentlich einen ganz warmen, einen ganz liebevollen Klang.«Die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat das gesagt, vor vier Jahren, und zu diesem Zeitpunkt stimmte es wohl. Die längste Zeit aber war die Geschichte des Zivildienstes eine Geschichte der Missachtung.
Das begann mit dem Ritual der »Gewissensprüfung« im Kreiswehrersatzamt, das für Hunderttausende junger Männer die erste Begegnung mit den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats war. Echte Gewissensgründe galt es dort sorgfältig zu verbergen; akzeptiert wurde allein ein möglichst glaubhaftes Bekenntnis zu einem Radikalpazifismus, der außerhalb wehrpflichtiger Jahrgänge selten sein dürfte. Es setzte sich fort in der Ausgestaltung des Dienstes als »lästige Alternative«, wie das Bundesverfassungsgericht sie einmal forderte. Da war der schäbige Umgang mit der Dienstdauer, die laut Grundgesetz die Zeit des Wehrdienstes nicht übersteigen durfte und in der Praxis bis zu sieben Monate länger währte.
Und es gab das hässliche Klischee vom Drückeberger. »Pass auf, du versaust dir deine Karriere, dich stellt niemand ein« - so, erzählt Jens Kreuter, der Bundesbeauftragte für den Zivildienst, hätten ihn noch in den achtziger Jahren wohlmeinende Verwandte gewarnt, als er selbst den Kriegsdienst verweigerte.
Jeder Vierte eines Jahrgangs schob Kranke oder fütterte Behinderte.
Am Ende reichte der Respekt vor dem waffenlosen Dienst an der Gesellschaft nicht einmal dazu, ihn um seiner selbst Willen abzuschaffen. Dass es sich letztlich um einen Zwangsdienst handelte, spielte keine Rolle. Der Zivildienst verschwindet, wie er existierte: als eine nicht weiter begründungsbedürftige Begleiterscheinung
der Wehrpflicht, die er zum Schluss sogar legitimieren musste. Und die er nun nicht überlebt.
Weit mehr als zweieinhalb Millionen junger Männer, am Ende jeder Vierte eines Jahrgangs, haben in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland Krankenbetten geschoben Behinderte gefüttert oder Jugendherbergen unterhalten. Nun, nach einem halben Jahrhundert, da das Ende beschlossen ist, bringt das Land zum ersten Mal das Interesse auf, sich ernsthaft zu fragen, was dieser Dienst für die bedeutet hat, die ihn leisteten.
Der Zivildienst als Sozialisationsinstanz für junge Männer ist der Titel einer Untersuchung, die im Familienministerium derzeit geprüft und in den nächsten Wochen wohl veröffentlicht werden wird. Beim Deutschen Jugendinstitut in München liegen die Rohdaten einer Umfrage zum Thema »Aufwachsen in Deutschland«, die ebenfalls viel über das Wesen des Zivis verraten. Um die zwei wichtigsten Befunde vorwegzunehmen: Man muss sich um den geplagten und gering geschätzten Zivi nicht sorgen, seine Arbeit bringt einen nicht geringen Lohn mit sich. Und: Es gibt wenig Hoffnung, durch einen Freiwilligendienst künftig zu ersetzen, was mit dem Zivildienst verloren geht.
Insgesamt tritt dem Leser aus beiden Untersuchungen ein ideeller Gesamtzivi entgegen, der als junger Mann etwas neugieriger, offener und vielleicht auch ein bisschen selbstloser ist als die inzwischen erheblich größere Gruppe seiner Altersgenossen, die für dienstuntauglich erklärt wird. Während jene ihre Karrieren vorantreiben, setzt er sich für ein paar Monate eines ansonsten vermutlich überwiegend gut behüteten Lebens einer Wirklichkeit aus, die ihn schneller erwachsen werden lässt.
»Sagen Sie, junger Mann, warum haben Sie eigentlich den Kriegsdienst verweigert - war das wirklich nur die Furcht, als Soldat am Ende womöglich töten zu müssen?«
Ach was. »Ich wollte für mich neue Bereiche kennenlernen.«
Sieben von zehn Zivis und Ex- Zivis antworten so. Und sogar 93 Prozent sagen, ihr Dienst habe sich gelohnt, und, ja, sie
würden sich im Rückblick nicht anders entscheiden. Man muss dazu wissen, dass längst nicht alle Zivis ihren Dienst engagiert und enthusiastisch antreten. Zwei von dreien sind aus Sicht der Berliner Sozialwissenschaftler, die im Auftrag des Familienministeriums forschen, zu Beginn ihres Dienstes eher passiv und im Zweifel mehr am alten Freundeskreis als an der neuen Aufgabe interessiert. Schwer vorstellbar, dass sich viele von ihnen für einen Freiwilligendienst werden gewinnen lassen. Umso bemerkenswerter, dass sie kaum weniger Nutzen aus ihrer Arbeit ziehen als einsatzfreudigere Kollegen. »Er ist wesentlich selbstständiger geworden in seiner ganzen Art, also hat es wesentlich mehr geschafft, sein Zeug selber geregelt zu kriegen, wer er ist und wo er jetzt überhaupt hin will.«Das sagt die Freundin eines Zivis über diesen - eine typische Beobachtung, wie die Berliner Forscher versichern, die solche Aussagen zu Hunderten gesammelt haben.
Ein ähnliches Bild ergibt das Urteil der Vorgesetzten. Mehr als 200 Dienststellen wurden befragt. Das Ergebnis hätte nicht eindeutiger ausfallen können. Ob es um Kommunikations- und Kritikfähigkeit geht, um soziales Engagement oder schlicht um »Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit«: Stets bescheinigt eine überwältigende Mehrheit ihrer Chefs den Zivis große oder jedenfalls erhebliche Fortschritte.
Und was sagt der Zivi selbst?Das Gleiche in anderen Worten. »Der Zivildienst war wichtig für meine Persönlichkeitsentwicklung« (76 Prozent), »Ich habe gelernt, mit unbekannten Situationen besser zurechtzukommen« (90 Prozent), oder: »Mein Verständnis für Probleme anderer ist gewachsen« (91 Prozent). Manche dieser Errungenschaften mögen trivial sein. Insgesamt aber ist der Wert des Zivildienstes als eine Schule der Nation kaum zu bezweifeln. Die Wirtschaft, glaubt der Zivildienstbeauftragte Kreuter, habe das längst erkannt. »Bei zwei gleich qualifizierten Bewerbern wird der Arbeitgeber in aller Regel den Ex-Zivi einstellen.«
Wer die Welt vor allem unter den Gesichtspunkten der Effizienzoptimierung betrachtet, wird dieses Argument nicht überzeugend finden. Wie kann man junge Männer, zumal Abiturienten, in Anlernjobs einsetzen, statt sie möglichst schnell zu
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Die Zeit, Nr. 48 Donnerstag, der 25. November 2010, S. 2
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Steuer- und Beitragszahlern heranzuziehen?
Wer weniger Wert auf ökonomische Verwertbarkeit legt, der wird in den erwähnten Untersuchungen Hinweise auf unbestreitbare Vorzüge des Zivildienstes finden. »Da habe ich einer Dame, was normalerweise nicht in meiner Tätigkeitsbeschreibung stand, eine Gardinenstange installiert. Und die hat sich zwei Wochen nicht eingekriegt, wie nett ich wäre. Weil das schon seit Jahren keiner für sie gemacht hat, auch aus der eigenen Verwandtschaft nicht. Und das sind so Sachen, da sieht man, wie einfach man Menschen eine Freude machen kann.«Auch dieses Zitat ist nach Angaben der Berliner Forscher eine typische Zivi-Erfahrung.
Der neue Freiwilligendienst?Die Kultur dazu muss erst etabliert werden.
Was bedeutet es für ein Land, wenn es immerhin jedem vierten seiner jungen Männer Gelegenheit zu solchen Erfahrungen verschafft? Einer der überraschendsten Befunde in der Untersuchung des Jugendinstituts ist, dass frühere Zivis später im Schnitt im Beruf etwas weniger verdienen als ihre Altersgenossen. Mit Schulabschluss, Berufswahl und Alter hat das nichts zu tun - solche Effekte haben die Wissenschaftler herausgerechnet. Eine andere Erklärung liegt nahe: Zivis sind einfach etwas weniger am eigenen Fortkommen, am eigenen Vorteil interessiert als ihre Altersgenossen.
Ein anderes Resultat ist die Aufweichung der Geschlechterrollen. Zivildienst - das bedeutete ja ganz überwiegend auch: Männer in klassischen Frauenberufen. »Die Selbstverständlichkeit, mit der Zivildienstleistende in diesen Berufen gesehen und erlebt werden, hat im Lauf der Zeit die Akzeptanz erhöht, dassdiese Arbeit, diese Zuwendung, diese Fürsorge selbstverständlich sein können für Männer«, meint Ursula von der Leyen. Entsprechende Einstellungsänderungen beobachteten die Wissenschaftler auch bei den Zivis selbst.
Ein neuer Freiwilligendienst, wie die Bundesregierung ihn nun einführen will, wird eine solche Wirkung kaum entfalten. Die Aussicht auf ein Langzeitpraktikum in einem traditionellen Frauenberuf dürfte in erster Linie junge Männer ansprechen, die in dieser Hinsicht weniger als andere hinzuzulernen haben. Wie lassen sich die übrigen gewinnen?Bonuspunkte an Universitäten und in Bewerbungsgesprächen können dazu beitragen, eine Kultur der Freiwilligendienste zu etablieren. Das Beispiel der USA ist in dieser Hinsicht ermutigend. Wird das reichen?
Wer die Freiheit liebt, kann einem Zwangsdienst nicht nachtrauern. Dennoch, ohne Zivildienst dürfte Deutschland zunächst ein bisschen rücksichtsloser und in Geschlechterfragen rückständiger werden, als es sein könnte.
www.zeit.de/audio
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1961 340 Zivis treten ihren 12-monatigen Dienst an
1962 Dienstverlängerung: zunächst auf 15, dann auf 18 Monate
1973 Dienstverkürzung: 16 Monate
1977 Die Gewissensprüfung wird abgeschafft. Dafür verlängert sich die Dienstzeit um zwei Monate
1978 Das Verfassungsgericht untersagt, per Postkarte zu verweigern
1984 Dienstverlängerung auf 20 Monate
1990 Verkürzung auf 15 Monate
1995 Erneute Verkürzung, 13 Monate
1997 Zum ersten Mal sind 150000 Zivis gleichzeitig im Dienst
2000 Dienstdauer jetzt: 11 Monate
2002 10 Monate Zivildienst
2004 Erstmals dauern Wehr- und Zivildienst gleich lang: 9 Monate
2010 Schwarz- Gelb beschließt 6 Monate Dienstzeit - und dann, Wehrpflicht und Zivildienst von 2011 an auszusetzen und einen neuen Freiwilligendienst zu schaffen
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