Sabine Maasen
I Martin Heidenreich: Die Debatte um die Wissensgesellschaft
II Uwe H. Bittlingmayer: ‚Spätkapitalismus‘ oder ‚Wissensgesellschaft‘?
Sabine Maasen
HS 2008
Wissen, Wissenschaft, Wisenschaftsgesellschaft
Sabine Maasen
Wissensgesellschaft
nicht: Informationsgesellschaft (definiert durch ihre technologische Basis)
nicht: Dienstleistungsgesellschaft (definiert durch eine statistische Grösse)
Sondern? ... Noch nicht entschieden! Vier Bedeutungen lassen sich derzeit unterscheiden:
Die Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien Neue Bedeutung von Wissen - neben Kapital und Arbeit Die Bedeutung wissensbasierter Dienstleistungen und
Produktionsprozesse Die Bedeutung lernender Organisationen
Sabine Maasen
I Martin Heidenreich:Die Debatte um die Wissensgesellschaft
Sabine Maasen
These Heidenreichs
Wir leben nicht mehr in der Industriegesellschaft Weitgehend nationalstaatlich reguliert Massenproduktion und Massenkonsum
Sondern in der Wissensgesellschaft Grenzüberschreitende Informations-, Kommunikation, Waren- und
Finanzströme Starke Innovationsdynamik
Gliederung des Aufsatzes Wissen Klassiker der Wissensgesellschaft Rekonstruktion der Debatte um die Wissensgesellschaft Vier zentrale Merkmale der Wissensgesellschaft in der aktuellen
Debatte
Sabine Maasen
Wissen und seine Institutionalisierungsformen
Als Wissen werden ‚lernbereite Deutungsschemata‘ bezeichnet, die den natürlichen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen einen Sinn geben und die ihr praktisches Verhalten regeln Intersubjektiv überprüfbar Änderbar (lernen ist möglich) Enttäuschbar (wenn sich der Widerstand der Realität geltend macht) Stabilisierbar (bestätigte kognitive Erwartungen)
Zwischen Wissen und Institutionalisierung besteht ein enger Zusammenhang: Die Institutionalisierung von Verhaltens- und Beziehungsmustern können als
‚geronnene Form von Wissen‘ bezeichnet werden Beispiel: organisatorische Routinen, Grussrituale
Heidenreich: Wissensgesellschaft definiert sich durch die Bedeutung kognitiver Erwartungsmuster, d.h. durch die Bereitschaft, eingelebte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster infrage zu stellen (29).
Sabine Maasen
Frühe Analysen der wissensbasierten Gesellschaft
Die Geschichte der Industriegesellschaft wird auch als Geschichte eines systematischeren, rationelleren Umgangs mit Wissen betrieben mit Hilfe der jeweils verfügbaren ‚intellektuellen Technologen‘ Marx: die Systematisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung
des Wissens gilt ihm als Mittel kapitalistischer Herrschaft Sombart: Sombart betont die Planmässigkeit der Wirtschaftsführung,
die Zweckmässigkeit bei der Wahl der Mittel, die Berechnung und Registrierung aller Ereignisse.
Weber: betont insbesondere die Rolle der Bürokratie (Fach- und Prozesswissen) als Grundlage der Wissensbasierung der modernen Gesellschaft
Schumpeter: verlangt von einer Wissensgesellschaft, dass sie Raum für kreative, ausseralltägliche Persönlichkeiten lässt, die neue Möglichkeiten durchsetzen und erkennen
Lernbereitschaft durch: Wissenschaft & Technologie, Organisation, Bürokratie, Persönlichkeiten
Sabine Maasen
Die Debatte über die Wissensgesellschaft der 1960er & 70er
Sie wurde als verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte, akademisierte Gesellschaft konzipiert. Drucker: ‚knowledge workers‘ Ellul: Technologische Gesellschaft Bell: The Coming of Post-Industrial Society
Das damalige Verständnis lässt sich so zusammenfassen: Expansion staatlicher und privater Forschungsaktivitäten als Grundlage
der Verwissenschaftlichung zahlreicher Industriezweige Mit der Expansion des Dienstleistungssektors nehmen auch
wissensbasierte Wirtschaftsaktivitäten zu Die Berufsstruktur der Wissensgesellschaft ist durch professionalisierte,
akademisch qualifizierte Wissensarbeiter gekennzeichnet
Sabine Maasen
Aktuelle Positionen (Übersicht S. 38)
Neben wissenschaftlichem Wissen gewinnen auch erfahrungsbasiertes, technisches oder organisatorisches Wissen an Bedeutung
Auch nicht-wissenschaftliche Organisationen sind Orte der Wissensproduktion
Der globale Charakter des ökonomischen Wettbewerbs bringt neuen Wissensströme zur Geltung
Neue Diskussionen betonen Die Bedeutung des Nichtwissens Die Bedeutung unterschiedlicher Wissensperspektiven in verschiedenen
gesellschaftlichen Teilbereichen
Sabine Maasen
Zwischen Globalisierung und Regionalisierung
Luhmann zum Zusammenhang von Globalisierung („Weltgesellschaft“) und Wissensbasierung („lernende Anpassung“): Die Herauslösung aus nationalstaatlichen Regulationsstrukturen gehe
mit einer Verschärfung der wirtschaftlichen, technischem und wissenschaftlichen Konkurrenzen einher
Und befördere so die Lernbereitschaft der gesellschaftlichen Teilsysteme
Die heutige Wissensgesellschaft ist eine innovationszentrierte Weltgesellschaft
Sabine Maasen
Zwischen grenzüberschreitendem Lernen & Berechenbarkeit:
Die heutige Wissensgesellschaft zeichnet sich durch lernende, vielfach grenzüberschreitend tätige Organisationen aus, die ihre eigenen Strukturen permanent auf den Prüfstand stellen, um ihren Bestand in einer turbulenten Umwelt sicher zu stellen. Organisationen können Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher
Teilbereiche verbinden Sie können die Handlungsmöglichkeiten zahlreicher Personen durch die
Setzung von Entscheidungsprämissen koordinieren Sie können sich grosse Indifferenz gegenüber unbekannten
Voraussetzungen und nicht-beabsichtigten Nebenfolgen ihrer Entscheidungen leisten
Sabine Maasen
Zwischen funktionaler Differenzierung und struktureller Kopplung
Die Wissensgesellschaft ist durch die Spannung von ‚Entbettung‘ und ‚Einbettung‘ gekennzeichnet Entbettung: durch z.B. leistungsfähige Kommunikations- und
Transportsysteme werden soziale Beziehungen aus ihren lokalen Bindungen herausgelöst
Einbettung: es gibt aber auch Chancen neuer struktureller Kopplungen, bspw. Werden Wissenschaft und Wirtschaft durch die technische und ökonomische Umsetzbarkeit des Wissens gekoppelt.
Die Wissensgesellschaft ist aus dieser institutionellen Perspektive durch die beschleunigte Massnahmen der Deregulierung und Neuregulierung gekennzeichnet.
Sabine Maasen
Zwischen Wissen und Nichtwissen
Die Wissenschaft transformiert Ignoranz (als Nichtwissen des Nichtwissens) in Ungewissheit und Unsicherheit (Wissen des Nichtwissens) (45)
Die Wissensgesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie dieses Verfahren in immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineinträgt. Krohn: die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft der Selbst-
Experimentation Alle Funktionssysteme werden lernbereit; dies steigert die kognitive
Dynamik der Gesellschaft Die normative Dynamik scheint oft ‚nicht mithalten‘ zu können (vgl.
Konflikte um Stammzellforschung, Grüne Gentechnik, ...) Zusammenfassung des Arguments auf S. 46ff.
Sabine Maasen
II Uwe H. Bittlingmayer:„Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“?
Sabine Maasen
Argumentativ:
Bittlingmayer stellt die Frage, ob es sich tatsächlich um einen veritablen Wandlungsprozess
handelt, der sich insbesondere auszeichnet durch eine bereits durchgesetzte Leistungsgerechtigkeit &
gesamtgesellschaftlich gestiegene Handlungsfähigkeit durch eine tendenzielle Nivellierung sozialer Unterschiede
ob es sich tatsächlich um einen ob es sich tatsächlich um einen epochalen, unumkehrbaren Wandlungsprozess handelt
Sabine Maasen
Wissensgesellschaft: epochaler, unumkehrbarer Wandlungsprozess ?
Okönomie: unmittelbarer Produktionsfaktor 1: in Organisations- und Managementprozessen gespeichertes
Wissen 2: informationelle Ressource für wirtschaftlichen Erfolg
Politik: Bedeutung von Expertise/Experten Deregulierung, Eigenverantwortliche Steuerung
Bildung & Wissen: Ausdehnung & Aufwertung von Bildung These B.: ‚prägt wesentlich die Zuteilung von Lebenschancen‘ (17)
Kultur: Enormes Angebot, insbesondere durch Digitalisierung
Sabine Maasen
Wissensgesellschaft:
Zutiefst ambivalente Wirkungen (18,1): Z.B. IKT: Verschärfung von Konkurrenz in der Ökonomie versus Abbau
von Hierarchien in der kulturellen Kommunikation
3 zentrale Defizite: Kultursoziologische Reflexionen auf Wissensgesellschaft Handlungsebene der Akteure Verständnis für die Re/Produktion von sozialer Ungleichheit in
Wissensgesellschaften
„Zwingend ist deshalb ein Perspektivenwechsel, der die Ebene des makrostrukturellen Wandels wieder stärker mit der Perspektive der handelnden Akteure verbindet“ (18,2).
Sabine Maasen
Individuelle Teilnahmevoraussetzungen für Wissensgesellschaften:
1. Wegfall einer stabilen lebenslangen Berufs- und Arbeitsperspektive
2. Ständig zu erweiternde Kompetenzprofile
3. Flexibles Zeitmanagement
Für alle Aspekte gilt: Es mehren sich Chancen zur Optionssteigerung, aber auch für Marginalisierungsprozesse
Sabine Maasen
Soziale Polarisierung durch Wissen
Investition in Bildungsabschlüsse: Unabdingbar, aber tendenzielle Entwertung Verschärfte Einkommensungleichheit zwischen Akademikern und
Nichtakademikern
Sozialstrukturelle Daten zeigen: Armutsrisiko ist deutlich stärker mit Herkunft als mit Bildung korreliert
(20) Auch die weiteren mit der Wissensgesellschaft verbundenen
Optionssteigerungen bleiben sozial ungleich verteilt.
Sabine Maasen
Kultur als enthierarchisierte Sphäre der Wissensgesellschaft?
Lebensstile (z.B. Freizeitaktivitäten) sind ebenfalls nach wie vor deutlich stärker mit der sozialen Herkunft als mit den neuen Möglichkeiten des Internet o.ä. korreliert (21).
Die ungleichen Startbedingungen der Akteure forcieren ungleiche Chancen des Zugangs zu und des Umgangs mit den Optionen der Wissensgesellschaft.
Sabine Maasen
… oder Spätkapitalismus?
B. votiert deshalb für Adorno‘s Differenzierung (abgewandelt): Die gegenwärtige Gesellschaft sei
nach dem Stand der technischen Entwicklung eine Wissensgesellschaft, nach dem Stand der ökonomischen und politischen Struktur hingegen
eine kapitalistische Gesellschaft.