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Page 1: Starke Schmerzen bei anfangs diskretem Lokalbefund

RedaktionD. Reinhardt, München

Monatsschr Kinderheilkd 2010 · 158:210–213DOI 10.1007/s00112-009-2082-yOnline publiziert: 3. Februar 2010© Springer-Verlag 2010

R. PloierLinz

Starke Schmerzen bei anfangs diskretem LokalbefundSchmerzen und Rötung, später livide Verfärbung mit Nekrose im Wadenbereich

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Anamnese

Seit etwa 10 Tagen wurden bei der 9-jäh-rigen Patientin linsengroße juckende Bläs-chen und Pusteln auf gerötetem Grund an den Beugeseiten der unteren Extremitäten und im Bereich der Glutäalregion beob-achtet. Unter der Verdachtsdiagnose Im-petigo contagiosa erfolgte die Behandlung mit einer Antibiotikasalbe und einem oralen Antihistaminikum. 3 Tage vor der stationären Aufnahme kam es im Bereich der linken Wade in der Umgebung einer der beschriebenen Effloreszenzen zu ei-ner Rötung und Schwellung mit stärks-ten Schmerzen, weswegen die Patientin unter der Diagnose Phlegmone eingewie-sen wurde.

Aufnahmestatus

Hochfieberndes (39,8°C), schwerkrank wirkendes Mädchen, jedoch voll an-sprechbar. Blutdruck 115/65 mmHg, Herz-frequenz 160/min. Die Patientin klagte über unerträgliche Schmerzen im Bereich der linken Wade. Diese wies eine handtel-lergroße, deutlich geschwollene, unscharf begrenzte Rötung auf. Es fanden sich ek-thymaartige Effloreszenzen bzw. Krus-ten glutäal, an den Unterschenkeln sowie am Fußrücken, keine Petechien oder Hä-matome. Periphere Pulse im Bereich der A. femoralis und der A. dorsalis pedis beidseits gut tastbar. Haut im Bereich des

Fußrückens und der Unterschenkel aus-reichend durchblutet. Rachen und Ton-sillen nicht gerötet, kein Enanthem. Kei-ne lokalen oder generalisierten Lymph-knotenschwellungen. Cor, Pulmo o. B. (ohne Befund).

Befunde

CRP (C-reaktives Protein) 12,4 mg/dl, Leukozyten 16,7 G/l, Linksverschiebung, toxische Granulationen, Hb (Hämoglo-bin) 11,6 g/dl, Thrombozyten 146 G/l. Ge-rinnungsstatus ohne Hinweise für Ver-brauchskoagulopathie, Thrombophiliedi-agnostik nicht durchgeführt, Blutgasana-lyse o. B., Harn und Sediment unauffällig. Alaninaminotransferase, Aspartatamino-transferase und γGT (Gammaglutamyl-transferase) im Normbereich, LDH (Lak-tatdehydrogenase) auf 340 U/l erhöht, CK (Kreatinkinase) und CK-MB (Kreatinki-nase, Myokardtyp) im Normbereich. BUN („blood“, „urea“, „nitrogen“), Serumkrea-tinin und Elektrolyte o. B. EKG (Elektro-kardiogramm) und Röntgenuntersuchung des Thorax unauffällig. Im Liquor keine Pleozytose, Liquorkultur steril. Blutkultur aerob und anaerob: kein Wachstum.

Gram-Färbung aus Abstrich einer hä-morrhagischen Blase, die sich 2 Tage nach der stationären Aufnahme bildete: grampositive Kokken, kein Nachweis von Clostridien. Kultur aus dem Blasenab-

strich: β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (GABS).

Verlauf und Therapie

In der Annahme einer Phlegmone er-folgte die Therapie primär mit einem par-enteralen Zephalosporin und Gentamy-cin. Zur Fieber- bzw. Schmerzbekämp-fung wurden Parazetamol bzw. Trama-dol verabreicht. Nachdem sich im Verlauf von 2 Tagen im Bereich der Wade eine in-homogene livide Verfärbung mit Blasen-bildung einstellte (. Abb. 1) und sich aus dem Inhalt einer Bulla grampositive Kok-ken nachweisen ließen, wurde die Thera-pie auf Penicillin G-Natrium und Clinda-mycin umgestellt und 14 Tage lang durch-geführt. Im Bereich der initial lividen über handtellergroßen Verfärbung mit perifo-kaler Rötung entwickelte sich innerhalb weniger Tage eine tiefschwarze brettharte Nekrose (. Abb. 2, 3), die vom Kinder-chirurgen abgetragen wurde. Nach 14 Ta-gen erfolgte bei sauberen Wundverhält-nissen eine plastische Deckung des De-fekts mittels Spalthautlappen (. Abb. 4).

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Abb. 1 8 Inhomogene livide Verfärbung der linken Wade mit hämorrha-gischer Blase

Abb. 2 8 Tiefschwarze, brettharte Nekrose des in Abb. 1 gezeigten Bereichs einige Tage später

Abb. 3 8 Totalansicht der Beugeseite des linken Unterschenkels Abb. 4 8 Zustand nach Débridement und plastischer Deckung

Ihre Diagnose? D

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Definition

Die nekrotisierende Fasziitis (NF) ist ei-ne lebensbedrohliche, bakteriell bedingte Weichteilinfektion, die durch sich foudro-yant ausbreitende Nekrosen der betrof-fenen Faszie und der anliegenden Ku-tis einschließlich des subkutanen Fettge-webes gekennzeichnet ist (Übersicht bei [1]).

Ätiologie/Pathogenese

In ätiologischer Hinsicht werden 2 For-men der NF unterschieden: Typ 1 (po-lymikrobiell) wird durch gramnegative (z. B. Bacteroides sp.) und grampositive Anaerobier (z. B. Peptostreptokokken) sowie mikroaerophile Streptokokken und Enterobacteriaceae wie Escherichia coli (E. coli), Klebsiellen und Proteus hervor-gerufen. Prädilektionsstellen dieses Typs sind die Bauchdecken (z. B. postoperativ), die Genital- und Perinealregion (Four-nier-Gangrän) und selten der zervikal-mediastinale Bereich (z. B. nach Zahnex-traktionen).

Beim Typ 2 werden als Erreger β-hä-molysierende Streptokokken der Grup-pe A (GABS) gefunden, gelegentlich in Kombination mit Staphylococcus aureus oder Staphylococcus epidermidis. In pa-thogenetischer Hinsicht werden bakteri-elle gewebeschädigende Enzyme (Hyalu-ronidase, Streptokinase u. a.), Superanti-gene und M-Proteine vom Typ 1 und 3, welche die Phagozytose hemmen und en-dotheliale Schäden begünstigen, für das Krankheitsbild der NF mitverantwortlich gemacht. Während im Erwachsenenalter bevorzugt der Typ 1 gefunden wird, über-wiegt bei Kindern der Typ 2, als dessen Prädilektionsstellen die Extremitäten gel-ten. Beim Neugeborenen wird hingegen häufiger der Typ 1 beobachtet, wobei u. a. eine NF im Bauchdeckenbereich als Fol-ge einer Omphalitis oder im Bereich der Thoraxwand im Rahmen einer Mastitis neonatorum beschrieben wurde [2].

Prädisponierende Faktoren

Im Kindesalter sind hier in erster Linie Va-rizellen anzuführen, wobei die Komplika-tionen in aller Regel zwischen dem 3. und 6. Krankheitstag auftraten. Ob die Behand-lung mit Ibuprofen die Entstehung einer NF im Rahmen von Windpocken begüns-tigt, ist noch ungeklärt [5]. Weitere Risi-kofaktoren sind vorausgegangene Operati-onen, Verbrennungen, Hautläsionen bzw. Infektionen wie Impetigo contagiosa (Sta-phylokokken, GABS), Ekthymata (meist streptogen), superinfizierte Insektensti-che und Ekzeme, daneben Diabetes melli-tus, HIV („human immunodeficiency vi-rus“), Drogenabusus und Immunsuppres-sion [1]. Bei neutropenischen Kindern und Jugendlichen findet sich manchmal Pseu-domonas aeruginosa als Erreger einer NF.

Klinik

Typisch sind:F  initial außergewöhnlich starker lo-

kaler Schmerz (vermutlich durch die Ischämie der Faszie, verschwindet im Stadium der Nekrose),

F  unscharf begrenztes Erythem,F  ausgeprägtes, über das Erythem

hinausgehendes Ödem,F  livide, landkartenähnliche, nach

zentral zunehmende Hautverfärbung, evtl. Bullae mit hämorrhagischem Inhalt,

F  tiefschwarze z. T. brettharte nekro-tische Areale sowie

F  Allgemeinsymptome: hohes Fie-ber, Desorientiertheit, Somnolenz, Schocksymptomatik, Entwicklung eines STSS (streptokokkeninduziertes toxisches Schocksyndrom) [1, 3].

Komplikationen/Letalität

Es bestehen fließende Übergänge zur Streptokokkenmyositis und zum STSS, wobei beim Typ 2 etwa 50% der Fälle mit einem STSS assoziiert sind. Die Le-

talität der NF wird je nach Therapiebe-ginn, Grundkrankheit und Alter des Pa-tienten mit zwischen 20 und 60% ange-geben [3]. Es existieren jedoch keine ge-sonderten Zahlen für das Kindes- und Jugendalter. Beispielsweise erkrankten im Rahmen einer Varizellenepidemie in Kalifornien im Jahre 1994 innerhalb von 3 Monaten 24 Kinder an NF, Sepsis und toxischem Schocksyndrom durch GABS, wobei 4 Kinder verstarben [4, 5].

Differenzialdiagnose

Zu Beginn könnte die NF mit einem Erysi-pel verwechselt werden, jedoch sind dabei die Schmerzen und auch die Allgemein-symptome nie so heftig wie bei der NF.

Beim Gasbrand ist das Erythem weni-ger stark ausgeprägt als bei der NF. Das für diesen als typisch beschriebene Knis-tern kann auch bei Patienten mit NF be-obachtet werden.

Die Streptokokkenmyositis ist wie der Gasbrand durch Muskelnekrosen, die bei NF fehlen, gekennzeichnet, weswegen die CK-Bestimmung von differenzialdiagnos-tischer Bedeutung ist.

Die Hämorrhagien und Nekrosen durch eine Purpura fulminans im Rahmen eines Waterhouse-Friedrichsen-Syndroms bei Meningokokkensepsis sowie selten bei Pneumokokkeninfektionen sind in der Re-gel multifokal, betreffen teilweise auch die Akren und zeigen bereits initial das Bild der disseminierten intravasalen Gerinnung.

Periphere Durchblutungsstörun-gen durch thrombembolische Ereignisse (z. B. im Rahmen eines Protein-C- oder –S-Mangels) könnten neben der positiven Familienanamnese u. a. durch die tastba-ren Pulse ausgeschlossen werden [1, 3].

Therapie

Die antibiotische Behandlung der NF richtet sich nach dem vorliegenden Typ. Bei dem im Kindesalter vorherrschenden Typ 2 wird Penicillin G-Natrium in Kom-bination mit Clindamycin über mindes-tens 10 Tage empfohlen. Beim Typ 1 wer-den Breitspektrumantibiotika mit Anaero-bieraktivität eingesetzt. Hand in Hand mit der gezielten Antibiose müssen die früh-zeitige chirurgische Behandlung mit meist wiederholtem und ausgedehntem Débri-

D Diagnose: Nekrotisierende Fasziitis durch β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (GABS)

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dement und später evtl. eine Sekundärnaht oder die plastische Deckung der entstan-denen Hautdefekte gehen. Gegebenenfalls sind je nach Klinik Schocktherapie, Beat-mung und andere intensivtherapeutische Maßnahmen vorzunehmen. Auch der Ein-satz von i.v. Gammaglobulin wird propa-giert, wobei evtl. die immunsuppressive Wirkung von hochdosiertem polyvalentem 7S-Immunglobulin speziell bei Patienten mit STSS von Bedeutung sein könnte. Eine Therapie mit hyperbarem Sauerstoff wird kontrovers diskutiert [1, 3].

Diskussion

Wenn das Vollbild der NF vorliegt, kann die Diagnose eigentlich nicht verfehlt wer-den. Wichtig ist es jedoch, bereits im Ver-dachtsfall ohne Zeitverzögerung die adä-quate Therapie einzuleiten und nicht durch zusätzliche diagnostische Maßnahmen wie Biopsien mit histologischer Untersuchung (Ausnahme: Schnellschnitte) oder durch das Warten auf das Eintreffen von Kul-turen wertvolle Zeit zu verlieren. Die Dia-gnose der NF ist nach allgemeiner Ansicht aufgrund der Klinik zu stellen [1]. Leitsym-ptom dabei ist die Diskrepanz zwischen stärksten lokalen Schmerzen und dem an-fänglich noch eher geringen Lokalbefund. („pain out of proportion“). Nur durch früh-zeitigen Therapiebeginn kann die nach wie vor hohe Letalität dieses bedrohlichen Krankheitsbildes gesenkt werden.

KorrespondenzadresseDr. R. PloierAm Predigtstuhl 10, A-4040 Linz, Österreich, [email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

1. Hasham S, Matteucci P, Stanly PR, Hart NB (2005) Necrotizing fasciitis. BMJ 330(7495):830–833

2. Hsieh WS, Yang PH, Chao HC, Lai JY (1999) Neonatal necrotizing fasciitis: a report of three cases and review of the literature. Pediatrics 103(4):e53

3. Kujath P, Eckmann Ch (1998), Die nekrotisierende Fas-ziitis und schwere Weichteilinfektionen durch Gruppe-A-Streptokokken. Dtsch Ärztebl 95:A-408–413

4. Vugia DJ, Peterson CL, Meyers HB et al (1996) Inva-sive group A streptococcal infections in children with varicella in Southern California. Pediatr Infect Dis J 15:146–150

5. Zerr DM, Alexander ER, Duchin JS et al (1999) A case-control study of necrotizing fasciitis during primary varicella. Pediatrics 103(4):783–790

Zusammenfassung · Abstract

Monatsschr Kinderheilkd 2010 · 158:210–213 DOI 10.1007/s00112-009-2082-y© Springer-Verlag 2010

R. Ploier

Starke Schmerzen bei anfangs diskretem Lokalbefund. Schmerzen und Rötung, später livide Verfärbung mit Nekrose im Wadenbereich

ZusammenfassungEs wird über ein 9-jähriges Mädchen be-richtet, das primär wegen Verdachts auf ei-ne Phlegmone des Unterschenkels stationär aufgenommen wurde. Erst die Diskrepanz zwischen dem anfänglich noch nicht sehr auffälligen Lokalbefund und den starken lokalen Schmerzen, die konsekutive Ent-wicklung einer ausgedehnten tiefschwarzen Weichteilnekrose sowie der Nachweis von β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (GABS) aus einer im Zentrum der Nekrose entstandenen hämorrhagischen Blase erlaubten die Diagnose einer nekroti-sierenden Fasziitis (NF) durch GABS. Durch Behandlung mit Penicillin G-Natrium und Clindamycin in Kombination mit chirur-gischen Maßnahmen konnten das lebens-

bedrohliche Krankheitsbild unter Kontrolle gebracht und das Mädchen nach plastischer Deckung des entstandenen Defekts entlas-sen werden. Auf die Notwendigkeit einer ra-schen Diagnose dieses mit einer hohen Le-talität behafteten Krankheitsbildes wird hin-gewiesen. Sie ist aufgrund der Klinik zu stel-len. Typisch ist ein initial bestehendes, eher diskretes Erythem, das jedoch mit stärksten lokalen Schmerzen einhergeht („pain out of proportion“).

SchlüsselwörterStärkste lokale Schmerzen · Diskreter Lokal-befund · Nekrotisierende Fasziitis · β-hämo-lysierende Streptokokken der Gruppe A (GABS) · Letalität

Severe pain in the presence of unremarkable local findings. Pain and reddening followed by livid discoloration and necrosis in the calf area

AbstractWe report the case of a nine-year-old girl who was primarily admitted for suspected phlegmon in the lower leg. However, the dis-crepancy between the initially unremarkable local findings and the severe local pain, to-gether with the subsequent development of an expansive jet-black soft tissue necro-sis and the detection of Group A beta-hemoly-tic streptococcus (GABS) from a hemorrhag-ic blister formed in the center of the necro-sis, enabled the diagnosis of necrotizing fas-ciitis (NF) caused by GABS. This life-threaten-ing condition was treated with penicillin G sodium and clindamycin along with surgical

measures and the patient was ultimately dis-charged after plastic surgery to cover the re-sulting defects. It is essential to diagnose this highly lethal condition as quickly as possible on the basis of the clinical symptoms. Typical-ly, patients present an initially existing, rela-tively small erythema, which is accompanied by very severe local pain (“pain out of pro-portion”).

KeywordsPain out of proportion · Unremarkable local findings · Necrotizing fasciitis · Group A beta-hemolytic streptococcus (GABS) · Lethality

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