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Einleitung

Als der von den Nachkommen der Söhne Noahs errichtete Turm zu Babel zu-

sammenstürzte, entstand das Problem. Der Herr war herniedergefahren und

hatte dort die bisher einerlei Zunge und Sprache verwirrt, „daß keiner des an-

dern Sprache verstehe“ (1. Moses 11,1–9): Seither gab es Sprachverwirrung,

unzählige Sprachen und Schwierigkeiten der Verständigung, oft genug sogar ein

fast völliges Unverständnis annähernd aller Menschen gegenüber dem Anders-

sprachigen. Wer dieser katastrophalen Situation entgehen wollte, mußte selbst

fremde Sprachen sprechen oder sprechen lernen, mindestens verstehen. Als

Kommunikationsalternative blieb allenfalls der Rückgriff auf sprachkundige

Leute, die Inanspruchnahme ihrer Mittlerdienste. Die Nutzung beider Mög-

lichkeiten ist seit alttestamentlichen Zeiten auch gut bezeugt, doch bleibt off en,

in welchen Größenordnungen solche Auswege verfügbar waren. Nicht einmal

ihre Relevanz ist einigermaßen einschätzbar.

Die Bilder von der Arbeit am Turm zu Babel wie die von seinem jähen Ende

beschäftigten die Vorstellungskraft vieler Menschen auch während des Mittelal-

ters. Die Legendenbildung kam hinzu, so die vom Bauherrn Nimrod, dem Pro-

totyp des Teufels und Antipoden Gottvaters.1

Eine Vielzahl von Miniaturen, farbigen Darstellungen und Erzählungen

kündet von der Absicht, „einen Turm zu bauen, dessen Spitze bis an den Him-

mel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zer-

streut in alle Länder“ (1. Moses 11,4). Der begründende Nachsatz zeugt seiner-

seits von früh angelegter Dialektik, denn was vermieden werden sollte, ergab

sich erst recht. Die Bilder vom Turmbau hingegen sind längst eine „wichtige

Quelle zur Kunde des mittelalterlichen Baubetriebes“ geworden, auf denen

technische Verfahrensweisen und mancher innovatorische Ansatz zu erkennen

sind.2

Das große Interesse mittelalterlicher Autoren, Miniatoren und ihres Publi-

kums am Turmbau zu Babel erleichtert dem Mittelalterhistoriker, der sich mit

der Kommunikationsproblematik näher beschäftigen will, die Rechtfertigung,

seine eigene Untersuchung der Überwindung von Sprachbarrieren eben auf jene

1000–1200 Jahre der Geschichte des europäischen Mittelalters zu konzentrie-

ren. Dabei leitet ihn die Hoff nung, in ähnlicher Weise wie der Architekturhisto-

riker aus der Fülle von Bildern, Erzählungen und Hinweisen in ausreichendem

Maße Belehrung darüber zu erfahren, wie groß die Sprachverwirrung im Mit-

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8 Einleitung

telalter war, und vorzugsweise die Mittel deutlicher zu erkennen, mit denen

man Sprachschwierigkeiten zu überwinden trachtete. Ausgeklammert bleibt da-

bei das seit langen Jahrhunderten anhaltende vorrangige Interesse am Turm von

Babel, der sich schon früh zum Mythos erweiterte und ganz Babylon erfaßt hat.

Erst unlängst hat eine große Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin dies

dokumentiert, als sie sich gezielt der Polarität „Babylon – Mythos und Wahr-

heit“ widmete.3 Hier aber soll das Interesse den Auswirkungen des zum Himmel

strebenden Turmbaus gelten, also der seitherigen Sprachverwirrung und dem

Bemühen, diese zu mildern.

Der Versuch, die angedeutete Th ematik in Teilbereichen klären zu helfen,

muß sich auch systematischer Betrachtung stellen, dabei aber manches Problem

ausklammern. Vor allem ist aussagekräftiges Quellenmaterial zu berücksichti-

gen, das seinerseits nur in bedingter Weise planvoll erfaßt werden kann. Ein

solches Verfahren läßt nämlich die allgemeine Quellenlage nicht zu, denn spezi-

fi sche Quellengruppen gibt es nicht, wohl aber fast überall sprachliche Verstän-

digungsprobleme, auch gezielte Inanspruchnahme von Sprachmittlern oder

Dolmetschern. Diesen Personen und ihrer Tätigkeit gilt im folgenden das Inter-

esse, und dabei ist Aufschluß auch zu erhoff en über zwischenmenschliche Ver-

haltensformen, durch Sprachlosigkeit bedingte Schwierigkeiten und deren Be-

wältigung. Auch das in den erzählenden Quellen sich oft statuarisch abzeich-

nende Bild könnte durch eine gewisse Erhellung sprachlicher Zusammenhänge

wie auch kollektiver Inkompetenzen geschärft, vielleicht sogar mit etwas Leben

erfüllt werden.

Im Mittelpunkt unserer Betrachtungen steht das römisch-deutsche Reich des

Mittelalters mit seiner europaweiten Ausstrahlung. Dessen raumgreifende

Grenzen müssen freilich wiederholt überschritten werden. Solche Ausgriff e sind

letztlich sogar zwingend, denn die Dolmetscherthematik bezieht sich auf Ver-

ständigungsfragen mit Personen außerhalb des eigenen Sprachbereichs, mit An-

ders- bzw. Fremdsprachigen. Damit ist auch die allgemeine Frage nach sprach-

licher Kompetenz im Mittelalter verknüpft und näherhin das Problem der

Fremdsprachenkenntnis. Doch sind hier manche Sachfragen auszuklammern,

teils weil bereits eine reiche Literatur vorliegt, teils die vielfältigen Aspekte je für

sich nahezu monographische Erörterung verdienen. Dankbar wird man auf Stu-

dien zum „Europäischen Sprachdenken“ von Jürgen Trabant4 und auf das mo-

numentale Werk von Arno Borst über „Ursprung und Vielfalt der Sprachen und

Völker“ verweisen.5 Manche dieser thematischen Fragen sind zu streifen, gele-

gentlich auch exkursartig aufzugreifen. Notwendig ist in jedem Fall ein allge-

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Einleitung 9

meiner Überblick über die terminologische und sprachgeschichtliche Seite des

Vermittlungsproblems.

Wie wurde der Sprachvermittler oder auch „Sprachmittler“ bezeichnet? Gab

es mehrere Bezeichnungen, ggf. auch unterschiedliche Typen des Vermittlers

zwischen verschiedenen Sprachen? Welche Termini fi nden sich überhaupt im

allgemeinen in der wissenschaftlichen Literatur und ganz besonders in den

überlieferten Quellen? Schließlich ist auch das grundsätzliche Problem mensch-

licher Kommunikation mindestens anzusprechen, um einen relativ gesicherten

Hintergrund zu haben, vor dem die Frage des Dolmetschens und der Dolmet-

scher untersucht werden kann. Dies soll in möglichst breiter Fächerung erfol-

gen, wobei man dem Historiker wird nachsehen müssen, daß er die zeitliche

Komponente seiner Th ematik kaum je dem systematischen Zugriff völlig unter-

ordnen wird. Hoff en muß er in jedem Fall auf die Nachsicht vieler Fachleute aus

anderen Disziplinen, besonders auf die der Sprach- und Literaturwissenschaft-

ler, wenn sich die historische Betrachtung mitunter auf Bereiche erstreckt, die

jenseits der Fachkompetenz des Historikers liegen. Rechtfertigen läßt sich diese

an Übermut grenzende Haltung immerhin durch die Forschungslage, die aus

historischer Sicht defi zitär ist, doch nicht einmal durchgängig als solche erkannt

wird.

Die vorliegenden Untersuchungen werden zunächst eingebettet in die

Erörterung allgemeiner Sprachprobleme, zu denen zuallererst der Gebrauch des

Lateinischen, aber auch andere Bereiche der mündlichen Kommunikation gehö-

ren. Schon hier werden neben der historischen Mediävistik zahlreiche Nachbar-

disziplinen angesprochen, wie die Gesamtthematik sich ohnehin an Sprachwis-

senschaft und Sprachgeschichte, an Literaturwissenschaft und Kommunikations-

forschung wendet. Nach einem Forschungsüberblick werden terminologische

Grundfragen erörtert und methodische Überlegungen geäußert. Auf einer relativ

breiten Grundlage von Primärquellen erfolgt dann ein längsschnittartiger Über-

blick über Verständigungsfragen im Mittelalter. Schwerpunkte sind Dolmetscher-

tätigkeiten und ersatzweiser Rückgriff auf fremdsprachliche Kenntnisse in ver-

schiedenen Bereichen und Funktionen. Anschließend werden die allgemeinen

Rahmenbedingungen von Dolmetschern in systematisierender Form zusammen-

gestellt und diskutiert.

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