Transcript
Page 1: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

1

Manuskript

in Arbeit

Vom Ernst des Lebens

Christine Wirth www.christine2006.npage.de https://twitter.com/Yael2006

Arbeitsschritte:

Erstformatierung

Page 2: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

2

Kapitel 1

Knightsbridge, 1958

m zwei Uhr nachmittags stand Rupert Taylor

Grayson unter einer erbärmlich tröpfelnden Dusche

in seinem Appartement in der Halkin Street und war gerade

aufgestanden. Nichts war schöner, als nach einer lauen

Nacht erst einmal den Schweiß und die Mühsal der

vergangenen Stunden abzuwaschen. Nicht dass er als

promovierter Taugenichts und angehender Professor für

englische Literatur das Nachtleben mit all seinen

„Verlockungen“ ausgekostet hatte; es gab Wichtigeres als

das, er war jung und hatte alle Zeit der Welt, die er am

liebsten zum Schlafen nutzte, nachdem sein Studentenalltag

eher turbulent verlaufen war. Eine dieser Turbulenzen

bestand darin, in Oxford Miles Mayhew kennengelernt zu

haben, der ihn mit schöner Regelmäßigkeit heimsuchte, und

zwar gerade dann, wenn er seine Ruhe haben wollte (und die

wollte er eigentlich immer).

Weniger zartfühlende, oberflächliche Zeitgenossen würden

Grayson für blutleer, zerstreut und lethargisch halten. Miles

Mayhew nicht. Schon auf der Uni war er wie eine Klette an

Rupert gehangen, während sich Professoren, Dozenten und

Kommilitonen einhellig fragten, was jemand an einem

Mauerblümchen wie ihm finden konnte, wenn man überdies

die Griechisch- und Lateindozenten in die Tasche steckte

mit seinem Wissen und in den abendlich stattfindenden

Zirkeln die Studenten verzauberte mit seinem poetischen

Gemüt.

Aber Miles war nicht nur klug und kultiviert, er besaß

auch ein großes Herz für Versager wie Rupert Grayson. Für

die hatte er ein Gespür, das so untrüglich war wie der dem

U

Page 3: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

3

Blitz folgende Donner. Heimlich mutmaßte Rupert, die

Basis ihrer Freundschaft bestünde aus der Berechnung, dass

in seiner unscheinbaren Gegenwart Miles’ vielfältige

Talente und sein properes, gesundes Aussehen noch

strahlender zur Geltung kamen, doch er tat ihm unrecht

damit. Dennoch konnte er sich dieses Eindrucks nicht

erwehren. Freunde hatte er aufgrund seiner Verschlossenheit

noch nie gehabt, und wenn, dann nur Klassenkameraden, die

seine Gutmütigkeit und Naivität früher oder später zu ihrem

Vorteil ausnutzten und ihn dann mieden wie die Pest.

Irgendwann würde auch Miles in Versuchung geführt

werden, da war er sich ziemlich sicher.

Seine Körperpflege wurde vom Klingeln der Türglocke

unterbrochen. Es wäre verständlich gewesen, hätte er den

Besucher warten lassen und darauf gehofft, dass er zu einem

günstigeren Zeitpunkt wieder käme, doch er rubbelte in aller

Eile sein störrisches Haar halbwegs trocken und schlang das

Handtuch um die Hüften, um triefnass über das

altehrwürdige Wohnzimmerparkett zu lavieren, auf das Mrs.

Simms, die Vermieterin, so stolz war. Flecken darauf

würden einen Kündigungsgrund bedeuten.

Die unverwechselbare, hünenhafte Silhouette des

Störenfrieds zeichnete sich vor der Milchglasscheibe der

Haustür ab; es war Miles. Als hätte er es vorausgesehen.

Außer einen Hausierer oder Vikar hatte er auch keinen

anderen erwartet, wenngleich der Kontakt seit ihrem

Studienabschluss sporadischer geworden war und auf kurz

oder lang ganz einschlafen würde, was Rupert nicht einmal

wirklich bedauerte. Er konnte eine Nervensäge sein, dieser

Mayhew.

Als Rupert öffnete, zwängte sich Miles gegen seine

Gewohnheit ohne Begrüßung, dafür mit einem Koffer

beladen an ihm vorbei in die Wohnung. Am Eingang musste

er den Kopf einziehen. Neben seiner stattlichen Figur, die

sich auf fast zwei Meter erstreckte, fühlte sich Rupert, der

ebenfalls recht großgewachsen war, in seiner entblößten

Page 4: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

4

Schmalbrüstigkeit wie der Zwerg aus dem Märchen.

Trotzdem war Miles sein bester Freund, und genauer gesagt

auch sein einziger.

„Bist du allein?“ Seine Stimme verriet den

Oxfordabsolventen, aber keinen Akzent. Den hatte er sich

abtrainiert auf der Universität. Rupert selbst war das trotz

aller Bemühungen nie gelungen.

„Selbstverständlich“, quakte er in breitestem

Surreydialekt, über den er sich insgeheim ärgerte, der aber

immer wieder durchbrach. „Hast du mich je in Gesellschaft

gesehen?“

Hektisch und seufzend fuhr sich Miles durch das dunkle

Haar, das er normalerweise mit Brillantine bändigte und um

das ihn Rupert nebenbei bemerkt beneidete.

Eigentlich hätte er nun eine kleine Spöttelei angebracht,

die des Freundes Ruf als Eremit untermauerte. Er unterließ

es. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Rupert bot ihm

eine Zigarette an, die er mit einer fahrigen Handbewegung

ablehnte. Sein graublauer Blick aus beseelten, großen Augen

durchbohrte ihn und wirkte zugleich merkwürdig unstet.

Rupert fühlte sich bemüßigt, Interesse zu heucheln und

schaffte es sogar, ein wenig schroff zu klingen, was ihm

umgehend leid tat.

„Was ist los? Hast du einen triftigen Grund, in aller

Herrgottsfrühe in meine Privatsphäre einzudringen?“

Der Wutausbruch des anderen imponierte Miles nicht über

die Maßen; da war er noch ganz der alte. „Paris“, sagte er

beiläufig an die Decke, als philosophierten sie über das

Wetter. „In einer Stunde fährt ein Zug. Wir werden viel

Spaß haben.“

Hätte Miles ihm eine Reise zum Mond offeriert, wäre

Ruperts Erstaunen nicht größer gewesen. Er starrte Miles mit

offenem Mund an. Daran, dass der es ernst meinte, bestand

kein Zweifel. Obwohl Miles einen sehr skurrilen Humor sein

eigen nannte, ahnte Rupert, dass er auf irgendeine Weise in

Page 5: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

5

der Klemme steckte und ihm in dieser Lage nicht nach

Scherzen zumute war.

„Ich muss mir das überlegen, Miles …“

„Verflixt, Rupert“, explodierte dieser, zum zweiten Mal

völlig gegen seine Gewohnheit. Rupert zuckte zurück. „Ich

habe keine Zeit für Überlegungen. Und ich habe dich nicht

gebeten, mitzukommen. Ich nehm’ dich einfach mit,

verstehst du? Ich hab nämlich kein Geld, um das Hotel zu

bezahlen!“

„Geld … sag’ das doch gleich“, murmelte Rupert, täppisch

zur Kommode stolpernd. Er wunderte sich, dass der

Zeitpunkt des Ausnutzens früher gekommen war als er

vermutet hatte und es nicht wenigstens subtiler geschah.

Miles Mayhew war der geborene Bonvivant und stammte

aus einer reichen und angesehenen Familie, deren Vorfahre

ein renommierter Politiker im 17. Jahrhundert gewesen war

und von dessen Ruhm die Mayhews heute noch in Gestalt

einer Villa in Belgravia zehrten; ein finanzieller Engpass

war gewiss nicht der Grund, weshalb er dermaßen aufgelöst

bei ihm hereinschneite. „Das kann ich dir geben, einen

Augenblick … ich möchte es aber wieder zurückhaben“,

fügte er hastig, wie um Entschuldigung bittend, hinzu.

„Sobald du dazu in der Lage bist, natürlich. Hat keine Eile

…“

Abrupt erhob sich Miles und stellte sich Rupert in den

Weg, der vor Schreck beinahe das Handtuch fahrenließ. Er

umfasste die nackten Schultern des Freundes (die steil

abfallenden Melancholikerschultern, wegen denen sich

Miles einmal geprügelt hatte. Rupert hätte froh und stolz

sein sollen, in Miles einen so glänzenden Verteidiger gegen

die berüchtigten Sticheleien von Burns und Pembroke

gefunden zu haben, doch stattdessen fühlte er sich

gedemütigt. Zu allem Überfluss hatte Burns ihm bei dem

Gefecht die Nase gebrochen, so dass Rupert stets von

Schuldgefühlen übermannt wurde, wenn er Miles ins

Gesicht sah) und sprach plötzlich sehr leise, als müsse er

Page 6: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

6

ihm ein Geheimnis einschärfen, das unter allen Umständen

eines bleiben sollte.

„Ich will kein Geld, das war ein Scherz. Ich will mit dir

nach Paris fahren, das ist keiner. Du warst noch nie dort,

oder? Siehst du. Ich tu’ dir einen Gefallen. Nie kommst du

raus aus deinem Loch. Das soll sich jetzt ändern.“

„Ich … das geht nicht. Die Bewerbungsschreiben … was

soll denn daraus werden?“, protestierte Rupert weinerlich,

seine Mundwinkel zogen sich unwillkürlich nach unten.

Miles unterschätzte häufig seine physische Kraft; wie ein

Schraubstock umklammerte seine Hand Ruperts mageren

Oberarm. Sich bewusst werdend, dass er ihm wehtat,

lockerte er den Griff. Auf seiner Stirn standen

Schweißperlen, die Rupert erst jetzt bemerkte. Eine

Haarsträhne, die ihm in die Stirn gefallen war, klebte auf

seiner makellosen Haut, und er wischte sie mürrisch zur

Seite.

„Auf der Uni versauern kannst du dein ganzes restliches

Leben noch. Das ist die Gelegenheit, Rupert! Sei kein

Spielverderber!“

„Habe ich Geburtstag?“ Jetzt wurde er doch neugierig,

oder tat zumindest so. Anders würde er Miles nicht

abwimmeln können. Außerdem schien ihn tatsächlich etwas

zu bekümmern. Die gehetzte Art war nicht typisch für den

sonst so in sich ruhenden Miles.

„Zieh dir was an, pack’ ein paar Sachen zusammen und

frag nicht lang. Tickets habe ich gelöst, mehr kannst du im

Moment nicht verlangen. Keine Sorge, ich komm’ für alles

auf.“

Jetzt nahm er doch eine Zigarette aus dem offen

daliegenden Etui und zündete sie an. Er inhalierte so heftig,

dass sich in seinen Wangen Löcher bildeten. Rupert wagte

keine Widerrede mehr. Es war Irrsinn, ohne Nachricht an

Mrs. Simms oder seine Eltern das Land zu verlassen, aber in

Miles’ Augen trat ein abweisend glasiger Ausdruck, der ihm

sagte, dass weiteres Intervenieren zwecklos sei. Tief Luft

Page 7: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

7

holend und mit dem für ihn charakteristischen Gezappel,

wandte er sich um und öffnete den Wandschrank, um Miles’

Aufforderung Folge zu leisten. Währendessen fühlte er

beschämt den Blick des Freundes auf sich, als würde er sich

in seinen Rücken einbrennen. Sowie er sich angekleidet und

umgedreht hatte, bemerkte Rupert, dass Miles betont

gelangweilt seine Fingernägel inspizierte und das offenbar

schon eine ganze Weile getan hatte. Vermutlich bildete sich

Rupert zuviel ein. Manchmal war er schon ein wenig

paranoid, das musste er sich selbst eingestehen. Er war

einfach zu oft allein. Eventuell würde ein wenig

Abwechslung gar nicht schaden. Sonst wäre er eines Tages

ein schrulliger, alter Junggeselle, der sich die Abende mit

Patiencen legen vertrieb. Bis auf alt war er ohnehin schon

nahe davor. Aber was war eigentlich so verwerflich daran?

„Paris liegt in Frankreich, nicht?“ sagte er im Versuch,

Miles zur Konversation zu bewegen. Schweigsamkeit kannte

er nicht an ihm, und die Stille lastete unheimlich in dem

kleinen, vollgestopften Raum. Wie aus einer anderen Welt

blickte Miles zu ihm auf und blinzelte.

„In Frankreich“, wiederholte Rupert unsicher lachend.

„Glaubst du wirklich, wir haben dort Spaß? Ich spreche kein

Französisch. Du?“

„Es genügt“, sagte Miles, sein Ton war barsch. Barscher

als der von Rupert vor einigen Minuten. Doch verglichen

mit Ruperts ‚Schroffheit’ klang sogar das Fräulein vom Amt

sauertöpfisch.

Als er gewahr wurde, dass er unhöflich reagiert hatte,

zwang er sich zu einem Lächeln. „Entschuldige. Ich bin ein

bisschen nervös, weil ich Angst hatte, einen Korb von dir zu

kassieren. Es bedeutet mir viel, dass du mitkommst (als hätte

er – Rupert – eine Wahl gehabt!). Natürlich werden wir Spaß

haben, Rupert (er verachtete den laxen Umgangston in

Oxford und hatte weder Rupert noch sonst einen

Kommilitonen „alter Knabe“ genannt). Weißt du nicht, was

das heißt, Paris?“ Er breitete die Arme aus, womit ein Stück

Page 8: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

8

der alten Heiterkeit zurückerobert wurde, mit der sich Miles

in geselliger Runde gerne schmückte. Rupert fühlte sich

etwas besser. „Wein, Weib und Gesang. Und die Liebe, die

vor allem. In Frankreich weiß man noch zu leben. Es wird

dir gefallen.“

Rupert warf einen bedeutungsvollen Blick auf den

chaotisch gepackten Koffer.

„Wie lange bleiben wir denn?“

Langsam erhob sich Miles, um das im Übereifer falsch

zugeknöpfte Hemd seines Freundes korrekt zu schließen. Er

ging bedächtig zuwerke und ohne Scheu, als sei diese fast

intime Handlung für ihn eine Selbstverständlichkeit, so wie

der große Bruder dem kleinen, noch ungeschickten, die

Hosenträger fixiert.

Ruperts Adamsapfel hüpfte, als ihm der herbe Duft von

After Shave in die Nase stieg, gepaart mit Miles’ Atem, der

unter dem Zigarettenrauch verräterisch nach

Pfefferminzbonbons roch. Hatte Miles getrunken? Das war

nicht seine Art. In den Jahren von Oxford hatte er den Ruf

eines Abstinenzlers genossen, das einzige Manko, womit

man ihn hatte aufziehen können.

Er schniefte. Irgendwie kam er sich nun doch völlig

überrumpelt vor. Spontaneität lag ihm nicht, genauso wenig

wie das Neinsagen. Wenn er doch bloß nicht so schwach

wäre und sich durchsetzen könnte! Es gegen Miles nicht zu

können, war zwar keine Schande, kränkte sein ohnehin

geringes Selbstwertempfinden jedoch empfindlich.

Miles’ volltönende Stimme senkte sich zu einem

Brummeln, als er zum guten Schluss fast liebevoll Ruperts

Krawatte zurechtzupfte.

„Drei Wochen halt’ ich dich aus. Dann kannst du

verlängern, wenn’s dir gefällt. Und das wird es, darauf wette

ich.“

Wie lange er selbst bleiben wollte, ließ er offen. Als sie

schließlich mit Sack und Pack das Appartement verließen,

fiel Rupert etwas ein.

Page 9: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

9

„Ich bin noch nüchtern und meine Eltern muss ich

anrufen…“

„Das kannst du unterwegs“, schnitt Miles ihm das Wort

ab, auf einmal hatte er es wieder sehr eilig.

Rupert mochte naiv und gelegentlich blauäugig sein;

dumm war er nicht. Für Miles war Paris kein Urlaub, soviel

stand fest.

~*~

Während der Zugfahrt von London nach Dover verfiel

Rupert in grüblerisches Schweigen, da Miles, der ihm

gegenübersaß, keinerlei Anstalten machte, eine Unterhaltung

in Gang zu bringen, sondern sich sofort hinter „Krieg und

Frieden“ verschanzte, als sei ihm Ruperts Anwesenheit

unangenehm. Hin und wieder legte er das Buch auf sein

Knie und schaute Rupert prüfend an, jedoch nur für

Bruchteile von Sekunden, so dass Rupert keine Zeit blieb,

sich ein interessantes Thema auszudenken, solange Miles’

Aufmerksamkeit ihm und nicht Tolstoi gewidmet war. Die

Luft kam Rupert stickig vor, er öffnete das obere Fenster

und schloss es gleich darauf wieder, als ihm die Zugluft den

Atem nahm. Miles hatte überhaupt nicht reagiert.

Widerstrebend versuchte Rupert, es ihm gleichzutun und

griff nach einem Buch, das er in aller Eile in seine Tasche

geworfen hatte, doch Emily Brontë gelang es nicht, ihn von

seinem Unwohlsein abzulenken. Im Gegenteil, durch das

Ruckeln und seiner ungünstigen Sitzposition verschlimmerte

sich das flaue Gefühl im Magen.

Endlich räusperte er sich und nahm seinen ganzen Mut

zusammen. Da der Freund den Anlass der Reise nicht zur

Sprache brachte, würde er versuchen, es unverfänglicher

anzupacken. Seinen Dank dafür, dass Miles für alle Kosten

aufkam, hatte der mit einer lässigen Handbewegung

entkräftet.

Page 10: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

10

„Warum willst du ausgerechnet mich mitnehmen? Du hast

so viele andere Bekannte. Die hätten sich bestimmt mehr

gefreut. Und eigentlich kennen wir uns gar nicht besonders

gut.“

Abermals senkte Miles das Buch. In seine Augen trat ein

verschmitzter Ausdruck. Er konnte etwas Lausbübisch-

Verschwörerisches haben, trotz seiner Weltgewandtheit.

„Eben“, sagte er. „Alte Bekanntschaften langweilen mich.

Und Frohnaturen sowieso.“

Damit war das Thema abgehakt. Rupert seufzte. Immerhin

war Miles bisher ein unaufdringlicher Reisegefährte, fast zu

distanziert, fand Rupert. Sollte er nicht um das Wohlergehen

seines Begleiters bemüht sein wie der Gentleman, als der er

sich so gerne brüstete? Rupert hatte entdeckt, dass der Zug

über einen Speisewaggon verfügte, doch da er sich nicht

traute, Miles den Vorschlag zu machen, eine Kleinigkeit zu

essen, ohne für einen Vielfraß gehalten zu werden, blieb er

stumm und mit den Bewegungen des Zuges schwankend

sitzen. Ohne dass er es benennen konnte, hatte er das Gefühl,

sich daneben benommen zu haben. Als er elend aufsah,

nickte ihm Miles ermutigend zu. Missvergnügen oder gar

Mitgefühl schien er nicht zu kennen. Wahrscheinlich war es

schwer für einen so extrovertierten Menschen, sich in Rupert

hineinzuversetzen, der jetzt gerne einen Gin gehabt hätte,

um seine Bedenken bezüglich der Reise hinunterzuspülen.

Auf der Gangway zur Fähre nach Calais forderten die

Aufregung und sein unüberlegtes Handeln, das ihn innerlich

aufwühlte, ihren Tribut: plötzlich wurde ihm schwarz vor

Augen. Er strauchelte, grapschte nach dem Geländer und

kämpfte verzweifelt um seine Sinne, dieweil er das Gefühl

hatte, auf einer Rolltreppe zu laufen. Es gab kein Zurück.

Die Welt, die Rupert vertraut war, seine Bücher, sein

Zufluchtsort und alles, was ihm lieb und teuer war, Ruhe

und Geborgenheit in seinem Appartement, ließ er hinter

Page 11: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

11

sich, und das, davon war er überzeugt, für lange, lange Zeit,

wenn nicht gar für immer.

Alles, was er noch mitbekam, war Miles’ Arm um seine

Taille und ein überraschter Ausruf aus dessen Mund, bevor

seine Knie weich wurden wie Gummi und er in Ohnmacht

fiel.

~*~

Unaufhörliches Tätscheln auf sein Gesicht brachte ihn

wieder zu sich. Um dem auszuweichen, warf er den Kopf

zur Seite und stöhnte theatralisch. Miles oder irgendjemand

aus der um ihn herumstehenden, gaffenden Menge hatte ihn

in einen der Liegestühle an Bord verfrachtet und in eine

braune, kratzende Decke gewickelt. Die Hoffnung, schlecht

geträumt zu haben, zerplatzte jäh. Vor ihm hockte sein

Freund und stieß einen Stoßseufzer aus.

„Rupert! Alles in Ordnung mit dir? Mach das ja nicht noch

einmal! Ich war außer mir vor Sorge. Du bist doch nicht

krank?“

Er schickte sich an, aufzustehen, die Sensationslust der

Passagiere und des Fährenpersonals war ihm peinlich, zu

seinem Schreck lief er puterrot an. Sanft, aber bestimmt

drückte Miles ihn in den Stuhl zurück.

„Bleib liegen. Der Kapitän lässt dir einen Whisky bringen,

danach geht’s dir besser.“

„Oh Gott“, ächzte Rupert und versuchte den Kopf zu

heben, der immer noch schwirrte. Alles drehte sich, er

glaubte, in ein tiefes Loch zu fallen, aus dem es kein

Entrinnen gab. „Kein Whisky. Ich habe – habe nicht

gefrühstückt, das wollte ich dir noch sagen … seit heute

morgen.“

Eine adrette Blondine in Uniform kredenzte ihm ein Glas

Whisky, das er automatisch auf Ex leerte. Langsam und ein

wenig enttäuscht zerstreuten sich die Schaulustigen; es war

kalt an Deck. Der Wind zauste Miles’ Deckhaar, als er sich

aufrichtete und, die Fäuste in den Rücken stemmend, den

Blick über den Kanal schweifen ließ.

Page 12: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

12

„Ich hol’ dir was zu essen“, erbot er sich, sah Rupert aber

nicht an. Doch der hatte keinen Hunger mehr. Eher hätte er

sich in die schäumende Gischt am Heck der Fähre gestürzt

und wäre nach Dover zurückgeschwommen als einen Bissen

hinunterzuwürgen. Er hatte nicht gewusst, dass Heimweh so

schmerzhaft sein konnte.

„Mir ist kalt“, jammerte er. „Lass uns reingehen.“

Miles half ihm gegen seinen Willen auf und stützte ihn

fürsorglich, genauer gesagt hievte er den Freund fast fünf

Zentimeter über den Boden zum trockenen Unterstand.

„Bald sind wir drüben auf dem Festland“, tröstete er Rupert,

der ihm noch blasser schien als sonst und auf dessen Gesicht

sich hektische Flecken abzeichneten, die er als Indiz einer

schwerwiegenden Magenverstimmung deutete. Kein

Wunder, dass er so schmächtig war wie ein Grashalm, wenn

er mit seinem Sinn fürs Unpraktische und dem

stundenlangen Brüten über Lektüre selbst die

Nahrungsaufnahme vergaß. Im Stillen wettete Miles, dass

Rupert noch nicht einmal ein Spiegelei braten konnte. Na ja,

er würde ihm noch so manches beibringen müssen …

Körperliche Nähe trug nicht gerade zu Ruperts

Entspannung bei. Berührungen machten ihn nervös, er

konnte es nicht verhindern. Überdies schmeichelte ihm

paradoxerweise Miles’ Aufmerksamkeit mehr als die

Prügelei es seinerzeit getan hatte, und so konnte er sich nicht

entschließen, was ihn mehr aufregte: Miles’ starke Präsenz

oder seine beinahe aufopferungsvolle soziale Ader, die sogar

für Rupert da war.

Als sie sich auf einer Bank niederließen, zauberte Miles

ein Sandwich aus seiner Tasche und reichte es Rupert.

„Du musst was essen“, meinte er entschlossen. „Oder ich

lass’ dich wieder nach Dover zurückpaddeln. Wenn du sonst

irgendwas brauchst in Zukunft, scheu’ dich bloß nicht, es

mich wissen zu lassen. Falsche Bescheidenheit hat schon so

manchen Idiot Kopf und Kragen gekostet.“

Page 13: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

13

Der Rest der Überfahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle.

Der Himmel klarte auf, und mit dem durchbrechenden

Sonnenstrahl fasste Rupert ein Quentchen Hoffnung, dass es

doch nicht so übel sei, auf Reisen zu gehen. Nach dem

Imbiss belebte ihn ein wenig Unternehmungsgeist, seine

bleichen, eingefallenen Wangen röteten sich in diffuser

Vorfreude. Mit Miles an seiner Seite wäre er für jegliche

Unannehmlichkeiten gewappnet. Außerdem war es ja nicht

so, als entführte man ihn. Er konnte jederzeit zurück, Miles

hatte es versprochen.

„Glaubst du, es gibt hübsche Mädchen in Paris?“ fragte er

verschämt kichernd und knuffte Miles linkisch in die Seite.

„Bestimmt“, antwortete Miles geistesabwesend, doch man

hörte ihm die Freude über Ruperts schlagartige

Verwandlung an. „Ich hab gehört, die sollen hübscher sein

als unsere.“ Er vergrub sich wieder in seinem Tolstoi und

beachtete Rupert nicht mehr, der sich bis zum Ende der

Fahrt mit Däumchendrehen begnügen musste und schon

wieder von Gewissensbissen geplagt wurde.

Page 14: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

14

Kapitel 2

as erste, das Rupert an Frankreich feststellte und

am Abend verdrießlich in sein Tagebuch notierte, war

die übertriebene, nach seinem Dafürhalten sogar gekünstelte

Art. Alles, was die Franzosen machten, musste laut, grotesk

und schrill sein. Der Empfang der Fähre zum Beispiel.

Keiner der Leute dort kannte irgendjemand auf dem Schiff,

und trotzdem umringten sie die Ankommenden wie lang

Verschollene, schmatzten einzelne von ihnen ab und

begrüßten sie mit unverständlichem Singsang, der wild und

wie entfesselt hin und her flog. Als ein zahnloser Greis

Rupert in einem - zumindest in seinen Ohren - wenig

freundlich klingendem Ton ansprach und ihm dabei feine

Speichelfäden ins Gesicht schleuderte, nickte er artig und

hakte seine Finger in der Gürtelschlaufe von Miles’ Mantel

fest, ehe die Menge ihn von ihm fortgerissen hätte.

Unwillkürlich fragte sich Rupert, ob alle Franzosen nichts

Besseres zu tun hatten, als den lieben langen Tag am Quai

zu stehen oder ob aber die Ankunft einer prominenten

Persönlichkeit bevorstand.

Mit mondäner Gelassenheit winkte Miles einem Taxi, das

wie reserviert auf sie zuschoss. Dienstbeflissen stieg der

Fahrer aus und half ihnen unter einem Redeschwall des

Willkommens mit dem Gepäck. Aus seiner Servilität hätte

man schließen können, dass Miles die Prominenz sei, die

erwartet wurde. Ganz so unzivilisiert waren sie also doch

nicht, die Franzmänner. Keiner sollte Rupert

Voreingenommenheit nachsagen, und so ließ er sich sogar

zu einem schüchternen Grinsen an die Adresse des Fahrers

hinreißen. Der Kerl redete und redete, es schien ihn nicht zu

stören, dass er keine Antwort erhielt; Miles war wieder

einsilbig geworden, nachdem er dem Fahrer die Zieladresse

D

Page 15: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

15

mitgeteilt und mit ihm einige Höflichkeitsfloskeln

ausgetauscht hatte.

~*~

Ebenso wie seine Bewohner zeigte sich Paris laut, schrill,

grotesk und zudem auch noch schmutzig. Der Taxifahrer

jagte seinen Wagen hupend und wie ein angestochenes

Schwein über die breiten Chausseen, auf denen ohne Sinn

und Regeln der Verkehrsordnung getrotzt wurde. Sein

rasanter Fahrstil verursachte Rupert erneut Übelkeit.

Mehrmals wurde er im Fond gegen Miles geschleudert, der

ihn nachsichtig lächelnd gerade hinsetzte.

Ganz nach Miles’ exklusivem Geschmack hatte er dem

Fahrer eines der teuersten Hotels in der Innenstadt genannt.

Ehrfürchtig folgte ihm Rupert durch die vergoldete Drehtür

über den spiegelblanken Marmorboden, auf den er zunächst

vorsichtig den Fuß setzte, um sicherzugehen, nicht

auszurutschen. In den Ecken des hohen Foyers luden

polierte, von exotischen Pflanzen und Palmen flankierte

Ledermöbel zum Verweilen ein. Eine junge Frau saß mit

überkreuzten Beinen in einem Sessel und las konzentriert in

einem Modejournal. Schnell wandte Rupert den Blick ab

und schloss zu Miles auf, der sich nach einer kurzen

Schäkerei mit dem dürren Portier im Hotelregister als Victor

Mason eintrug. Verdutzt zog ihn Rupert am Ärmel.

„Was soll das? Du bist doch nicht …“

Miles legte den Finger über die Lippen. „Scht. Du wirst

mich ab jetzt so nennen. Und so tun, als ob du mein Bruder

wärst. Ab heute heißen wir beide Mason, hast du das

verstanden?“

Rupert ging auf, dass der Name „Mason“ eine

Verballhornung ihrer beider Nachnamen war. „Victor“

lautete Miles’ zweiter Name, nach seinem Vater, so stand es

in seinem Abschlusszeugnis. Obwohl er nicht den leisesten

Schimmer hatte, was Miles mit einem Pseudonym

bezweckte, fand er Gefallen an dem Spiel. Er hatte gar nicht

gewusst, dass Miles eine so ausgeprägt kindliche Seite hatte.

Page 16: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

16

„Mir soll’s recht sein, Vic.“

Mit dem Kinn auf eine gläserne, messinggefasste Zelle

deutend, flüsterte Miles: „Der Portier sagt, du kannst dort

drüben telefonieren. Sag’ deinen Eltern, du seiest auf

Anraten deines Arztes auf Klettertour in den Schweizer

Alpen oder auf Kur in Bad Kissingen. Auf keinen Fall

erzählst du ihnen von mir, und dass du aus Paris anrufst.

Lass dir irgendwas einfallen, das sie dir glauben.“

Wie ein geprügelter Hund schlich Rupert zum Telefon.

Nichts würden sie ihm glauben, dazu kannten sie ihn zu gut.

Er war ein schlechter Lügner, der sich sofort verriet. Und er

hatte keinen Arzt. Eigenartig auch, dass Miles nicht erwähnt

werden wollte. Gut, seine Eltern mochten ihn nicht

besonders, hielten ihn für einen schlechten Einfluss auf den

tugendhaften Sohn, aber war das jetzt nicht übertrieben?

Was sollte er sagen?

Als er hinter der Glaswand den Hörer abnahm, wurden

seine Finger feucht, sein Atem ging schwer. Miles wartete,

er hatte ihn genau im Visier. Rupert fiel ein, dass er keine

Ahnung hatte, wie die Auslandsvorwahl für Britannien

lautete. Und überhaupt. Wenn er jetzt die Stimme seiner

Mutter hören musste, die über den Kanal an sein Ohr drang,

konnte er für nichts garantieren. Morgen würde er einen

Brief schreiben, das wäre am besten. Auf diese Weise hätte

er Zeit, sich seine Worte genau zu überlegen.

Miles versicherte er, dass alles geklärt sei. Er schien doch

nicht ganz so miserabel zu flunkern: jedenfalls bekundete

Miles keinerlei Skepsis.

Der Page, ein flinker, drahtiger Bursche um die Zwanzig

mit sonnengebleichtem Blondhaar, das durch den

Garçonschnitt sein ovales, leicht gebräuntes Gesicht betonte,

bestand darauf, ihre Koffer zu tragen, obwohl er viel zu

schmächtig wirkte, um die beiden schweren Taschen

hochzuwuchten. Er schaffte es dennoch und erntete ein

anerkennendes Zwinkern von Miles, das er mit einem

Page 17: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

17

Strahlen quittierte und dabei sehr weiße, furchteinflößend

lange Zähne entblößte.

Im Lift übte er sich im Smalltalk; sein Englisch war

beinahe perfekt.

„Sie sind zum ersten Mal hier? Die Stadt wird Ihnen

gefallen. Alle Touristen mögen Paris, besonders zu dieser

Jahreszeit. Ich komme aus Nîmes. Südfrankreich. Mein

Onkel hat mich hergebracht. Zuerst wollte ich nicht, aber

jetzt, nach zwei Jahren, bin ich froh, dass er so hartnäckig

war. Man lernt viele interessante Leute kennen, und manche

sind sehr spendabel. – Hier steigen ja ziemlich reiche Leute

ab, Politiker, Sänger ... Schauspieler auch. Ich habe ein

Autogramm von Gene Kelly, wollen Sie es sehen?“ Ohne

eine Antwort abzuwarten, nestelte er in seiner Uniformjacke

herum und drückte es Rupert in die Hand.

„Toll“, kommentierte Rupert lahm, indem er auf das von

beneidenswerter Vitalität strotzende Porträt starrte. Der

irische Name ließ ihn an ein Mitglied der Sinn Fein-Partei

denken, wenngleich die Kostümierung irgendwie deplaziert

anmutete. Vielleicht wollte er nicht erkannt werden.

Miles wölbte tadelnd die Brauen.

„Heben Sie es gut auf. In ein paar Jahren hat es sicher

beachtlichen Wert.“

Der Page nahm das vom vielen Herumzeigen zerfledderte

Foto an sich und neigte geringschätzig den Kopf ob soviel

Gleichgültigkeit, während seine vollen Lippen einen

Schmollmund andeuteten. Anscheinend war es nicht das

gewesen, was er hatte hören wollen. Die grünen Augen

hinter schweren Lidern verdunkelten sich, und er wippte

schweigend auf den Fußballen.

„Ein gutaussehender Mann und einmaliger Tänzer“,

versuchte Miles die Situation zu retten. „Er war phantastisch

in Urlaub in Hollywood. Aber fast noch besser als

d’Artagnan.“

Die Miene des Pagen hellte sich auf. „Sie haben seine

Filme gesehen?“

Page 18: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

18

„So gut wie alle“, bestätigte Miles. „Er ist unglaublich

vielseitig. Gute Entertainer gibt es nicht viele, aber Gene

Kelly gehört definitiv dazu.“

„Ich habe auch ein Autogramm von Marlene Dietrich“,

sprudelte der Page hervor. „Aber das hängt zuhause in einem

Rahmen. Wenn Sie möchten, bringe ich es morgen mit – wir

sind da. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt,

Messieurs.“ Er stellte die Koffer an der Tür ab und wies

einladend in die weitläufig geschnittene Suite. Miles gab

ihm Trinkgeld, soviel, dass Rupert an diesem Tag beinahe

zum zweiten Mal ohnmächtig wurde. Das gesamte

Vermögen der Mayhews oder zumindest Miles’ Erbanteil

musste offenbar für diesen sonderbaren Urlaub verprasst

werden, ganz so, als hätte Miles eine absurde Wette mit sich

selbst geschlossen.

Ein furchtbarer Gedanke schlich sich in sein Gehirn, den

er fast nicht auszudenken wagte. Was, wenn dieser Urlaub

Miles’ endgültig letzter war? Womöglich hatte man eine

unheilbare Krankheit diagnostiziert und seine Eltern ihm den

letzten Wunsch gewährt, der darin bestand, eine andere

Kultur kennenzulernen? Aber wäre Miles dann so

unbeschwert? Doch es würde seine Geheimnistuerei um den

Grund der Reise erklären. Aber auch seine Unbeschwertheit,

die – soweit Rupert es beurteilen konnte – weder gekünstelt

wirkte noch als Ablenkungsmanöver gedacht war?

Eigentlich würde Rupert aufgesetzte Fröhlichkeit doch

erkennen, oder? Gott, er wusste sehr wenig über den

Menschen, den er für seinen Freund hielt. Aber was wusste

er überhaupt über die Menschen?

Vom Wechselkurs des Francs war ihm ebenfalls nichts

bekannt. Der Page bedankte sich mit dem Lüpfen seiner

Kappe und stopfte die Scheine eilig in die Jackentasche, als

hätte er Angst, Miles könnte seine Großzügigkeit bereuen.

„Wie heißen Sie?“ Miles’ Frage klang weder aufdringlich

noch anzüglich. Irgendwie gelang es ihm, immer den

richtigen Ton zu treffen. Der Page fühlte sich geschmeichelt,

Page 19: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

19

das war ihm anzusehen. Ein wenig verlegen spielte er mit

den Knöpfen seines Kragens, ohne dass es ihm bewusst war,

da er zu Miles aufsah, der ihn um einen Kopf überragte.

„Delaroche, Monsieur. Julien Delaroche.“

„Victor“, stellte sich Miles seinerseits vor und streckte ihm

die Hand hin, die der Page umgehend ergriff und herzlich

schüttelte. „Hätten Sie Lust, für uns nach Feierabend ein

wenig den Fremdenführer zu spielen? Natürlich nur, wenn es

Ihnen passt. Ich würde mich sehr freuen – genau wie mein

Bruder Rupert. Wir lassen uns nicht lumpen, Julien.“

Der Page nahm Rupert beiläufig aus den Augenwinkeln

wahr, sah auf die Uhr und nickte dann. „D’accord. Ich habe

in drei Stunden Dienstschluss. Ich warte hier auf Sie.“

Rückwärts entfernte er sich und nickte beiden noch einmal

zu, ehe er beschwingt und leise pfeifend den Flur hinunter

ging.

Neugierig durchstreifte Miles die Suite, in der die Farben

Creme, Braun und Weiß in dezenten Schattierungen

vorherrschten. Die hohen Decken waren mit Stuckleisten

und an die Rokokozeit erinnernden Reliefs verziert,

geschmackvolle Drucke von bekannten Gemälden hingen an

den Wänden. Erleichtert stellte Rupert fest, dass die Betten

durch ein Nachtschränkchen getrennt waren und nicht - wie

in Suiten üblich, in denen normalerweise Ehepaare logierten

- direkt nebeneinander standen.

Seufzend ließ er sich auf das Bett nahe dem Fenster fallen,

durch das der Lärm der Straße zu hören war. „Miles.“

Der Freund wandte sich um, er war ganz in die

Inspizierung des Badezimmers vertieft gewesen. „Ja?“

„Ich … ähm … ich wollte dich fragen …“ Plötzlich

übergoss ihn heiße Röte, er sah zu Boden und verstummte.

Falls Miles tatsächlich krank war, hätte er bald niemanden

mehr, der sich ein bisschen um ihn scherte. Oh, er

verabscheute seinen Egoismus, und konnte doch nicht

anders. Obendrein war das Thema von so delikater Natur,

dass es ihm schwerfiel, die richtigen Worte zu finden, ohne

Page 20: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

20

taktlos zu erscheinen. Sie waren nicht so gut befreundet, als

dass man über alles reden könnte. Vielleicht wäre Miles

peinlich berührt von Ruperts Indiskretion und würde ihn

umgehend wieder nach Hause schicken. Inzwischen war er

aber bestrebt, Miles nicht alleine zu lassen in dessen

schweren Stunden. Eventuell brauchte er jemanden, der ihm

beistand, wenn es hart auf hart kam. Weshalb seine Wahl auf

ihn gefallen war, blieb ihm zwar rätselhaft, aber er würde

einen Todkranken nicht enttäuschen. Schließlich hatte er

seine Ehre.

„Was? Raus damit.“ Er näherte sich dem Bett und setzte

sich neben ihn, wobei er ihn halb besorgt und halb

interessiert musterte. Rupert schluckte, immer noch den

Blick auf den teuren Perserteppich zu ihren Füßen geheftet.

„Nichts“, murmelte er so unglücklich, dass Miles ihm den

Arm um die Schulter legte und ihn kurz und impulsiv an sich

drückte. Rupert gab einen erstickten Laut von sich, den

Miles falsch interpretierte.

„Heimweh? Hast du bald vergessen. Du nimmst das Leben

viel zu ernst. Warte, bis Julien uns die Stadt zeigt.

Inzwischen werden wir mal prüfen, was die Küche zu bieten

hat. Komm. Unten gibt es ein Restaurant.“

~*~

Appetit hatte er zumindest, und das nicht zu knapp. Rupert

dagegen machte schon nach dem zweiten Gang schlapp;

Muschelsuppe und Austern als Hors d'oeuvre waren seinem

Magen dann doch zu exotisch, und so verspürte er wenig

Lust auf das Hauptmenü, das in einem nicht näher

definierbaren Fischsammelsurium schwamm. Miles sorgte

dafür, dass er sich vor dem Chefkoch nicht zu blamieren

brauchte, indem er Ruperts verschmähte Portion auf seinen

eigenen Teller häufte. Desgleichen ließ er die Creme Brulée

und den Käse nicht verkommen, die als Dessert serviert

wurden.

„Du brauchst dich nicht zu zieren. Ich lade dich ein“,

erinnerte er Rupert.

Page 21: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

21

Der Bordeaux war köstlich. Dafür hatte sich Frankreich

gelohnt. Auf Befehl brachte der dienstbeflissene Kellner

eine weitere Flasche, da Miles registrierte, dass der Alkohol

Rupert ein wenig zugänglicher machte und seine Zunge

löste. Er prostete Miles zu.

„Ich bin gerne hier mit dir“, sagte er, um etwas Nettes zu

sagen, das Lallen in seiner Stimme war nur für Miles hörbar.

„Ich meine, wann hat man schon mal so eine Gelegenheit?

Ehrlich gesagt, war ich noch nie im Ausland. Und ich bin –

sehr froh, dass du mich begleitest“, fügte er ein wenig

widerstrebend hinzu, weil es sich so anhörte, als habe er

Miles zu dieser Tour überredet und nicht umgekehrt.

„Das dachte ich mir“, erwiderte Miles und lehnte sich

zurück, als der Kellner herbeisprang und das Feuerzeug

zückte, um die Verdauungszigarre anzuzünden. Seine Miene

drückte Belustigung aus. Darüber verunsichert zerknüllte

Rupert die Stoffserviette. Dennoch wirkte der Alkohol

soweit, dass er schließlich zu dem Punkt kam, der ihn quälte.

Allerdings brachte er seine Frage nur unter unpassend

albernem Glucksen hervor. Er setzte mehrmals an, um sie

verständlich zu formulieren und dabei nicht allzu pathetisch

zu klingen. Mit den Fingerspitzen malte er Kringel auf die

Tischdecke.

„Stell dir vor, ich habe vorhin gedacht … Na ja, das ist

dumm, ich weiß … dass du dir mit der Reise nach Paris

einen letzten Wunsch erfüllst …“

Jetzt war es heraus, vor Anstrengung, seinen benebelten

Verstand beieinanderzuhalten, keuchte er. Überraschung

zeichnete sich auf Miles’ Gesicht ab, doch er lachte nicht.

„Wie kommst du denn darauf?“ fragte er in einer Art, die

nicht ausschloss, dass Rupert nicht recht haben könnte. Auf

einmal bemerkte Rupert, wie attraktiv sein Gegenüber war.

Sein Blick glitt fast erschrocken über das dichte, nahezu

schwarze Haar, die faltenlose Haut, das energische,

glattrasierte Kinn und die beinahe feminin anmutende

Physiognomie, in der die schiefe Nase den Gesamteindruck

Page 22: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

22

nur mäßig störte, ihr sogar das gewisse Extra verlieh. Die

Mischung aus Unschuld und Verletzlichkeit hinter einer eher

robusten Erscheinung rührte Rupert zutiefst; ein Hauch von

Beschützerinstinkt, der ihm fremd war, schnürte ihm die

Kehle zu. Es war lachhaft: Miles brauchte kein

Kindermädchen, hatte nie eines gebraucht. Er war es

gewohnt, sich alleine durchzuschlagen und auf niemanden

angewiesen zu sein, schon gar nicht auf Rupert, für den er

wahrscheinlich seit ihrer ersten Begegnung dasselbe

empfand wie dieser momentan für ihn.

Alle Heiterkeit war aus Miles gewichen, gespannt wartete

er auf die Begründung. Auch Rupert drückte der Wandel,

den seine Frage hervorrief, aber es lag ihm fern, einen

Rückzieher in dieser Sache zu machen. Endlich einmal

gelang es ihm, mit Miles ein Mann-zu-Mann-Gespräch zu

führen. Mulmig war ihm jedoch schon dabei, und er war

froh, seinem Magen nichts allzu Schweres zugemutet zu

haben.

„Vielleicht – vielleicht willst du dir einfach noch ein

schönes Leben hier machen von dem Rest, der dir noch

bleibt.“ Ohne es zu beabsichtigen, fasste er über den Tisch

nach Miles’ Händen, während seine Augen flehend an

seinem Freund hingen, der seinem Blick standhielt und

erstaunlich ernst antwortete.

„Sterben müssen wir alle mal. Wichtig ist, dass wir das

Beste draus machen, bis es soweit ist.“

„Aber du – hast doch noch Zeit?“

Miles grinste und tätschelte beruhigend Ruperts Hand, die

immer noch auf seiner lag und sich einen Moment lang

verkrampfte. „Wenn mich nicht gleich ein Auto da draußen

über den Haufen fährt, ja. Hast du gesehen, wie sie rasen, die

Franzmänner? - Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht krank.

Und selbst wenn es so wäre, was könnte ich denn ändern?

Was würdest du ändern? Du würdest dich hinter deinen

Büchern verkriechen und Trübsal blasen. Am Ende wären

wir aber beide dort, wo alle hingehen, wenn sie abtreten

Page 23: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

23

müssen. Eine hysterische Reaktion wäre eine ebenso törichte

wie sinnlose Vergeudung von Energie.“

„Aber man sollte schon etwas erreicht haben“, beharrte

Rupert leicht schwankend.

Miles faltete die Hände und verschränkte sie vor dem

Mund, während er Rupert unentwegt ansah. In diesem

Augenblick erkannte Rupert, dass ein guter Psychologe an

ihm verlorengegangen war, für den er sich als kopfloser, zu

Überspanntheit neigender Proband geradezu anbot. Hätte er

die Angelegenheit doch lieber auf sich beruhen lassen. Aber

Miles fand Gefallen daran, ihn ein bisschen zu triezen.

„Wieso denn? Wieso sich abstrampeln für etwas, für das

man nicht geschaffen ist?“

„Weil … na, weil es sich so gehört.“

„Rupert, Rupert ... Ist das deine eigene Meinung oder die

deiner Eltern? Du bist erwachsen, geh deinen eigenen Weg.

Ich hab nichts dagegen, wenn er in Büchern und Einsamkeit

liegt. Meiner wäre es aber nicht. Deshalb ist es ganz gut,

dass jeder selbst entscheiden kann. Ich will dir nur die

Augen öffnen und dir zeigen, dass es noch andere schöne

Dinge gibt außer in deiner eigenen Welt. Ich will nicht, dass

du nicht dorthin zurückkehrst. Wer wäre ich denn, dir das zu

verbieten? Vorher solltest du aber wenigstens über den

Tellerrand geschaut haben.“

Mit dermaßen philosophischen Betrachtungen hatte Rupert

nicht gerechnet, trotzdem fiel ihm ein Stein vom Herzen.

Geringstenfalls hatten sie seine Befürchtung, Miles sei

todkrank, wenn nicht widerlegt, dann doch weitgehend

gedämpft. Ein wenig besänftigt nippte er am Glas. Es wäre

eine Schande, den guten Tropfen stehenzulassen.

„Ich werde trotzdem unterrichten, sobald ich eine Stelle

habe.“

„Das verdient Respekt“, sagte Miles ohne den Funken von

Ironie.

Page 24: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

24

Kapitel 3

egen Abend und eine Stunde zu spät tauchte Julien

auf. Er war im Zivil und hatte sich ordentlich

herausgeputzt. Sein jetzt unbedecktes, zurückgestriegeltes

Haar glänzte und war länger, als es die derzeitige Mode

erlaubte. Das Burschikos-Kindliche, das ihm am Mittag

noch angehaftet hatte, war verschwunden. Auch Miles und

Rupert hatten sich stadtfein gemacht, doch Rupert, der sich

seit dem verspäteten Mittagessen nicht wohlfühlte und an

höllischen Kopfschmerzen laborierte, zupfte Miles am

Ärmel. Er hatte beschlossen, den forschen Franzosen mit

seinem lächerlichen Hang zu Filmstars nicht zu mögen.

Insgeheim hoffte er, Miles zum Bleiben zu bewegen.

Dumpfe Eifersucht kroch in ihm hoch, sowie er in das vor

Freude und Dienstgefälligkeit glühende, frische Gesicht des

Jungen blickte.

„Geht ihr allein“, raunte er seinem Freund matt zu. „Mir

ist nicht gut.“

„Wirklich?“ vergewisserte sich Miles in einem Tonfall,

der Rupert sofort verriet, dass seine Finte fehlschlagen

würde. „Schade. Aber wenn du meinst … nimm ein Aspirin

und leg’ dich ein bisschen hin. Wir sind nicht allzu lange

weg.“

„Pass auf dich auf“, brach es aus Rupert heraus, während

er ungestüm die Arme um Miles warf; selbst der Page hob

erstaunt die kräftigen Augenbrauen ob des unerwarteten

Gefühlsausbruchs. Engländer waren steif, traditionsbewusst

und in erster Linie Beherrscher ihrer Emotionen, so

jedenfalls sagte man, und bisher hatte in ihrem Hotel noch

keine Ausnahme die Regel bestätigt. Dieser hagere,

miesepetrige Rupert schien aus der Reihe zu tanzen; er

konnte ihm nicht böse sein und verbarg ein Lächeln.

G

Page 25: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

25

Wahrscheinlich war diese Vorstellung für seine Verhältnisse

geradezu heißblütig.

„Ist alles gut, ich pass schon auf“, beschwichtigte Miles

Rupert. Er sprach so dicht an Ruperts Ohr, dass Julien ihn

nicht hören konnte. „Hast du Angst, du müsstest hier alleine

bleiben, wenn mir was zustößt? Dann komm doch einfach

mit.“

Mit zusammengekniffenen Lippen wich Rupert einen

Schritt zurück. Der Franzose musste ihn für eine schöne

Memme halten!

„Nein“, beschied er knapp, ehe er sich waidwund in die

Suite zurückzog und die Tür behutsam schloss, gegen die er

seine Stirn lehnte und in Selbstmitleid versank. In seinen

Gedanken konnte er das Gespräch erahnen, das jetzt

zwischen dem Boy und Miles stattfand.

„Ein komischer Kauz ist Ihr Freund“ – nein, Bruder,

korrigierte er - „Ach ja, man muss ihn so nehmen wie er ist,

aber manchmal kann er eine rechte Landplage sein. Ganz im

Vertrauen, Julien, er ist gar nicht mein Bruder … ich würde

mich in Grund und Boden schämen.“

Der Anfall von Schwermut ließ ihn zunächst apathisch

verharren. Nach einigen Minuten, in denen er vergeblich

versuchte, sich zu fangen, packte er sein Tagebuch und

Schreibzeug aus, ging zum Schreibtisch und verfasste

akribisch die Geschehnisse des Tages in seinem Journal, wie

es ihm von klein auf zur Gewohnheit geworden war. Später

fand er etwas Trost darin, die Zeilen durchzulesen,

wenngleich sein Bericht lediglich seine Gemütslage

widerspiegelte. Da er schon dabei war, schriftlich tätig zu

sein, machte er sich danach an den Brief an seine Eltern. Die

Niedergeschlagenheit und das Gefühl, ausgestoßen zu sein,

gingen mit ihm durch: in dramatischer Weise schilderte er

den Grund, weshalb er Hals über Kopf die Heimat verlassen

hatte. Nun, mit fast dreißig, habe er sich Gedanken über sein

Page 26: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

26

bisheriges Leben gemacht und auf Anraten seines Arztes

eine Weltreise in Angriff genommen, da es nicht

ausgeschlossen sei, dass Rupert nicht mehr lange zu leben

habe, sie wussten ja um seine anfällige Gesundheit (was

gelogen war, doch ein sadistisches Vergnügen durchlief ihn,

als er diesen Satz niederschrieb). Und wenn er schon abtrat,

dann als erfahrener Mann, im Einklang mit sich selbst und

den vielen Menschen, die er auf seiner Erdumrundung

kennen und schätzen gelernt hatte.

Sein Vater wäre enttäuscht von ihm. Seit dem Tag seiner

Geburt sah er ihn in Cambridge unterrichten und einer

glorreichen Zukunft entgegengehen. Als einziger Sohn lag in

dieser Hinsicht eine schwere Bürde auf Rupert, aber er hatte

tatsächlich geglaubt, der Wunsch des Vaters sei auch sein

eigener. Nun erkannte er, dass er viel zu schüchtern war, um

vor einer Horde pickeliger Halbstarke Anglistik zu lehren.

Beim kleinsten Fehler würden sie ihn verlachen und

verspotten, und Rupert hatte nicht das Selbstbewusstsein,

darüber zu stehen oder gar den Rohrstock einzusetzen,

würde es nie haben.

Obwohl Miles ihm seine Pläne – die strenggenommen die

von Grayson senior waren – nicht auszureden versucht hatte,

hatte Rupert gespürt, dass er ihn zum Nachdenken anregen

wollte mit seiner letzten Bemerkung bei Tisch.

Den Freund erwähnte er wie gewünscht nicht. Er wollte es

sich nicht verscherzen mit ihm. Obendrein würde es Mum

und Dad beunruhigen, und er hing trotz allem mit zärtlicher

Zuneigung an ihnen. Allein die Nachricht, er würde sterben,

würde seiner Mutter schlaflose Nächte bescheren. Obwohl er

sich ein wenig gemein vorkam, änderte er den Inhalt des

Briefes nicht.

Es war noch recht früh am Abend, er hatte nicht vor, die

ganze Zeit auf Miles zu warten wie der gehörnte Ehepartner.

Den Brief in die Tasche steckend, schlurfte er durch die Tür

und hinunter ins Foyer. Die junge Frau war verschwunden,

zwei Portiers waren in ein Gespräch vertieft, vermutlich war

Page 27: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

27

es Zeit für den Schichtwechsel. Zu weit vom Hotel würde er

sich nicht entfernen, nur ein bisschen die Gegend erkunden.

Draußen atmete er tief ein. Der Eiffelturm, den man vom

Hotel aus sehen konnte, war beleuchtet, ein großartiges

Schauspiel. Einige Minuten lang stand er einfach nur da und

genoss den Anblick. Wie jemand, der kein bestimmtes Ziel

im Auge hat, schlenderte er die Straße entlang. Paris nahm

Miles mit offenen Armen auf, während ihm hier eine – wie

ihm schien – berechtigte Feindseligkeit entgegenschlug. Er

war nicht so offen, so lebenslustig wie die Franzosen und

Miles. Aber war er deshalb weniger liebenswert? Wieder

seufzte er. Rechter Hand von ihm blinkte ein elektrisches

Schild mit den Buchstaben Open über einem vergammelt

wirkenden, dunklen Bistro oder Café. Der englische

Schriftzug schließlich war es, der ihn dazu brachte,

einzutreten.

Dunkelheit empfing ihn, die lediglich von flackernden

Lichtern auf den runden Bistrotischen erhellt wurde. Ein

schöner Ort, um unsichtbar zu sein und Weltschmerz zu

nähren. Hoffentlich war tatsächlich noch geöffnet; außer ihm

befanden sich keine Gäste im Raum. Staubige Bouquets aus

Trockenblumen und ausgestopfte Tiere reihten sich in

grotesker Anordnung auf den Simsen vor den hohen,

bogenförmigen Fenstern dicht an dicht.

Ein Mann huschte eilfertig an seine Seite, kaum dass er

sich gesetzt hatte. Er war etwa in Ruperts Alter und von

schlanker Statur, was seine rastlosen Bewegungen

unterstrich. Sein glattes Haar war dunkelbraun und glänzte

wie Miles’. In dem fein geschnittenen Gesicht leuchteten

lebhafte Augen von undefinierbarer, dunkler Farbe, und um

das Klischee des Franzosen komplett zu machen, trug er

einen Oberlippenbart à la Adolphe Menjou. Fehlen nur noch

das Barett und das Baguette unter dem Arm, dachte Rupert

wider Willen amüsiert.

Eifrig wischte der Mann verbliebene Krümel vom Tisch.

Page 28: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

28

„Bonjour, Monsieur. Was darf ich Ihnen bringen?“ Er

sprach kehlig und mit starkem Akzent.

Rupert zeigte auf etwas in der Getränkekarte.

„Alors … un thé avec du citron“, murmelte der Kellner

und kritzelte hurtig etwas auf seinen Notizblock. „Avec ou

sans sucre?“

„Bitte? – Nein, ohne alles, bitte.“

„Oh“. Einen schlauen Gesichtsausdruck präsentierend

klemmte der Kellner den Stift hinters Ohr. „Sie sind

Engländer. Neu in der Stadt oder Tourist? Ich habe Sie noch

nie hier gesehen, und ich kenne alle Leute hier im Umkreis.“

Ruperts Askese am Mittagstisch war nicht vergessen; sein

Magen knurrte vernehmlich.

„Gibt es noch etwas zu essen?“

Bedauernd kratzte sich der Kellner am Kopf. „Tut mir leid,

Monsieur, aber der Koch hat bereits Feierabend.“

„Das macht nichts“, versicherte Rupert, der auf keinen Fall

Umstände machen wollte. „Ich bin gleich weg, wenn Sie

schließen möchten.“

Als er nach seiner Jacke griff, die er über den Stuhl

gehängt hatte, hinderte der Kellner ihn daran. „Non, non. Ich

kann Ihnen nur keine warme Mahlzeit mehr anbieten.

Bleiben Sie, s’il vous plaît. Ich bringe Ihnen Ihren Tee.“

Zusätzlich zum heißen Schwarztee servierte er ein

Croissant. Als Rupert meinte, er habe es nicht bestellt,

winkte er ab und erklärte verlegen, dass es von heute morgen

übriggeblieben war und er es nicht übers Herz brachte, es

fortzuschmeißen. In seiner Küche sei das unüblich.

Außerdem beleidige es seinen Sinn für Wirtschaftlichkeit.

Freilich müsse Rupert es nicht bezahlen, aber es sei so gut

wie frisch aus dem Ofen. Das war übertrieben. Rupert war

trotzdem dankbar, seinen Hunger mit einer landestypischen

Kleinigkeit stillen zu können, das kam ihm sehr

weltmännisch vor. Still saß er da und sah verträumt und

kauend aus dem Fenster. Autos hupten, Nachtschwärmer

flanierten lachend und schwatzend vorbei. Einige wagten

Page 29: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

29

sich ins Bistro, wurden jedoch von dem jungen Kellner, der

hinter dem Tresen die Gläser spülte, wortreich und wild

gestikulierend verscheucht.

Obwohl sich Rupert die Grobheit nicht erklären konnte,

unterließ er es, nach dem Grund zu fragen. Der Kellner

seinerseits war ebenfalls nicht auf Kommunikation aus. Er

hatte genug zu tun, nachdem er das Radio eingeschaltet

hatte, aus dem französische Chansons dudelten.

Schließlich hatte er seine Arbeit getan. Seine schmalen

Hände an der Schürze trocknend, kam er zu Rupert hinüber

und bot ihm eine Zigarette an. Rupert rauchte selten, aber er

wollte den Mann nicht vor den Kopf stoßen und nahm

dankend an. Ohne darum gebeten worden zu sein, zog der

Kellner einen Stuhl vom Nebentisch heran und stellte eine

Flasche Bourbon mit zwei Gläsern auf die Tischplatte.

„Bekümmert Sie etwas oder sehen Sie immer so traurig

drein?“

Die impertinente Geradlinigkeit, noch dazu von einem

Fremden, irritierte Rupert.

„Bitte? – Pardon?“

„Entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht

vorgestellt, wie unhöflich von mir! Mein Name ist Thierry“,

entsann sich der Kellner den Regeln der Kontaktaufnahme.

„Das Café gehört mir. Ich hab’s vor fünf Jahren gekauft. Der

Vorbesitzer meinte, der Laden würde brummen, aber ich

hätte es besser wissen müssen. Hätte er ihn sonst

hergegeben, eh?“

„Wohl kaum“, nuschelte Rupert in sein schon leeres

Teeglas. Es erzeugte ein quietschendes Geräusch, als er mit

dem Finger darüber fuhr.

„Tant pis“, tat Thierry die Pechsträhne leichthin ab. „Es

kommen wieder bessere Zeiten. – Was ist mit Ihnen? Sind

Sie geschäftlich unterwegs?“

Rupert musste sich seine Fragen zweimal anhören. Zwar

besaß Thierry einen beachtlichen Wortschatz, die

Aussprache war allerdings gewöhnungsbedürftig. „Ich bin

Page 30: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

30

privat hier“, sagte er. „Mit einem Freund. Er wollte mir ein

wenig Kultur beibringen.“

Der Kellner lachte, indes er beide Gläser bis zur Hälfte

füllte. „Die habt ihr nicht in England, c’est vrai! Aber ist das

ein Grund, den Kopf hängenzulassen? Jeder kann lernen.

Wenn ihr zurück seid, eröffnet ihr ein Lokal mit

französischen Spezialitäten. Darauf stehen die Leute. Exotik,

das Neue, Unentdeckte. Allemal besser als euer

druckergeschwärztes Fish and Chips.“

„Hm“, stimmte Rupert vage mit einem Schulterzucken zu.

Etwas an Thierry ermutigte ihn, mehr von sich preiszugeben,

ja sogar ungewöhnlich keck zu werden. Als sie anstießen,

lächelte er. „Rupert Grayson. Rupert. Ich komme ab jetzt

wahrscheinlich öfter vorbei.“

„Das würde mich sehr freuen, Rupert. In Zukunft solltest

du dich aber an die Öffnungszeiten halten. Ich habe

eigentlich schon lange geschlossen.“

~*~

Wie eigenartig. Er hatte einen Freund gewonnen. Es war

gar nicht so schwer gewesen. Beflügelt von seiner

„Eroberung“ suchte Rupert vor sich hinpfeifend wieder das

Hotel auf. Inzwischen hatte der Portier gewechselt; ein

Schrank von einem Kerl baute sich drohend hinter der

Rezeption auf. Er raunzte ihn an und verlangte seinen

Ausweis zu sehen. Rupert geriet ins Schwitzen. Sie waren

doch unter Pseudonym eingetragen. Wenn er bloß nicht zu

besäuselt war, sich nicht daran zu erinnern. Harte Sachen

wie Bourbon waren zwar nett gemeint, doch jedes Mal,

wenn man ihm Alkohol anbot, witterte er eine

Verschwörung dahinter. In diesem Fall zwischen Thierry

und dem Portier. Was natürlich Blödsinn war;

glücklicherweise fiel ihm der Deckname wieder ein. Aus

Rücksicht auf Ruperts notorische Zerstreutheit hatte Miles

einen leicht zu merkenden erfunden.

Page 31: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

31

„Mason“, krächzte er. „Sehen Sie bitte im Register nach.

Wir haben heute Mittag eingecheckt. Rupert und äh …

Victor.“

Brummend händigte ihm der Portier den Schlüssel aus. Er

war des Englischen nicht mächtig und darum von

vorneherein schlechtgelaunt. Wenigstens schien er Rupert zu

glauben.

Um zwei Uhr nachts waren die Hotelkorridore

vollkommen leer und vermittelten das Vakuum, in das

Rupert plötzlich erneut fiel. Alarmiert schlug er mit der

flachen Hand auf sein Revers; er hatte vergessen, den Brief

einzuwerfen. Typisch! Nun ja, Postmarken hätte er ohnehin

zu so später Stunde nicht mehr bekommen, also hatte es

auch noch bis Morgen Zeit.

Miles war noch nicht da, nur das herbe Parfüm des Pagen

hing wie ein flüchtiger Hauch in der Luft. Es fiel Rupert

schwer, sich keine Sorgen zu machen, überdies fühlte er sich

einsam.

Vielleicht hatte der Junge Blut geleckt, weil Miles so

unvorsichtig gewesen war, zu demonstrieren, dass Geld für

ihn keine Rolle spielte. Vielleicht schleppte er ihn zu seinen

Bandenkumpels, die ihm in einer dunklen, gottverlassenen

Ecke eins mit dem Knüppel überzogen, ihn ausraubten und

hilflos, vielleicht gar gefesselt und geknebelt, liegen ließen.

Er zwang sich, seine pessimistische Vision zu

unterdrücken und griff nach Sturmhöhe, um sich abzulenken.

Irgendwann sank er zur Seite und döste vor sich hin.

Eine halbe Stunde war vergangen, das Schlagwerk der

zierlichen Uhr auf der Kommode und das gleichzeitige

Knarren der Tür weckten ihn. Trotzdem stellte er sich

weiterhin schlafend.

Julien, der aufgeschlossen hatte, glitt als Erster herein,

gefolgt von Miles. Sie wirkten heiter, aber nicht betrunken.

Hatten einen schönen Abend gehabt, im Gegensatz zu ihm.

Page 32: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

32

Dass er Thierry kennengelernt hatte, entging ihm in seiner

aufkeimenden Missgunst.

„Au revoir“, raunte Julien. „Es war sehr schön.“ Er

schürzte die Lippen, und Miles beugte sich vor, um sich von

ihm auf rituell französische Art auf beide Wangen küssen zu

lassen. „Quatre fois“, erklärte Julien lachend, als Miles nach

dem zweiten Schmatz zurückwich. Ohne Scheu schlang er

die Arme um den größeren Mann und vervollständigte

seinen Abschied mit den fehlenden zwei Küssen. Miles

schien es richtiggehend zu genießen.

„Daran könnte man sich gewöhnen“, sagte er. „Bonne nuit,

Julien.“

Beim Hinausgehen winkte der Junge kokett.

Miles ließ sich auf das Bett fallen und betrachtete Rupert

in seinem Sessel, bevor er begann, seinen Schlips zu lösen

und die Schuhe auszuziehen.

„Schade, dass du nicht dabei warst. Sacre Coeur hätte dir

gefallen. Oh, und ich hab dir was mitgebracht.“

Er wedelte mit einen Bogen Papier vor Ruperts Nase und

raschelte damit, woraufhin ihm nichts anderes übrigblieb, als

seine Fassade vom schlafenden Ahnungslosen einstürzen zu

lassen. Langsam ein Auge öffnend nahm er das Blatt an sich.

Es zeigte eine wenig schmeichelhafte Zeichnung von Miles

im Profil, eher eine Karikatur denn eine Charakterstudie.

Der Unterkiefer stand aerodynamisch hervor und passte

kaum mehr aufs Papier, und seine Nase, die der Künstler mit

einem übertriebenen Haken ausgestattet hatte, erweckte den

Eindruck, als tropfe der Eiffelturm aus ihr.

Miles kicherte, als er Ruperts verblüfften

Gesichtsausdruck sah. „Ich konnte nicht Nein sagen, der

Kerl war zu drollig. Wollte mich unbedingt malen. Ist uns

sogar nachgerannt und bot es mir zu einem Sonderpreis an.

Julien war sauer, aber wir sind Touristen und dürfen uns das

erlauben, oder? Außerdem ist das doch eine nette Erinnerung

an unsere Reise.“

„Es ist scheußlich.“

Page 33: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

33

„Gut, dass du das auch so siehst. Heb’ es trotzdem auf. Du

kannst es ja zuhause rahmen und aufhängen.“

Das war Ruperts Stichwort.

„Hat er sie dir gezeigt, die Hosenträgerin?“

Miles stutzte, er schien nicht zu verstehen, darum wurde

Rupert deutlicher: „Marlene Dietrich im Schrein.“ Zynismus

entsprach nicht seiner Art, doch er musste irgendwie Dampf

ablassen. Miles lächelte und legte die Hand auf Ruperts

Knie, schüttelte es neckend hin und her. Verbissen spannte

Rupert den Muskel an.

„Eifersüchtig? Das ist nicht dein Ernst jetzt. Nein, wir

waren nicht bei Julien. Er ist ein netter Junge, aber nicht so

nett. Lass uns schlafen gehen, ich bin müde.“ Er gähnte, zog

Rupert jovial auf die Füße und schob den schweren,

großgeblümten Vorhang zum Separee der Schlafstätte

zurück.

~*~

Direkt an der Straße war es laut, Laternen flackerten,

Hunde bellten, Autoreifen quietschten. Und der seltsame

Singsang, durchbrochen von wüstem Geschrei, schien aus

allen existenten und nichtexistenten Ecken zu schallen.

Ruhelos wälzte sich Rupert hin und her, fand keine

befriedigende Schlafposition auf der harten Matratze. Er

seufzte. Heimweh plagte ihn und die ungewohnte

Schlaflosigkeit, die wohl auf seine überreizten Nerven

zurückzuführen war. Hinter dem Nachtschränkchen

schnarchte Miles leise, er lag auf der Seite und rührte sich

nicht. Er hatte etwas von einem Teddybären, wie er da so

friedlich schlummerte.

Die Uhr im Wohnbereich gab keine Ruhe, Rupert hörte sie

drei schlagen, halb vier – und hätte sie zertrümmern

mögen… Schweiß durchtränkte sein Kopfkissen, er steckte

wimmernd den Kopf darunter und wünschte sich in sein

eigenes Bett. Wäre er doch zuhause, nach einem ausgiebigen

Spaziergang im Hyde Park stellte sich der Schlaf stets von

selbst ein.

Page 34: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

34

Nach ein paar weiteren Minuten stieg Miles aus dem Bett,

entfernte den Stecker der Nachttischlampe und hob das

Schränkchen mitsamt Lampe hinüber zur Türseite, um das

Bettgestell nahe an Ruperts heranzurücken. All dies geschah

ohne Erklärung. Erstaunt beobachtete Rupert, wie er sich

wieder hinlegte, als sei nichts gewesen, das Gesicht ihm

zugewandt. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, lullte

ihn bald ein, und er sank vor Erschöpfung traumlos in

Morpheus’ Reich.

Page 35: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

35

Kapitel 4

m nächsten Morgen erwachte er früh. Sein Arm

ruhte vertrauensvoll über Miles’ breitem Brustkorb,

der sich in tiefem Atemrhythmus hob und senkte. Pikiert und

erschrocken ob seiner ihm unbewusst ausgeführten

Dreistigkeit schnellte er hoch. Miles schlief immer noch, das

weiche Haar war ihm in die Stirn gefallen, er erinnerte jetzt

eher an einen kleinen Buben als an den nächtlichen Bär, der

vom Schlaf übermannt worden war. Rupert konnte nicht

umhin, ihm das Haar zurückzustreichen. Aus Eitelkeit,

gegen die selbst er nicht gefeit war, trug Miles es immer ein

wenig länger, als die Mode diktierte. Zu Studentenzeiten

hatte er es sogar schulterlang wachsen lassen, ganz nach

dem Vorbild des von ihm hochverehrten Dichters Oscar

Wilde. Die Professoren hatten allerdings gefürchtet, dass

dies Beispiel aufgrund von Miles’ Einfluss bei den

Studenten unter den jüngeren Kommilitonen Schule machte

und ihm gedroht, von der Uni zu fliegen, wenn er keinen

Friseur aufsuchte. Sein Vater hatte ihm danach ordentlich

die Leviten gelesen, und seitdem war ihr Verhältnis nicht

mehr dasselbe.

Dankbare Gefühle regten sich in Rupert, als er eine

Strähne von Miles durch die Finger gleiten ließ. Es war ihm

nicht mehr peinlich, dass er seinem Freund während der

Nacht sozusagen auf die Pelle gerückt war. Miles verstand

ihn, er hatte seine Schlaflosigkeit, sein Befremden in einem

unbekannten Land mit ungewohnten Gepflogenheiten nicht

lächerlich gemacht und als unmännlich verunglimpft, wie er

es eigentlich erwartet und verdient hätte. Stattdessen hatte er

ohne viel Aufheben einen Weg gefunden, ihn zu beruhigen,

ihm mitzuteilen, dass er nicht auf sich gestellt war. Gott sei

Lob und Dank für einen Freund wie Miles.

A

Page 36: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

36

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Er

grapschte nach seinem Morgenmantel, der noch unten im

Koffer lag, zerrte ihn heraus und streifte ihn rasch über. Ein

Dienstmädchen rollte das Frühstück auf einem Teewagen

herein.

„Bonjour, Monsieur. Ça va bien? Kaffee ist in linker

Kanne, Tee in rechter.“

„Danke schön“, sagte Rupert und knotete linkisch den

Gürtel des Morgenmantels zu. „Ich weiß nur nicht, ob Sie

sich nicht in der Zimmernummer geirrt haben …“

„Mason, non? Ihr Bruder hat Zimmerservice angeordnet.“

„Oh. Dann … vielen Dank. Bekommen Sie Trinkgeld?“

Hastig wühlte er in den großen Taschen seines

Kleidungsstücks, die selbstverständlich leer waren.

Das Mädchen gluckste. „Nein, Monsieur. Ist alles in Preis

inbegriffen.“

Sie knickste charmant und eilte hinaus.

Unter der Tafelglocke überraschte Rupert ein üppiges

Frühstück mit frisch gepresstem Orangensaft,

weichgekochten Eiern, noch warmen Croissants (diesmal

blätterig auf der Zunge zergehend), Brot, Marmelade und

Käse.

„Hey hey hey!“ Noch im Pyjama näherte sich Miles und

schnappte sich ein dick mit Butter bestrichenes Croissant aus

Ruperts Hand. „Du mampfst mir ja alles weg! Kannst du

nicht Bescheid sagen, dass du den Weckdienst verlangt

hast?“

„Entschuldige. Ich hatte Hunger.“ Er war wirklich

zerknirscht, obwohl es nicht seine Absicht gewesen war,

Miles nichts übrigzulassen, wie dieser implizierte, zumal er

das Tablett ohnehin nicht alleine geschafft hätte.

„Ist schon in Ordnung.“ Beiläufig glättete er beim

Hinsetzen Ruperts rötlichbraunen Schopf, der mal wieder in

alle Himmelsrichtungen abstand wie ein Rasierpinsel. „Das

reicht doch für eine ganze Kompanie. – Wie geht’s deinem

Kopf?“

Page 37: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

37

„Besser“, antwortete Rupert gerührt. Gestern hatte er nicht

danach gefragt. Er fragte auch nicht nach heute Nacht.

„Ich hab dich zuviel trinken lassen“, meinte Miles, diesmal

war es an ihm, Reue zu bekunden. „Ich vergesse immer, was

das Zeug anrichten kann. Besonders die französischen

Weine, die haben es wohl in sich.“

„Oh nein. Mach’ dir keine Vorwürfe. Ich bin selber groß.

Gestern hätte mir nichts Besseres passieren können. Mir

geht’s blendend.“

„Fein.“ Miles tupfte die Lippen mit der Serviette ab (sie

sahen samtig aus, fand Rupert, und erschauderte über den

blumigen Vergleich. Was war nur los mit ihm?) und knallte

sie achtlos auf den Teller. „Heute ist nämlich der richtige

Tag für ein wenig Stil. Wir gehen in den Louvre.“

„Und das Geschirr?“ Rupert deutete auf die Reste der

Mahlzeit, die den Anschein einer Fressorgie oder eines

Kindergeburtstags erweckte mit den zerklopften Eierschalen,

Bröseln, Obstresten und Teespritzern.

„Kannst du nachher spülen. Geh, Rupert, sei nicht

kindisch! Das holt das Mädchen wieder ab. Dafür wird sie

bezahlt. Manchmal könnte man glauben, du kommst vom

Land.“

~*~

Hätte Rupert das Museum mit einem Wort umschreiben

müssen, so hätte er es vermutlich als anstrengend

bezeichnet, denn der längliche Bau war riesig. Nach einem

halben Tag im Louvre hatten sie Plattfüße und immer noch

nicht alles gesehen.

Kunst hatte nach Ruperts Dafürhalten durchaus ihre

Berechtigung; er hatte zwar nicht das, was der Volksmund

„Kunstverstand“ nannte, aber er schätzte einige alte Meister,

unter ihnen El Greco und da Vinci. Darum freute er sich

besonders auf die Mona Lisa, die sich als bittere

Enttäuschung entpuppte. Das Gemälde war sehr viel kleiner,

als er es sich vorgestellt hatte, und die Farbe trister als auf

den Abbildungen, die man in Büchern und auf Drucken sah.

Page 38: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

38

Wenn Rupert stehenblieb, um ein Bild genauer zu

betrachten, schlug Miles den Ausstellungskatalog auf und

las ihm den jeweiligen Erläuterungstext vor. Manches

ergänzte er aus dem Gedächtnis oder ließ den Katalog ganz

weg; er war sehr belesen, sein profundes Allgemeinwissen

setzte Rupert immer wieder aufs Neue in Erstaunen.

Allerdings begeisterte Miles sich mehr für Skulpturen. Vor

der filigran modellierten Büste eines Mädchenkopfes

verharrte er minutenlang, während er alles andere mit den

Augen eines Zweitbesuchers wahrgenommen hatte. Er

versank derart in den Anblick, dass Rupert ihn vorsichtig

anstieß. Wie aus einem Traum erwachend wandte sich Miles

ihm langsam zu.

„Wunderschön, oder? Dieser Kerl muss sie wirklich

geliebt haben.“ Ein Anflug von Schwermut ließ seine

Stimme tiefer und rauh klingen, er legte intuitiv den Arm um

die Mitte des Freundes, als bräuchte er seelischen und

physischen Halt, den ihm die Konfrontation mit der Plastik

raubte.

„Ein kleines Mädchen“, sagte Rupert. „Aber eigentlich

wird sie schon lange tot sein … schon komisch irgendwie.

Bist du okay? Wir sind schon viel zu lang auf den Beinen.

Besser, wir machen eine Pause.“

Miles schüttelte den Kopf. „Mir geht’s gut. Machst du

etwa schon schlapp? Wir wollten noch Oscar und Frédéric

unsere Aufwartung machen, hast du das vergessen?“

„Das ist viel zu weit. Du weißt, dass du mich in keine U-

Bahn kriegst! Morgen ist auch noch ein Tag!“

Miles hörte ihm nicht zu, sondern strebte bereits zum

Ausgang, den Rupert nie und nimmer oder erst als Greis

ausfindig gemacht hätte.

Die etwa sechs Kilometer vom Museum zum Père

Lachaise legten sie auf Schusters Rappen zurück; Miles

hatte einmal einen Klaustrophobieanfall von Rupert in der

Londoner U-Bahn miterlebt, er hatte keine Lust, einen

zweiten heraufzubeschwören. Dicht an dicht gedrängte

Page 39: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

39

Menschenmassen jagten Rupert Angst ein, die sich zu

unkontrollierter Panik steigerte, und irgendwie konnte Miles

das verstehen, wenngleich er viel zu pragmatisch für solche

Attacken und psychisch stabil war. Außerdem war das

Wetter schön, die Sonne schien von einem wolkenlos blauen

Himmel.

Apfel– und Kirschbäume blühten in den Alleen und

spendeten wohltuenden Schatten, wenn nicht zwischen den

Buden und Cafés die Sonne ihre Rücken wärmte. Miles warf

seine Jacke über die Schulter und war am Abend

braungebrannt; sein dunkler Typus nahm schnell Farbe an.

Unterwegs tranken sie Kaffee in einem der unzähligen, die

Straße säumenden Bistros.

Julien hatte recht, sie hatten eine gute Jahreszeit erwischt.

Ein bisschen fühlte sich Rupert wie in den Flitterwochen; die

meisten Frischvermählten verbrachten sie in der Stadt der

Liebe, und das auch im Frühling. Der Gedanke erheiterte

ihn, und er lachte.

„Was ist so lustig?“ fragte Miles lächelnd. Plötzlich wurde

Rupert die Tragweite seiner Spinnerei bewusst; er

konstatierte, dass er mit gar niemand anderem hier sein

wollte als mit Miles. Nicht einmal ein liebes Mädchen

könnte seine geistreiche Gesellschaft ersetzen. Jäh errötete

er.

„Nichts. Gar nichts.“

Als hätte Miles Ruperts Verlegenheit nicht bemerkt, lehnte

er sich zurück und winkte einem Garçon. „Ist das nicht

herrlich?“ fragte er und verschränkte die Hände im Nacken,

während er auf den hinteren Stuhlbeinen wippte. „Ganz

Paris nur für uns. Und die vielen aufmerksamen netten

Leute hier.“

Der Kellner spurtete an und wurde großzügig von Miles

entlohnt. Danach spazierten sie weiter.

Vor dem Friedhof verkaufte eine alte Frau Blumen in

großen Körben. Miles ergatterte einen Riesenstrauß gelber

Lilien.

Page 40: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

40

„Du bist verrückt, dass du diese Halsabschneiderei

unterstützt“, schimpfte Rupert mit einem Blick auf das

runzelige Gesicht des erfreuten Mütterchens, das eifrig die

Geldscheine nachzählte. „Du kennst doch gar niemanden

hier. Oder liegt deine Tante dort begraben?“

Anstatt eine Antwort zu geben, brach Miles eine Lilie und

steckte sie Rupert ins Knopfloch. „Du bist ein alter

Geizkragen“, explizierte er gutmütig, als sie die Laube

hinterm Portal passiert hatten. „Und gar nicht romantisch.

Komm. Ich hab mir einen Plan geben lassen, dann müssen

wir nicht lange suchen. Wo dir sowieso schon halb die Füße

abfallen.“

Das Grab des polnischen Komponisten übersahen sie um

ein Haar, da es unspektakulär im Durchgang lag. Lediglich

ein Engel aus weißem Marmor und das gemeißelte Konterfei

mit der Überschrift „A Fred Chopin“ verrieten, dass eine

berühmte Persönlichkeit hier ihre letzte Ruhestätte gefunden

hatte. Ehrfürchtig legte Miles eine Blume nieder.

„Chopins Herz hat man auf seinen eigenen Wunsch in

Warschau begraben“, erklärte er Rupert, den er tief

einatmend an seine Seite zog, gleichsam um die Feierlichkeit

hervorzuheben, die ihn angesichts des Monuments ergriffen

hatte. Es war eine ungezwungene Geste, doch Rupert

schluckte hart. „Das sind bloß die Knochen. Aber trotzdem –

ist das nicht ein einzigartiger Moment? Ich hätte die Kamera

mitnehmen sollen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du ein Liebhaber von

klassischer Musik bist“, konnte sich Rupert nicht verkneifen.

Miles warf ihm einen schelmischen Blick zu, der

paradoxerweise gleichzeitig ein wenig traurig wirkte.

„Du weißt wenig über mich, Rupert.“

Die restlichen zweiundzwanzig Lilien gehörten Oscar

Wilde.

~*~

Ein frischer Wind kam auf, es dämmerte schon, als sie sich

auf den Weg zurück zum Hotel machten. Bei jedem Schritt

Page 41: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

41

fürchtete Rupert, in der Gegend des Beckens

auseinanderzubrechen. Miles dagegen schien ein Besuch

seiner Kindheitsidole neu belebt zu haben; er schritt weit

und flott aus, so dass Rupert bald Seitenstechen bekam.

An einer der grün bemalten Verkaufsbuden, die teilweise

bereits im Schließen begriffen waren, besorgte er sich

Platten von Chopin, Verdi und Puccini. Die Vorliebe für

Klassik und Pflanzen hatte er auf dem College nie

herausposaunt. Sie zeigte eine andere Seite von Miles, eine

empfindsame, die Rupert nicht kannte, ihn ihm näherbrachte

und doch absonderlich war. Andererseits war Miles immer

für Überraschungen gut; das und seine Kompromisslosigkeit

waren es gewesen, was ihm bei Professoren den Ruf eines

Aufwieglers eingebracht hatte.

„Miles“, sagte er, vom Laufen ein wenig atemlos. „Ich bin

froh, dass wir noch zum Friedhof gegangen sind. Ich – ich

mag sie nicht so sehr, weißt du, überall der Moder und die

Sterblichkeit, aber – dieser ist tatsächlich etwas

Besonderes.“

In Miles’ Gesicht zuckte es, er sah unendlich bekümmert

aus. Am liebsten hätte Rupert ihn in die Arme geschlossen

und ärgerte sich, dass er sich nicht dazu überwand, denn er

hätte nie die routinierte Natürlichkeit, mit der Miles ihn

umarmte, und bestimmt nicht nur ihn. Aber Miles würde es

gerade jetzt vielleicht helfen.

„Findest du? Mich hat er sehr traurig gemacht. Ich will nie

wieder dorthin.“

Er hatte seine Eile falsch eingeschätzt. Nicht die Freude

über den Pilgertrip war es, sondern eine Flucht von dem Ort,

der ihm finster und abweisend erschienen war.

Möglicherweise hatte er sich mit dem Spontankauf der

Platten darüber hinwegtrösten wollen, wie andere

Unglückliche ihre Trauer und Wut in Alkohol ertränkten.

Aber im Hotel gab es gar kein Grammophon, jedenfalls

nicht in ihrer Suite, die sonst alles hatte, was das Herz

begehrte.

Page 42: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

42

„Aber – aber … der Louvre – das war doch – hat dir doch

gefallen …?“ stammelte Rupert, der sich den schlagartigen

Stimmungsumschwung nicht erklären konnte.

Das durfte nicht sein, das war ganz und gar verkehrt. Miles

war Ruperts Anker, er durfte sich nicht gehenlassen so wie

er, darüber war er erhaben. Es kam keine Reaktion bis auf

ein Frösteln des anderen. Fieberhaft suchte Rupert nach

einer Lösung, den Freund aufzumuntern. Schließlich

schnippte er mit den Fingern.

„Ich alter Geizkragen lade dich ein“, sagte er und fasste

verwegen im Gehen Miles’ Schultern. „In der Nähe vom

Hotel habe ich gestern ein tolles Lokal aufgetrieben.“

„Du warst aus?“ Miles’ Ton klang, als fiele er aus allen

Wolken. Abrupt war er stehengeblieben.

„Hm.“ Rupert kratzte sich am Kopf. „Wenn du’s so

nennen willst. Ich dachte …“

„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, ich find’s schön,

dass du dich amüsierst. Gut, lass uns noch was trinken

gehen, ich bin dafür.“

Der Unterschied vom ländlich anmutenden Friedhof mit

seinen imposanten Bäumen und Blumenanlagen – fast ein

Kosmos für sich – zu dem grauen Café in der grauen Straße

schmerzte buchstäblich in den Augen. Auf einmal hielt

Rupert seine Idee nicht mehr für so zündend; als Miles mit

skeptisch zusammengekniffenen Augen den Schriftzug über

der Tür entzifferte, wäre er am liebsten vor Scham im Boden

versunken.

„Bambi’s? Wohin bringst du uns denn? In einen

Kindergarten?“

„Drinnen sieht’s ganz gemütlich aus“, versicherte Rupert.

„Es war schon so dunkel, auf die Fassade hab ich nicht

geachtet.“

Nein. Das war wirklich kein Ort für jemanden aus

vornehmer, wenn nicht gar adeliger Familie. Miles mit seinem

ausgeprägten Sinn für Ästhetik konnte sich nicht wohlfühlen

in diesem Schmuddellokal, das für Rupert heimeligen Charme

Page 43: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

43

ausstrahlte, weil es ihn an sein Zuhause erinnerte. Er schob

sich vor Miles und machte Anstalten, ihn aufs Trottoir

zurückzudrängen. „Bestimmt finden wir noch was

Passenderes.“

Miles starrte durch die schmutzige Glastür. „Warte.“

Mit einem aufgeregten Bimmeln der an einer Schnur

hängenden Messingglöckchen über der Tür wurde selbige von

innen aufgerissen, und Thierry erwartete sie breit grinsend auf

der Schwelle.

„Rupert, mon ami! Was für eine Freude! Hereinspaziert!“

Einen verdutzten Blick auf Rupert werfend, gehorchte Miles,

als sich sein Freund in Bewegung setzte und von Thierry

herzlich begrüßt wurde, indem er ihn viermal auf die Wangen

küsste wie einen alten, lang ersehnten Bekannten.

Wie gestern war der Raum leer, Staubpartikel flimmerten im

Licht der halbblinden Fenster, vor denen verwelkte Nelken

und präparierte Tierkadaver ein elendes Dasein fristeten.

Wenn es ein wenig systematischer und aufgeräumter gewesen

wäre, hätte das Café ganz nett sein können. Die verstaubte

Arche Noah fand Miles recht originell, doch die Nelken, die

einen abartig süßlichen Geruch verbreiteten, waren ein Fall für

den Mülleimer.

Mit großartiger Geste führte Thierry sie zu einem

Fensterplatz, dem besten Tisch, wie er beteuerte. Als er Miles’

Plattensammlung sah, die der auf einen freien Stuhl platzierte,

hellte sich sein Gesicht auf. „Monsieur! Sie hören Verdi? Oh,

ich liebe die Italiener! Drüben am Ausschank habe ich ein

Grammophon stehen. Gestatten Sie, dass ich Ihnen den guten

Giuseppe entführe?“

Kurz darauf schwebte das Vorspiel des 1. Aktes von La

Traviata über sie hinweg; Miles schloss die Augen und wölbte

in einer Art genussvoller Verzückung die Brauen. Fasziniert

und zu respektvoll, die zarte Orchestermusik mit banalem

Geschwätz zu entweihen, sah Rupert ihm eine magische Weile

lang ins Gesicht, ehe Thierry angewuselt kam und den

Bourbon mit drei Gläsern abstellte.

Page 44: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

44

„Nein danke“, lehnte Miles auf Französisch ab. „Bringen Sie

mir bitte ein Glas Tee.“ Schüchtern, da er Angst hatte, Thierry

zu verärgern, schloss sich Rupert dem Wunsch an. „Und ein

Baguette mit Käse und Tomaten und einen kleinen Salat“,

fügte Miles hinzu und wandte sich an Rupert. „Was nimmst

du?“ Bevor er sich äußern konnte, fuhr Thierry ihm geradezu

panisch und abwehrend mit den Händen wedelnd in die

Parade.

„Oh non, non, non! Tut mir leid, Monsieur, die Küche ist

geschlossen.“

„Warum? Sie haben auf jedem Tisch eine Speisekarte liegen,

wie ich gesehen habe. Finden Sie es richtig, Ihre wenigen

Gäste an der Nase herumzuführen? Kein Wunder, dass hier

nichts los ist.“

Plötzlich ergoss sich ein weinerlicher Wortschwall

französischer Sprachkunst über Miles und Rupert, der Kellner

war trotz Ruperts verzweifeltem Kopfschütteln nicht zu

stoppen. Sein Lamento richtete sich an Miles, nachdem er

gewahr wurde, dass Rupert kein Wort verstand. Miles hörte

aufmerksam zu, ohne Thierry zu unterbrechen. Schließlich ließ

dieser sich ermattet auf den dritten Stuhl am Tisch fallen und

vergrub das Gesicht in den Händen. Seine schmalen Schultern

bebten.

Miles biss sich mitfühlend auf die Lippe, während er den

Franzosen taxierte und ihm ein Taschentuch reichte. Nach

einer kurzen Pause, in der sich Thierry etwas abgeregt hatte

und nicht mehr ständig schniefte, erklärte er Rupert dessen

Antwort.

„Er hat seit Monaten keine Gäste. Sein Schwager, der

Teilhaber ist und gekocht hat, verlor die Geduld und hatte

verdorbene Lebensmittel satt, die keiner bestellt hat, darum hat

er gekündigt. Also versucht er, seine Familie allein durch den

Getränkeausschank zu ernähren. Das ist aber nicht einfach,

wie wir ja sehen. Er hat sein ganzes Kapital in den Laden

gesteckt, aber jetzt wird er ihn wohl bald verkaufen müssen.“

Page 45: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

45

„Wie schrecklich!“ rief Rupert aus. „Kann man da nichts

machen? Einen Kredit aufnehmen?“

„Hat er bereits versucht. Die Bank gewährt ihm keinen.

Würdest du das tun? Schau dir den Laden doch an.“

Rupert tätschelte Thierrys Arm, der zuckend auf der

Tischplatte lag. „Das tut mir wirklich sehr leid.“

„Ich habe zwei kleine Kinder“, schluchzte Thierry. „Und

meine Frau droht damit, mich zu verlassen, wenn sich die

finanzielle Lage nicht bessert! Was bleibt mir da übrig, als

mich zu besaufen? Tag und Nacht sitze ich in dem

verdammten Schuppen und warte auf Kundschaft.“

In düsterer Stimmung schenkte er sich das Whiskyglas

halbvoll. Plötzlich war alle Lebendigkeit aus ihm gewichen.

Miles konfiszierte die Flasche mitsamt Glas. „Es gibt bessere

Lösungen als das. Tun Sie’s nicht, Mr. – “

„Levant“, murmelte Thierry und sah mit trauerumflortem

Blick auf. „Meine Freunde nennen mich Thierry.“

„Angenehm. Ich bin Victor“, stellte Miles sich vor und

ergriff Thierrys Hand. „Ruperts Bruder.“

Thierrys Augen weiteten sich. „Sie sind Geschwister? Sacre

bleu, das hätte ich nicht vermutet.“

Nachdenklich schaute Miles an ihm vorbei. Vielleicht brütet

er über etwas, das Thierry aus der Patsche hilft, dachte Rupert

hoffnungsvoll. Er ist doch so klug, irgendetwas wird er sich

aus dem Ärmel schütteln. Doch der Freund schwieg. Als sie

ihren Tee getrunken hatten, legte er einen Betrag auf den

Tresen, der Thierrys Dienstleistung weit überstieg. Der

Inhaber zierte sich, es anzunehmen, aber Miles bestand darauf,

er wurde fast ausfallend ob soviel Sturheit. „Und wenn Sie

Ihren Kindern davon Süßigkeiten kaufen – behalten Sie es, in

Gottes Namen!“

Er war still und in sich gekehrt, als sie sich schließlich auf

den Heimweg machten. Im Hotel traute sich Rupert nicht

mehr, das Thema anzuschneiden.

~*~

Page 46: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

46

„Ist es in Ordnung, dass das Bett so steht? Wir können es

wieder zurechtrücken, wenn du möchtest. Vielleicht macht

sich das Zimmermädchen so seine Gedanken …“

„Soll sie doch“, erwiderte Rupert hastig aus dem

Badezimmer. Er war so dankbar gewesen für Miles’ Nähe in

dieser grauenvollen ersten Nacht, dass er sie zumindest im

Urlaub nicht mehr missen mochte. Eine Weile war es

mucksmäuschenstill.

„Und du? Was denkst du?“

Im Nachthemd und mit Zahnpasta im Mund tappte Rupert

ins Separee. Miles hockte auf der Bettkante und machte ein

Gesicht, als müsse er Rupert eine Antwort abringen, die

beiden nicht gefiel. War da ein ängstlicher Ausdruck in seinen

Zügen? Welch eigenartiger Aspekt. Miles und verunsichert!

„Ich lese abends sowieso nicht mehr. Du kannst die Lampe

haben“, bot er vorsichtig an. „Ich … ich möchte, dass es so

bleibt.“

„Okay“, sagte Miles gedehnt. Damit war die Debatte vom

Tisch, und keiner von ihnen verlor zukünftig ein Wort darüber,

wie merkwürdig es anmutete, wenn sich zwei erwachsene

Männer ein Bett teilten.

Irgendwann, als er kurz aufwachte, fiel Rupert der Brief

wieder ein. Er hatte ihn schon wieder vergessen! Der Teufel

hole seine Zerstreutheit! So leise wie möglich krabbelte er aus

dem Bett, um sich eine Notiz oder einen Knoten ins

Schnupftuch zu machen und gleichzeitig einem dringenden

Bedürfnis nachzugehen. Da alles im Dunkeln geschah, stieß er

sich den großen Zeh an der Kommode und fluchte unterdrückt.

Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte,

schlüpfte er wieder unter die Decke. Miles lag auf dem

Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Das Weiß

seiner Augen leuchtete im Scheinwerfer einer Straßenlaterne.

Er schlief nicht, und wenn doch, dann mit offenen Augen. Bei

Miles musste man auf alles gefasst sein. Rupert riskierte es,

ihn anzusprechen.

Page 47: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

47

„Kannst du auch nicht schlafen? Ich muss ständig an den

armen Thierry denken.“

„So, musst du“, sagte Miles nur.

„Hast du kein Mitleid?“

„Nicht wirklich. Er hat sein Dilemma selbst verschuldet. Ein

windiger Kerl hat ihm die Bruchbude angedreht. Die hat

offenbar noch nie was abgeworfen, aber er hat sich

drankriegen lassen. Mit ein bisschen Menschenkenntnis wäre

ihm das nicht passiert. Man muss prüfen, was man kauft. Und

zwar Anbieter und Angebot.“

„Urteilst du nicht ein bisschen zu hart über ihn? Das hätte

jedem so gehen können außer dir.“

Die Matratze knirschte unter Miles’ Gewicht, als er sich

Rupert zuwandte und den Ellenbogen aufstützte. Den

folgenden Satz sprach er fast zärtlich aus, jedenfalls war er

Rupert nicht böse.

„Gib Ruhe und lass mich schlafen, du Schleimer.“

Page 48: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

48

Kapitel 5

ie nächsten Tage glichen dem Paradies, das Rupert

sich auf Erden nie erträumt hätte. Sie standen spät auf,

faulenzten in Straßencafés und am Seineufer und erkundeten

ausgiebig die Stadt, deren Sehenswürdigkeiten

augenscheinlich nie zur Neige gingen. Durch das schöne

Wetter gewann selbst Ruperts helle Haut eine leichte Tönung,

die ihn gesund und erholt aussehen ließ. Und er hatte

Gelegenheit, Briefmarken an einem Kiosk zu erstehen, ohne

dass Miles davon Wind bekam, der in der Zwischenzeit einen

neuen Film für die Weitwinkelkamera erwarb. Er war ein

leidenschaftlicher, mitunter waghalsiger Fotograf, wie Rupert,

der gelegentlich zu seinem Leidwesen als Modell herhalten

musste, erfuhr. Nichts war ihm und seiner Linse heilig. Kein

Preis war ihm zu hoch für ein lohnendes Motiv. Entweder

kletterte er in schwindelerregende Höhen auf Bäume oder den

Obelisken (man hatte die Polizei verständigt mit der

Begründung, ein Verrückter begehe Selbstmord), um einen

Platz aus ungewöhnlicher Perspektive abzulichten, oder er

legte sich rücklings auf den Steinboden für ein Foto von

Rupert - der sich mit gespreizten Beinen über ihn stellen

musste - unter dem Eiffelturm (Ruperts Lieblingsbild, obwohl

er es nie zugegeben hätte). Mitunter fragte er Passanten, deren

Hüte oder Kleidung ihm besonders gut gefielen, ob er sie mit

seiner Kamera festhalten durfte. Da er sehr höflich und

charmant war und sich die Leute zudem geschmeichelt

fühlten, konnten die wenigsten ablehnen.

Zuhause in England besaß er eine eigene Dunkelkammer

zum Entwickeln der Bilder, wie er Rupert stolz erzählte. Doch

da er auf unabsehbare Zeit in Paris war, brachte er die in

Nullkommanichts vollgeknipsten Filme in die

allgegenwärtigen Touristenshops und wartete mit kindlicher

Freude auf die Ergebnisse. Seine Begeisterung steckte Rupert

D

Page 49: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

49

an, und als er darum bat, es auch versuchen zu dürfen,

schenkte Miles ihm die Kamera und kaufte eine neue. Eine

einzige Bedingung war an das Geschenk geknüpft: er durfte

Miles nicht fotografieren. Das fand Rupert bedauerlich, und

manchmal gelangen ihm heimliche Schnappschüsse, die er

Miles jedoch vorenthielt, indem er sie gleich nach der

Abholung aussortierte.

Abends kehrten sie regelmäßig bei Thierry ein, der sich sehr

über seine langersehnten Stammgäste freute. Über die

wirtschaftliche Misere des Lokals wurde nicht mehr diskutiert,

da der gefühlsbetonte Thierry dank Miles’ oft

einschüchternder Art früher oder später in Tränen ausbrach.

~*~

Manchmal waren seine Kinder in der Gaststätte, ein Junge

und ein kaum dem Krabbelalter entwachsenes, goldgelocktes

Mädchen. Miles mit seiner Riesenstatur und seinem

eigenwilligen Humor, der auch äußerst albern sein konnte, zog

beide sofort in seinen Bann, und er tollte kläffend mit dem

kleinen François auf dem Boden herum, während Nini auf

seinem Rücken hing und kreischte vor Vergnügen.

Dass Thierry zu trinken begonnen hatte, war jedoch nicht zu

übersehen: er sah blass aus, war reizbar und oft übermüdet.

Miles hielt sich mit Vorwürfen zurück. Lediglich um der

Kinder willen redete er ihm ins Gewissen, aber Thierry winkte

apathisch ab und behauptete, er lege es darauf an, einem

gebrochenen Mann die letzte Freude zu missgönnen.

Auch Julien Delaroche, der Page, hielt Kontakt. Wie viele

Leute, denen er begegnete, hatte Miles ihn unbeabsichtigt

betört, so dass er in der Absicht, sich bei ihm zu profilieren,

drei Karten für die Oper reservierte, nachdem er von Miles’

Faible für klassische Musik gehört hatte.

Die Vorführung blieb Rupert unauslöschlich im Gedächtnis;

nicht weil eine Primadonna sang, sondern weil er Miles dort

zum ersten Mal überwältigende Gefühle zeigen sah. Bei einem

verstohlenen Seitenblick auf ihn entdeckte er Tränen in den

Augen des Freundes, die hemmungslos über seine Wangen

Page 50: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

50

liefen. Da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte,

schaute er zu Boden. Julien knuffte ihn und hob fragend die

dunklen Augenbrauen, aber Rupert schüttelte nur den Kopf.

~*~

Nach etwa zwei Wochen saß Miles abends auf dem Bett und

starrte abwesend vor sich hin. Für die entsprechende

Untermalung sorgte Giacomo Puccinis Nessun Dorma;

Thierry hatte ihm das Grammophon geborgt, da er keinen Sinn

mehr darin sah, es im Bistro spielen zu lassen; das Radio

genüge seinen Ansprüchen, da er sich ja nicht nach dem

Musikgeschmack der nichtvorhandenen Kundschaft richten

musste.

In der Ahnung, den Freund quäle etwas, drückte sich Rupert

am Türrahmen herum. Endlich glaubte er, auf sich

aufmerksam machen zu müssen, bevor Miles an seinem

Kummer erstickte, und räusperte sich.

„Setz dich zu mir“, forderte Miles ihn auf, ohne den Blick

von der Wand zu wenden. „Wir müssen reden.“

Rupert hockte sich auf die Kante und blinzelte nervös.

„Etwas Ernstes?“

Ein wenig unsicher musterte Miles den anderen. Seine

Augen blickten unstet, fast so wie an dem Tag, als er Hals

über Kopf in Ruperts Appartement eingefallen war. „Du musst

dich entscheiden, ob du hierbleiben oder nach London

zurückgehen willst.“

Rupert schnappte nach Luft. „Jetzt schon? Du willst ... willst

du mich loswerden?“

Sehr behutsam griff Miles nach Ruperts Schultern und

massierte seine Schlüsselbeine mit den Daumen. Jetzt hielt

sein Blick Ruperts gefangen, Rupert wurde sogar ein wenig

schwindelig von dem intensiven Zusammentreffen. „Rupert.

Du weißt, dass dem nicht so ist und dass ich sehr gern mit dir

zusammen bin. Du bist ein angenehmer Begleiter und fragst

nicht viel. Das schätze ich sehr an dir, glaub’ mir. Die Leute

reden viel zu viel. Du nicht, das macht dich für mich zu etwas

ganz Besonderem.“

Page 51: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

51

Es klang nicht einmal anbiedernd oder gar unehrlich, wie er

das sagte, und Rupert meinte, in einer Aufwallung von

Zuneigung zu vergehen.

„Das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ flüsterte

er.

„Sag gar nichts, ich bin noch nicht fertig. Ich hab dir

versprochen, dass du gehen kannst, wann immer du willst.

Aber ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich

hierbleiben will, und muss wissen, ob ich in dieser Hinsicht

mit deinem Schweigen rechnen kann. Das heißt nicht, dass ich

dir nicht vertraue ... es wäre mir sowieso lieber -“ Er seufzte

und machte eine kleine Pause, in der er Atem holte – „du

würdest dich entschließen, bei mir zu bleiben.“

„Das will ich“, nickte Rupert eifrig, erleichtert, dass er keine

Last war. „Wir suchen uns gemeinsam Arbeit, das wird schon

klappen. Du redest, und ich packe an.“

Von einer großen Bürde befreit, verpasste ihm Miles einen

kameradschaftlichen Backenstreich, Rupert vergalt ihn mit

einem übermütigen Hieb in Miles’ Bauch, nach dem Miles ihn

breit angrinste.

„So gefällst du mir.“

In der Nacht, als er annahm, dass Miles fest schlief, grub

Rupert für einen Moment in scheuer Dankbarkeit das Kinn in

Miles’ Schulterkuhle und schmiegte sich an seinen Rücken.

Wer hätte vor vierzehn Tagen noch gedacht, dass Miles ihm zu

einer Wahl verholfen hatte, die sein Leben zum Guten hin

änderte, ihn von selbstauferlegten Zwängen befreite? Und dass

er jemandem, den er mochte, wichtig war. Er am

allerwenigsten. Und Paris war wunderschön.

~*~

Gleich am nächsten Morgen wurde Julien in die

Arbeitssuche eingespannt. Seine Frühstückspause nutzend,

fläzte er sich in der Lounge und rauchte. Als er Miles und

Rupert auf sich zukommen sah, sprang er strahlend auf.

„Bleib sitzen“, sagte Miles und ließ sich neben ihm nieder.

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“

Page 52: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

52

„Gern. Um was geht’s?“

„Rupert und ich, wir haben beschlossen, ein wenig länger

hierzubleiben als wir geplant hatten. Nun ist Paris teuer, und

wir sind es außerdem nicht gewohnt, den lieben langen Tag

auf der faulen Haut zu liegen. Kurz, wir brauchen einen Job.

Du kommst jeden Tag mit vielen Leuten ins Gespräch. Hör’

dich doch ein bisschen um, ja? Vielleicht sucht Gene Kelly

zwei Statisten für sein nächstes Musical. Wir sind nicht

wählerisch.“

„Kein Problem“, erwiderte Julien dienstbereit. „Das mache

ich sehr gerne für euch. Je länger ihr hier seid, desto besser!

Schön, dass euch die Stadt so gut gefällt.“

An der Rezeption erkundigte sich Miles jeden Morgen nach

Post, was sehr seltsam war; war er doch inkognito

eingecheckt. Der Portier – diesmal wieder der dünne, nettere

mit den ausgehungerten, mönchischen Zügen – lächelte.

„Ja, Monsieur Mason, heute früh ist ein Telegramm für Sie

angekommen. Ich wollte es Ihnen aufs Zimmer bringen lassen,

aber das Mädchen wollte nicht stören.“

„Danke.“ Rasch schlitzte er das zusammengefaltete Papier

mit dem Finger auf. Während des Lesens erhellte sich seine

Miene. Rupert freute sich, wenngleich er den Grund für Miles’

gute Laune nicht erriet und keine indiskrete Frage stellen

wollte.

„Rupert“, betonte Miles bedeutungsvoll und zwinkerte ihm

zu. „Wir gehen zu Thierry.“

„Um diese Zeit?“

„Was hier drin steht, wird er so schnell wie möglich erfahren

wollen.“

Er gab sich sehr geheimnisvoll auf dem Weg zum

„Bambi’s“. Auf Ruperts Quengeln erklärte er lediglich, dass

sich Thierrys Leben ändern könne, wenn er es nur wollte.

Gespannt harrte Rupert der Dinge, die da kommen sollten. Er

hatte Miles unterschätzt, ihm insgeheim Gefühllosigkeit

vorgeworfen, dabei hatte er die ganze Zeit gegrübelt, wie dem

Page 53: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

53

Barbesitzer zu helfen war. Und nicht nur das, er hatte

dementsprechende Schritte unternommen.

Thierry hockte trübsinnig hinterm Ausschank; als sie

eintraten, sah er mürrisch auf. In kürzester Zeit hatte sein

Verhalten von freundlich-zuvorkommend auf abweisend-

grollend umgeschaltet, da ihm klargeworden war, dass zwei

Stammgäste allein sein Bistro nicht retten konnten. Und es fiel

ihnen nicht ein, Werbung für ihn zu machen.

Der Alkohol, dem er immer öfter übermäßig zusprach, tat

sein Übriges, aus ihm einen Misanthropen zu machen. Es war

erschreckend, wie schnell eine Droge einen Menschen ins

Abseits spielen kann, sinnierte Rupert schaudernd. Bei dem

missvergnügten Blick, mit dem Thierry die beiden bedachte,

hätte Rupert, wäre er allein gewesen, schleunigst das Weite

gesucht. Miles ließ sich davon nicht beeindrucken. Er winkte

fröhlich mit dem Telegramm.

„Heute schließt du deinen Laden, Thierry!“

„Tu es fou!“ schleuderte Thierry ihnen entgegen. „Mach’

dich nur lustig über mich!“

„Das ist kein Scherz. Lies das.“

Miles hielt ihm das Telegramm unter die Nase, doch Thierry

verstand noch immer nicht. „Ich … lese … lese kein

Englisch“, druckste er schließlich hilflos herum.

Einen Augenblick war Miles über die Eröffnung verwirrt,

dann steckte er den Zettel in die Jackentasche. „Ich habe einen

Freund drüben in England“, sagte er. „Der ist Hotelier und

verspricht, dir ein paar Tipps zu geben …“

„Davon kann ich mir was kaufen“, unterbrach ihn Thierry

bitter. „Alle wollen es doch immer besser wissen als man

selber. Und zum Schluss ist man ärmer als eine Kirchenmaus.“

„Lässt du mich ausreden?“ fragte Miles liebenswürdig, als

wäre ihm Thierrys Unmut vollkommen gleichgültig. „Du

brauchst natürlich Mittel, um den Laden zu renovieren und

Lebensmittel zu besorgen. Die stelle ich zur Verfügung.“

Page 54: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

54

Thierrys trübe Augen flackerten auf und füllten sich mit

Tränen, er nahm Miles’ Hände und drückte sie fest. „Das …

tust du?“

„In Zusammenarbeit mit dem Hotelier, ja. Der ist außerdem

Bankierssohn. Sein Papa hat dir einen Kredit gewährt, für den

ich bürge. Aber du musst etwas tun, und vor allem die Finger

vom Schnaps lassen. Benachrichtige deinen Schwager, er soll

uns helfen, die Bude auf Vordermann zu bringen, und nachher

wieder die Gerichte zubereiten wie vor deiner Flaute. Bei der

Instandsetzung werden Rupert und ich helfen, vielleicht

trommeln wir noch ein paar Leute zusammen. Je eher wir es

geschafft haben, desto schneller kannst du dein Café wieder

öffnen. Und wenn wir es gut gemacht haben und es

Atmosphäre hat, werden die Leute sich drum prügeln, bei dir

essen zu gehen. Dein Standort könnte nämlich nicht besser

sein.“

Beiden – Rupert und Thierry – blieb der Mund offenstehen.

„Darauf muss ich was trinken“, stotterte Thierry verdutzt.

„Cidre, meine ich.“

Miles stellte das Grammophon auf ein fleckiges, von

Spinnweben umwobenes Klavier in einer unbeleuchteten

Nische, während Thierry den Apfelwein holte. „Das muss

weg“, erklärte er. „Sicher ist es total verstimmt. Du spielst

doch nicht darauf?“

„Manchmal“, sagte Thierry, dessen Lebensgeister neu

entflammt waren. „Für mich selbst. Ich bin nicht so gut, aber

beruhigt meine Nerven. Nach Feierabend klimpere ich dann

ein wenig.“

Tadelnd fuhr Miles über die Klaviatur und betrachtete seinen

staubigen Finger. „Als der Jazz noch nicht erfunden war, oder?

Das Ding muss weg, so was ist überflüssiger Ballast.“

Thierry warf sich aufschreiend und schützend vor das

Instrument. „Non! Pas du tout! Das geht nicht!“

„Ab heute musst du Opfer bringen, Thierry“, insistierte

Miles unerbittlich, er konnte also auch ein Tyrann sein. Doch

so wie es aussah, brauchte Thierry eine harte Hand, um auf die

Page 55: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

55

Füße zu kommen. „Oder du lässt es korrigieren. Das kostet

aber Geld, das ich nicht bezahlen werde.“

„Ich kann es stimmen“, meldete sich Rupert schüchtern zu

Wort. Miles drehte sich um.

„Du kannst das?“

„Spielen auch. Chopin und Beethoven“, entgegnete er leise,

wobei er fürchtete, nach einem schrecklichen Aufschneider zu

klingen.

Erfreut lächelte Miles und winkte Rupert zu sich heran, mit

der anderen Hand zog er den Klavierhocker unter dem

Instrument hervor. „Warum hast du mir das nie gesagt?

Komm, setz’ dich. Spiel’ irgendwas.“

„Ich … ich weiß nicht, ob ich noch … es ist schon eine

Weile her.“

„Liest du Noten?“

Elend nickte Rupert; er hasste es, in den Mittelpunkt gestellt

zu werden, und den Gesichtsausdruck von Miles kannte er

inzwischen; er bastelte an einem Einfall. Auf dem

Notenständer lag die Partitur eines Chansons, das Rupert nicht

kannte. Miles bat ihn, es zu spielen. Zunächst irritiert von der

schrägen Tonlage, dann aber immer selbstbewusster, als

Thierry eifrig nickend bezeugte, dass die Melodie zu

identifizieren sei und mitsummte, griff Rupert in die Tasten.

Auch Thierry wurde mutiger; er bereicherte die Akkorde mit

einem passablen Tenor und wiegte sich im Takt hin und her.

Le vent m’apporte des bruits lointains

Devant ma porte j’écoute en vain

Hélas, plus rien

Plus rient ne vient

J’attendrai

Le jour et la nuit, j’attendrai toujours ton retour …

Als Rupert fertig war, klatschte Thierry Beifall, vor Rührung

hatte er wieder Tränen in den Augen. Miles sah sehr zufrieden

aus, er drückte anerkennend die Schulter des Freundes. „Du

Page 56: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

56

bist genial, Rupert. Ich kann gar nicht fassen, dass du mir

deine Qualitäten bisher mutwillig vorenthalten hast. Das bauen

wir aus.“

Die Konzentration auf das Spiel hatte Rupert einiges

abverlangt; er pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht und

schnaufte. Sein Blick wanderte flehend nach oben zu Miles.

„Ich möchte nicht öffentlich spielen.“ Der klägliche Tonfall

reflektierte sein Unbehagen. Schon beim Gedanken an ein

kritisches Publikum wurde ihm schlecht.

Beruhigend zauste Miles sein Haar. „Warum nicht? Du

kannst es doch. Ob zwei oder mehr Leute zuhören, macht

keinen Unterschied, du wirst sehen. Wenn du dich erst daran

gewöhnt hast, ist es nicht mehr schlimm. Natürlich zwingt

dich keiner, aber einmal die Woche gepflegte Barmusik wäre

ein Anziehungspunkt. Überleg’ es dir. So was kommt an, und

du willst Thierry doch helfen?“

Rupert vergrub die Hände im Haar und seufzte. „Schon.“

Plötzlich stutzte Thierry.

„Un moment. Ihr seid Brüder und du wusstest nichts von

Ruperts Musikalität?“

Miles war um keine Ausrede verlegen, die wie aus der

Pistole geschossen kam: „Wir wurden im Knabenalter getrennt

und haben uns erst vor kurzem persönlich kennengelernt. –

Und jetzt zum geschäftlichen Teil, Mr. Levant.“

Während Miles mit Thierry bei einer Flasche Selters über

die Zukunft des Bistros debattierte, erforschte Rupert das

vernachlässigte Klavier. Es stimmte, er kannte sich aus, hatte

als Junge Stunden gehabt und sich nebenbei sehr für den

Instrumentenbau interessiert. In der Tat hatte er lange Zeit mit

der Möglichkeit geliebäugelt, Musik zu unterrichten anstatt

englische Literatur, für die er sich letztlich auf Wunsch des

Vaters hatte einschreiben lassen. Er hatte das, was man das

absolute Gehör nannte, und blühte richtiggehend auf, als er

sich des Klaviers annahm. Es war alt, aber noch brauchbar, da

selten benutzt. Mit der Zeit entwickelte er eine fast

menschliche Beziehung zu dem Instrument.

Page 57: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

57

~*~

Spät am Abend beendeten Miles und Thierry fürs Erste die

ausschließlich in Französisch gehaltene Besprechung. Rupert

war dermaßen in seine Aufgabe vertieft, dass er erst

aufmerkte, als Miles ihn rief. Thierry wirkte erschöpft, aber

trotzdem optimistisch. Seine Augen funkelten. Beim Abschied

umarmte er Miles herzlich.

„Ihr seid ein Geschenk du ciel“, meinte er voller

Überschwang. „Ich brauche einfach jemanden, der mir hin und

wieder in den Hintern tritt. Und falls ich aufgeben will, darfst

du mich schlagen, Victor.“

„Ich bin nicht gewalttätig veranlagt“, lachte Miles. „Wenn es

dir gelingt, ein paar Helfer zu finden, ist schon viel gewonnen.

Und vor allem – heb’ den Alkohol für deine Kundschaft auf.“

„Dann ist das Lotterleben jetzt wohl passé“, mutmaßte

Rupert bedauernd auf dem Rückweg.

„Warum?“ Unmögliche Fragen zu stellen gehörte

eindeutig zu Miles’ Lieblingsbeschäftigung.

„Na ja … das hört sich alles nach einem Haufen Arbeit an.

Baugenehmigung bei der Stadt einholen, renovieren, ein

Lokal unterhalten …“

„Kümmere du dich um dein Klavier. Thierry wird viele

Helfer brauchen, aber die treiben wir schon auf. Sein

Schwager wird wieder kochen – allerdings zu unseren

Bedingungen. Sei doch froh, dass wir beschäftigt sind. In der

ersten Zeit kann uns Thierry wahrscheinlich kein Gehalt

auszahlen, aber wir sind doch nicht aufs Geld angewiesen.

Sieh’s als eine experimentelle Erfahrung.“

„Du willst wirklich einsteigen in das Geschäft? Und was

meinst du überhaupt mit ‚zu unseren Bedingungen’?“

Miles schmunzelte. „Wir werden britische Gerichte und

Gebäck servieren. Nicht viele, nur eine kleine, aber feine

Auswahl. Thomas schickt uns ein paar Rezepte, die Thierrys

Schwager lernen muss. Scones, Shortbread, Fish ’n Chips …

eine erlesene Wahl an Sherry und Brandy, vielleicht auch

Page 58: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

58

dieses scheußliche schottische Zeugs mit den

Hammeleingeweiden. Das wird der Renner, Rupert. Die

Leute mögen Exotik. Thierry ist einverstanden. Bleibt nur zu

hoffen, dass der Schwager nicht querschießt. Der scheint ein

ziemlich finsterer Geselle zu sein.“

Rupert boxte ihn grinsend in die Seite. Er hatte Thierrys

Vorschlag, den er Rupert am Abend ihrer ersten Begegnung

eher spaßeshalber unterbreitet hatte, ins Gegenteil verkehrt.

„Du bist ein Fuchs, Miles! Aber es könnte funktionieren.“

„Es wird, Rupert. Es wird.“

Page 59: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

59

Kapitel 6

ls das Sonnenlicht ihn weckte, war Miles schon

weg. Auf der Kommode fand er einen Zettel mit der

lapidaren Nachricht „Unterwegs in Sachen Bambi – M.“

Gemächlich duschte er und frühstückte, nachdem das

Zimmermädchen ihm frischen Tee gebracht hatte. Dann ging

er in die Stadt, um ein paar Filme abzuholen. Die Fotografie

war ein richtiges Hobby geworden, bei dem sie beide um

ausgefallene und seltene Motive wetteiferten. Den

Eiffelturm ablichten konnte jeder; eine sich sonnende

Eidechse auf Pont Neuf entdecken nicht.

Rupert freute sich darauf, die Fotos nach der Reise in ein

besonders schönes Album einzukleben. Doch irgendwie,

ohne dass er es gewollt hatte, war die Trennung von

Frankreich in weite Ferne gerückt. Er fühlte sich wohl und

auf einmal erwachsen, trotz der Tatsache, dass er und Miles

häufig wie Teenager herumalberten. Mit der Arbeit an

Thierrys Laden brauchte die Unbeschwertheit nicht

automatisch vorüber zu sein. Und Rupert musste zugeben,

dass dieses Zigeunerleben ihm sehr gut gefiel. Halb

amüsiert, halb entsetzt konstatierte er, dass er in der ganzen

Zeit, die sie hier waren, in kein einziges Lehrbuch geschaut

hatte.

Er nahm sich die Zeit, in der Lounge bei einem Café au

lait die Bilder zu betrachten. Es war nicht zu leugnen, dass

Miles den geübteren Blick hatte, doch Rupert war auf seine

weniger spektakulären genauso stolz. In dieser Sache

bestärkte ihn Miles, der meinte, ihre Fotos ergänzten sich

gegenseitig, und das sei gut, sonst wäre die Geschichte

langweilig. Auf einigen von Miles’ Aufnahmen war Rupert

gerade noch winzigklein am Bildrand oder halb hinter einem

Gebäude versteckt zu erkennen. Er machte eine Art

Suchspiel daraus, auf das Rupert mit großem Vergnügen

A

Page 60: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

60

einging, wenn sie ihre Fotos analysierten. „Entdecke Rupert“

wurde bald eine Art geflügeltes Wort zwischen ihnen, bei

dem sie in hemmungsloses Gelächter ausbrachen.

Versunken in seine und Miles’ Bilderwelt entging ihm,

dass er Gesellschaft bekam. Julien hatte sich lautlos neben

ihn gesetzt. Mit großem Interesse besah er sich die bisweilen

recht bizarren Motive. Erst nach ein paar Minuten realisierte

Rupert seine Anwesenheit. Seit der Einladung zum Turandot

hatte der quirlige Franzose einige Punkte auf Ruperts

Sympathieskala gutgemacht.

„Oh … guten Tag, Julien. Ich habe dich nicht kommen

sehen.“

Julien schob seinen Kaugummi geräuschvoll von der

linken in die rechte Backe und schlug die Beine auf dem

niedrigen Tisch übereinander. Es war eine seltsame

Angewohnheit von ihm, dass er sich selbst auf harten

Sitzmöbeln vorzugsweise lang streckte statt geradezusitzen.

Mit seinen etwas gelangweilt blickenden Augen blinzelte er

Rupert träge zu.

„Das macht nichts. Die Fotos sind superb. Ich bin ja schon

eine Weile in Paris, aber von diesen Blickwinkeln aus

könnte es genauso gut eine Stadt in einem völlig fremden

Land sein. Von dir?“

„Von Victor und mir“, berichtigte Rupert und zappelte ein

bisschen vor Freude über das Lob. Julien nickte vor sich hin,

ehe er einen leisen Seufzer ausstieß.

„Gene Kelly hat noch nicht angerufen. Ich halte aber

weiterhin die Augen offen, sag’ das Victor bitte.“

Plötzlich hatte Rupert eine Idee.

„Kennst du das Bambi’s?“

„Das Bistro an der Ecke? Natürlich. Jeder kennt Thierry.

Wahrscheinlich wird er schließen müssen, er meint, das

Geschäft liefe nicht gut. Man sieht’s ja auch, nie ist was los

dort. Schade. Ich mag ihn, er ist ein guter Kumpel. War nach

Feierabend öfter mit ihm was trinken. Manchmal auch im

Kino.“

Page 61: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

61

Aufgeregt setzte ihm Rupert Miles’ Plan auseinander, das

Geschäft mit einem neuen Konzept wieder aufzubauen.

Julien hörte konzentriert zu; er schien Thierry wirklich zu

mögen. Seltsamerweise waren sie sich bei genauem

Betrachten optisch sogar etwas ähnlich, wenngleich Julien

hell und Thierry dunkel war.

„Wir brauchen freiwillige Helfer, und ich fürchte, Thierry

findet nicht viele, die ohne Geld für ihn arbeiten. Du bist

handwerklich sicher sehr geschickt, oder? Und Kraft hast du

auch. An bestimmte Zeiten musst du dich nicht halten; du

kommst, wann du Zeit und Lust hast.“

Julien war Feuer und Flamme, nicht zuletzt deshalb, weil

er Miles nun doch einen Gefallen tun konnte, wenn das mit

der Arbeitssuche schon nicht hinhaute.

„Vielleicht kann ich meinen Onkel überreden,

mitzuhelfen. Er hat ziemlich viel Ahnung vom Renovieren.

Hat sein Haus ganz alleine aufgemöbelt und ist so was wie

ein verkappter Heimwerker. Thierrys Laden kennt er auch.“

Rupert rieb sich die Hände, insgeheim froh über seinen

Schneid, Julien um etwas gebeten zu haben, das dieser mit

Freuden aufnahm. Mit einer Absage hatte er allerdings auch

nicht wirklich gerechnet; schließlich ging es um Miles bzw.

Victor. „Fein.“

~*~

Jacques Fleury, Thierrys Schwager, war ein noch düsterer

dreinblickender Charakter, als Rupert befürchtet hatte. Er

stammte aus der Bretagne, was man ihm auf zehn Meilen

Entfernung ansah. Gedrungen, mit glutvollem Blick und

schwarzgelockten Haaren, die sich im Nacken kräuselten,

trug er einen grobmaschigen Fischerpullover und schäbige

Hosen. So rauh wie der Flecken Erde seiner Herkunft wirkte

der ganze Mann. Dennoch war er auf schroffe Weise

attraktiv mit seiner wettergegerbten Haut, seinen

dunkelblauen Augen und dem fast schon romantischen

Aufzug.

Page 62: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

62

Missbilligend an einer Zigarette saugend schlenderte er in

Thierrys Bistro auf und ab.

„Da ist viel zu tun“, stellte er zähneknirschend fest. „Ich

hätte nicht gedacht, dass du es so fix herunterwirtschaftest,

Thierry. Freilich, ein Leichtfuß warst du schon immer, aber

das … wie konntest du es nur so weit kommen lassen?“

„So schlimm ist es nicht“, wiegelte Miles ab, der mit ein

paar Brettern aus Palisander für die hüfthohe Vertäfelung

der Wände hereinkam und dann die karge, verstaubte

Dekoration in Kisten verstaute. Er war der einzige, der es

wagte, Jacques von Anfang an Paroli zu bieten.

Unverständliches vor sich hinmurmelnd begann Jacques,

gemeinsam mit Thierry die verblichenen, in Fetzen

herunterhängenden Tapeten abzukratzen, wie ihnen Miles

aufgetragen hatte.

„Vorsicht“, warnte ihn Thierry. „Victor spricht

Französisch so gut wie seine Muttersprache.“ Was noch ein

undeutlicheres Murmeln von Jacques’ vollen Lippen zur

Folge hatte. Rupert war dankbar für sein Klavier, so musste

er sich nicht mit diesem übellaunigen Kerl abgeben. Miles

war mit ihm in ein Musikgeschäft gegangen und hatte ihm

einiges besorgt, das er für seine Arbeit brauchte. Es musste

ein wundervolles Gefühl sein, so weltmännisch und begütert

zu sein wie sein Freund.

Gegen Abend trudelte Julien mit seinem Onkel ein. Unter

lautem Hallo und Küssen begrüßten sie Thierry, bevor dieser

sie dem Rest der Truppe vorstellte. Juliens Onkel hatte etwas

märchenhaft Geheimnisvolles an sich, sein durchtrainiertes

Äußeres prädestinierte ihn zu einem Dressman, wäre er

zwanzig Jahre jünger gewesen. Mit einem Gardemaß von

190 cm war er so groß wie Rupert, dabei langgliedrig und

sehr schlank. Sein an den Schläfen angegrautes Haar war

dunkel, ebenso seine Augen, die aus tiefen Höhlen alles

genau beobachteten. Der Mund war schmallippig und häufig

zusammengepresst, als versage er sich das Reden, das sein

Neffe mit vertraulichem Geplapper kompensierte. Was ihn

Page 63: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

63

zudem daran hinderte, zu oft den Mund zu öffnen, war die

Pfeife, ohne die man ihn selten antraf.

Wie Julien verstand und sprach er sehr gut Englisch, eine

Tatsache, die ihn bald zum Sprachrohr der französischen

Fraktion machte. Hinzu kam, dass sein Sachverstand in der

Tat außergewöhnlich war. Er wusste mit Hammer und

Bohrmaschine genauso gut umzugehen wie mit der

Organisation des gesamten Konzepts und arbeitete gründlich

und zuverlässig.

Zunächst setzten sie sich an einen Tisch, um Ideen zu

sammeln. Miles erklärte, dass sie nicht wild drauflos

fuhrwerken sollten, sondern sich erst einmal Gedanken um

die Umsetzung machen mussten, um ein Ziel zu haben, auf

das sie alle hinarbeiteten, das stärke den Gemeinschaftsgeist.

Psychologisch war er schwer auf Zack; überhaupt seine

ganze Art, mit Menschen unterschiedlicher Couleur

umzugehen, bewunderte Rupert.

„Wir brauchen ein Thema“, erläuterte er, mit Rücksicht

auf Rupert sprach er Englisch. „Irgendwas, worunter wir das

Bistro stellen und dementsprechend ausstatten. Da wir

britische Gerichte anbieten möchten, dachte ich an etwas,

das dazu passt. Irgendeine Idee?“ Erwartungsvoll schaute er

in die Runde.

„Die müsst ihr Engländer haben“, bemerkte Jacques

griesgrämig, dem die Vorgabe des Essens gar nicht gefiel,

von der er bereits unterrichtet worden war.

„Fünf-Uhr-Tee im Buckingham Palace“, schlug Julien vor

und erntete Gelächter. Miles notierte es.

„Gar nicht übel. Sonst noch was? Thierry?“

Der Angesprochene zuckte die Achseln. „Vergoldete

Kronleuchter will ich nicht haben“, maulte er. „Bin ich

Queen Victoria?“

„Queen Elizabeth“, korrigierte Julien keck, woraufhin die

sonore Stimme von Raoul Delaroche ihn freundlich

ermahnte. Seine Art zu sprechen und die tiefe Stimmlage

verlangten auf unaufdringliche Weise Gehör. Rupert war der

Page 64: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

64

Mann ein bisschen unheimlich, doch da ihr Aufgabenbereich

unterschiedlich war, hatte er glücklicherweise in Zukunft

recht wenig mit ihm zu tun.

„Ich frage dich, weil es dein Laden ist.“ Auf einmal klang

Miles ungewohnt ruppig, als er auf Thierrys

Zwischenkommentar reagierte. „Vor allem du musst

dahinter stehen. Alles rundweg ablehnen ist einfach.“

Thierry schrumpfte am Tisch, gelobte jedoch, sich Mühe

zu geben. „Wenn die Kronleuchter nicht unentbehrlich sind,

wäre es ja zu überdenken …“

„Fischfang“, ließ sich Jacques zu einem Beispiel herab.

Julien zweifelte und wiegte den Kopf. „Ist das in England

populär?“

Miles schrieb es auf. „An der Küste, warum nicht?

Maritim. Gute Idee, Jacques. Weitere Vorschläge?“

Thierrys Schwager schob sein Barett tief ins Gesicht und

lehnte sich zurück, damit keiner sein heftiges Erröten sehen

konnte. Ratloses Schweigen machte sich breit, bis sich

Juliens jungenhafte Miene aufhellte. Schmeichelnd und

nachdrücklich zugleich umfasste er den Arm des

Bistrobesitzers.

„Thierry, wir beide gehen doch gerne ins Kino. Wir lieben

Filme, du genauso wie ich. Oder?“

„Soll ich jetzt ein Lichtspielhaus eröffnen? Mon petit

chéri, das wäre wahrlich ein Traum, aber viel zu aufwendig

und kostspielig.“

„Nicht doch! Aber du könntest dein Bistro wie eines

gestalten! Mit Bildern von Filmstars an den Wänden,

Aushangfotos, Plakaten und Artikeln aus Zeitschriften. Du

kennst doch meine Sammlung, ich leih’ sie dir! Und ein paar

Autogramme. Du musst mir aber versprechen, gut drauf

aufzupassen.“

Miles stach mit dem Bleistift in Juliens Richtung.

„Phantastisch, Julien! Das ist es! Würdest du das Zeug

morgen mitbringen?“

Page 65: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

65

„Es ist sehr viel“, gab Julien zu bedenken, obwohl er sich

kaum beherrschen konnte vor Aufregung darüber, Miles’

Achtung eingeheimst zu haben. „Mehrere Kisten.“

„Je mehr umso besser. Wir sortieren und stimmen ab, was

der Öffentlichkeit zuträglich sein darf, in Ordnung?“

Julien strahlte, als Raoul ihm stolz gegen den Strich über

das Haar fuhr, und auch die anderen schienen erleichtert und

mit dem Thema einverstanden. Filme begeisterten die

meisten, jung oder alt.

Mit neu entfachtem Eifer ging jeder seiner Verpflichtung

nach; Rupert reparierte das Klavier, Miles und die

Delaroches begannen mit den „Abrissarbeiten“ und die

beiden Inhaber inspizierten zunächst die kleine Küche, die

ebenfalls einige Sanierungen nötig hatte.

Rupert war froh, mit dem Instrument sozusagen

abgesondert von den anderen in einem Kokon eingesponnen

zu sein; von dem Sprachgewirr um ihn herum verstand er

kein einziges Wort. Zwar hatte er Französischunterricht

gehabt, doch die Sprache praktisch anzuwenden, war etwas

anderes. Wie immer hatte Miles auch in Bezug auf seine

Sprachkenntnisse untertrieben: er diskutierte so hitzig wie

ein Einheimischer, wenn er und Jacques, der sich nun

ebenfalls an der „Zerstörungswut“ im Gästeraum beteiligte,

nicht ganz einig waren. Thierry, der überall im Weg stand

und sich extrem schusselig anstellte (und somit Ruperts

vollstes Verständnis hatte), wurde schließlich dazu

verdonnert, für das leibliche Wohl seiner Gehilfen zu

sorgen, da er sie bei handwerklichen Angelegenheiten mehr

oder weniger beeinträchtigte.

Das allerdings tat er mit Inbrunst; kurz nach Mitternacht

rollten überall auf dem Boden Flaschen herum, über die die

Männer stolperten, bis Rupert sich ihrer erbarmte und sie

einsammelte, um sie nahe des Eingangs aufzureihen. Ihm

war aufgefallen, dass Miles nur Wasser trank, während sich

der erhöhte Alkoholpegel bei den anderen nach einigen

Page 66: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

66

Stunden bemerkbar machte. Der mürrische Jacques grölte

sogar ein Lied, das vom Meer erzählte.

Über ihre Beschäftigung vergaßen sie die Zeit. Julien stieß

einen erschrockenen Laut aus, als er zufällig seine

Armbanduhr konsultierte.

„Zut! Schon so spät! Ich muss gehen!“

Obwohl es ihnen schwerfiel, sich von der Arbeit

loszueisen, brachen die Männer auf.

~*~

Rupert ließ Miles’ offensichtliche Enthaltsamkeit keine

Ruhe, er fragte ihn im Hotel danach.

„Ich mag keinen Alkohol, das weißt du doch. Nun mach’

nicht so ein ängstliches Gesicht. Mir fehlt nichts,

Ehrenwort.“

Rupert ließ nicht locker. „Ich mache mir Gedanken, Miles,

das musst du verstehen. Manchmal benimmst du dich

befremdend, und ich … es wäre mir schrecklich, wenn du –

aus gesundheitlichen Gründen … oder vielleicht um noch

ein gutes Werk zu vollbringen, das alles für Thierry tust …“

Der Gedankengang erheiterte Miles, aber er verbiss sich

eine zynische Bemerkung, die den armen Rupert noch mehr

aufgewühlt hätte. Es war schon erstaunlich, dass er seine

Befürchtung überhaupt zur Sprache brachte, die Miles längst

vergessen hatte, wenngleich sie ihn offenbar seit ihrem

ersten Abend umtrieb.

Er bat Rupert zu sich und legte ihm den Arm um die

Schulter, während er in sein Gesicht sah, in dem der

Kaumuskel mahlte. Die intensiven blauen Augen waren

feucht, und Miles kramte ein Schnupftuch aus seiner

Hemdtasche, um sie vorsichtig zu trocknen. Anstandslos ließ

Rupert es geschehen, wenngleich er sich seiner Tränen

schämte. Wenigstens schien Miles nichts dabei zu finden;

von peinlicher Berührtheit in Anwesenheit eines weinenden

Mannes war nicht die Spur in seinem Verhalten, im

Gegenteil.

Page 67: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

67

„Mein lieber Rupert, ich argwöhne, wir müssen etwas

klarstellen. Erinnerst du dich, weshalb ich dich

mitgenommen habe nach Paris? Ich wollte, dass du ein

bisschen was siehst von der Welt. Ich wollte dich in meiner

Nähe haben, um dich besser kennenzulernen. Das hat sich

für uns beide gelohnt, oder? Ich unterstütze Thierry Levant,

weil er dein Freund geworden ist. Ich tue das alles für dich,

für niemanden sonst. Du hältst dich immer klein, meinst, du

seist nichts wert, aber das stimmt nicht. Du bist ein sehr

liebenswerter Mensch, mit unglaublichen Talenten, der es

verdient hat, ein bisschen Anerkennung zu finden. Und

selbst wenn du gar nichts könntest, würde das für mich

nichts ändern. Ich hab dich immer gemocht, vom ersten

Moment an. Aber ich wäre nicht so egoistisch, dich zu

zwingen, mir beim Sterben die Hand zu halten. Ich bin nicht

unheilbar krank, wenn es das ist, was dir Sorgen macht.“

Nur mäßig beruhigt nahm Rupert das Taschentuch an sich

und schneuzte.

„Aber warum bist du weggelaufen? Für mich sieht das

alles sehr nach einer Flucht aus. Einer Flucht vor der

Tatsache, dass dir nicht mehr viel Zeit bleibt. Wenn du

ehrlich wärst, würdest du mich verstehen. Der falsche Name,

keine Fotos von dir, der Verzicht auf Alkohol …“

So offen hatte er mit Miles noch nie geredet; er erschrak

ein wenig über sich selbst. Miles blieb die Gelassenheit in

Person.

„Ich weiß, wie viel es dir abfordert, darüber zu sprechen

und dass es dich interessiert, warum ich hierher wollte und

zuweilen eigenartig bin. Aber diese Frage werde ich dir

nicht beantworten. Es ist nicht der Grund, den du vermutest,

das ist alles, was ich dazu sagen kann. Wenn dir unsere

Freundschaft lieb ist, lass es gut sein.“

Heftig wandte sich Rupert ihm zu und schlang die Arme

um ihn, barg das Gesicht an seinem Hals. Die Anspannung

löste sich allmählich; er konnte spüren, wie seine Muskeln

erschlafften, es tat beinahe weh und doch so gut.

Page 68: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

68

„Wenn es bloß nicht das ist …“ murmelte er erstickt.

Miles hielt ihn fest, er wiegte sich sachte mit ihm wie eine

Mutter ihr bekümmertes Kind.

„Oh Rupert“, sagte er leise in Ruperts Haar. „Ich lüge

meinen besten Freund nicht an. Hättest du mir doch früher

gesagt, dass dich das so quält.“

Page 69: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

69

Kapitel 7

elegentlich schaute Thierrys Frau im Bistro vorbei,

um die schwer arbeitenden Männer mit belegten

Broten zu verköstigen. Rupert war hingerissen von ihrer

grazilen Erscheinung, von der ihr Bruder Jacques

verblüffenderweise gar nichts hatte. Sie versprühte einen

burschikosen, kindfraulichen Charme, mit dem sie jeden um

den kleinen Finger wickelte. Ihre dunklen Rehaugen bildeten

einen reizvollen Kontrast zu ihrem hellen, kurzgeschnittenen

Haar. Meist war sie in luftige Sommerkleider gewandet, die

ihre schönen Beine zur Geltung brachten. Jedem, den sie

zuvor noch nicht gekannt hatte, bot sie gleich am ersten Tag

mit festem Händedruck die vertrauliche Anrede an.

Auch sonst war Gisèle nicht zimperlich: Miles übertrug ihr

einige Aufgaben, an denen der unpraktische Thierry und

auch Rupert gescheitert wären, die sie jedoch souverän

meisterte.

Dennoch stellte Rupert schon nach kurzer Zeit eine

gewisse Antipathie zwischen ihr und Miles fest, eine Rupert

völlig unergründliche Regung. Wie konnte es sein, dass

jemand Miles hasste? Nun, „Hass“ war ein starkes Wort,

doch zumindest mied sie ihn, obwohl sie sich von ihm

einspannen, mitunter sogar herumkommandieren ließ.

Häufiger allerdings besuchte sie Rupert am Klavier, um mit

ihm zu plaudern. Dann schlug Ruperts Herz bis in den Hals,

und seine schwitzigen Hände rutschten überall herum.

„Wie schön deine Hände sind, Rupert“, sagte sie, sich über

das Klavier beugend. „Fast so schön wie Thierrys. Ich bin so

froh, dass ihr ihm helft. Besonders du. Ich mag es, wie du

arbeitest. Das alte Ding wird perfekt klingen, wenn du mit

ihm fertig bist. Gehst du an alles so gründlich heran?“

G

Page 70: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

70

„Victor hat das möglich gemacht“, parierte Rupert, die

versteckte Anzüglichkeit ignorierend. „Ohne seine

finanziellen Mittel und Kontakte sähe Thierry alt aus.“

Sie schmollte und spielte mit ihren Pumps, indem sie mit

dem rechten Schuh die Ferse des linken hinunterstreifte.

Rupert widmete sich seiner Arbeit; die anderen machten

Pause und waren zum Rauchen nach draußen gegangen. In

der Gaststätte herrschte eine dampfige Luft; das Wetter hatte

umgeschlagen. Paris lag unter einer Glocke aus Smog und

tropischer Schwüle.

Eine Saite löste sich surrend vom Stimmstock, und er

fluchte. Gisèle lachte.

„Was hast du eigentlich gegen Victor?“ erkundigte sich

Rupert wie nebenbei, während er die Saite entfernte und

seine volle Aufmerksamkeit darauf richtete. Jäh verstummte

das Lachen. Sie sah hinaus, wo Miles mit den Delaroches

auf der Straße stand und sich über irgendetwas amüsierte.

Sie waren der Kern und Miles am liebsten, da sie am

effektivsten arbeiteten und Selbstinitiative ergriffen, dieweil

man Thierry und Jacques instruieren musste. Zu Miles’

leichtem Verdruss waren beide tagsüber die Woche

beschäftigt; Raoul betrieb einen kleinen Buchhandel in der

Rue Caulaincourt, und Julien war mit seinem Job so gut wie

ausgelastet. Trotzdem kamen sie, so oft es ihre Zeit erlaubte.

Meist gemeinsam am Abend, um dann bis tief in die Nacht

zu handwerken, woran sie sichtlich Freude hatten.

Juliens Vorrat an Anekdoten über die Schrullen und

Spleens von Hotelgästen war unerschöpflich.

Wahrscheinlich gab er gerade eine zum Besten. Sein Onkel

und Miles lachten hinter der Fensterscheibe; Miles

schmauchte Raouls Pfeife, ein besonders großer

Freundschaftsbeweis. Rupert fragte sich, wie er das nur

wieder bewerkstelligt hatte. Raoul Delaroche strahlte in

seinen Augen noch mehr Unzugänglichkeit aus als Jacques,

und er tat nichts, um diesen Eindruck abzuschwächen. Bis

Page 71: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

71

auf Miles sprach er selten mit jemandem, und Fragen

beantwortete er einsilbig.

„Er nimmt mir meine Familie weg“, antwortete sie

unumwunden, aus ihren sinnlichen, ungeschminkten Lippen

war alle Farbe gewichen, und eine steile Falte an ihrer

Nasenwurzel ließ sie um zehn Jahre altern. „Du solltest

Thierry hören, wenn er nach Hause kommt und erzählt.

Ständig Victor hier, Victor da … betrunken war er mir fast

lieber. Und die Kinder hat er auch schon geködert. Bald

mögen sie ihn lieber als Thierry und mich. Ich verstehe

nicht, wie du es mit ihm aushältst.“

Verwirrt und ein wenig entrüstet darüber, dass sie in den

Sündenbock für ihre Krise suchte, sah Rupert zu ihr auf.

„Aber – das liegt doch nicht an Victor! Ich meine, wenn ihr

Probleme habt in eurer Ehe, kannst du ihn nicht dafür

verantwortlich machen. Wir sind doch Fremde, was sollten

wir uns in euer Leben einmischen? Thierry hat uns gesagt,

dass ihr momentan ein paar Schwierigkeiten habt, aber wenn

der Laden erst wieder floriert, sieht es sicher ganz anders

aus.“

„Ach, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin ja nur eine

Frau und rede dummes Zeug. Außerdem ist Victor dein

Bruder, du musst ihn natürlich verteidigen. Ich hätte mir

denken können, dass du’s nicht verstehst.“

Sie rauschte in die Küche – nicht mehr als eine geräumige

Kochnische - um Getränke kaltzustellen. Wie betäubt starrte

Rupert ihr nach. Die gelockerte Saite schnitt wüst in seine

Fingerkuppe, als er sie wieder zu befestigen suchte; er

saugte an der Wunde, ohne den Schmerz zu realisieren. Die

Vorstellung, Miles habe einen Feind, oder besser gesagt,

Rivalen in Gisèle, war so abwegig, dass er in der nächsten

Minuten glaubte, sich das Gespräch eingebildet zu haben.

~*~

Es bürgerte sich ein, dass Rupert früher ins Hotel

zurückkehrte, da es für ihn weniger zu tun gab, sobald er das

Page 72: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

72

Klavier gerichtet hatte, das nun geschützt unter einer Folie

die halbe Küche ausfüllte. Miles vertröstete ihn auf die

Feinarbeit. Mit Hammer und Säge stellte Rupert sich

nämlich nicht geschickter an als Thierry.

Anfangs litt sein Selbstwertgefühl darunter, doch Miles

versicherte ihm, dass er mit den Delaroches gut zurechtkam

und beide drei fleißige Arbeiter auf einmal ersetzten. Nicht

ohne Grund waren Thierry und Jacques in der letzten Zeit

nur noch sporadisch aufgetaucht, bis der grobe Teil der

Renovierungsarbeiten abgeschlossen war. Thierry

behauptete, sich nach modernern Küchengerätschaften

umzusehen, wozu er Jacques’ fachmännisches Urteil

benötigte.

Miles fand das in Ordnung, er trug Thierry seinen

Müßiggang nicht nach, solange er das Interesse an den

Fortschritten beibehielt. Und das tat er; spätestens abends

erschien er, um mit den dreien zu schwatzen, oft in Jacques’

Begleitung, der nach und nach auftaute und bestrebt war,

sich ins rechte Licht zu rücken.

Wenn Rupert ins Foyer kam, trank er dort in der Regel

einen Kaffee (inzwischen mochte er ihn fast ebenso sehr wie

seinen geliebten Tee) und grübelte über seine Zukunft. Es

stand für ihn mittlerweile fest, dass er nicht unterrichten

würde. Aber was dann? Konnte man das Leben mit Miles

einfach so weiterleben? In den Tag hinein, warten, was

derselbige brachte? Die Arbeit im Café war nicht von Dauer.

Er würde jedenfalls nicht zwischen Greta Garbo und Gary

Cooper-Plakaten kellnernd hin und herflitzen (obwohl ihm

das Porträt von Hedy Lamarr recht gut gefiel) und

Bestellungen in einer Sprache aufnehmen, die er nicht

verstand geschweige denn schreiben konnte. Und kochen?

War auch nicht seine Bestimmung. Zwar schaffte er es, sich

allein zu versorgen, aber das war’s auch schon und genügte

seinen kulinarischen Ambitionen voll und ganz.

Ratlos legte er sich aufs Bett. Er schlief nicht mehr so

häufig wie früher. Seit Miles mit ihm das Bett teilte, reichte

Page 73: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

73

ihm auf wundersame Weise der Nachtschlaf. Dennoch döste

er hin und wieder vor sich hin. Vor allem, wenn er über

etwas nachdachte, geschah es, dass seine Gedanken

abdrifteten und ihn eine halbe Stunde kampfunfähig

machten.

Ein Hupkonzert unten auf der Straße ließ ihn auffahren.

Panik bemächtigte sich seiner. Er wusste um das chaotische

Fahrverhalten der Franzosen und hatte sich daran gewöhnt,

doch irgendetwas war anders.

Miles, durchzuckte es ihn wie unter einem Stromschlag, er

hastete zum Fenster und riss es auf, um sich hinauszulehnen,

wobei er mit dem Schlimmsten rechnete.

Unten stand Miles am Trottoir und betätigte von außen die

Hupe einer schwarzen DS 19 von Citroën, ein Modell, das

seit seinem Erscheinen vor drei Jahren das französische

Straßenbild maßgeblich prägte.

Er lachte übermütig in Ruperts Richtung.

„Komm runter, du Faulpelz! Wir machen eine Spritztour!“

Eilends strich Rupert die zerknitterte Hose glatt und

stürmte aus dem Hotel.

„Gekauft?“ fragte er atemlos, konnte sich aber der

Faszination des extravaganten Automobils nicht entziehen

und strich zärtlich über die lange, geschwungene

Motorhaube, die wie neu glänzte. „Du spinnst! Das muss ein

Vermögen gekostet haben!“

„Das hat es“, bestätigte Miles gutgelaunt. „Thierry, nicht

mich. Er hat sie mir geliehen, quasi als Belohnung für die

Mühe mit seinem Schuppen. Steig’ ein, wir entfliehen der

städtischen Hitze.“

Während der Fahrt kurbelten sie beide Fenster auf. Der

Wind kühlte ihre Gesichter; Rupert schloss die tränenden

Augen, während Miles sich in technischen Details und

neuartigen Finessen des Wagens erging. Doch alles, was

Rupert behielt, waren die Servolenkung und die

Hydropneumatik, die Unebenheiten im Asphalt oder auf

steiniger Fahrbahn weitgehend abfing, da sie die Karosserie

Page 74: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

74

beim Start in der Schwebe hielt und erst nach dem

Abschalten des Motors wieder absenkte.

Tatsächlich war das Fahrgefühl etwas ganz Eigenes, ein

wenig wie auf Wolken. Rupert fragte nicht, wohin sie

fuhren. Seinetwegen hätten sie bis zum Ende der Welt

unterwegs sein können.

An einem Seitenarm der Seine hielten sie an. Die Straße

war in einen schmalen Weg übergegangen, hohe Gräser

wogten auf den Feldern, in denen Grillen hypnotisch zirpten.

Die Sonne stand tief, doch es würde noch lange hell sein, ein

typischer Nachmittag im Frühsommer. Überdies wehte eine

angenehme Brise, die die Stadt wenige Kilometer entfernt

vermissen ließ.

Als Rupert ausgestiegen war, stemmte er die Fäuste in die

Hüften, wedelte mit den Ellenbogen Luft in sein unter den

Schulterblättern verklebtes Hemd und füllte die Lungen

gierig mit selbiger. Miles hockte sich auf die Motorhaube

und zündete eine Zigarette an.

„Schön ist es hier“, meinte Rupert und streckte sich.

„Könnte man dort drüben auf dem malerisch gelegenen

Hügel nicht ein Haus bauen?“

Miles grinste. „Du bist ja doch romantisch.“

„Manchmal geht es mit mir durch“, gab Rupert kichernd

zu. Er schlenderte hinüber zu Miles, nahm ihm die Zigarette

ab und machte einen Zug, bevor er sie ihm hüstelnd

zurückgab. Dann krempelte er die Hosenbeine auf, um einer

kindlichen Anwandlung nachgebend im knietiefen Wasser

des Flusses zu waten. Es war nur lauwarm, aber das machte

nichts.

Nachdem Miles seine Nikotinsucht befriedigt hatte, suchte

er eine Stelle am Fluss, wo die Böschung nicht zu steil zum

Sitzen war und wartete, bis Rupert sich durch das Wasser

gekämpft hatte und ihm mit einem behaglichen Ächzen

Gesellschaft leistete. Miles öffnete eine Flasche Selters und

stellte sie mit einem „Cheers!“ zwischen sie hin.

Page 75: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

75

Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, sie leerten die

Flasche in trauter Zweisamkeit, während Rupert die

unberührte Natur sehr stark an eine Szene aus Tom Sawyer

und Huckleberry Finn erinnerte. Der Vergleich von Miles als

der freiheitsliebende, unfügsame Huckleberry gefiel ihm.

Mark Twain hatte er immer gerne gelesen, denn der hatte

viel über den Charakter der Menschen zu erzählen gewusst,

auf amüsante Weise und nie moralinsauer.

Einzig bedauerlich war, dass Rupert nicht an die Kamera

gedacht hatte, um zum Beispiel die Libelle zu fotografieren,

die sich eben auf einem Schilfrohr graziös zitternd und bunt

schillernd niederließ.

Auf einmal wandte Rupert den Blick; er starrte Miles

geradezu entsetzt an.

„Was ist los?“ Miles klang alarmiert. „Sag’ doch! Stimmt

was nicht?“

„Ich glaube … ich habe heute Geburtstag!“

Miles erhob sich und ging zum Auto, wo er etwas vom

Rücksitz hervorzog. Mittlerweile stand Rupert konsterniert

auf und strich sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab.

Noch nie hatte er seinen Geburtstag vergessen, einen runden

auch noch! War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Jedenfalls war er ganz verdattert über seine Vergesslichkeit.

Miles überreichte ihm ein Päckchen, das sorgfältig in

Zeitungspapier gewickelt und mit Paketschnur

zusammengebunden war.

„Herzlichen Glückwunsch, Rupert“, sagte er.

Ein flaues Gefühl breitete sich in Ruperts Magen aus.

Irgendwie hatte Miles seine Spione arbeiten lassen: die DS,

der Ausflug, das Geschenk in seinen Händen – für ihn.

Überwältigt drückte er den Freund an sich.

„Wie hast du’s rausgefunden?“

„Ich hab eine Schwäche für dich. Und Leute, für die ich

eine Schwäche habe, interessieren mich. Dann muss ich alles

– wirklich alles – über sie wissen.“

Page 76: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

76

Halb bestürzt und halb erfreut öffnete Rupert das

Päckchen, bei dessen Anblick doch die Freude überwog. Es

war ein gebundenes Heft mit sämtlichen Partituren der

Chopinwerke, von der Etüde bis zum Walzer. Doch

eingedenk der Tatsache, dass Miles ihm dies verehrte, um

ihm in Thierrys Bistro auf die Sprünge zu helfen,

verflüchtigte sich die Begeisterung rasch, obwohl er sich

bemühte, es nicht zu zeigen. Miles schien Gedanken lesen zu

können.

„Du musst sie nicht öffentlich spielen. Ich dachte nur, es

wäre schade, wenn du umsonst so viel Zeit in das alte

Klavier gesteckt hättest. Wenn es nicht zu viel verlangt ist,

würde es mich freuen, dich gelegentlich für mich spielen zu

hören.“

Schon wieder blinzelte Rupert vor Rührung, er wischte

sich derb übers Gesicht, um sich zur Räson zu bringen. „Das

mach’ ich gern. Vielen Dank, Miles.“

Mit zwei Flaschen Coca Cola, die Miles zusammen mit

einem zünftigen Picknickkorb im Kofferraum verladen hatte,

stießen sie auf Ruperts Ehrentag an.

„Noch einen Wunsch, Sir?“ dienerte Miles neckend in

Butlermanier, nachdem sie gegessen hatten.

„Ich möchte nie mehr zurück“, sann Rupert träge.

Das Musizieren der Grillen schläferte ihn ein, die Lider

wurden ihm schwer, und er hätte die Sträucher und Bäume

umarmen mögen vor Glückseligkeit. Es ließ sich schwer

beschreiben, doch ähnlich musste man sich im Vollrausch

fühlen. Leicht, frei, schwerelos und zu allen Schandtaten

bereit.

„Wäre das nicht wundervoll? Wir fahren weiter, nach

Südfrankreich, das soll sehr schön sein. Oder die Schweiz,

Italien … mir ist alles recht.“

Er hörte Miles lachen. „Und Thierrys Wagen? Was glaubst

du, wie schnell die Kameradschaft abkühlt, wenn man seine

Freunde beklaut? Und nicht nur das, wir hätten einen

internationalen Haftbefehl am Hals.“

Page 77: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

77

„Ich bin betrunken von dem Zuckerwasser“, rechtfertigte

sich Rupert nicht ganz ernst. Sein Vorschlag war es jedoch

gewesen, und es enttäuschte ihn etwas, dass Miles nicht

wenigstens im Scherz darauf einging. „Und du hast nach

einem Wunsch gefragt. Das war er. Selbstverständlich war

das nicht ernst gemeint. Man wird doch wohl ein bisschen

träumen dürfen …“

„Apropos Ernst und Träumen“.

Jetzt verflog die ausgelassene Stimmung völlig, als hätte

man ein Fenster geschlossen und sie buchstäblich

ausgesperrt.

„Ach komm schon, muss der Tag so enden?“

In der Absicht, seinen Freund zum Albernsein zu

manipulieren, nestelte Rupert an den Kragenknöpfen von

Miles’ Hemd herum. Vielleicht war doch ein Schuss Whisky

in der Cola gewesen, er wurde richtig vermessen. Miles’

sonnengebräunte Haut sah verführerisch aus und roch gut.

Miles umfasste Ruperts Handgelenke.

„Hör’ mir mal zu. Ich habe dich und Gisèle beobachtet. Du

empfindest etwas für sie, oder? Das ist nicht richtig, Rupert.

Sie ist verheiratet … und somit tabu.“

„Zum Teufel mit Gisèle“, sagte Rupert stoisch. „Sie mag

dich nicht.“

„Vermutlich zu Recht. Sie ist so eifersüchtig auf mich wie

ich auf sie.“

Rupert stutzte. „Weshalb sollte sie auf dich eifersüchtig

sein? Erklärst du mir das genauer?“

„Sie hat Angst, dass ich ihr Thierry wegschnappe, weil ich

zu viel Zeit mit ihm verbringe. Und ich habe Angst, dass sie

dich mir wegschnappt, um sich an mir zu rächen. Nicht weil

Thierry sie langweilt oder sie plötzlich dich liebt. Sie will

mich verletzen, indem sie dir schöne Augen macht, und

verflixt, es gelingt ihr sogar.“

„Aber …“ Verwirrt schüttelte Rupert den Kopf. „Wir sind

doch offiziell Brüder! Glaubst du, sie ahnt etwas? Und

außerdem, das wäre doch - “

Page 78: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

78

„ - nicht unmöglich, Rupert. Ich mag dich wirklich. Frauen

durchschauen so etwas schneller als Männer.“

Miles’ Ehrlichkeit war in dieser Hinsicht mehr, als Rupert

verkraften konnte; er schluckte so hart, dass es schmerzte.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

„Miles“, begann er und versuchte, fest und bestimmt zu

klingen, aber der Name entrang sich als heiseres Quaken

seiner Kehle, als er sich aufrappelte und zum Wagen

zurückwich. Der Schlüssel steckte, wie er aus den

Augenwinkeln erkannte. Wenn er es bis dahin schaffte,

konnte er zurückfahren und war fürs Erste in Sicherheit.

Allerdings war er mit den europäischen Fahrgepflogenheiten

nicht vertraut. Allein das linksseitige Lenkrad würde ihn

durcheinanderbringen und im Stadtverkehr eventuell zu

einem Unfall führen, abgesehen davon, dass er durch seine

Verdächtigung in einem ohnehin erregten Zustand war. Ihm

wurde so übel, dass er meinte, sich übergeben zu müssen.

„Bitte tu’ mir nichts.“

Etwas verdutzt sah ihn der Freund an. „Was? Wo willst du

denn hin? He … was hast du vor? Verdammt noch mal!

Rupert!“ Der Ruf seines Namens fuhr schneidend und fast

schrill durch die teilnahmslos liebliche Natur. Rupert hätte

nicht gedacht, dass Miles’ eher tiefe Stimme zu einer solch

hohen Frequenz fähig war.

Flugs, da ihm dämmerte, was Rupert bezweckte, sprang

Miles auf und jagte hinter Rupert her zum Auto, der bereits

die Fahrertür aufgerissen hatte und halb auf dem Sitz hing.

In wilder Verzweiflung schlug er nach Miles, der ihn ohne

Schwierigkeiten aus dem Wagen zerrte. Rupert verlor die

Balance und stürzte. Schwer atmend blieb Miles am Auto

stehen und starrte auf Rupert, der das Gesicht in der

Armbeuge verbarg.

„Rupert“, wiederholte er, wobei er seiner Stimme einen

sachlichen Klang gab. „Du musst keine Angst haben vor

mir. Ich … mein Gott, wie kommst du denn darauf, dass ich

dir was antun wollte? Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck

Page 79: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

79

bei dir erweckt habe … steh auf, bitte. Wir fahren zurück,

okay? Ich rühr’ dich nicht an, ich schwör’s dir. Das hab ich

nie vorgehabt.“

Zum Zeichen, dass er meinte, was er sagte, trat er mit halb

erhobenen Händen zu Rupert, der immer noch am Boden

lag. Sein Blick flehte um Vergebung und wirkte nun unter

wehmütig hochgezogenen Augenbrauen sehr unsicher.

„Rupert? Ist alles klar?“

Rupert schämte sich so sehr, dass er wünschte, die Erde,

auf der er lag, würde sich auftun. Er hatte seinen Freund

diskreditiert. Schlimmer noch, er hatte ihm etwas

vorgeworfen, das nicht ausgesprochen werden durfte. Selbst

wenn Miles diesbezüglich Neigungen haben sollte, so war er

doch ein Gentleman, und zwar der formvollendetste von all

den wenigen, die es noch gab. Und was genauso schlimm

war, vielleicht am ärgsten, war der von ihm selbst mutwillig

zerstörte Geburtstag, den Miles so liebevoll arrangiert hatte.

Er hatte das Gefühl, ihm nie mehr in die Augen sehen zu

können.

„Verzeih’ mir“, wisperte er. „Der Tag war wunderschön,

vielen Dank dafür. Und Gisèle ist mir wirklich egal.“

Rupert streckte die Hand aus, um sich von Miles in die

Vertikale helfen zu lassen. Der schelmische Ausdruck in

Miles’ Gesicht ließ ihn aufatmen, sein Herzschlag beruhigte

sich allmählich. Trotzdem rieb er sich verlegen den Nacken.

„Ich bin ein Idiot. Ich hab alles vermasselt, tut mir leid.“

„Ist schon gut“, sagte Miles. „Lass uns nicht mehr drüber

reden.“

„Vielleicht sollten wir doch weiterziehen“, überlegte Miles

auf der Rückfahrt. „Gisèle ist kein Umgang für uns.

Hinterher stürzt sie uns alle drei ins Verderben. Noch besser

wäre es, du würdest nach London zurückgehen.“

„Ich möchte bei dir bleiben“, erwiderte Rupert ungestüm

und zappelte auf dem Beifahrersitz herum. „Das ist mein

Wunsch, der einzige, den du jetzt wirklich ernst nehmen

solltest, wenn du mir einen erfüllen willst!“

Page 80: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

80

„Außer Gisèle hast du noch kein einziges Mädchen

kennengelernt, obwohl du dich auf die hier so gefreut hast“,

bemerkte Miles, er klang etwas bekümmert, wenngleich er

sich nach wie vor um eine neutrale Stimmlage bemühte.

„Halte ich dich davon ab? Man kann ja nicht gerade

behaupten, dass es die Arbeit wäre.“

Rupert war brüskiert. Den Rest des Tages wollte er in

derselben Harmonie ausklingen lassen, die am Fluss zu

spüren gewesen war.

„Miles! Hör auf damit!“

~*~

Solange es für Rupert im Bambi’s nichts zu tun gab, kam

er sich tatsächlich ein wenig überflüssig vor. An die

Obliegenheit des Klaviers hatte er sich so gewöhnt, dass er

sie richtig genossen hatte. Doch beim Renovieren war er

eher hinderlich, das musste sogar er zugeben. Obendrein

wollte Miles ihn nicht mit Gisèle zusammenbringen, die fast

jeden Tag, in der Hoffnung, ihn zu sehen, ins Bistro kam,

und so hatte er frei.

Die Stunden bis zum Abend schlug er in Parks und Cafés

tot; mitunter trieb ihn die Hitze ins kühle Hotel, wo er sich in

der Lounge lümmelte.

Bei einer solchen Gelegenheit trabte Julien herbei, pflanzte

sich neben ihn hin und nahm die Mütze vom Kopf, um sie

zwischen beiden Händen zu kneten. „Salut! Ich seh’ dich gar

nicht mehr oft hier. Im Bistro fehlst du.“

„Ihr fehlt mir auch“, murmelte Rupert.

„Warum schaust du dann nicht wenigstens mal vorbei?

Besonders Gisèle würde sich freuen, sie fragt jeden Tag

nach dir.“

„Ja, darauf wette ich.“

„Hey“, lachte Julien und stieß ihm den Ellenbogen in die

Rippen. „Warum so sauertöpfisch? Sie ist ein verdammt

hübsches Mädchen! Und du ein prüder Engländer, wie er im

Buche steht. Ich hab gesehen, dass du sie auch magst. Was

Page 81: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

81

ist denn so schwierig, wenn zwei sich zueinander

hingezogen fühlen?“

Rupert konnte nicht glauben, wozu ihn Julien praktisch

durch die Blume aufforderte, und so vergewisserte er sich,

ihn richtig verstanden zu haben, indem er seinen Gedanken

laut aussprach. „Das wäre Ehebruch, Julien!“

Gespielt empört legte Julien den Finger auf Ruperts

Lippen. „Scht, schrei’ nicht so! Das muss doch nicht jeder

erfahren. Thierry erst recht nicht. Allerdings hätte er mal

einen Denkzettel bitter nötig. Er ist nicht so unschuldig, wie

er sich gibt. Die arme Gisèle hat es nicht leicht mit ihm. Sie

sollte ihm auch mal eins auswischen, wieso nicht mit dir?“

„Also, ich weiß nicht …“ Rupert schwankte, inwieweit er

Julien Glauben schenken sollte. Thierry ein Casanova? Das

passte gar nicht zu ihm. Aber solche Geschichten wollte

Rupert eigentlich auch nicht hören. Klatsch und Tratsch war

etwas für Waschweiber.

„Jetzt bist du platt, was? Gibt es das bei euch drüben auf

der Insel nicht? Nein, Rupert, sag’ nicht, dass ihr alle so

keusch und brav seid wie man hört. Oder seid ihr wirklich

nicht so scharf aufs schwache Geschlecht?“

„Du gehst mir auf die Nerven“, zischte Rupert plötzlich

gereizt. „Lass mich in Frieden!“ Er machte Anstalten,

aufzustehen. Julien hielt ihn zurück und legte besänftigend

die Hand auf sein Knie.

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht verärgern, wirklich

nicht. Eigentlich bin ich wegen etwas ganz anderem hier. Du

hast doch sicher eure Fotos noch? Die, die ihr geschossen

habt, seit ihr hier seid?“

Rupert nickte, er konnte sich nicht vorstellen, worauf

Julien hinauswollte, der jetzt eine ungeheuer geheimnisvolle

Miene aufsetzte.

„Fein! Weißt du, ich habe mir folgendes gedacht: Mein

Onkel hat doch diesen kleinen Buchladen. Und er versteht

etwas von Fotografie. Ich möchte ihm gerne etwas von euch

zeigen. Darf ich? Ich hab gerade Mittagspause, es wäre

Page 82: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

82

günstig, wenn du mich begleiten würdest. Dann könnten wir

danach eine Kleinigkeit essen gehen. Ich ess’ nicht gern

allein.“

Ein seltsamer Grund, doch da Ruperts Magen sich

meldete, erklärte er sich einverstanden.

Page 83: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

83

Kapitel 8

aoul Delaroches Laden war ein verwinkeltes, von

außen unscheinbares Gebäude, das innen genauso

eindrucksvoll wirkte wie er selbst, da es wahre Schätze

beherbergte. Bücher hatten schon immer eine unglaubliche

Anziehungskraft auf Rupert gehabt. Hier stapelten sich

Folianten, Sachbücher, Kataloge und antiquarische Romane

penibel nach Genre geordnet bis unter die Decke, zu der eine

mit den Regalen verbundene, bewegliche Leiter führte. Über

allem schwebte eine heimelige Mischung aus Staub, Kaffee

und Pfeifenduft.

Unwillkürlich fragte sich Rupert, ob Raoul all diese Bücher

gelesen hatte. Wundern würde es ihn nicht. Seine Theorie war,

dass Leute, die sehr viel lasen, selten den Mund aufmachten.

„Willkommen“, begrüßte ihn Raoul, er richtete das Wort nur

an Rupert, obwohl Julien ihn begleitete. „Ich freue mich, dass

Sie kommen konnten. (Das ‚du’ ging ihm merkwürdigerweise

bei Rupert nicht leicht von den schmalen Lippen.) Darf ich

Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Rupert sah zu Julien, der aufmunternd nickte. Er fühlte sich

täppisch ohne Miles, leicht irritiert und eigenartigerweise

schutzlos. Wollte der Mann wirklich nur die Fotos sehen?

Raoul verschwand hinter einem grünen Vorhang und

erschien gleich darauf wieder mit drei Tassen türkischem

Mokka auf einem zierlichen Silbertablett. Seine braunen,

abgrundtiefen Augen leuchteten kurz auf, als Julien die Fotos

auf die Theke legte.

„Das sind nur ein paar, Onkel. Ich kann mich schwer

entscheiden, welches mir am besten gefällt.“ Er wandte sich

Rupert zu. „Hast du das von den beiden rivalisierenden Katern

auf dem Cimetière de Montmartre? Ich glaube, das mag ich

am liebsten.“

R

Page 84: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

84

„Sie sind alle außergewöhnlich atmosphärisch. Vor allem

die Landschaftsaufnahmen, und das ist etwas ganz

Besonderes. Viele professionelle Fotografen bekommen dieses

Licht nicht so hin wie Sie“, urteilte Raoul mit Kennerblick,

während er die Fotos gründlich durch eine Lesebrille

betrachtete. „Einzigartig. Wirklich ganz erstaunlich, Monsieur

Mason.“

„Merci“, stammelte Rupert. „Wir hatten sehr viel Spaß

dabei, sie zu schießen.“ Die letzte Bemerkung hätte er gerne

rückgängig gemacht. Wie überheblich sich das anhörte!

Doch Raoul lächelte ihn an, in seinen Blick trat eine Wärme,

die die Lachfältchen um seine Augen vertiefte. Er sah richtig

sympathisch aus, wenn er lächelte.

„Ohne Zweifel. Ecoutez, Monsieur, ich weiß nicht, ob

Julien Ihnen bereits erklärt hat, weswegen ich die Bilder sehen

wollte. Ich habe gute Verbindungen zu Verlagen, die eventuell

daran interessiert wären, Ihre Fotos als Bildband

herauszubringen. Damit könnten Sie und Ihr Bruder sich ein

kleines Zubrot verdienen. Es wäre nicht viel, aber eine

Schande, Ihre Kunst den Leuten vorzuenthalten. Unter meiner

Kundschaft sind viele Touristen, die gewiss Gefallen an diesen

Kostbarkeiten fänden. Einen Versuch ist es wert.“

Rupert wurde schwummerig, mit bebenden Händen stellte er

die Tasse ab und musste sich auf einen Stuhl hinter der Theke

setzen.

„Rupert!“ schrie Julien. „Alles in Ordnung? Soll ich Victor

anrufen?“

„Ich bin … ich bin ganz überwältigt …“ flüsterte Rupert,

während er Juliens besorgte Hand auf der Stirn abwehrte. „Das

ist furchtbar nett von Ihnen, Monsieur Delaroche.“

„Ich mache es in der Hoffnung, dass die Veröffentlichung

sich gut verkauft und ordentlich Profit auch für mich abwirft“,

erklärte Raoul augenzwinkernd, er war nicht im Mindesten

aufgebracht über Ruperts Schwächeanfall und tat so, als habe

er nicht stattgefunden. „Besprechen Sie sich mit Victor, und

dann reden wir noch einmal zusammen in aller Ruhe darüber.“

Page 85: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

85

Rupert war so aufgewühlt, dass er beim anschließenden

Mittagessen mit Julien keinen Bissen herunterbrachte und

stattdessen Kaffee in rauhen Mengen konsumierte. Julien

ärgerte sich ein wenig darüber, da er Rupert eingeladen hatte.

Er ärgerte sich auch, dass Rupert nichts von Victor erzählte,

nach dem er ihn auszufragen gehofft hatte. Verstockt bis zum

Gehtnichtmehr wich Rupert ihm ständig aus. Alles, was er

erfuhr, war, dass sie erst kürzlich voneinander wussten, da

man sie im Kindesalter getrennt hatte. Aber Julien war sich

nicht sicher, ob Rupert ihn da nicht anschwindelte; er bekam

ganz rote Ohren und schaute verlegen auf die Tischdecke, als

er das sagte. Außerdem klang es doch ziemlich absurd, wenn

man genauer darüber nachdachte.

„Du weißt nicht viel über Victor, oder? Mich würde es

wahnsinnig interessieren, was er so gemacht hat, bevor ihr

euch begegnet seid. Wie ist das überhaupt passiert? Wie hast

du davon erfahren, dass du einen Bruder hast?“

Rupert drehte das Glas in den Händen und wand sich

innerlich unter dem Verhör. Wenn er bloß nicht so ein

phantasieloser Lügner wäre! Miles hätte dem neugierigen

Jungen das Blaue vom Himmel heruntergelogen ohne

unglaubwürdig zu sein.

„Er tauchte plötzlich auf bei mir … und er wollte, dass wir

uns besser kennenlernen, darum sind wir nach Paris gefahren.

Um – mehr Zeit füreinander zu haben. Ich kenn’ ihn

tatsächlich erst einige Monate.“

Sich eine Zigarette anzündend geriet Julien ins Schwärmen.

„Du musst schrecklich stolz darauf sein, einen so patenten

und gutaussehenden Bruder zu haben. Verrückt, dass du so

lange nichts von seiner Existenz wusstest. Er ist großartig!

Thierry hat es gar nicht verdient, dass er sich soviel Mühe mit

ihm gibt. Nicht dass ich es ihm nicht gönne, aber – so

jemanden wie Victor trifft man im Leben nur einmal, und dann

sollte man ihn mit Respekt behandeln. Thierry hält alles für

selbstverständlich, was er für ihn tut.“

Page 86: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

86

„Du lässt dich aber auch nicht lumpen“, erkannte Rupert.

„Weder bei Thierry noch bei Victor und mir. Ich steh’ ewig in

deiner Schuld, wenn dein Onkel ein Buch mit unseren Fotos

herausbringt.“

„Er schafft das“, sagte Julien im Brustton der Überzeugung.

„Was Onkel Raoul sich vornimmt, beendet er auch. Siehst es

ja an mir. Ich wollte wirklich nicht hierher, und jetzt hab ich

das Gefühl, ich könnte in Paris alt werden.

Eure Fotografien sind aber auch wirklich gut. Ich hätte es

auch für jeden anderen getan, aber da Victor mich darum bat,

einen Job für euch aufzutun, ist es eine Ehre für mich. Du

brauchst dich nicht bis ans Ende deiner Tage bei mir zu

bedanken. Ich hoffe nur, dass Victor die Idee genauso gut

findet.“

„Bestimmt“, meinte Rupert zuversichtlich.

~*~

In der Tat war Miles mehr als angetan davon, ein Buch zu

veröffentlichen. Er erklärte sich sogar bereit, sich mit Rupert

zusammenzusetzen und kurze Texte zu einigen Fotos zu

schreiben, die sie mit Raoul gewissenhaft auswählten und

mehrmals prüften.

Bei Julien bedankte er sich mit einer original Filmrolle von

„Marokko“; er verriet nicht, wo er sie aufgetrieben hatte,

doch Julien weinte vor Glück und ernüchterte erst, als Miles

ihm erklärte, dass er einen Kinosaal brauchen würde, um sie

abspielen zu können. Als Blickfang hinter Glas im Bistro

machte sie sich gemeinsam mit einem Foto der Hauptakteure

Dietrich/Cooper dennoch besonders gut.

„Wir brauchen einen Künstlernamen. Ein Pseudonym“,

machte er Rupert eines Abends klar; er saß an der

Schreibmaschine, an der er wie eine erstklassige Sekretärin

zu tippen imstande war, während Rupert im Adler-Such-

System die Remington bediente, sobald er an der Reihe war,

weshalb er die Texte meist handschriftlich abfasste und sie

dann Miles aushändigte, damit der sie ins Reine tippte.

Page 87: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

87

„Wir haben doch schon andere Namen“, entgegnete

Rupert. „Noch ein neuer würde mich verwirren, Miles.“

„Ich fände es klüger, den Band unter einem Namen

herauszubringen.“

Rupert setzte sich aufs Bett und dachte nach. Er sollte

nicht zu exotisch klingen, aber auch nicht gewöhnlich.

Auf einmal schnippte Miles mit den Fingern.

„Wie wär’s mit R. V. Mason? Wie klingt das, hm?“

Als er sich den Namen durch den Kopf gehen ließ, musste

Rupert unwillkürlich grinsen. R.V. Mason, das war eine

Wortspielerei, wie sie zu Miles passte. „Sind wir Mason? –

Nein, Mayhew und Grayson.“

„Ist das gut?“ fragte Miles nochmals.

„Superb“, pflichtete Rupert triumphierend bei. „Das ist

es!“

Über ihren Künstlernamen amüsierten sie sich noch lange

und brachen in der Nacht ein paar Mal in unbändiges

Gelächter aus, ohne dass der eine den anderen fragen

musste, was denn so komisch sei.

Selbst Raoul, der nicht wissen konnte, dass sie nicht

wirklich Mason hießen und somit ihre eigene Identität

anzweifelten, lachte am nächsten Morgen schallend über das

gelungene Pseudonym, und das mochte bei ihm einiges

heißen. Er versprach, das Manuskript gemeinsam mit den

besten Fotos zu einem Verlag zu schicken und ihnen

Bescheid zu geben, sobald Näheres bekannt geworden war.

Da er und Miles sich ohnehin beinahe jeden Abend sahen,

dürfte bald damit zu rechnen sein.

Eine fiebrige Aufregung ergriff Rupert, als sie sich auf den

Weg zum Bambi’s machten. Thierry war mit der Familie ein

paar Tage weggefahren, so dass keinerlei Gefahr bestand,

dort auf Gisèle zu stoßen.

„Wir kommen groß raus!“ rief er und packte den Freund

am Arm. „Ich hätte das nie für möglich gehalten! Vielleicht

Page 88: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

88

verkauft sich das Buch so gut, dass man uns ins Radio

bringt!“

Miles lächelte ein wenig dünkelhaft auf ihn herunter.

„Langsam, Rupert. Erstens einmal ist es noch gar nicht

sicher, ob wirklich ein Buch daraus wird, zweitens verkauft

es sich – wenn es denn in Druck geht - wahrscheinlich nicht

so rasend, dass man dich zu Interviews bittet, und drittens

würdest du das gar nicht wollen.“

Zögernd stimmte Rupert zu.

„Nimm’s nicht so ernst“, riet Miles versöhnlich. „Wir

leben auch ohne Öffentlichkeitsarbeit ganz passabel. Oder

hast du einen Grund, dich zu beschweren?“

„Oh nein! Nein, ehrlich nicht. Du hast schon recht, es wäre

mir zuwider. So wie es ist, kann es meinetwegen bleiben.“

~*~

Inzwischen erstrahlte Thierrys Bistro bereits in neuem

Glanz. Die Tapeten hatte er persönlich ausgesucht; ein

kleingemustertes Rankenmotiv, von dem er glaubte, es sei in

England der dernier cri. Miles hatte nicht widersprochen,

wenngleich ihm zu ihrem Thema unifarbene Wände lieber

gewesen wären, um die Wirkung der künftig dort

angebrachten Plakate und Bilder nicht zu beeinträchtigen.

Die wenigen Bahnen, die bereits an der Wand hingen,

harmonierten wider Erwarten recht gut mit dem dunklen Holz

der Vertäfelung. Beim maßgenauen Tapezieren war Rupert

geschickter als der Rest der Männer, so dass Miles und er ohne

sie diese Aufgabe übernahmen.

Rupert genoss die Abende mit ihm. Es kam ihm sehr lange

vor, dass er Miles mehrere Stunden für sich alleine gehabt

hatte (die in der Nacht nicht mitgezählt, natürlich), seit sie

Thierry und die anderen jeden Tag trafen. Sie redeten nicht

viel, und trotzdem fühlte sich Rupert in Miles’ Gegenwart

privilegiert. Zwar war es nicht zu leugnen, dass der Vorfall an

seinem Geburtstag ihn einige Tage beschäftigt hatte, doch er

kam schließlich zu dem Schluss, unangemessen hysterisch

reagiert zu haben und hoffte, dass Miles ihm verzieh oder -

Page 89: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

89

besser noch – die unschöne Episode vergaß. Immerhin ließ

nichts in seinem weiteren Verhalten darauf schließen, dass er

Rupert etwas verübelte.

Sehr spät in der Nacht animierte Miles Rupert dazu, Kleister

und Pinsel wegzustellen, doch er verzichtete darauf, seine

Jacke zu holen, wie er es getan hätte, wenn sie sofort ins Hotel

zurückgekehrt wären.

Er ging zur Küche und warf die Schutzfolie über dem

Klavier mit einer eleganten Bewegung, die einem Magier zur

Ehre gereicht hätte, zur Seite.

„Spiel’“, forderte er Rupert auf, der sich ein wenig sträubte.

Er war müde und geschafft von der ungewohnt harten

körperlichen Arbeit. Es war keine unangenehme Müdigkeit,

denn dafür war er ja mit Miles zusammen, aber das war zu

viel. Außerdem wäre er dem Allmächtigen mehr als dankbar,

falls er seine von Muskelkater geschundenen Glieder in Kürze

heil ins Bett verfrachten konnte.

„Es ist halb zwei Uhr nachts“, beanstandete er. Bettelnd

wölbte Miles die Brauen; er hatte Worte gar nicht nötig, um

das zu erreichen, was er wollte. Die Bandbreite seiner Mimik

war faszinierend. Gerade jetzt sah er aus wie ein schmollender

und zugleich listiger kleiner Junge, und Rupert musste

einlenkend auflachen.

„Ein Stück, nicht mehr.“

Miles zog den Küchenstuhl heran und setzte sich rittlings

darauf. Jede Faser seiner Zwei-Meter-Statur schien

angespannt. Rupert war geschmeichelt. Vorsichtig, als hätte er

Angst, die Tasten zu zerbrechen, begann er mit der Etüde No.

3 in E-Dur; das ledergebundene Heft der Chopinpartituren

klemmte auf dem Notenständer. Er war erstaunt, wie leicht die

Musik kam und wie scharf seine Erinnerung an die Noten war,

obwohl er seit zehn Jahren nicht mehr gespielt hatte. Es war,

als flösse die Musik aus seinen Fingern ins Instrument ohne

sein Zutun. Bei einem flüchtigen Blick auf seinen Zuhörer

stellte er fest, dass dieser die Augen in tiefer Konzentration

geschlossen hielt. Ob Miles den Zauber so fühlte wie er?

Page 90: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

90

Über seine Virtuosität verblüfft, versuchte er ein weiteres

Stück, diesmal die Nocturne No. 10 in As-Dur. Was daraufhin

mit Miles geschah, war sonderbar. Er schauderte, öffnete die

Augen und seufzte. Sein Blick ging durch Rupert hindurch, es

war, als befände er sich in einer Trance. Rupert, dem es

ähnlich ging, konnte nicht aufhören zu spielen, und er richtete

die Aufmerksamkeit wieder auf sein Spiel.

Er zuckte zusammen, als ihn von hinten jemand berührte.

Miles’ Hände ruhten auf seinen Schultern, doch er zog sie

zurück und entfernte sich einen Schritt, sowie er Ruperts

Schrecken gewahr wurde. Rupert empfand leises Bedauern

und zudem eine Traurigkeit, die er in nebulöse Verbindung

mit Miles brachte.

„Bleib’ da“, sagte er leise, immer noch spielend. Kein

einziger falscher Akkord war ihm bisher entwischt.

„Ich störe dich“, wehrte Miles befürchtend ab. Langsam

schüttelte Rupert den Kopf. Als Miles wieder direkt hinter ihm

stand, lehnte er den Kopf zurück an Miles’ Bauch. Er konnte

blind die richtigen Akkorde greifen, eine Entdeckung, die ihn

fast ehrfürchtig vor sich selbst erstarren ließ.

Nach ein paar Sekunden tropfte Wasser in seinen Kragen.

Ein einziger Tropfen nur, doch er hatte einen großen Effekt,

sowie Rupert gedanklich geortet hatte, wo er seinen Ursprung

hatte. Miles hatte sich hinter ihn gestellt, weil er nicht wollte,

dass Rupert ihn weinen sah. Weinen vor Freude über diese

wunderbare, mitreißende Komposition. Nicht einmal ein roher

Bauerntölpel hätte sich in dieser Situation seiner Tränen

geschämt. Miles tat es; Miles, von dem er es am

allerwenigsten erwartet hätte.

In diesem Moment wurde ihm mit kristallener Klarheit

bewusst, dass er Miles in erster Linie für seine Sensibilität

bewunderte.

Er würde ihn immer achten, egal was passierte. Wie einen

Bruder, ihm zur Seite stehen, ihn unterstützen, seine Wünsche

und Hoffnungen erfahren. Und er wollte Gisèle wirklich nicht

Page 91: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

91

mehr sehen. Weil Miles doch verwundbarer war, als er nach

außen hin wirkte und zugab.

Er brachte das Stück fehlerfrei zu Ende und blieb stumm

sitzen. Im Bistro herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, so

als sei es von der übrigen Welt abgeschnitten. Draußen war es

dunkel und still; selbst der Lärm der Autos war verstummt.

Miles atmete tief ein.

„Es ist eine Vergeudung, dass du so lange nicht am Klavier

gesessen bist“, resümierte er, sein Ton war heiter, als sei nichts

gewesen. „Ich möchte nicht wissen, wem und wie vielen da so

einiges entgangen ist.“

Rupert blickte auf. „Ich wusste nicht, dass ich es noch

kann“, flüsterte er. „Vielleicht bist du daran schuld. Keiner –

keiner hat mir bisher so zugehört, und ich hatte auch nie das

Bedürfnis, anderen vorzuspielen.“

Jäh fuhr ihm Miles durchs Haar, das Kompliment machte

ihn verlegen.

„Gehen wir, Rupert.“

~*~

Die Zeit mit dem Klavier und Miles wurde zu etwas

Rituellem und Rupert beinahe heilig. Gleich, wie viele sie

waren und wann die letzten gingen, er und Miles blieben

länger. Naturgemäß erweiterte Rupert sein Repertoire. Fast

alle Arrangements spielte er von Anfang an einwandfrei, selbst

das Impromptu, vor dem er in seiner aktiven Zeit als

lernwilliger Schüler stets zurückgeschreckt war, weil er sich

schon beim Durchlesen der Noten verhaspelte. Derlei Ängste

kannte er nun nicht mehr, und selbst, falls ihm ein Fehler

unterlief (was gelegentlich passierte, doch sie waren so gering,

dass nur er es bemerkte), würde das Miles’ Bewunderung für

sein Spiel nicht schmälern. Musik war das einzige, das ihn

äußerlich und innerlich gleichermaßen berührte. Mitunter

fühlte Rupert dasselbe. Eine unbeschreibliche Melancholie

griff dann von Miles auf ihn über, und er verlangte unbewusst

danach, ihn hinter sich zu haben, um den Kopf wie beim ersten

Mal an ihn zu betten. Dadurch schien auch Miles getröstet,

Page 92: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

92

und bisweilen, in besonders intensiven Augenblicken,

vergaßen beide völlig ihre Umgebung. Dann gab es nur sie

und das alte Klavier, das wie von Zauberhand alleine spielte.

Beendet wurde jede Vorführung mit der Nocturne No. 10. Es

war Miles’ Lieblingsstück und wurde auch Ruperts. Miles

behauptete, danach schlafen zu können wie ein Stein. Das tat

er allerdings eigentlich immer, ob mit oder ohne Chopin.

Einmal jedoch schlief er sehr unruhig. Rupert, dem es sofort

auffiel, lauschte mit weitaufgerissenen Augen auf den

ungewohnt flachen Atem. Er zog sich die Decke über den

Kopf, aber es wurde nicht besser. Miles wälzte sich hin und

her und stöhnte, sprach sogar im Schlaf; etwas, das Rupert

ängstigte, da er feststellte, dass Miles nicht wach wurde und

trotzdem klar und verständlich immer wieder „Nein, bitte

nicht“, murmelte. Letztendlich hielt Rupert es nicht mehr aus;

er rüttelte ihn an der Schulter.

„Miles“, raunte er, und lauter, als der Freund nicht reagierte:

„Miles! Wach auf!“

Schlaftrunken hob Miles den Kopf. Über seinen

verdunkelten Augen lag immer noch ein Schleier. Es war nicht

ersichtlich, ob er Rupert erkannte.

„Du hast schlecht geträumt“, bedeutete Rupert ihm. „Ich hab

dich aufwecken müssen, tut mir leid. Willst du’s mir

erzählen?“

Ohne ein Wort nahm Miles Rupert keuchend in den Arm, er

hielt ihn fest, als wolle er ihn nie mehr loslassen. Lange

blieben sie so, bis Miles sich beruhigt hatte. Ruperts Herz

klopfte heftig, bevor er gegen Morgen schließlich

einschlummerte.

Page 93: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

93

Kapitel 9

achdem Julien und Raoul die Leisten neu angebracht

und selbst die Decke mit Stuck verschönert hatten,

konnte man sich der Innendekoration widmen. Miles drängte

auf neue, elegante Bugholzstühle, da aus den alten

Billigmodellen bereits die hässlich gelbe

Schaumstoffpolsterung hervorquoll. Doch was das betraf,

zeigte sich Thierry zuweilen störrisch und erstaunlich

sentimental; er hing an der unzeitgemäßen Einrichtung, die er

seinerzeit vom Vorbesitzer übernommen hatte.

„Ich komme dafür auf, Thierry“, erinnerte ihn Miles mehr

als einmal. Erst die Drohung, seinen Kredit zurückzuziehen,

brachte Thierry zur Vernunft. Doch er trauerte tagelang um die

präparierten Tiere, die seine Fenster geschmückt hatten und

nun Attrappen von Minifilmrollen und dreidimensionalen

Guckkästen Platz machen mussten, die sich Anfang des

Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreut hatten.

„Die Viecher jagen kleinen Kindern Angst ein“,

argumentierte Miles; er wurde nie müde, für seine

Überzeugungen einzustehen, bis selbst der größte Skeptiker

angesichts der bestechenden Logik kapitulieren musste. „Nini

war ganz außer sich, als sie neulich den Hasen mit dem stieren

Blick entdeckt hat. Ich wette, die Arme konnte nächtelang

nicht schlafen. Außerdem haben sie absolut nichts mit

unserem Thema zu tun.“

„Es gibt doch Tierfilme“, begehrte Thierry auf, doch sein

Ton war schon nicht mehr so stur. „Schau, das Rehkitz, das ist

der Namensgeber meines Bistros. Du kannst es nicht einfach

wegwerfen. Sei nicht so herzlos!“

„Der Name muss sich ändern“, beharrte Miles. „Damit

lockst du niemanden hinterm Ofen vor. Höchstens Dreijährige,

und die sind noch nicht geschäftsfähig.“

„Mon dieu! Was bist du nur für ein Holzklotz!“

N

Page 94: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

94

Thierry verdrehte händeringend die Augen.

Aber Rupert bemerkte, dass er es nicht so meinte und

insgeheim sehr froh um Miles’ Ideenreichtum und vor allem

glücklich mit der Umsetzung war, die sich von dem ehedem

muffigen Bistro zum jetzigen unterschied wie der Tag zur

Nacht. Der Gästeraum wirkte nun viel edler mit der

Vertäfelung und den Wandlampen im Jugendstil, und wenn

erst die Fenster geputzt waren, würde er noch einladender sein.

Es müsste mit dem Teufel zugehen, würde die Investition

nicht mit Kundschaft belohnt werden, die entweder

leidenschaftliche Kinogänger oder interessierte Anglophile

waren.

Neben Miles gebührte der Löwenanteil daran den

Delaroches. Sie waren bescheidene, hilfsbereite Leute, denen

zuviel Dankbarkeit peinlich war. Gerade ihre Zurückhaltung

imponierte Rupert, und er schalt sich dafür, Julien zu Beginn

ihrer Bekanntschaft als unreif verunglimpft zu haben.

Immerhin war es sein Tick für Filme gewesen, der dem Bistro

ein Gesicht geben würde.

~*~

Vom Kurzurlaub erfrischt kam Gisèle zum endgültigen

Saubermachen. Rupert begrüßte sie nicht mehr und weniger

herzlich als Miles. Offenbar hatte sie sich mit Thierry

ausgesprochen, das war zumindest positiv.

Ausgerüstet mit einer Armada an Putzmitteln, Lappen und

Besen hatte sie sich einen Kittel und ein Kopftuch

umgebunden, um dem Dreck der vergangenen Wochen

standesgemäß zu Leibe zu rücken. Miles hielt es nicht für fair,

ihr allein die Arbeit aufzuhalsen, und so schrubbten und fegten

er, Thierry und Rupert eifrig mit.

Die halbblinden Fenster und Spiegel zu reinigen war ein

großer Spaß; Rupert verglich es mit dem Erforschen neuer

Welten. Tatsächlich wurde es gleich sehr viel heller; es

blendete fast, als Rupert das Glas nachpolierte.

Eine wirkliche Überraschung war, dass man den Herd nicht

austauschen musste, wie Miles zuerst gemutmaßt hatte. Nach

Page 95: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

95

einer gründlichen Überholung seitens Miles, der technisch

sehr versiert war, und einer anschließenden Desinfektion von

Gisèle funktionierte er tadellos und glänzte wunderschön in

weißem Email.

„Nächste Woche kommt die erste Lebensmittelsendung“,

erklärte Miles später im blitzblanken Café, das in der Tat nicht

wiederzuerkennen war.

Zur Feier des Tages teilte er sich mit Rupert ein Glas

Bordeaux, den Thierry seinen Helfern kredenzte. Gisèle war

früher gegangen, um die Kinder bei der Großmutter

abzuholen. „Hast du notiert, was ihr noch an Gerätschaft

braucht zum Kochen? Neue Töpfe, Mixer, Schneebesen?“

„Bien sûr“, entrüstete sich Thierry. „Schon vor Wochen.“

„Prima. Dann werden wir das Bistro Anfang August neu

eröffnen. Julien sieht sich nach den Flutlichtern für die Plakate

um, dann steht einem Neuanfang nichts mehr im Weg. Aber

erst müssen wir Jacques die englische Küche nahebringen.“

„Das wird schwer“, prophezeite Thierry schmunzelnd,

während er mit Miles anstieß.

Er blieb länger als sonst in seinem nagelneuen und

funkelnden Etablissement. Viel zu lang, dachte Rupert, der

seinem Klavierabend entgegenfieberte.

„Du hast es so schön gemacht“, lobte Thierry Miles, der

zufrieden auf einem der noblen, neuerworbenen Stühle wippte

und rauchte. „Alleine hätte ich es nie geschafft. Und ehrlich

gesagt, ich hätte nicht geglaubt, dass du es tatsächlich

durchziehst. Ich war oft unmöglich, dafür möchte ich mich

entschuldigen; auch für Jacques. Im Prinzip ist er auch froh,

dass es wieder aufwärts geht, er kann es eben nicht so zeigen.

Aber ich habe meine Lektion gelernt. Es ist gut, sich auf

andere zu verlassen. Danke an euch beide. Wenn ihr wollt,

stelle ich euch auf Lebenszeit als Garçons ein.“

„Du klingst eher, als wolltest du uns loswerden, jetzt

nachdem alles erledigt ist“, zog ihn Miles auf. „Freu’ dich

nicht zu früh; du wirst dich noch eine Weile mit uns

Page 96: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

96

rumschlagen müssen. Zumindest so lange, bis Jacques und du

ordentlich Fish ’n Chips zubereiten könnt.“

Allmählich wurde Rupert ungeduldig. Es war sehr spät;

Thierry schien im Bistro übernachten zu wollen, so sehr gefiel

es ihm.

Um Miles auf ihre geweihte Stunde hinzuweisen,

improvisierte Rupert ein wenig lustlos auf dem Klavier.

Vielleicht gelang es ihm, sich Thierry auf diskrete Art zu

entledigen. Doch der hüpfte plötzlich wie vom Hafer

gestochen vom Stuhl und strahlte, wobei er einen verstohlenen

Blick auf Miles warf.

„Weißt du was, Rupert? Ich habe eine Idee! Ich spiele

leidlich Akkordeon. Jetzt, da du das Klavier repariert hast,

könnten wir doch gelegentlich zusammen musizieren? Ich

glaube, die Gäste wären begeistert.“

Kaum hatte er den Vorschlag unterbreitet, huschte er in die

Vorratskammer und tauchte mit einem rot lackierten, teuer und

viel zu schwer für ihn erscheinenden Schifferklavier wieder

auf.

„Die Kinder lieben es, wenn ich spiele. Aber Gisèle nicht

mehr. Früher war sie ganz verrückt danach. Genauer gesagt

habe ich sie damit bezirzt.“ Verschwörerisch zwinkerte er

Rupert zu, als wolle er ihm sagen, er – Rupert – habe

bedauerlicherweise die Gelegenheit verpasst, aber dank seiner

Musikalität noch alle Chancen bei anderen, liebreizenden

Franzosenmädchen.

Er würgte einen amerikanischen Schlager im Radio ab und

setzte sich geschmeidig zu Rupert. „Alors, mon ami. Was

spielen wir?“

„Was du möchtest“, kapitulierte Rupert seufzend.

Unvermittelt begann Thierry eine eingängige Melodie zu

spielen. Da er heimatliche Klänge in Form von Chansons

bevorzugte, für die sich das Akkordeon bestens eignete, war

Rupert mit seinem Musikgeschmack so weit vertraut, dass er

ihn nach einigen Minuten begleiten konnte. Sogar er musste

zugeben, dass es ganz passabel klang, besser, als er es für

Page 97: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

97

möglich gehalten hätte. Thierry beherrschte sein Instrument.

Während er spielte, wechselte er Blicke mit den beiden

Engländern; in sein Gesicht war ein beseeltes Lächeln

eingegraben.

Sowie sie fertig waren, applaudierte Miles; sein Ausdruck

reflektierte Thierrys. „Phantastisch! Damit könntet ihr

auftreten! Das war famos, Thierry!“

Theatralisch verbeugte sich Thierry. „Zuviel der Ehre,

Monsieur Victor. Ich bin ein wenig eingerostet. Aber das

können wir ja ändern, nicht wahr, Rupert? Übung macht den

Meister. Du warst auch nicht übel.“

Gleichgültig zuckte Rupert die Achseln, Miles’

offensichtliche Euphorie, die hauptsächlich auf das Akkordeon

gemünzt war, verletzte ihn.

Thierry schaute auf die Uhr. „Ich werfe euch ungern raus,

aber wollt ihr nicht nach Hause? Es ist spät, und ich brauche

ausgeschlafene Mitarbeiter.“

~*~

Einsilbig und verschlossen machte sich Rupert bettfertig.

Miles fragte nicht nach dem Grund, obschon er wohl spürte,

dass den Freund etwas bedrückte. Als sie das Licht gelöscht

hatten, tastete er sich vor.

„Was ist los mit dir? Du bist heute so schweigsam. Hat dir

der Abend nicht gefallen? Wenn Thierry mitspielt, fokussiert

sich nicht die gesamte Aufmerksamkeit auf das Piano. Das ist

doch erfreulich für dich, oder? Ich dachte, du stehst nicht gern

im Mittelpunkt. Thierry dagegen scheint richtig aufzublühen.

Der geborene Maurice Chevalier. Ihr würdet euch perfekt

ergänzen.“

„Sicher“, brummelte Rupert. Er robbte an die äußerste Kante

des Bettes. Miles drang nicht weiter in ihn.

Am nächsten Morgen stand Rupert nach einer quälenden

Nacht früher auf als gewöhnlich. Miles schlief noch, die

Decke hatte er aufgrund der nächtlichen Schwüle halb

weggestrampelt.

Page 98: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

98

Rupert bedachte die dunkle Haut seiner Nackenmuskulatur

und die Linie der Wirbelsäule mit einem fast zärtlichen Blick,

aber innerlich zerfraß ihn ein Gefühl, das ihm Angst machte.

Wie hatte Thierry es wagen können, sich derartig an Miles

heranzuschmeißen? Und wie hatte sein Freund zulassen

können, dass er sie um ihren Abend brachte? Die letzten

Stunden des Tages gehörten ihm und Miles, das wusste er

genau.

Zu so früher Stunde war nur das geschäftige Hotelpersonal

auf den Beinen. Hoffentlich begegnete er Julien nicht, der

wäre der Letzte, den er jetzt sehen wollte. Im

Badezimmerspiegel hatte er dicke Ränder unter seinen Augen

festgestellt. Neugierig wie er war, würde der Page

postwendend Morgenluft wittern.

Im Freien schützte er seine empfindlichen Augen mit einer

Sonnenbrille und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe.

Frühstückshunger hatte er keinen. Er war seltsam ruhelos und

streifte etwa zwei Stunden ziellos durch die Stadt.

Nach einiger Überlegung kaufte er eine Metrokarte, worüber

er höchst erschrocken war. Er hasste U-Bahnen und

Menschenansammlungen im Allgemeinen, was tat er nur?

Neigte er plötzlich zu Masochismus, nur weil Miles an einem

Abend ausgebrochen war aus ihrer Routine? Aber er hatte es

doch genossen! Er hatte doch nur für Miles gespielt, und das

war der Dank dafür!

Unschlüssig drehte er die Karte hin und her, bis sie zwischen

seinen Fingern ganz feucht wurde. Wenn er das Geld nicht

verschleudern wollte (und er war zur Sparsamkeit erzogen

worden), musste er sie einlösen.

In der Hosentasche fand er einen zerknitterten Zettel mit

Thierrys Privatadresse, die Thierry ihnen in der Absicht, sie zu

sich nach Hause einzuladen, notiert hatte. Er spähte auf die

Uhr. Um diese Zeit war Thierry normalerweise im Bistro.

Wahrscheinlich war Miles auch schon da. Dass er sich Sorgen

um Rupert machte, glaubte er nicht. Er wollte ja immer, dass

er selbständiger wurde und nicht an seinem Rockzipfel hing.

Page 99: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

99

Tief durchatmend glättete er den Wisch. Er hatte keine

Ahnung, wohin er fahren musste, aber es war die einzige

Adresse, die er kannte. Auf gut Glück stieg er in eine Bahn,

wo er sich nah am Ausgang hielt, um das Fenster im Blick zu

haben. Solange er nach draußen sehen konnte, war es nicht

ganz so schlimm.

Ein älterer Herr tippte an seine Schulter.

„Wohin wollen Sie?“

Himmel, er sprach Englisch! Rupert verschluckte sich

beinahe. Durch den Blickwechsel bedingte Übelkeit stieg in

ihm hoch, als er sich seinem Retter zuwandte. „Hier hin“,

krächzte er und deutete auf den Fetzen Papier.

Der Mann studierte es. „Das ist im dreizehnten

Arrondissement. Sie sind völlig verkehrt, junger Mann. Diese

Bahn fährt ins siebzehnte.“

„Hel-helfen Sie mir? Ich muss dorthin, vielleicht könnten

Sie mir den Weg zeigen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“

Der alte Franzose war ein Engel; er ließ sich nicht lange

bitten. Sicherheitshalber kaufte er Rupert eine Straßenkarte, in

der die Arrondissements verzeichnet waren und brachte ihn

auch zur richtigen Bahn.

„Junge Leute wie Sie sollten nicht alleine unterwegs sein“,

empfahl er sich mit einem Lüpfen seines Hutes. „Kommen Sie

gut an!“

Diese Bahn war deutlich voller als die erste; er erbeutete

trotzdem einen Sitzplatz und starrte hinaus, während er Augen

und Ohren schärfte, um die Erwähnung der Straße nicht zu

versäumen. Im Takt des Zuges schaukelte er leicht hin und

her, um sich mental abzuschotten. Wenn es bloß nicht mehr

weit war! Die Panik griff mit eiserner Faust nach seiner

Gurgel, und er meinte, ersticken zu müssen. Knoblauchartige

Ausdünstungen und Schweißgeruch von überall ließen seinen

Magen rebellieren. Ein paar Mal würgte er und lockerte seinen

Kragen, doch Gott sei Dank blieb die Attacke eines Anfalls

aus.

~*~

Page 100: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

100

Die Gegend, in der die Levants ein kleines Einfamilienhaus

besaßen, war nicht die feinste, aber für Rupert fühlte sie sich

nach dem glücklich überstandenen Abenteuer wie eine

Heimkehr an, die Oase inmitten der Wüste. Jetzt brauchte er

nur noch die Hausnummer zu finden. Das musste zu schaffen

sein. Allerdings sank ihm der Mut, als er sich fragte, weshalb

er eigentlich dieses Husarenstück auf sich genommen hatte.

Na gut, Thierry würde sich freuen, aber was, wenn er

tatsächlich schon im Bistro war?

Bald kam das Häuschen in Sicht, gepflegt mit Vorgarten und

einem Klettergerüst für die Kleinen. Es sah verlassen aus.

Natürlich, die Kinder waren in der Vorschule oder bei

Thierrys Mutter, seit Gisèle im Bistro mithalf. Er sah sich um,

wagte es aber nicht, durch den Garten zu gehen und zu

klingeln. Wahrscheinlich hatte er sowieso Pech. Doch der

Gedanke, wieder die Metro zu benutzen, hielt ihn davon ab,

unverzüglich den Rückzug anzutreten. Er schluckte und ließ

die Arme hängen. Auf einmal sehnte er sich nach Miles.

Vielleicht sorgte dieser sich doch um Ruperts Verbleib; er

hatte gar keine Nachricht hinterlassen in seinem

Schmollwinkel.

„Rupert! Bist du’s wirklich? Na so eine Überraschung!“

Ihre Augen mit der Handfläche beschirmend eilte Gisèle ihm

auf den Gartenfliesen entgegen. Sie trug eine ärmellose Bluse

und einen Petticoat, der sich um ihre Beine bauschte. Sie sah

entzückend aus. „Wie kommst du denn hierher? Ich dachte, du

bist mit Victor bei Thierry?“

„Das … das sollte ich“, stotterte er. „Aber ich … wollte dich

sehen. – Entschuldige, ich hab – hab die Blumen vergessen.“

Sie kam näher und fasste seine Hände. „Ist das eine

Verabredung? Wie süß!“

War es das? Konnte sein. Trotz seines Gestammels waren

ihm die Worte nicht allzu schwergefallen, da er emotional

nicht bei der Sache war. Er liebte Gisèle nicht, und es

verwunderte ihn, wie er sich zu einer solchen

Kurzschlussreaktion hatte hinreißen lassen. Am besten, er

Page 101: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

101

kehrte einfach wieder um. Aber die Metro … ein zweites Mal

würde er das nicht durchstehen; er zitterte jetzt schon wie

unter Schüttelfrost.

„Ich bin auf dem Weg in die Stadt“, plapperte sie. „Komm’

doch einfach mit, und wir trinken einen Kaffee.“

Ehe er wusste, was er tat, ging er aufs Ganze: er zog er sie

an sich und küsste sie derb auf den Mund. Gisèle reagierte

anders als erwartet: mit ihrer Handtasche, in der sie Blei zu

transportieren schien, holte sie aus und ohrfeigte ihn. Rote

Sternchen auf schwarzem Grund tanzten vor Ruperts Augen,

als er um sein Gleichgewicht rang. Er taumelte an den Zaun,

wo er sich gerade noch fing. Gisèle schnaufte.

„Du Schwein!“ rief sie außer sich. „Du glaubst wohl, alle

Französinnen seien Flittchen?! Ich hab dich ganz falsch

eingeschätzt, das kann ja nicht wahr sein…“

Entsetzt stellte Rupert fest, dass er sich während des Sturzes

übergeben hatte und blutete. Er blinzelte und merkte, dass sein

linkes Auge zugeklebt war. Gottlob hatte er wenigstens die

Sonnenbrille nicht mehr auf; in Augennähe brachten Scherben

selten Glück. Die Frau hatte ihn mit voller Wucht an der

Schläfe getroffen. „Gisèle“, winselte er. „Es tut mir leid, mir

geht es gar nicht gut … ich hab’s nicht so gemeint, das musst

du mir glauben. Bitte – kannst du mich ins Hotel

zurückbringen?“

Gisèle war keine, die echte Not nicht von Heuchelei

unterscheiden konnte; vorsichtig näherte sie sich ihm und

beäugte die Platzwunde. Sie fischte ein Taschentuch aus der

Handtasche und presste es kurzerhand mit überraschend

starkem Druck auf die blutende Stelle, während sie seinen

Kopf mit der anderen Hand aufrecht hielt. Zimperlich war sie

wirklich nicht.

„Um Gottes Willen, Rupert. Das Auto hat Thierry, wir

müssten mit der Metro fahren. Und in deinem Zustand … du

erschreckst ja die Leute. Leg’ dich erst hin. Keine Angst, die

Kinder sind nicht da. Ich werde einem Doktor telefonieren.“

Page 102: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

102

Energisch führte sie ihn ins Haus, die Wohnung war klein aber

sauber, er hatte Angst, alles mit dem Blut zu versauen.

„Nur keine Umstände“, wehrte er ab, doch sie ignorierte ihn

und gab ihm eine Beruhigungspille, nach deren Einnahme er

wegdämmerte.

~*~

Die kleine Operation, die der benachrichtigte Doktor an ihm

vornahm, indem er die Wunde nähte, bekam Rupert nur

verschwommen mit. Gisèle hielt fürsorglich seinen Kopf in

ihrem Schoß, aber er wäre ohnehin zu keiner Bewegung fähig

gewesen. Sein Wimmern ließ sie vermuten, er leide

Schmerzen, und so packte sie ihn fast gewaltsam am Schopf

und flüsterte in Französisch auf ihn ein. Die Worte klangen

beruhigend und melodisch. Er fühlte sich beinahe wie ein

Neugeborenes, das dem für ihn noch unverständlichen

Gebrabbel seiner Mama lauschte. Als der Arzt den letzten

Stich gemacht hatte, rollte Ruperts Kopf zur Seite.

Erstaunlicherweise trübte der heftig aufflammende, ziehende

Schmerz sein Wohlbefinden erst nach dem Eingriff. Die

Wirkung der Tablette ließ nach, und er glaubte, seine Schläfe

müsse im nächsten Moment explodieren. Gisèle redete ihm

weiter gut zu, aber es nützte nichts mehr. Wie eine gewaltige

Welle überspülte ihn die Panik, die er sich in der Metro

versagt hatte. Er war allein in einer fremden Umgebung, und

wahrscheinlich würde er hier mit einer penetrant nach Stall

riechenden Decke auf dem Sofa an einem Nervenanfall

dahingerafft werden, ohne Familie, ohne Freunde. Er

versuchte sich aufzurichten, konnte es aber nicht und wurde

noch nervöser. Durst hatte er ebenfalls, doch die schöne Frau,

seine Mutter, war nicht mehr da.

Plötzlich hörte er eine Tür und Stimmen

durcheinanderreden, jemand kniete an seinem Totenlager

nieder und streichelte sein Gesicht. Unter furchtbarer

Anstrengung öffnete er flackernd das nicht verbundene Auge.

Sowie er verstand, wer bei ihm saß, verebbte die Erregung,

und er konnte freier atmen. Miles’ Stimme war Balsam für

Page 103: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

103

seine Seele, sanft und voller Verständnis drang sie in sein

Bewusstsein.

„Was machst du denn für dumme Sachen? Thierry und ich

haben dich überall gesucht. Du hast mir eine Scheißangst

eingejagt.“

„Miles … Gott sei Dank …“

„Du lieber Himmel“, entfuhr es Gisèle. „Er phantasiert!“

„Das werden die Medikamente sein“, begründete Thierry

sachlich Ruperts vermeintlichen Fauxpas und stellte sich

hinter seine Frau, wobei er ihre Schultern umfasste. Beide

starrten in grausiger Faszination auf Rupert. Miles fuhr fort,

ihn zu streicheln; seine Fingerkuppen modellierten meditativ

Ruperts Haaransatz nach. Rupert schloss die Augen. Er war

nicht mehr dem Tod nah. Blind griff er nach Miles, der seine

Hand einfing.

„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich habe nicht geahnt, dass es

dich so kränkt.“ Er drehte sich zu den Levants um. „Leihst du

mir deinen Wagen, Thierry? Ich bring’ ihn ins Hotel zurück.“

„Lass ihn doch noch ein bisschen ausruhen. Uns stört’s

nicht, oder Gisèle? Er sieht ganz spitz aus. Sicher der Schock.“

„Ich bin okay“, wehrte Rupert ab und richtete sich mit

Miles’ Hilfe auf, der zustimmend nickte. „Es sieht

dramatischer aus als es ist.“

Der Gestank der Decke brachte Rupert fast um. Er hatte

nicht gewusst, dass Thierry in seiner Freizeit Reiter war. Keine

Minute länger wollte er in diesem Haus bleiben, wo er die

Schmach seiner frevelhaften Tat vor Augen hatte.

Thierry setzte sich in Bewegung, um ihn zusammen mit

Miles zu stützen.

„Dann fahr’ ich euch beide. Aber du musst versprechen, bei

ihm zu bleiben, Victor. Der Arme ist ja völlig verwirrt.“

Gemeinsam fuhren sie in die Innenstadt, Miles blieb im

Fond an seiner Seite, damit Rupert sich an ihn lehnen konnte.

Er war erschöpft, aber trotzdem glücklich. Was Gisèle ihnen

wohl erzählt hatte? Sicher nicht die Wahrheit, denn die rückte

Page 104: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

104

weder ihn noch sie in gutes Licht. Zudem wäre Thierry dann

nicht so besorgt.

Was weiter geschah, die Rückfahrt und die Ankunft im

Hotel, war später in Ruperts Erinnerung nur noch

schemenhaft. Wie er in den dritten Stock gekommen war,

entzog sich komplett seiner Kenntnis.

Miles flößte ihm schluckweise ein Glas Wasser ein, wobei er

behutsam seinen brummenden Schädel anhob. Er war nicht

nur ein erstklassiger Psychologe, Fotograf und Schreiber, nein,

er verstand auch noch etwas von Krankenpflege.

„Bleibst du hier?“ fragte Rupert ängstlich. „Bitte geh’ nicht

weg.“

„Ich bin hier, bis du dich besser fühlst“, beschwichtigte ihn

Miles. „Du bist mir einer! Fährst mit der Metro, dabei weißt

du genau, dass das nicht gut ist für dich. Und dann kletterst du

noch auf einen Baum, um Kirschen für Gisèle zu pflücken und

holst dir eine Gehirnerschütterung. Du wolltest mir eins

auswischen, oder? Wegen Thierry und seinem gottverfluchten

Akkordeon.“

Rupert verlangte nach mehr Wasser, das wie ein kühlender

Strom durch seine brennende Kehle rann. Reumütig bestätigte

er Gisèles Lüge. Sie war nicht schlecht und gab ihm sogar den

Anstrich eines verwegenen Kavaliers.

„Ist es jetzt – wieder gut zwischen uns?“

Gerührt zupfte Miles an den vom Verband abstehenden

Haarspitzen. „Wie kommst du darauf, dass ich dir böse war?

Es ist doch meine Schuld. Ich hätte das wissen müssen. Du

glaubst gar nicht, was mir unsere Abende am Klavier

bedeuten. Trotzdem war es kindisch, was du getan hast.

Kindisch und gefährlich. Der alte Miles sollte dich dafür übers

Knie legen.“

„Ich möchte ein wenig schlafen“, murmelte Rupert. „Lass

mich nicht allein. Mein Kopf schmerzt höllisch.“

„Ich geb’ dir was gegen die Schmerzen“, sagte Miles und

löste ein Päckchen Aspirinpulver auf, das Rupert gehorsam

schluckte.

Page 105: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

105

~*~

Spät am Nachmittag kam er allmählich wieder zu sich; die

Medizin hatte einen komatösen Schlaf zur Folge gehabt. Es

ging ihm etwas besser, doch als er aufstehen wollte, sank er

wie ein gefällter Baum aufs Kissen zurück. Miles lag neben

ihm, er war ebenfalls eingedöst. Sein ausgestreckter Arm ruhte

halb auf Rupert, und er realisierte ein Heftpflaster auf der

helleren Unterseite, das ihm schon früher aufgefallen war.

Damals hatte er es als Schutzmaßnahme einer kleinen

Verletzung abgetan; dass er es allerdings immer noch trug,

erstaunte ihn. Er nahm Miles’ Arm und legte ihn aufs Bett.

Seufzend wurde Miles wach. Seine Augen musterten Rupert

anteilnehmend, der sein Schweigen dazu nutzte, nach der

ominösen Schramme zu fragen. Einen Augenblick zuckte

Miles zusammen, seine Augen weiteten sich perplex. Er

erwiderte nichts, sondern sah Rupert weiter undurchdringlich

an. Am liebsten hätte dieser sich die Zunge abgebissen. Seine

Wissbegier war Miles unangenehm, das war mehr als deutlich.

„Entschuldige, ich hätte nicht - “

„Doch“, sagte Miles. Ist schon in Ordnung.“ Mit einem

Ruck streifte er das Pflaster von der Haut. Zum Vorschein kam

eine eingeritzte Zahlenkombination, auf die Rupert sich keinen

Reim machen konnte.

„Was ist das? Ein Studentenscherz? Davon hab ich aber

nichts mitbekommen. Bei den Mutproben war ich meistens

außen vor.“

„Ich bin gar nicht Miles Mayhew“, erklärte Miles ernst. „Ich

war siebzehn, als sie uns ins Lager brachten.“

Siedendheiß verwünschte Rupert seine Taktlosigkeit. Voller

Entsetzen verschloss er seinen Mund mit beiden Händen. Was

war sein vorübergehendes Elend verglichen mit einem so

grausamen Schicksal? Er konnte es gar nicht recht glauben,

was Miles da andeutete. Eine solche Vorgeschichte konnte und

durfte Miles nicht haben!

„Oh, Miles … das ist furchtbar!“

Page 106: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

106

Er kroch zu ihm und wollte ihn an sich ziehen, doch Miles

richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sinnend

betrachtete er die Tätowierung.

„Meine Familie war in Auschwitz. Meinem Vater und mir

gelang die Flucht, aber er – hat es nicht geschafft. Er war zu

geschwächt von den Strapazen dort. Ich habe mich in einem

Heuwagen versteckt und es bis zum Hafen geschafft, wo man

die Kinder nach Großbritannien ausschiffte. Ich musste mich

jünger ausgeben als ich war, sonst hätte man mich

zurückgeschickt. Bis der ganze Papierkram erledigt war …

mein Gott! Als verhandle man über Menschenleben. Und ich

saß am Pier auf glühenden Kohlen. Bis zuletzt dachte ich,

niemand würde mich wollen in einem Land, in dem ich die

Sprache nicht beherrschte und das mir auch sonst so fremd

war.

Aber ich hatte Glück und wurde von den Mayhews

adoptiert, obwohl ich eigentlich viel zu alt war, um in eine

Familie eingegliedert zu werden. Aber sie hatten keine Söhne,

meine neuen Eltern, und waren jüdischer Abstammung. Das

hat mir den Hals gerettet.“

Rupert war wie gelähmt vor Schreck, der ihm durch Mark

und Bein gefahren war. Dazu verstörte ihn Miles’ Bericht, den

er ohne jegliche Gefühlsregung schilderte. Innerlich zeriss es

ihn beinahe, er schnappte nach Luft, brachte aber keinen Ton

heraus.

Als würde er den Aufruhr seines Freundes nicht bemerken,

fuhr Miles mit objektiv klingender Stimme fort:

„Mein wirklicher Name lautet Milos Kaminski. Komisch,

oder? Mein bester Freund kennt mich nur als Miles. Ich

komme ursprünglich aus der Tschechoslowakei. Dort habe ich

mit meinen Eltern und zwei Schwestern gewohnt, bis die

Nazis einmarschierten. Und nicht mal schlecht. Allerdings bin

ich recht gut entschädigt worden, denke ich. Mein jetziger

Vater hat mich gleich nach meiner Ankunft auf Oxford

gedrillt. Und du siehst ja, wie ich lebe. Paris zu zweit auf

unbestimmte Zeit, das kann sich nicht jeder leisten.“

Page 107: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

107

Über die Schulter lächelte er Rupert an, doch er war nicht in

der Lage, die Traurigkeit in seinem Gesicht zu verschleiern,

obwohl er so tapfer berichtet hatte. Rupert setzte sich neben

ihn und legte den Arm um seine Taille und den Kopf an seine

Schulter. Worte, das spürte er instinktiv, waren fehl am Platz.

Doch er wollte Miles zumindest wissen lassen, wie sehr er mit

ihm fühlte.

„Meine Mutter war eine brillante Pianistin. Fast so gut wie

du. Chopin hat sie am liebsten gespielt. Vor dem Einschlafen

von uns Kindern. Deshalb hör’ ich dich so gerne. Manchmal,

wenn ich die Augen zumache, während du spielst, seh’ ich sie

richtig vor mir.“

Die Tränen liefen Rupert über die Wangen und benetzten

Miles’ Hemd. Er war sprachlos und suchte verzweifelt Miles’

Hand, der seine sachte drückte, wie um ihn zu begütigen statt

umgekehrt.

„Nicht weinen, Rupert. Das ist lange her. Das Pflaster hilft

mir, nicht jeden Tag daran zu denken. Irgendwann verblasst

die Erinnerung wie diese Zahlen da.“

„Du hattest vor kurzem einen Alptraum“, fiel es Rupert

wieder ein, seine Stimme war nur ein Hauch. Jetzt war das

Ganze plausibel: Miles’ Angst, sein Griff, mit dem er ihn

umklammert gehalten hatte. Vielleicht hatte er im Traum einen

Familienangehörigen schützen wollen. „Ich konnte dich nicht

aufwecken, obwohl ich es versucht habe. Ich wollte nicht mehr

darüber sprechen, weil ich dachte, es sei unwichtig. Aber ich

glaube nicht, dass man so ein Erlebnis je vergessen wird. Oh

Miles, wenn es etwas gibt … ich tue alles.“

„Sei einfach du selbst“, sagte Miles ohne sichtliche Regung.

„So wie bisher. Ich wollte es dir gar nicht sagen. Das geht

niemanden etwas an. Und fang’ bloß nicht an, mich zu

bemitleiden. So -“ Tatkräftig schlug er mit beiden Händen auf

seine Oberschenkel. „Ich gehe zu Thierry, sonst dreht er durch

ohne Hilfe. Und du bleibst schön liegen, verstanden? Du musst

dich schonen.“

Page 108: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

108

Kapitel 10

atsächlich fiel es Rupert nach Miles’ Beichte

schwer, ihn nicht zu bemuttern. Wie er schon früher

erkannt hatte, hatte Miles Fürsorglichkeit nicht nötig; sie war

ihm sogar lästig, wenn man zu plump agierte, doch Rupert

konnte nicht aus seiner Haut. Ständig musste er wissen, was

Miles machte, wie es ihm ging, und er wurde unruhig, sobald

sie länger als eine Stunde voneinander getrennt waren.

~*~

Eingedenk Miles’ Erzählung über seine Mutter verteidigte

Rupert ihre Klavierabende von nun an rigoros. Selbst mit

Jacques legte er sich an, der eher im Scherz behauptete, er

müsse Tag und Nacht im Bistro werkeln, bis sich ihm die

Anziehungskraft eines breiigen Porridges erschloss, über das

man haufenweise Zucker streute, um den Geschmack zu

verfälschen, der ohnehin nicht vorhanden sei.

Allerdings war Jacques selten zu Scherzen aufgelegt, so

dass man nie wirklich unterscheiden konnte, ob er eine

Bemerkung ernst meinte oder nicht.

„O làlà“, sagte er erstaunt, als Rupert ihn beinahe herrisch

ersuchte, das Lokal spätestens nach Mitternacht zu verlassen.

„Gibt es da ein Geheimnis, von dem keiner wissen darf, mein

kleiner Rupert?“

Um seine Worte zu unterstreichen und ihn zugleich zu

demütigen, packte er Rupert süffisant grinsend am Kinn und

hob es an. Seine veilchenblauen, funkensprühenden Augen

schienen ihn aufspießen zu wollen. Er erreichte sein Ziel: als

der körperlich Größere fühlte sich Rupert in der Tat erniedrigt.

„Lass ihn“, befahl Thierry. „Ich hab mit Victor darüber

geredet, das geht völlig d’accord. Es hat nichts zu bedeuten.

So wie sich die beiden plagen wegen uns, sollte man ihnen

T

Page 109: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

109

noch viel mehr zugestehen. Das ist der kleinste Gefallen, den

ich ihnen tun kann, Jacques.“

„Ach, mit dem großen Victor gesprochen hast du. Der ist ja

quasi der Geschäftsführer, n’est-pas? Da hab ich natürlich

nichts zu melden.“

Mit einer rüden Geste ließ er Ruperts Kinn los und kratzte

ihn wie unabsichtlich dabei. Rupert ließ die Grobheit

unkommentiert und schickte sich an, weiterzutapezieren.

Miles war mit Monsieur Delaroche unterwegs; offenbar

zeigte ein Verlag reges Interesse an einer Publizierung ihrer

Fotos. Mit den Gedanken in Raouls Laden, in dem zur Stunde

vermutlich eine Geschäftsbesprechung stattfand, machte sich

Rupert an die Arbeit und summte ein Chanson, das er Thierry

vor längerem hatte singen hören. Der assistierte und gab sich

Mühe, Ruperts abwesenden Teampartner würdig zu vertreten.

„Er hat halt den Vorteil einer ungewöhnlichen Länge“,

entschuldigte er sich bei Rupert, wenn er eine Bahn

verhedderte, die sich dann nicht selten einringelte und

aneinanderpappte. „Das macht viel aus beim Renovieren.

Darum ist Raoul auch so geschickt, aber Victor natürlich der

ideale Heimwerker.“

„Victor, Victor save the Queen and Victory forever”, trällerte

Jacques im Hintergrund in einer Art Spottgesang. Miles war

ihm ein Dorn im Auge; von Anfang an waren Spannungen

zwischen den beiden zu spüren gewesen. Auch Jacques besaß

wie Miles ein perfektionistisches Wesen, doch ihm fehlten die

Wärme und die Umgänglichkeit, mit der Letzterer seine Pläne

verwirklichte, und er würde sie nie haben. Darum erklärte sich

Rupert seine Feindseligkeit als puren Neid. Für ihn war es am

leichtesten, Jacques zu ignorieren, denn mit gleicher Münze

konnte er es ihm nicht heimzahlen. Hohngelächter und das

Schlechtmachen anderer Leute verachtete er. Miles hätte in der

jetzigen Situation vermutlich nach der Wilde-Maxime

gehandelt „Liebe deine Feinde – nichts verärgert sie mehr.“

Page 110: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

110

„Du machst es ganz gut“, tröstete Rupert Thierry. Er war

entschlossen, sich von dem rauhbeinigen Kerl nicht

provozieren zu lassen.

„Du und dein blödes Engländergesicht“, schimpfte Jacques

plötzlich wüst. „Ich kann’s nicht mehr ertragen! Überall seh’

ich’s, selbst wenn du gar nicht da bist! Ich wünschte, ihr hättet

nie französischen Boden betreten!“

Verblüfft blieb Rupert der Mund offenstehen, als Jacques

den Pinsel in den Eimer schleuderte. Der Kleister spritzte hoch

auf und lief an den Wänden und der Leiter herunter, auf der

Rupert balancierte.

„Jacques!“ mahnte Thierry, indem er die Hände schlichtend

auf und ab bewegte. „Was soll das? Bist du von allen guten

Geistern verlassen? Victor und Rupert sind unsere Freunde!“

„Deine Freunde!“ blaffte Jacques. „Ich wollte sie nie hier

haben! Siehst du nicht, dass Rupert hinter Gisèle her ist?! Er

tut so unschuldig, aber in Wirklichkeit hat er es faustdick

hinter den Ohren!“

„Das stimmt nicht. Du magst mich nicht, darum geht’s“,

verwahrte sich Rupert. Sein Ton war sachlich und nicht zu

laut, um etwaige Skepsis zu erregen. Miles wäre stolz auf ihn.

„Und wenn du etwas Persönliches mit mir zu besprechen hast,

können wir das nach Feierabend klären, okay?“

Eine kurze Weile, die Rupert wie die Ewigkeit schien,

maßen sie sich mit Blicken. Jacques’ Stirn, auf der eine Ader

anschwoll, war umwölkt, er kochte innerlich, das war ihm

anzusehen. Erbärmlich, wenn ein Mann seine Emotionen nicht

wenigstens zügeln konnte. Thierry schaute hellhörig zwischen

ihnen hin und her. Die Geschichte mit Gisèle kaufte er seinem

Schwager nicht ab; er wusste um den nahezu argwöhnischen

Drang, mit dem Jacques über Gisèle wachte, als sei sie immer

noch das kleine Mädchen, das seines brüderlichen Schutzes

bedurfte. Um diesen Mythos aufrecht zu halten, griff er

mitunter zu drastischen Mitteln, so wie eben jenes der

Untreue. Doch Gisèle liebte nur ihn – Thierry, trotz der Krise,

Page 111: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

111

die sie gerade durchmachten. Im Urlaub an der Küste hatte sie

es ihm beteuert und auch gezeigt.

Von Jacques’ ewigem Genörgel und seinen Befürchtungen,

Gisèle sei Freiwild für andere Männer, ließ er sich nicht ins

Bockshorn jagen. In vieler Hinsicht war Thierry ein

Gemütsmensch, der nur das glaubte, was er sah. Zum Glück

für Rupert, denn ganz aus der Luft gegriffen war die These,

die Jacques da aufstellte, zumindest oberflächlich betrachtet ja

nicht.

Endlich wich Jacques aus, bückte sich und langte nach dem

Pinsel. „Bist ein Revolverheld, eh? Ich dachte, die gibt’s nur

im Amiland. Na gut, schließen wir Frieden.“

Aber er kam nicht zu Rupert, um ihm versöhnlich die Hand

zu reichen.

Etwas später platzte Miles mit Raoul im Fahrwasser ins

Bistro. Er war ganz außer Atem, packte Ruperts Mitte, der

immer noch auf der Leiter stand und stellte ihn nach einem

halben Schwung um sich selbst auf den blank gewienerten

Holzboden. Dann nahm er Ruperts Gesicht zwischen die

Hände und küsste ihn geradewegs und ungeniert auf den

Mund. Das Geräusch dröhnte in Ruperts Ohren, er wurde rot

bis unter die Haarwurzeln. Zugleich elektrisierte ihn die

Weichheit von Miles’ Lippen derart, dass er fast den Halt

verlor und froh war, dass Miles besitzergreifend den Arm um

ihn legte, als er sich grinsend den anderen zuwandte, die sie

neugierig umringt hatten.

„Ihr dürft uns gratulieren. Wir sind autorisierte Schriftsteller,

Rupert und ich.“

„Formidable!“, freute sich Thierry und klopfte Miles auf die

Schulter. „Das sind tolle Neuigkeiten!“

„Das Buch geht mit einer Erstauflage von tausend in

Druck“, explizierte Miles Rupert aufgewühlt, wobei er ihn

mehrmals an sich presste und ihn dabei von den Füßen riss,

wie um sicherzugehen, dass Rupert ihn auch richtig verstand.

„Und es wird in sämtlichen französischen Buchhandlungen

ausliegen! Ist das nicht ein schönes Gefühl? Man sichert uns

Page 112: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

112

dreizehn Prozent vom Erlös jeden Buches zu. Das ist ein

ungewöhnlich hohes Honorar. Raoul hat knallhart verhandelt

mit dem Burschen, du hättest ihn sehen sollen.“

Rupert nickte, in seinem Kopf drehte sich alles vor Glück.

Er sah Raoul an, der ihn feierlich beglückwünschte. „Es kann

gar nicht schiefgehen. Der Verlag ist sehr renommiert und

wird Ihr Buch über die Grenzen von Paris hinaus bekannt

machen. Dass die Verleger Vertrauen in die Verkaufskraft des

Werkes haben, ersieht man an der hohen Auflagenzahl. Sobald

es erhältlich ist, hätte ich mein Exemplar gerne signiert.“ Er

zwinkerte Rupert eigentümlich schalkhaft zu, während Thierry

Miles bestürmte, ihm ebenfalls ein Exemplar zu widmen. „Sie

haben Victor die große Gewinnspanne zu verdanken, nicht

mir. Ich würde es nie wagen, mich mit Monsieur Carton zu

streiten.“

~*~

Kurz bevor sie das Lokal abschlossen, tranken Rupert und

Miles gemeinsam eine Flasche Wein am Klavier. Rupert

amüsierte sich über Miles’ Grimassen, die er jedes Mal zog,

wenn er das Glas absetzte. Dennoch fühlte er sich verpflichtet,

Rupert beim Trinken Gesellschaft zu leisten.

„Ich weiß nicht, was die Leute daran mögen“, vertraute er

Rupert an. „Jede Sorte schmeckt scheußlich.“

„Du wirst dich dran gewöhnen müssen. Immerhin wohnen

wir im Land des Weines. Wenn du weiterhin abstinent bleibst,

beleidigst du deine Gastgeber. Außerdem muss der Tag

gefeiert werden, das macht man nun mal üblicherweise mit

Alkohol, ob es dir passt oder nicht.“

„Hm“, machte Miles vage. Sein Blick wanderte ins Leere,

als er über Ruperts Kopf hinweg das Fenster fixierte.

„Was hast du?“ Neben dem Klavier stieß ihn Rupert, der auf

dem Schemel hockte, flüchtig an die Wade.

„Au!“ Empörung markierend rieb Miles sich den

Unterschenkel, bevor er auf seine Fingernägel schaute und so

beiläufig wie möglich antwortete. „Thomas hat geschrieben.

Mein Hotelier aus Oxford.“

Page 113: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

113

„Ich kenn’ ihn“, unterbrach ihn Rupert; von einer schlagartig

einsetzenden, befremdenden Gereiztheit befallen kribbelten

seine Beine. „Und?“

„Deine Eltern suchen dich, weil sie sich große Sorgen um

dich machen. Sie vermuten sogar, dass du in Paris bist und

planen eine Reise hier her.“

Rupert schnellte hoch. Sein Teint wurde abwechselnd bleich

und dunkelrot vor Scham, Miles beschwindelt zu haben. Und

er verteufelte das Gluckengehabe seiner Mutter. Gewiss war

die Initiative von ihr ausgegangen, nachdem Rupert ein

Vierteljahr nichts von sich hatte hören lassen. Eigentlich

erstaunlich, dass sie nicht gleich nach der Ankunft des Briefes

die Pferde scheu gemacht hatte. Er vermutete, dass sein Vater

ihn abgefangen und seine Frau nicht unnötig mit dem Inhalt

konfrontiert hatte. Ihm selbst dünkte er wahrscheinlich ganz

vernünftig.

„Das kann nicht sein! Die wissen doch gar nicht … ich hab

doch nicht …“

Miles’ Blick wurde streng, er hatte ihn noch nie so erlebt,

nicht aus eigener Erfahrung. „Was hast du ihnen am Telefon

gesagt?“

Er war noch nicht wütend, aber kurz davor. Rupert tat es

beinahe körperlich weh, Miles’ Unmut auf sich zu ziehen, und

das auch noch zu Recht.

„Nichts … nichts, was auf meinen Aufenthaltsort schließen

könnte. Nur dass ich auf Kur bin, so wie du es vorgeschlagen

hast.“

„Ich glaube, du lügst. Deine Eltern kommen ganz gut ohne

dich klar, es sei denn, du hast ihnen etwas erzählt, das sie in

Aufregung versetzt hat.“

Resignierend sank Rupert auf den Schemel zurück. „Ich

konnte nicht anrufen. Darum habe ich einen Brief geschrieben,

in dem ich ihnen mitgeteilt habe, dass ich auf Anraten meines

Arztes eine Weltreise unternehme. Ich habe nicht daran

gedacht, dass der Poststempel mich verrät.“

Page 114: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

114

Miles betrachtete ihn ein wenig entgeistert. Von dem Brief

hatte ihm der Kommilitone geschrieben, doch er hatte nicht

geglaubt, dass es stimmte. Andererseits – wie sollten die

Eltern sonst von Ruperts Aufenthalt informiert worden sein?

„Ist schon gut, mach’ dich nicht fertig deswegen.

Allerdings werde ich Konsequenzen ziehen. Wenn man dich

findet, findet man auch mich. Wir müssen uns trennen,

Rupert.“

„Nein!“ Es war ein regelrechter Aufschrei. „Miles – wir

verlieren doch nichts, wenn ich ihnen noch mal schreibe.

Diesmal die Wahrheit. Meine Bewerbung kann warten, das

wird mein Vater einsehen. Ich erkläre ihnen, dass ich ein Jahr

Urlaub nehme, bevor ich den Ernst des Lebens antrete. Das

verstehen sie. Dich werde ich gar nicht erwähnen. Es wäre mir

nur lieb, wenn diese blöde Angelegenheit mit dem Arzt und

meiner eingebildeten Krankheit aus der Welt wäre, die hat sie

sicherlich beunruhigt.“

„Also gut. Ich werde aber früher oder später ohnehin weiter

müssen.“

„Mit mir“, insistierte Rupert fest. „Ich schreibe wirklich

nicht von dir, das verspreche ich. Bitte vertrau’ mir. Ich hab

dich auch nicht im ersten Brief erwähnt, obwohl zumindest

meine Mutter es wohl begrüßen würde, wenn sie wüsste, dass

ich mit dir unterwegs bin. Sie hält dich für einen sehr

vernünftigen jungen Mann.“

Zur Betonung seines Gelöbnisses führte er die

entsprechende Gestik des Überkreuzens über seiner Brust aus.

Miles lächelte und hob sein Kinn an, ganz anders als Jacques

am Nachmittag. Zugetan heftete er den Blick auf Rupert und

die frische, rötlich-violett schimmernde Narbe an dessen

Schläfe, das Souvenir an Gisèles Selbstverteidigung.

Eine Zartheit war in dieser Gebärde, die Rupert schier den

Atem raubte; er hoffte, er würde sie nicht durch eine

unbedachte Äußerung oder Bewegung zerstören.

„Hat dir schon jemand gesagt, was für hübsche Augen du

hast?“

Page 115: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

115

Rupert senkte genant die Lider. Nicht weiter, Miles, bat er

inständig. Sonst weiß ich nicht, wie der Abend endet.

„Ich – ich spiele noch etwas, in Ordnung?“

Wie immer durchschaute ihn Miles. In dieser Hinsicht

konnte ihm Rupert nichts vormachen. Unheimlich war das.

„Das war kein Annäherungsversuch, Rupert. Nur eine

Feststellung.“

Du bist mir schon so nah wie niemand es je gewesen ist,

dachte Rupert im Stillen. Miles ließ ihn los, und er rückte auf

dem Stuhl zurecht, um die Nocturne zu beginnen.

~*~

Jacques britische kulinarische Genüsse beizubringen hatte in

der Tat etwas vom Ankämpfen gegen Windmühlen. Mit einer

Engelsgeduld verbrachte Miles Stunden bei ihm in der

sanierten Küche, die bereits von der Gesundheitsbehörde

grünes Licht erhalten hatte. Jacques verkündete grantig, dass

sich das wieder ändern würde, sobald der erste englische Fraß

öffentlich serviert wurde und die Gäste der Reihe nach mit

Koliken in Hospital überliefert werden müssten. Miles lachte

darüber und ließ sich nicht verdrießen, aber Rupert hegte seit

der offenen Kriegserklärung ihm gegenüber abgrundtiefes

Misstrauen gegen Jacques.

Als er mit Miles darüber reden wollte, winkte er ab.

„Solchen Kerlen muss man den Wind aus den Segeln

nehmen, indem man sie glauben lässt, sie befänden sich im

Recht. Nimm dir nicht zu Herzen, was er gesagt hat.

Intellektuell bist du ihm weit überlegen. Lass ihn reden und

scher’ dich nicht weiter drum. Es gibt Leute, die dich besser

kennen.“

„Er wirft mir eine Affäre mit Gisèle vor!“

„Ist das so falsch? Ich dachte, die hattest du gehabt“,

schmunzelte Miles. „Auf dem Kirschbaum.“

Rupert konnte nicht anders, er lachte ebenfalls, wenngleich

ihm nicht wirklich danach zumute war. In Zukunft würde er

vor Jacques Fleury auf der Hut sein. Kochen war sowieso

nicht seine Stärke.

Page 116: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

116

Stattdessen half er Julien, die Bilder und filmischen

Devotionalien zu ordnen und ihren Platz an den Wänden zu

bestimmen. Es machte Spaß, sich durch die verschiedenen

Sammlungsstücke zu wühlen, und es war beachtlich, was

Julien alles zusammengetragen hatte. So jung wie er war,

konnte er sich ja noch nicht allzu lange mit Filmen

beschäftigen. Trotzdem erkannte selbst Rupert hier und da den

Wert eines Autogramms oder eines Schals, den angeblich

Audrey Hepburn letztes Jahr bei den Dreharbeiten zu Love in

the Afternoon getragen hatte. Als Julien es ihm mit hochroten

Wangen erzählte, wurde er angesichts des Enthusiasmus des

Jungen sogar etwas ehrfürchtig.

Natürlich musste Thierry sein Einverständnis zur Gestaltung

geben, und da er in der Welt des Seins und Scheins fast so

zuhause war wie sein Kumpel Julien, beteiligte er sich eifrig

beim Gestalten der Dekoration.

Ab und zu tauschten er und Julien kichernd wie Backfische

Erinnerungen an gemeinsame Kinoabende aus. Jedes Plakat,

jedes makellose Gesicht auf den unzähligen Fotos verknüpften

sie mit einer lustigen oder absurden Begebenheit.

Frauenporträts weckten besonders heftige Emotionen; die

jungen Männer schrien entzückt und affektiert zugleich auf,

während sie Handküsse mit gespreizten Fingern auf die Bilder

projizierten. Ein eher gelangweiltes „Ah, très magnifique!“

war das kärglichste Lob, das eine Rupert unbekannte

Leinwandschönheit mit apart breiten Backenknochen

einheimste.

Als sie ihn nach seinem fachmännischen Urteil fragten, hob

Rupert verlegen die Schultern. „Ich kenne sie nicht“, gestand

er. Beiden fiel der Unterkiefer herunter. Schließlich fasste sich

Thierry als Erster, indem er Julien anstupste.

„Er kennt Ingrid Bergman nicht“, tuschelte er ihm

erschüttert zu. „Kannst du das glauben?“

„C’est impossible - Unmöglich!“ rief Julien.

„Das nächste Mal kommst du mit uns“, bestimmte Thierry.

„Wirst es nicht bereuen. Kino ist eine feine Sache.“

Page 117: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

117

„Besonders wenn Thierry mitten im Film einschläft und

schnarcht wie ein Elefant.“

Sie mochten sich, das war ihnen anzusehen. Ihr

gemeinsames Interesse schweißte sie umso mehr zusammen.

Plötzlich wünschte Rupert, Julien würde seinen Pagenjob

schmeißen und mit Thierry das Bistro führen. Er und Miles

würden es nämlich nicht tun, das war ihm klar.

Ruhelos wie sein Freund war, würde es ihn sicher doch bald

fortziehen von Paris. Miles brauchte Abwechslung,

Herausforderungen. Er war nicht so wie Rupert, der sich sehr

gut vorstellen konnte, mit diesen netten Menschen eine

Existenz aufzubauen, vielleicht sogar ein hiesiges Mädchen

kennenzulernen. Doch merkwürdigerweise war dieser

Gedanke so fern wie der Mond und kaum zu greifen.

Er würde die Zukunft nehmen, wie sie kam. Allein ohne

Miles war sie undenkbar. In seinen Tagträumen sah er Miles

und sich ein Haus in der Provence bewohnen, mit einem

großen Garten, in dem sie Gemüse anbauten.

Selbstverständlich wusste er, wie idealistisch, wenn nicht gar

dumm sein Denken war. Doch selbst Miles tat nichts, ihn

davon abzuhalten, die Zukunft in rosaroter Farbe zu malen. Im

Gegenteil, er schien Gefallen daran zu finden, Rupert unter die

Fittiche zu nehmen, ihn ein wenig wie einen Schüler zu

unterweisen und ihn zuweilen auch zu necken. Als er ihm von

dem Haus erzählte, wiegte er abwägend den Kopf und meinte,

es sei gar keine schlechte Idee.

Mädchen erwähnte er nicht mehr. Es war kein Thema

zwischen ihnen. Manchmal kam Rupert das verwunderlich

vor, aber da er nicht das Bedürfnis nach körperlicher Liebe

verspürte, reichte ihm Miles’ Gesellschaft voll und ganz.

~*~

Die Namenssuche für das neue Bistro, das nun offiziell ein

englisches Pub war, gestaltete sich recht schwierig. Thierry,

der an „Bambi’s“ hing, zeigte sich mit keinem Vorschlag

zufrieden und ging damit allen auf die Nerven.

Page 118: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

118

„In zwei Wochen müssen wir uns einig geworden sein“,

brummelte Miles und rückte Cary Grant gerade.

Julien ließ den Blick durch den Raum schweifen.

Die Plakate und Fotos der Filmstars wurden von Leuchtern

angestrahlt, welche ein dezentes Licht über Tische und Stühle

warfen.

Palmen in großen Töpfen vermittelten ein Flair von

Casablanca. Vom Eingang durch den Windfang führte eine

kurze, sich vom ebenen Boden abhebende Brücke aus

Brettern, über die jeder eintretende Gast ins Bistro gelangte.

Seine Augen blieben an einem eindrucksvollen Porträt des

Schauspielers Laurence Olivier hängen, und er runzelte die

Stirn. Das Theater, in dem er auftrat, hieß …

„’Old Vic’!“ rief er fingerschnippend. Die anderen, bereits

erschöpft vom Suchen des passenden Namens, horchten auf.

„Als Reminiszenz an deinen Wohltäter, Thierry! Außerdem ist

es ein legendäres Schauspielhaus und auch Filmfans ein

Begriff!“

Das langersehnte, breite Grinsen erschien auf Thierrys

Gesicht, während er sein Oberlippenbärtchen liebkoste.

„Julien, petit, was täte ich ohne dich?! So nennen wir’s!“

Ein kollektives Aufatmen und vereinzeltes Applaudieren

war zu hören. Miles, dem der Vorschlag zwar schmeichelte,

meldete Bedenken an. „Der Name ist rechtlich geschützt,

Julien. Das gibt Ärger mit der britischen Behörde.“

Rupert schaltete sich ein. Er war begeistert von dem

Vorschlag und fand, Miles habe eine Ehrung in dieser Form

mehr als verdient. Das fertige Bistro hatte ihn weit über

zweitausend Pfund gekostet; obwohl er nie über Zahlen redete,

hatte Rupert die Rechnungen gesehen und addiert, und das war

bestimmt mehr, als das aufgenommene Darlehen ausmachte.

„Und wenn wir ein ‚e’ hinter das ‚Old’ setzen, wie in der

frühen Schreibweise?“

Der Vorschlag wurde allgemein gutgeheißen, und so blieb es

bei „Olde Vic“. Raoul, der die schönste Handschrift hatte,

entwarf ein wetterfestes Aushängeschild mit altenglischen

Page 119: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

119

Lettern, während Thierry auf dem Trödelmarkt eines aus

Metall fand, das nach britischem Brauch direkt mit einer Kette

neben die Tür gehängt werden konnte und drei zechende Ritter

darstellte. Miles fand es kitschig, wurde aber überstimmt und

musste dulden, dass Raoul es unter dem Schriftzug befestigte,

der jedem ausnehmend gut gefiel.

In der Zeit, die ihnen bis zur geplanten Neueröffnung blieb,

testeten sie Gerichte und Spirituosen bis zum wortwörtlichen

Erbrechen. Neben Jacques musste auch Thierry an den Herd;

unter Miles’ drakonischer Aufsicht backten, kochten und

probierten sie die Spezialitäten der Speisekarte, die - mit

floralen Ornamenten umrahmt, welche das Jugendstilelement

der Einrichtung wieder einfingen - , ebenfalls aus Raouls

künstlerischer Feder stammte. Rupert, dessen Gaumen an

Porridge und Yorkshire Pudding gewöhnt war, wurde als

Testesser engagiert und unterzog die Gerichte einer

pedantischen Kontrolle. Oft war ihm abends übel vom

Durcheinanderessen, und Miles versorgte ihn mit einem

Magenbitter aus der Hausapotheke der Levants.

~*~

Fast jeden Tag notierte Rupert eine Seite in sein Tagebuch.

Anhand der Aufzeichnungen stellte er fest, wie

abwechslungsreich und bunt sein Leben geworden war, seit

Miles es dominierte. Er wusste nicht, ob er sich nach der alten

Lebensweise zurücksehnte oder die Erfahrung ein Gewinn

war. Minutenlang brütete er über dieser Frage, mit dem

Federhalter an seine Schneidezähne tippend. Es war nicht so,

dass er das Gauklerdasein vermissen würde, wenn er in sein

geordnetes Leben zurückkehrte, resümierte er schließlich. Die

augenscheinliche Flucht seines Freundes stürzte ihn allerdings

in Konflikte. Er wollte Miles nicht verlassen, um keinen Preis.

Das käme ihm wie Hochverrat vor. Innerlich beschloss er,

abzuwarten. Vielleicht hätte Miles eines Tages soweit

Vertrauen gefasst, dass er ihn einweihen würde in den Grund,

weshalb er mit ihm im Schlepptau der Heimat so abrupt den

Rücken gekehrt hatte.

Page 120: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

120

Seine Eltern drängten sich in sein Gehirn. Wieder einmal

hätte er beinahe vergessen, ihnen zu schreiben. Dabei war es

dringend notwendig, ihnen reinen Wein einzuschenken, bevor

sie tatsächlich in Paris nach dem verschollenen Sohn

Ausschau hielten.

Er nahm Papier und Tintenfass und begann nach reiflicher

Überlegung, einen Brief ohne Ortsangabe und Datum zu

verfassen, den er vor wenigen Tagen nicht gewagt hätte,

abzuschicken:

Liebe Mum, lieber Dad,

Bitte vergesst meinen ersten Brief; er wurde in

Unbedachtsamkeit und gekränktem Stolz geschrieben. Einzig

wahr darin ist, dass ich mich für ein paar Monate ins

Ausland abgesetzt habe, um in Ruhe über meinen weiteren

Weg nachzudenken und Abstand zu haben von Ratschlägen

von Leuten, die es gut mit mir meinen, mich jedoch daran

hindern, eigene Entscheidungen zu fällen. Ich habe vor

wenigen Wochen meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert

und muss selbst wissen, was gut für mich ist, und das ist erst

einmal die berufliche Auszeit, auch wenn sie euch nicht

schmecken sollte.

Nicht dass ich Unterstützung ablehne; ihr seid mir immer

gute Eltern gewesen, und ich hoffe, ihr werdet es weiterhin

sein. Eine intakte Familie zu haben ist etwas ungeheuer

Wertvolles, das weiß ich jetzt. Seid eurem plötzlich

abenteuerlustigen Sohn nicht gram; ich werde mich

bemühen, euch nicht zu enttäuschen und nicht

pflichtvergessen all deine Anstrengungen meinetwegen über

Bord werfen, Dad.

Es ist mir aber wichtig, euch zu versichern, dass es mir gut

geht und es mir an nichts mangelt. Ich lerne interessante

Orte und Menschen kennen und finde trotz allem Müßiggang

sinnvolle Aufgaben, die es mir möglich machen, mich über

Page 121: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

121

Wasser zu halten. Das ist eine neue und aufregende

Erkenntnis, über die ihr euch mit mir freuen dürft.

Gleich auf der Fähre nach Calais bin ich einem

außergewöhnlich herzensguten und zuverlässigen Menschen

begegnet, der sich mir und meiner Hilflosigkeit annahm.

Sein Name ist Milos Kaminski.

Inzwischen sind wir gute, wenn nicht gar beste Freunde,

mir liegt sehr an ihm. Du wolltest doch immer, dass ich

engere gesellschaftliche Kontakte pflege, Mum. Ich lerne

viel von ihm und fühle mich tief in seiner Schuld. Es gäbe

etwas, das ich vielleicht für ihn tun kann, doch dazu

bräuchte ich eure Hilfe.

Kaminski ist zwar britischer Staatsbürger, stammt aber

aus dem slawischen Raum und wurde vor circa fünfzehn

Jahren mit den Eltern und zwei Schwestern nach Auschwitz

deportiert. Ihm gelang die Flucht, und er fand in England

ein neues Zuhause. Er weiß nicht, ob seine

Familienangehörigen das Lager überlebt haben, und falls

doch, sind sie sicher in alle Winde verstreut. Vielleicht leben

seine Schwestern und die Mutter ebenfalls in Großbritannien

oder den Vereinigten Staaten.

Du, Vater, hast doch gute Kontakte zum

Außenministerium und zur Botschaft. Ich hoffe, es ist nicht

zuviel verlangt, dich dort zu erkundigen, ob man Näheres

über den Verbleib der Familie herausfinden kann. Die

Namen der Frauen lauten Maria (Mutter), Lene und

Katjuscha. Wahrscheinlich ist der Familienname entweder

durch Heirat oder Assimilierung nicht mehr derselbe, aber

ich zähle auf dich. Würdest du meinen Freund persönlich

kennen, würdest du keine Sekunde zögern, ihm zu helfen.

Es würde mir viel bedeuten, denn eine Freundschaft wie

unsere gibt es gewiss nicht wie Sand am Meer.

In tiefer Dankbarkeit und Liebe,

Rupert

Page 122: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

122

P.S. Eine Benachrichtigung auf dem Postweg im Falle

eines Ergebnisses erübrigt sich, da wir keine feste Adresse

haben und Kaminski und ich ohnehin wieder nach London

kommen werden.

Der Brief klang pathetisch, je öfter er ihn durchlas. Aber

einen besseren, formelleren zu schreiben, brächte er nicht

fertig. Außerdem waren die Empfänger seine Eltern, sie

sollten ruhig wissen, was ihn bewegte und dass er sich

verändert hatte. Und er tat es für Miles, dem er nicht nur etwas

schuldete. Er wollte es wenigstens versuchen für ihn.

Falls sein Vater erfolglos blieb, schadete es auch

niemandem. Denn dass er Miles nichts davon erzählen würde,

verstand sich von selbst. Wahrscheinlich würde er den Brief in

tausend Fetzen zerreißen und ihn als sentimentales Geschwätz

abtun. Die zweite Alternative war, dass er enttäuscht wäre,

wenn sich als sicher herausstellte, dass seine Familie spurlos

verschwunden war, und diese Vorstellung war Rupert fast

noch unerträglicher.

Rasch leckte er den Haftstreifen des Kuverts ab und machte

sich unverzüglich auf den Weg zum nächsten Briefkasten, ehe

er wankelmütig wurde und es sich anders überlegte.

Er hoffte nur, dass der elende Poststempel diesmal vom

Regen verwischt sein würde, falls seine Mutter von ihren

Plänen trotz seiner Nachricht nicht abzuhalten war.

Page 123: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

123

Kapitel 11

urz vor der Eröffnung des Olde Vic erschien ihr

Buch, das den bombastischen Titel „Paris für

Idealisten“ trug. Miles und Rupert wären mit einem weniger

prahlerischen zufrieden gewesen, doch Monsieur Carton, der

Verleger, war ganz stolz auf seinen Geistesblitz, und so hatten

sie ihm die Freude gelassen.

Raoul brachte ihnen einige Exemplare zum Signieren für

sich selbst, Freunde und die Kundschaft. Es war ein sehr

ansprechendes, aufwendiges Buch in dunkelgrünem Leder mit

der Ansicht des Eiffelturms von unten auf dem Cover, eines

ihrer gefälligeren Motive. Respektvoll schaudernd strich

Rupert über den Einband und die geprägten Buchstaben des

Titels. Obwohl nur ein Pseudonym darüberstand, war es ein

sehr eigenartiger Gedanke, etwas geschaffen zu haben, das

von wildfremden Menschen gekauft und im besten Falle

bewundert wurde.

„Warum habt ihr euch nicht wenigstens für ein Autorenfoto

auf der letzten Seite zur Verfügung gestellt?“ fragte Thierry

mit unverhohlener Enttäuschung, nachdem er unter

schwärmerischen Ausrufen das Buch durchgeblättert hatte.

„Ihr seid doch ein gutaussehendes Pärchen.“

„Sieh mal genau hin. Auf manchen Fotos kannst du Rupert

entdecken“, sagte Miles.

„Das war aber nicht so vereinbart“, beschwerte sich der,

konnte Miles, der den endgültigen Druck der Bilder bestimmt

hatte, aber nicht böse sein.

Auch Thierry nahm eine Handvoll Bücher ab, um sie im

Bistro auszulegen und interessierten Gästen zum Kauf

anzubieten, und selbst Jacques zeigte sich widerwillig

beeindruckt von der Auswahl der Fotos.

~*~

K

Page 124: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

124

Gisèle fuhrwerkte die ganze Woche im Bistro herum, um

ihm mit weiblicher Intuition den letzten Schliff zu geben,

wobei Thierry fürchtete, sie nutze die Gelegenheit und

verstaue den Nippes, der sich daheim in ihrer Besenkammer

auf mysteriöse Art vervielfältigte, jetzt im Pub.

Allmählich entspannte sich Miles und erholte sich von den

Mühen des Umbaus; er war am zuversichtlichsten von ihnen

allen, dass das neue Konzept ein Erfolg werden würde.

Da das Olde Vic jetzt wieder in Thierrys Hand war, nahmen

er und Rupert das dolce far niente wieder auf. Manchmal

vertraute ihnen Gisèle trotz Ruperts Ausrutscher im

heimischen Garten für ein paar Stunden die Kinder an, mit

denen sie in der Stadt spazieren gingen oder einen Ausflug

zum nahegelegenen Schloss Versailles machten.

Zwischen Miles und der kleinen Nini entwickelte sich eine

besondere Beziehung. Sie sprach noch nicht, doch Miles fand

auf geheimnisvolle Weise einen Weg, mit ihr zu

kommunizieren. Überdies gelang es ihm jedes Mal, ihr

Greinen oder Schreien zu bremsen, indem er sie aus dem

Kinderwagen nahm und sie sich bäuchlings über die Schulter

legte. Meist schlief sie dann sofort ein. Wenn Rupert es

versuchte, steigerte sich das Greinen zu einem so

ohrenbetäubenden Gebrüll, dass er sie mit schmerzverzerrtem

Gesicht und ausgestreckten Armen Miles übergab.

Dann und wann ernteten sie verstohlene Blicke oder auch

offene Skepsis von Passanten, Miles oft mit der im Schlaf

wohlig sabbernden Nini und einem Handtuch zum Schutz

seines Hemdes über der Schulter und einhändig den sperrigen

Wagen lenkend.

Rupert schwelgte in der kontroversen Aufmerksamkeit mit

einem fast anarchistischen Vergnügen, das Miles zu seiner

Freude bei besonders kritisch schauenden Leuten ebenfalls

verspürte und es nicht lassen konnte, ihnen in akzentfreiem

Französisch und mit todernster Miene zu deklamieren, es sei

eine ganz erstaunliche Sache, beinahe ein Wunder, was die

moderne Forschung in der Medizin alles möglich mache.

Page 125: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

125

Die Gesichter der Zuschauer wurden länger und länger,

manche drückten Abscheu, andere Unglauben, selten

Belustigung aus. Miles war es einerlei, er schaukelte Nini auf

der Schulter und schenkte Rupert ein konspiratives Lächeln.

Die Kinder liebten ihre englischen Onkel. Und wenngleich

Miles der heiße Favorit war, knüpfte vor allem der eher

schüchterne François zarte Bande zu Rupert. Die Barriere der

Sprache, der Rupert nicht mächtig war, stellte für François

kein Hindernis dar, und so zeigte er seine Zuneigung, indem er

bei jeder Begegnung sofort nach Ruperts Hand griff und ein

verschmitztes Grinsen zu ihm nach oben schickte.

Da er wenig Erfahrung mit Kindern hatte und sie für

verwöhnte, zerbrechliche Bälger hielt, war Rupert nicht allzu

erpicht auf feuchte Patschehändchen und klebrige

Zuckermünder. Doch François übte sich in erwachsener

Zurückhaltung und freute sich über Ruperts Führung in der

Stadt genauso wie über wilde Spiele mit Onkel Victor im

Bistro.

~*~

Je näher die Eröffnung rückte, desto kribbeliger wurden die

Beteiligten. Julien hatte sich freigenommen, um eventuell in

einen Kellnerfrack zu schlüpfen. Durch seine mannigfaltigen

Aufgaben im Hotel war Servieren kein Novum für ihn.

Genaugenommen war er der einzige neben Miles, der dem

großen Tag gelassen entgegensah.

Weil Thierrys Nerven nach ihrer Versicherung weniger

flatterten, sagten auch Miles und Rupert für den ganzen Tag

Unterstützung zu. Miles sollte Cognac für die Erwachsenen

auf Kosten des Hauses ausschenken, während Rupert dafür zu

sorgen hatte, dass die kleinen Bonbongläser in der Mitte jedes

Tisches gefüllt waren.

Jacques haderte wie gewohnt mit den seiner Meinung nach

faden Speisen und der Einsicht, dass alles von ihm abhinge. Es

war das erste Mal, dass Rupert ihn verzweifelt und an

Lampenfieber leidend erlebte. Was ihn selbst anging, so

Page 126: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

126

konnte er den zweiten Faktor sehr gut nachempfinden: für den

Abend hatte Thierry ihn gebeten, das Piano zu spielen.

Endlich war es soweit. Punkt zwölf Uhr mittags zerschnitt

Thierry das Band vor der Tür im Beisein seiner Truppe und

erstaunlich vielen neugierigen Menschen. Reklame sei zu

teuer, hatte Thierry gemeint und sich eine Ankündigung in der

Zeitung erspart. Nichtsdestotrotz stürmten gleich bei der

Eröffnung einige Jugendliche und auch ältere Herrschaften in

das Olde Vic und bestaunten die ungewöhnliche Einrichtung,

bevor sie sich einen Platz suchten.

Vor dem Tresen hatte Thierry Barhocker aufgestellt; auf

einem davon saß Rupert mit mahlenden Kiefermuskeln,

während Miles neben ihm Position bezogen hatte, beruhigend

die Hand auf dessen Arm ruhen ließ und auf potentielle

Cognactrinker wartete.

Bald legte sich die Aufregung von Thierrys Angestellten;

alles lief wie am Schnürchen. Mit fortwährender Dauer

wurden sie lockerer. Miles plauderte sogar mit einigen Gästen

und wurde zum Star des Abends. Mehrere Touristen, die in

ihm den englischen Gentleman enttarnten, bestanden auf ein

Erinnerungsfoto vor der malerischen Kulisse eines

Pappaufstellers von Rhett Butler und Scarlett O’Hara im

Sonnenuntergang.

Zu jeder Stunde waren fast sämtliche Tische besetzt. Bei

Einbruch der Dämmerung wurde es eng im Bistro, so dass

Miles als Aushilfskellner mit Julien und Thierry eingespannt

wurde. Er bewegte sich elegant zwischen Stühlen, Tischen und

herumwandernden Gästen und verlor bei aller Hektik nie sein

gewinnendes, gleichmütiges Wesen; Rupert war sehr stolz auf

ihn.

Später schaltete Thierry das Radio aus und mimte

übertrieben gestikulierend den Conferencier für Ruperts

musikalische Vorführung. Schweißgebadet wischte sich

Rupert die Hände an den Hosenbeinen ab. Er hatte gehofft und

gebetet, Thierry möge es im Eifer des Gefechts vergessen

haben. Miles kehrte an seine Seite zurück und tätschelte

Page 127: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

127

aufmunternd und flüchtig seine Wange. „Es wird gut“,

flüsterte er ihm zu. „Du kannst es, das weiß ich.“

Thierry hatte ihm eine Partitur bekannter Filmmusiken

zusammengestellt, die Rupert in den letzten Tagen gepaukt

hatte, bis ihm die Noten zu den Ohren herauskamen.

Zuerst klimperte er ein wenig linkisch herum, um sich und

seine vor Aufregung steifen Finger warmzumachen. Die

schlagartige, erwartungsvolle Stille im Raum irritierte ihn.

Hilfesuchend flog sein Blick zum Tresen, wo Miles ihm

zuzwinkerte.

Dermaßen ermutigt schlug er die ersten Takte von As time

goes by an, woraufhin das filmerprobte Publikum im

Wiedererkennungseffekt klatschte und pfiff. Er verdrängte die

Beklemmungen und stellte sich vor, nur für Miles zu spielen,

so wie er es gewohnt war.

Wie von selbst tanzten seine Hände über die Klaviatur,

untadelig und leicht wie Federn. Es folgte ein Querschnitt aus

Cole Porter-Musicals und –Songs, die Rupert mit einer

unaufdringlichen, sich in die Swingmelodien einfügenden

Singstimme komplettierte. Anfangs kostete es ihn enorme

Überwindung, doch er merkte, dass er die Leute begeisterte

und wurde mit jeder Nummer sicherer. Zudem liebte er diese

Art von Musik.

Die Gäste waren außer sich. Manche standen auf, um auf

dem Klavier ein paar Sous als Dankeschön zu hinterlassen.

Eine exaltiert wirkende Frau zog eine Rose aus dem Väschen

ihres Tisches und warf sie in Ruperts Richtung. Reichlich

wackelig in den Knien vor verebbender Anspannung stand er

auf und schüttelte verdutzt bekannte und unbekannte Hände,

die sich ihm entgegenreckten oder freundschaftlich-derb auf

seinen Rücken klopften.

Miles erwartete ihn am Tresen, ein leicht spöttisches

Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, das seine Anerkennung

nicht verbarg. Er schob dem verausgabten Freund, den die

Euphorie um seine Fähigkeiten peinlich berührte, sein Glas zu.

Am liebsten hätte er sich zu Jacques in die Küche verkrochen,

Page 128: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

128

um dem Trubel zu entkommen, und das mochte in der Tat

etwas heißen.

„Exzellent“, sagte Miles, ein Leuchten stand in seinen

Augen, als er ihn ansah. Jemand winkte ihm, er schnappte sich

den Papierblock und quittierte die Rechnung des Gastes. Zeit

für Rupert blieb ihm keine mehr.

Jetzt erst begann für Rupert der entspannende Teil. Er

seufzte und ließ sich von Julien Tee und ein Scone mit

Schlagrahm und Erdbeermarmelade bringen, das ein

schmerzhaftes Ziehen in seinem verkrampften Unterkiefer

auslöste. „Der Renner“, raunte Julien ihm zu. „Hoffentlich

geht uns der Teig nicht aus! Die Leute sind verrückt danach.

So wie auf dich und deine Vorstellung! Das war wirklich ganz

große Klasse, Rupert!“

„Danke“, entgegnete er ehrlich erfreut. Der Erwartungsdruck

war groß gewesen, aber Juliens Kompliment bedeutete ihm

viel. Alles war so unwirklich, dass er sich wie betrunken

fühlte, obwohl er keinen Tropfen angerührt hatte.

Als sie den letzten Gast verabschiedet hatten, lehnte er

ermattet an Miles’ breiter Brust und schluchzte vor

Erschöpfung und Glück. Es war ihm nicht einmal

unangenehm, dass sich die Überreizung auf diese Weise entlud

oder was die anderen über ihn dachten. Mochten sie ihn doch

für ein Sensibelchen halten, es war ihm alles gleichgültig in

seinem Zustand.

Er hatte etwas getan, was ihn fürchterlich geängstigt und

von dem er früher nie geglaubt hatte, dazu fähig zu sein,

geschweige denn die Kraft zu haben, es durchzustehen. Seine

kühnsten Träume handelten nicht davon, aber in der Realität

war es ihm wie durch ein Wunder gelungen. Das Springen

über seinen Schatten war belohnt worden. Niemand konnte

ihm das je nehmen.

Miles hielt ihn fest und zog über Ruperts Kopf hinweg mit

Thierry Tagesbilanz, der im Siegestaumel weder Rupert noch

irgendetwas um sich herum wahrnahm außer seinen

Gesprächspartner.

Page 129: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

129

„Ist mit Rupert alles okay?“ fragte Julien schüchtern. Er war

dabei, mit Raoul die restlichen Gläser abzuräumen und

flanierte gerade vorbei. „Warum weint er? Er war der Joker

heute Abend, das war doch toll … wir sind alle unheimlich

stolz auf dich. Rupert? Tut dir was weh?“

Sachte stieß er ihn an, doch Rupert wischte nur schniefend

über sein tränennasses Gesicht. Miles beschwichtigte den

Jungen.

„Er ist in Ordnung, Julien, keine Angst. Es war nur ein

bisschen viel.“

„Das verstehe ich“, stimmte Julien zu. „Würde mich auch

umhauen, wenn ich ein so begnadeter Pianist wäre. Die

Zuhörer konnten gar nicht genug kriegen. Du solltest

professionell auftreten.“

Da Rupert nicht antwortete, fuhr er ihm scheu mit der Hand

über den zitternden Rücken und machte sich wieder an die

Arbeit. Sein Onkel bedachte ihn mit einem warnenden Blick,

den Julien arglos und ein wenig schnippisch mit einem

Schulterzucken vergalt.

„Quoi?“ zischte er, als er Raoul passierte. „Hab ich was

Verbotenes getan?“

„Pass auf, mit wem du sprichst“, versetzte Raoul scharf und

verpasste seinem Neffen einen Klaps auf den Hinterkopf.

Seine Stimme klang drohend, und Rupert, der das Gespräch

verfolgt und einiges verstanden hatte, vor allem aber durch

den rüden Ton aufmerksam geworden war, fragte sich, was

den sonst so sanftmütigen Raoul in Harnisch gebracht hatte.

„Ich habe alle eure Bücher verkauft“, teilte Thierry Miles

eben emphatisch mit. „Und Vorbestellungen aufgenommen!

Der Tag war wunderbar, ich kann euch gar nicht genug

danken! - Rupert, wie wär’s, wir singen gemeinsam in der

Oper? Das war natürlich ein Scherz, aber vielleicht können wir

deinen Auftritt irgendwann wiederholen, du hast viele Fans

gewonnen heute!“

Freudestrahlend wuschelte er Ruperts Haar. Dass der nicht

reagierte, beschäftigte ihn nicht weiter.

Page 130: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

130

„Thierry …“ Jacques rauschte aus der Küche und stutzte, als

er Miles und Rupert in so inniger Umarmung erblickte.

Echauffiert und etwas Abfälliges murmelnd entledigte er sich

seiner verschmutzten Schürze. „Du hast versprochen, mir in

der Küche zur Hand zu gehen! Eine Sauerei ist das … wie soll

ein Mensch das alleine bewältigen?“

„Ach, Jacques“, hauchte Thierry wie im Traum. „Wir sind

wieder im Geschäft! Zum ersten Mal, seit ich den Laden

übernommen habe. Was ist ein bisschen Dreck dagegen? Geh

du nur nach Hause, ich kümmere mich darum.“

Im Hotel übermannte Rupert plötzlich der Drang, zu lachen.

Er lachte gegen seinen Willen, konnte aber nicht aufhören.

„Ich war gut“, meinte er und ließ sich in den Sessel fallen,

während er albern gluckste. Sein Zwerchfell schmerzte.

Trotzdem lachte er weiter wie unter einer zwanghaften Folter,

obwohl er lieber geheult hätte. Miles, der erkannte, dass

Ruperts Freude nicht echt war, lachte nicht.

„Du warst mehr als das. Du warst einmalig. Ich wusste gar

nicht, was für eine schöne Singstimme du hast.“

„Miles …“ Sein Ton klang flehend, er bekämpfte vergeblich

einen Schluckauf. „Lass mich das nie wieder tun.“

Miles hockte vor den Sessel und stützte die Hände links und

rechts auf die Lehnen.

„Ich habe dich nicht gezwungen“, erinnerte er ihn sanft.

„Ich hätte mich schrecklich blamieren können!“

„Das hast du aber nicht. Bist du kein bisschen stolz darauf,

dass du es geschafft hast und damit Thierry und den Gästen

einen unvergessenen Abend geboten hast?“

„Ich möchte mit dir nach Hause zurück“, bockte Rupert.

„Das hier ist kein Leben für mich. Ich brauche einen

langweiligen, geordneten Tagesablauf. Ich hab’s versucht,

aber es geht nicht. Ich bin nicht wie du.“ Er schlug die Hände

vors Gesicht. Bedächtig nahm Miles sie weg und zwang ihn,

ihm in die Augen zu schauen.

„Ich bin nicht freiwillig fortgegangen. Glaub’ mir, ich würde

gerne mit dir gehen, aber es ist unmöglich. Wenn du zurück

Page 131: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

131

willst, halte ich dich nicht auf. Eine Weile wäre es schlimm für

mich, aber ich habe es versprochen.“

Von Miles’ Blick erweicht schüttelte Rupert den Kopf; nun

fluteten erneut Tränen seine Unterlider. „Ich verlass dich

nicht, selbst wenn du es mir befehlen würdest. Wir sind doch

Freunde.“

Miles überreichte ihm ein Taschentuch. Die schienen ihm

nie auszugehen. „Rühr’ dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich

wieder da.“

Er brachte Rupert ein Schlafmittel, das er in der Apotheke

gegenüber besorgt hatte.

„Nur heute“, sagte er, als Rupert misstrauisch die

Packungsbeilage durchlas und sie resignierend beiseite legte,

da die Buchstaben anfingen zu flimmern. „Damit du ein wenig

Ruhe findest.“

~*~

Die nächsten Tage glichen dem ersten im Pub, dessen

Eigenwilligkeit schon binnen kurzem durch Mundpropaganda

im ganzen Viertel bekannt wurde.

Besonders Touristen kehrten gerne ins Olde Vic ein.

Hauptsächlich waren es Briten, aber auch Deutsche und

Belgier schätzten die Mischung aus viktorianischem Zeitalter

und Hollywood. Etwas so Exotisches hatten sie noch nie

gesehen. Viele knipsten so wild um sich, dass Thierry im

Scherz in Erwägung zog, eine Steuer fürs Fotografieren zu

erheben.

Thierry hatte beschlossen, an diesem Wochenende früher

Schluss zu machen, eine Pause hatten sie verdient nach der

anstrengenden Zeit.

„Sobald ich mir Angestellte leisten kann – und das wird in

Kürze sein - läuft der Laden ohne mich“, frohlockte er. „Nicht

dass es mir keinen Spaß macht, aber zuverlässige Mitarbeiter

braucht jeder Chef. Ihr wolltet ja leider nicht.“

Zu jedermanns Überraschung zog ausgerechnet Jacques die

Spendierhosen an. Da der Abend gerade erst begann, lud er die

gesamte Mannschaft ins Moulin Rouge ein.

Page 132: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

132

„Nun seid ihr schon Monate hier und habt noch keinen

Cancan gesehen“, begründete er seine Freigiebigkeit. „Eine

Schande ist das doch! Und Julien kommt mit, weil er immer

noch grün ist hinter den Löffeln. Er glaubt immer noch, dass

Frauen nur weibliche Männer sind. Genauso gut kann er an

den Weihnachtsmann glauben.“

Damit zog er barsch an Juliens Ohr, der ihm das nicht

einmal übelnahm und kichernd davon hüpfte. Raoul war nicht

dabei, so genoss er Narrenfreiheit.

Warum das Etablissement seit Jahrzehnten so berühmt war

und beweihräuchert wurde, war Rupert ein Rätsel. Es war

stickig in dem grellrot beleuchteten, plüschigen Saal,

schwitzende Körper schmissen sich brutal an die Bühne, um

halbnackte Mädchen Beine und Hüften schwingen zu sehen

und ihnen obszöne Rufe zuzuwerfen, je derber, je besser. Die

Tänzerinnen mussten entweder ein dickes Fell haben oder

blind und taub sein.

Als er einen Blick auf Miles erhaschte, hob der

verständnislos die Achseln und machte Rupert Handzeichen,

dass er nach draußen oder zumindest in den hinteren Teil des

Saales gehen würde, wo die Luft erträglicher sei. Dort befand

sich außerdem ein Restaurant, doch Rupert verlor Miles aus

den Augen in dem Gewimmel aus Gliedmaßen und wurde

zurückgezerrt.

Thierry, den Miles im Vorfeld von Ruperts Platzangst

unterrichtet hatte, entpuppte sich als Retter in der Not, sowie

er Rupert verdächtig japsen hörte. Er packte ihn am Kragen

und schleifte ihn mit sich auf eine Art Loge.

„Hier kannst du viel besser sehen“, erklärte er. „Bloß halt

nicht unter die Röcke, das ist das einzig Negative.“

Rupert beobachtete das Publikum. Überwiegend waren

darunter adrett gekleidete Herren, auch Damen und vereinzelt

sogar Ehepaare. Tatsächlich war Gisèle auch eingeladen

gewesen, doch wie Raoul hatte sie dankend abgelehnt. Ganz

so schlüpfrig wie sein Ruf war das Moulin Rouge anscheinend

Page 133: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

133

nicht, oder aber sie hatten das Programm vor Mitternacht aus

Rücksicht auf die jugendlichen Besucher entschärft.

In den hinteren Rängen wussten sich die Älteren zu

benehmen und betrachteten die Darbietung der Chorgirls aus

distanziertem Blickwinkel als Hintergrundunterhaltung.

Am Rand erspähte Rupert Miles; er saß auf einem mit

Plüsch überzogenem Sitzpodest. Vor ihm tänzelte Jacques von

einem Fuß auf den anderen. Vorne an der Bühne prüfte Julien

lachend und johlend wie ein Teenager die Unterröcke der

Mädchen.

„Der kleine Julien“, kommentierte Thierry etwas gönnerhaft.

Er war Ruperts Blick gefolgt. „Komischerweise hatte er noch

nie ein Mädchen, das ist eigentlich nicht zu begreifen.

Wahrscheinlich verbringt er zuviel Zeit mit mir oder seinen

Filmen. Jetzt wähnt er sich sicher am Ziel seiner heimlichen

Phantasien.“

Rupert lockerte seinen Schlips. Allmählich blockierten die

Atmosphäre und der Anblick der vielen Menschen seinen

Atem; der erste Vorbote einer Panikattacke. „Mir ist schlecht.

Ich muss an die frische Luft.“

„Ich begleite dich“, erbot sich Thierry. „Versäumen tut man

nichts. Die Show ist jedes Mal die gleiche.“

Draußen fühlte sich Rupert wie ein anderer Mensch. Thierry

zündete sich eine Zigarette an und lächelte ihm hinter dem

aufsteigenden Qualm und halbgeschlossenen Lidern zu.

„Man könnte direkt meinen, du hast etwas mit Julien

gemein. Du bist noch ziemlich unerfahren, oder?“

Die anzügliche Frage ignorierend wandte sich Rupert mit

vor Kälte hochgezogenen Schultern von Thierry ab. Er hatte

bemerkt, dass Miles sich ebenfalls unwohl fühlte. Vielleicht

hatte er sich Jacques entziehen können und wartete nun hier

irgendwo auf ihn. Thierry ließ sich nicht beirren. „Magst du

Gisèle? Du darfst ehrlich sein, ich verarge es dir nicht. Sie ist

hübsch und außerdem sehr klug. Aber du solltest dir keine

falschen Hoffnungen machen. Ich kenne sie praktisch mein

Page 134: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

134

ganzes Leben lang. Sie wird mich nie wegen einem anderen

verlassen.“

Rupert hüstelte in seine Faust. „Ich weiß nicht, worauf du

hinaus willst“, murmelte er schließlich. Gleichmütig

zerdrückte Thierry die ausgerauchte Kippe mit dem Absatz

seiner schwarzen Lederschuhe.

„Ach ja, richtig. Du hast ja deinen Bruder.“

„Was soll das, Thierry? Willst du mich niedermachen, weil

deine Frau daran schuld ist?“ Nachdrücklich tippte er an die

Narbe auf seiner Stirn. „Gisèle ist nicht nur hübsch und klug,

sondern auch sehr rabiat. Eine harmonische Beziehung stelle

ich mir anders vor.“

„Sie hatte allen Grund, das zu tun“, entgegnete Thierry eisig.

„Sie hat mir erzählt, wie es wirklich war. – Keine Angst, ich

verrate es niemandem. Aber ich hätte Jacques damals ernster

nehmen sollen.“

„Du hast nichts zu befürchten. Ich finde Gisèle sehr

sympathisch. Aber was ich mir da geleistet habe, war ein

Fehler. Tut mir leid. Das ist gar nicht meine Art.“

Er streckte Thierry die Hand hin. Nach kurzem Zaudern

ergriff Thierry sie. „D’accord. Es tut mir auch leid, was ich

über dich und Victor gesagt habe. Ich bin sehr froh, euch beide

kennengelernt zu haben.“

Page 135: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

135

Kapitel 12

ünftig hielten sich Miles und Rupert an Thierrys Pub,

falls sie abends Lust verspürten, auszugehen.

Touristenfallen waren nichts für sie, das hatten sie einhellig

festgestellt. Viel gemütlicher und atmosphärischer war das

Olde Vic, in dem sie überdies als „Familienmitglieder“ stets

gerngesehene Gäste waren.

Thierry und auch Jacques hatten im Zuge des

überwältigenden Erfolgs des neuen Konzepts ihre Vorbehalte

aufgegeben und betrieben das Lokal mit Begeisterung, die

man selbst dem zugeknöpften Schwager ansah, wenn er sich

außerhalb seines Reiches, der Küche, blicken ließ und den

beiden Freunden einen Sherry ausgab.

Einmal, als Thierry sich zu ihnen an den Tisch setzte,

erklärte er mit Verschwörermiene, Miles hätte ein Wunder an

Jacques vollbracht. Noch nie hätte er so ausgeglichen und

freundlich gewirkt. Kam einmal ein schlechterer Tag, so

vertröstete er sich und seinen Teilhaber optimistisch auf den

nächsten.

~*~

Die Investition hatte sich bereits nach zwei Wochen bezahlt

gemacht. Miles’ Freund aus Oxford hielt Kontakt mit Thierry,

versorgte ihn zuverlässig mit Nahrungsmitteln, die es nur auf

der Insel gab, und freute sich darauf, seinen Partner

irgendwann persönlich kennenzulernen. Rupert fragte sich, ob

er den Grund für Miles’ Flucht auf den Kontinent kannte.

Immerhin schrieb er auch weiterhin an Miles, freilich unter

Verwendung des Pseudonyms. Aber er schien genau im Bilde

zu sein. Irgendwie ärgerte sich Rupert darüber und über Miles’

Schweigsamkeit, die er allerdings auch nicht wagte, mit

impertinenten Fragen zu durchdringen. Bestimmt kannte er –

Rupert – Miles mittlerweile viel besser als dieser schnöselige

K

Page 136: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

136

ehemalige Kommilitone. Und dennoch wusste der mehr über

Miles als er.

An einem Abend kurz nach ihrem Besuch im Moulin Rouge

war das Olde Vic brechend voll; sie mussten sich gedulden, bis

ein Tisch für zwei frei wurde. Jacques gesellte sich zu ihnen,

wie er es häufig zu tun pflegte, da Thierry ihn gelegentlich in

der Küche ablöste. Das „blöde Engländergesicht“ schien

längst vergessen, denn er behandelte Rupert mit jovialer, aber

gekünstelter Kumpelhaftigkeit, fast ein wenig herablassend.

Was Miles betraf, standen die Dinge anders; es lag immer

Respekt für ihn in seinen dunkelblauen Augen, wenn er mit

ihm sprach. Meistens in Französisch; sein Englisch war

gebrochen und noch schwerer zu verstehen als Thierrys. Er

holte einen weiteren Stuhl, setzte sich darauf und rieb sich den

Nacken unter der schwarzen Mähne.

„Ich möchte euch sehr herzlich danken für euer Engagement.

Ihr habt ja gesehen, ich bin nicht einfach und vielleicht ein

bisschen grobschlächtig, aber ich meine es nie so. Merci

beaucoup. An euch beide.“

Damit erhob er sich schnell und schlängelte sich durch die

Tische davon, wobei er um ein Haar mit einem Gast

zusammenstieß.

Perplex schauten ihm die Freunde nach.

„Er hat was vor“, vermutete Rupert. „Vielleicht will er

Niederlassungen aufmachen und muss dazu eine Geldquelle

anzapfen. Deine ist ja nicht von schlechten Eltern.“

Miles wandte den Blick nicht von der Küchentür, hinter der

Jacques verschwunden war, bevor er kopfschüttelnd die

Serviette auf den Schoß legte, um gemütvoll sein Irish Stew zu

verzehren.

Kurz vor Feierabend um zehn Uhr rang Jacques verzweifelt

die Hände angesichts des Berges an Geschirr, der sich

angehäuft hatte. Thierry und er hatten keine Zeit gehabt,

zwischenzeitlich zu spülen, wie sie es sonst taten, wenn das

Pub nicht überfüllt war.

Page 137: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

137

„Oh, Jacques, könntest du das übernehmen?“ bat Thierry.

„Ich möchte mir heute mir Gisèle einen schönen Abend im

Kino machen. Kann sie nicht enttäuschen, da wartet sie schon

lange drauf.“

Ohne die Antwort abzuwarten, schlüpfte er in seine Jacke,

legte die Finger an die Lippen und trat auf Zehenspitzen

hinaus.

„Daher also der Ausdruck ‚auf Französisch verabschieden’“,

bemerkte Rupert geistreich. Sie waren die letzten Gäste, da

Miles sich gewünscht hatte, Rupert wieder einmal auf dem

Piano spielen zu hören. Ein Wunsch, den Rupert ihm nur zu

gerne bewilligte. Seit der Eröffnung vermisste er diese

Momente.

Miles erhob sich. „Fair ist das nicht“, sagte er. „Ich helfe

ihm. Du kannst ja hierbleiben und dich ein wenig warm

spielen.“

Über diesen Vorschlag dachte Rupert kurz nach, er passte

nicht zu Miles. Er hätte nicht sagen können inwiefern, doch

etwas daran kam ihm eigenartig vor. Dennoch nickte er und

wechselte über ans Klavier. Es war ja sehr nobel von Miles,

dass er ihm die Spülhände ersparen wollte. Womöglich nahm

er an, mit verschrumpelten Fingern spielte er nicht mehr so

gut.

Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. Er beugte sich über die

Tasten und spielte ein paar nichtssagende Akkorde. Jäh

unterbrach er sein Spiel und horchte er auf, als aus der offenen

Tür zwischen Sprachfetzen auch undefinierbare Geräusche

und ein Scheppern wie von Töpfen in die Gaststube wehten.

Leise näherte er sich der Küche. Hinter der Tür versteckte er

sich und lauschte atemlos dem folgenden, auf Englisch

geführten Dialog.

„Du hast dich überhaupt nicht für die Tänzerinnen

begeistert“, sagte Jacques, er stand dicht vor Miles, den Rupert

aus seiner Perspektive halb von hinten sah. Der kleinere

Franzose verschwand fast völlig hinter ihm. Doch seine

Page 138: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

138

flinken Hände streiften abwärts über seine Hüften, hakten sich

an Miles’ Gürtel fest. Eigenartig apathisch wirkend, hinderte

Miles ihn nicht daran. „Du machst es lieber mit

deinesgleichen, eh? Ich habe es gewusst in dem Moment, als

ich dich gesehen habe.“

„Hör auf“, verlangte Miles, doch er neigte den Kopf in

einem Winkel, der es Jacques ermöglichte, mit einem

widerlichen Schmatzen spielerisch nach seiner Unterlippe zu

schnappen.

„Du willst es doch auch“, lächelte er. Jetzt begannen seine

Hände damit, die Gürtelschließe zu öffnen.

Schwer atmend stieß ihn Miles von sich. Mit einem Wehlaut

wich Jacques an die Spüle zurück, doch es war Miles’ Lippe,

die blutete; Jacques hatte einen Fetzen Haut abgerissen.

Er betupfte sie prüfend mit den Fingern und starrte darauf,

ehe er wieder Jacques ins Visier nahm. Rupert war dankbar

dafür, dass er sein Gesicht nicht sah.

„Lass mich in Ruhe“, flüsterte er. „Ich mag das nicht.“

Maliziös grinsend fuhr sich Jacques mit der Hand über den

feucht glänzenden Mund. „Hast du Bedenken wegen Rupert?

Deinem Bruder? Er ist gar nicht dein Bruder, hab ich recht?

Ihr treibt es miteinander, eh? Auch das ist mir nicht neu,

Victor. Es stört mich nicht. Ich will dich nur für diesen Abend

haben. Keine Angst, der kleine Rupert muss gar nichts

erfahren. Du hast ihn fortgeschickt für unser Rendezvous,

oder? Siehst du, ich habe es mir doch gedacht.“

„Jacques. Du verstehst das nicht.“ Inzwischen klang Miles’

Stimme völlig normal und kühl. „Ich kann nur einen

Menschen lieben, und das bist nicht du.“

„Sondern Rupert“, brauste Jacques auf. „Was seid ihr Briten

für ein prüdes, langweiliges Volk! So fad wie eure Küche!“

Rupert hatte genug gehört. Wie von Furien gehetzt rannte er

hinaus auf die Straße.

Im ersten Augenblick fehlte ihm die Orientierung, bis ihm

einfiel, dass das Hotel nicht weit war. Er musste seine Sachen

packen und abreisen, sofort!

Page 139: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

139

Mit rudernden Armen lief er davon und beinahe in ein

wütend hupendes Auto, als er die Straße überquerte. Alles

dünkte ihm wie ein böser Traum, und dennoch passte es auf

unheimliche Weise ins Bild.

Miles’ Geheimnis war offenbart. Er liebte Männer! Unzucht

stand unter Strafe. Vermutlich hatte man ihn in flagranti

ertappt, so wie er gerade, und ihn angezeigt. Vielleicht sogar

einer, der auf ihn hereingefallen und naiv war, so wie er! Er

war das ideale Opfer, gutgläubig, hilflos und dankbar für jedes

Wort.

Seine Freundschaft, sein Mitgefühl, seine Gesten und

Andeutungen, und besonders die Eifersucht auf Gisèle, von

der er an seinem Geburtstag gesprochen hatte – all das kam

ihm nun wie Heuchelei vor. Demungeachtet war zumindest

letzteres ja so etwas wie ein verkapptes Geständnis gewesen.

Er hätte es ahnen müssen, wollte jedoch nicht daran glauben.

Sein gesamter Eindruck des gütigen, gewandten und

zungenfertigen Gentlemans, den er um Miles herum aufgebaut

hatte, stürzte ein. Lieber Gott, wie arglos er das Bett mit ihm

geteilt und darüber auch noch Verbundenheit empfunden

hatte!

Und Miles – wie musste er sich gequält haben in der ganzen

Zeit! Doch, es ließ sich nicht leugnen, er liebte ihn auch, aber

auf andere Art. Und gerade darum musste er verschwinden.

Um keine Versuchung mehr zu sein. Ohne es zu

beabsichtigen, hatte er Miles wochenlang gefoltert. Er hätte

ihn haben können, mehr als einmal. Miles war der Stärkere

von ihnen, psychisch und physisch. Gelegentlich hatte er

Rupert fast da gehabt, wo er ihn haben wollte. Außerdem

verfügte er über eine nahezu magische Anziehungskraft, von

der er sich nicht scheute, ausgiebig Gebrauch zu machen. Dass

er sie zum Zweck einer gewissen Abhängigkeit von sich

einsetzte, war Rupert gar nicht bewusst gewesen. In seiner

Vorstellung war Miles frei von allem Fehl gewesen, eine

Lichtgestalt inmitten einer tristen Welt.

Page 140: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

140

In Windeseile warf er seine Habseligkeiten in den Koffer.

Geld hatte er nicht viel, doch da Miles großzügig seine

Ausgaben übernommen hatte, reichte es wohl noch für die

Heimreise. Als er fast fertig war, hörte er Schritte im Flur. Es

waren Miles’ Schritte, er kannte sie genau.

Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, er wirbelte herum

und schmiss das Gepäck auf den Boden. Ein letzter Ausweg

blieb ihm noch, er entschied sich ohne Nachzudenken dafür.

„Rupert?“

Die Tür wurde aufgestoßen. Rupert kniff die Augen zu und

sprang vom Sims hinab in die Tiefe. Ein markerschütternder

Ruf hinter ihm war das Letzte, das er wahrnahm.

~*~

Von seinen eigenen Schreien wurde er wach. Bestialische

Schmerzen peinigten ihn. Es war, als risse man ihn an

sämtlichen Extremitäten bei lebendigem Leib und ohne

Betäubung auseinander.

Zu keiner Bewegung fähig lag er im Grünstück des

Vorgartens vom Hotel, und er schrie grauenvoll, wie ein

verendendes Tier. Eigentlich hatte er mit dem Tod gerechnet

oder wenigstens einer tiefen Bewusstlosigkeit, die ihn vor

dieser unsäglichen Qual bewahrte. Was dann aber einem

Versagen gleichgekommen wäre. Doch versagt hatte er jetzt so

oder so.

Vor lauter Elend und Marter bemerkte er Miles zunächst

nicht, der ihn in den Armen hielt und verzweifelt wiegte.

Hinter ihm hockte ein bleicher Julien mit schockgeweiteten

Pupillen; das Hotelpersonal und eine Menge Schaulustiger

umringten sie. Zwar konnte er verschwommen erkennen, wie

sie ihre Münder bewegten und einige aufgeregt gestikulierten,

doch außer ihm schien jeder den Ton ausgeknipst zu haben.

Schließlich gewann für eine Minute sein Verstand die

Oberhand; er hörte zu schreien auf und atmete flach durch die

Nase. Miles war bei ihm, er konnte seine weichen Haarspitzen

in seinem Gesicht fühlen und das leise, beschwichtigende

Page 141: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

141

Wippen, mit dem er auch Thierrys Tochter ohne großen

Aufwand hypnotisierte.

Hatte man ihn zu ihm in die Hölle geschickt? Denn

woanders konnte er doch nicht sein. Nichts konnte schlimmer

sein als das, was er gerade durchmachte.

Etwas in seinem Inneren explodierte. Wieder brüllte er vor

Schmerzen.

Miles hielt inne. Mit seiner großen, starken Hand strich er

ihm das Haar zurück, das nass an seiner Stirn klebte, und

drückte die Nase an Ruperts Wange. Rupert erwiderte den

Druck, dann senkte er den Kopf und biss sich in Miles’ Revers

fest, um nicht zu schreien.

„Du brichst mir das Herz“, flüsterte Miles rauh, seine Lippen

streiften Ruperts Haar. „Was hab ich getan, dass du mir das

antust?“

„Weiter“, flehte Rupert undeutlich mit dem Stoff zwischen

den Zähnen. „Du musst mich … weiterbewegen … ich fühle

nichts … nur Schmerz. – Oh Gott, hilf mir.“

Er schluchzte auf. Was, wenn er gelähmt war, oder aber er

erst nach Tagen seinen Verletzungen erlag und die letzten

Stunden in dieser grässlichen Agonie verbringen musste? Am

liebsten hätte er wieder zu schreien begonnen, allein die

tragischen Mienen der Umstehenden und die Furcht, seine

Pein dadurch zu intensivieren, hielten ihn davon ab.

„Hilfe kommt gleich“, beteuerte Miles, das Schaukeln

wieder aufnehmend. Tatsächlich hatte nicht die leichte

Erschütterung die Schmerzen verursacht, denn er fühlte sich

ein wenig getröstet und sogar gelindert durch Miles’ Aktion,

ihn zu wiegen, die wohl eher automatisch erfolgte statt als

therapeutische Maßnahme gewertet werden konnte. „Es wird

alles gut.“

„Miles … mach’, dass es aufhört.“ Sein Kopf sank zur Seite,

während seine blutverschmierten, verklebten Finger sich in

Miles’ Jacke verkrampften. Er wünschte, er könnte

ohnmächtig werden, doch paradoxerweise hinderten ihn die

Schmerzen daran. Vom Donner gerührt riss er die Augen auf,

Page 142: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

142

als ihm plötzlich klar wurde, was seine spontane Handlung

bedeutete. Er fröstelte, seine Zähne schlugen hart aufeinander

und verursachten ein Krachen in seinem Schädel. „Ich sterbe.“

„Bleib hier!“ Miles’ Stimme klang drängend, während er die

kalte Hand des Freundes in seine nahm und fast zerquetschte

vor Angst. „Du darfst mich nicht verlassen. Das verzeih’ ich

dir nie. Bleib bei mir! Der Krankenwagen ist unterwegs, du

musst noch ein bisschen durchhalten. Verstehst du mich?

Rupert - “

Als Rupert die Augen schloss, hörte er Julien wie durch

Watte sprechen. „Das kann er nicht überleben, Victor. Nicht

einmal ein kräftigerer Mann würde das.“

„Er kann“, widersprach Miles harsch und beinahe hitzig.

„Ich weiß er kann’s.“ Mechanisch fuhr er fort, Rupert zu

wiegen, der jetzt in gnädige Bewusstlosigkeit geglitten war.

„Es ist eine Tragödie“, sagte Julien leise und knetete

anteilnehmend Miles’ Schulter. „Kannst du dir denken, was

der Grund war?“

Stumm schüttelte Miles den Kopf; jetzt tropften Tränen auf

Ruperts ausdrucksloses, blasses Gesicht. Er horchte an seiner

Brust, um den Herzschlag zu prüfen. Er war da. Schwach, aber

vernehmbar.

„Ich frage ihn später. Manchmal – ist das Leben nicht

einfach für ihn, ich weiß nicht, warum er sich’s so

schwermacht. Aber ich hätte nie gedacht - “

Das Martinshorn und die Sirenen der eintreffenden

Rettungsfahrzeuge unterbrachen ihn. Wie auf Kommando

löste sich alles aus seiner Starre, die Menschenmenge löste

sich auf, um die Sanitäter nicht zu behindern, während das

Hotelpersonal sich für Fragen der Flics, der hiesigen Polizei,

wappnete. Viel zu berichten gab es nicht, doch jeder wüsste

gerne, weshalb der junge Engländer aus dem Fenster

gesprungen war. Überspannt hatte er ja auch auf jeden länger

verweilenden Hotelgast gewirkt; möglicherweise spielte er

schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, sich das Leben

Page 143: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

143

zu nehmen. In der Tat war keiner darüber wirklich überrascht,

obwohl natürlich geschockt.

Miles verhandelte mit den Ärzten. Man wollte ihn nicht

mitfahren lassen im Krankenwagen, doch er insistierte und

verschaffte sich schließlich mit erstaunlicher Unhöflichkeit

und der Androhung eines gerichtlichen Verfahrens das Recht,

Rupert zu begleiten.

Julien bat um sofortige Nachricht, sobald man Genaueres in

Erfahrung gebracht hatte, was Miles mit einem

geistesabwesenden Nicken versprach.

Bis zum Hospital wich er nicht von Ruperts Seite, der

wieder zu sich gekommen war und zwischen Wachen und

sekundenlanger Bewusstlosigkeit hin und herpendelte und sich

in den Phasen der geistigen Anwesenheit schier die Seele aus

dem Leib schrie.

Miles bat den Sanitäter, der in der Absicht, die Atmung zu

unterstützen, stoisch den Sauerstoff richtete, um ein

Schmerzmittel für ihn. Bedauernd schlug der die Bitte aus.

„Tut mir leid, Monsieur, er muss nüchtern sein für die OP.

Ich weiß, es klingt grausam, aber niemand hat Sie gezwungen,

hier zu sein. Für die Angehörigen ist es oft schlimmer als für

die Betroffenen. Das Schreien mäßigt die Schmerzen. Falls

Sie’s nicht aushalten, hätten Sie den Ambulanzwagen nicht

betreten dürfen. Und sagen Sie hinterher vor Gericht nicht,

man hätte Sie nicht gewarnt.“

Miles ließ den Blick nicht von Rupert. Seine Hand ruhte

leicht auf dessen Brustkorb, der sich im Versuch, die Lungen

mit Sauerstoff zu füllen, zuckend aufbäumte.

Die Angst zu ersticken musste schrecklich für ihn sein. Für

ihn war es schrecklich, dass er Rupert diese Angst nicht

nehmen konnte, denn anscheinend war sie nicht unbegründet.

Doch solange der Sanitäter nicht Alarm schlug oder sich sonst

auffällig verhielt, war vermutlich alles im grünen Bereich.

„Eine OP? Was muss da gemacht werden?“

Page 144: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

144

„So wie es aussieht, sind beide Beine gebrochen, vielleicht

auch die Wirbelsäule. Das können wir erst im Krankenhaus

durch das Röntgenbild genau feststellen. Die Atemnot deutet

jedenfalls auf eine Rippenfraktur hin. Und vielleicht auch

innere Blutungen. Er hat Glück, dass er noch japst.

Normalerweise enden Sprünge aus dem dritten Stockwerk

tödlich. Oder Pech, je nachdem, aus welcher Warte man’s

betrachtet.“

Entsetzt ob der Diagnose und der makaberen

Sprücheklopferei massierte Miles seinen Kiefer. Die Stoppeln

seines ungewohnten Bartwuchses, den er jetzt erst registrierte,

juckten. In letzter Zeit hatte er sein Äußeres ein wenig

vernachlässigt. „Kann ich bei ihm bleiben?“

Der Sanitäter schmunzelte mitfühlend. „Nicht während des

Eingriffs. Aber wir brauchen Ihre schriftliche Einwilligung

dazu. Danach dürfen Sie soviel Zeit mit ihm verbringen, wie

Sie möchten.“

„Und wenn er stirbt?“ Das Wort kam wie Blei über seine

Lippen. Er entsann sich eines einprägsamen Erlebnisses

während seiner Studienzeit. Ein Kommilitone hatte eine

Blinddarmentzündung gehabt und war operiert worden. Ein

harmloser Eingriff, sollte man meinen. Doch er war unter den

Händen der Chirurgen während der Narkose gestorben.

„Na, na. Wer wird denn so pessimistisch sein? Ihr Bruder

mag nicht so robust sein wie Sie, aber das heißt doch nicht,

dass er nicht wieder gesund werden kann. Ich kenn’ diesen

Typ. Der ist meist zäher als er scheint.“

Miles antwortete nicht, er hielt den Kopf dicht über Ruperts

Brust und lauschte dem Röcheln seiner Lungen, dieweil er die

stressbedingte Falte über Ruperts Nase glättete. „Es wird

wieder gut“, wiederholte er sanft. „Nicht aufgeben, Rupert.“

~*~

„Ich bin reich“, hörte er Miles verzweifelt durch einen

Schleier sagen. „Ich zahle, was Sie wollen, wenn Sie ihn ohne

bleibende Schäden wieder zusammenflicken.“

Page 145: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

145

„Sie bestechen mich“, antwortete eine körperlose,

sarkastische Stimme mit französischem Akzent. „Hören Sie,

Monsieur: wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihrem

Bruder zu helfen, schließlich sind wir Ärzte. Dazu müssen Sie

uns aber unsere Arbeit tun lassen. Je weniger Sie sich

einmischen, umso schneller können wir die Notoperation

vorbereiten und durchführen.“

Rupert probierte den Kopf zu heben. Überall hingen

Schläuche in seinem Gesicht und seinen Armen. Wenn er doch

wenigstens kurz mit Miles reden könnte. Schnaufend machte

er Anstalten, sich dem transparenten, mit Wasserdampf

beschlagenen Ding auf seiner Mundpartie zu entledigen, das

ihm zudem die Sicht versperrte. Der Arzt wollte seine

Initiative vereiteln, doch Miles hielt seinen Arm fest.

„Einen Augenblick nur“, bettelte er.

Knurrend entfernte sich der Anästhesist. Rupert fasste nach

Miles, aber es gelang ihm nicht, sich auf ihn zu konzentrieren,

und er griff daneben. Die Qual raubte ihm jegliche Sinne bis

auf das Schmerzempfinden. Ein tröstendes Zischen von sich

gebend fing Miles seine Hand ein, in der dutzende von Nadeln

steckten. Rupert stöhnte. Die vielen Apparate und der strenge

Geruch nach Desinfektionsmitteln beunruhigten ihn. Nur

Miles’ Anwesenheit und irgendein piepsendes Gerät

verhinderten, dass sein Blutdruck in ungeahnte Höhen schoss.

„Was ist … wo bin ich?“

„Im Krankenhaus“, sagte er gewollt lebhaft, doch Rupert

bemerkte, wie schwer es ihm fiel, Zuversicht zu zeigen. Unter

seinen Augen lagen Schatten, als hätte er nächtelang kein

Auge zugetan. „Hab keine Angst, ich bin da und passe auf. Du

wirst eine Weile schlafen, und dann geht es dir besser.“

„Wirst du da sein? Auch wenn ich - nicht mehr aufwache, so

wie George? Wenn bloß die Schmerzen aufhören, dann ist es

mir egal. Ich war so dumm. Ich hab alles kaputtgemacht. Sag

meinen Eltern bitte, dass es mir leidtut. Und ich möchte“ - sein

Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, das ihm

unwillkürlich entfleuchte – „nicht neben Mr. Wilde beigesetzt

Page 146: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

146

werden, sondern daheim in der Familiengruft. Vorausgesetzt,

man will mich dort noch … als Selbstmörder.“

Miles schluckte, der plötzliche Druck seiner Hand tat Rupert

weh, aber er entzog sich ihm nicht, sondern schloss

angsterfüllt die schlaffen Finger um Miles’ Handrücken. Sie

schienen auf beklemmende Weise knochenlos und schmerzten

so abscheulich wie der Rest von ihm. Er versagte sich, seinen

Blick auf Wanderschaft gehen zu lassen. Einen appetitlichen

Anblick bot er ganz sicher nicht.

Miles war hart im Nehmen, es schien ihm nichts

auszumachen, einen Klumpen Matsch zu ermutigen. Er hob

Ruperts Hand zum Mund und liebkoste die Finger. Es war so

eine natürliche, innige Geste, dass Rupert die Tränen in die

Augen stiegen.

„Daran darfst du nicht denken. Du schaffst es, ganz sicher.

Meinetwegen. Ich will dich wieder spielen hören, diese Finger

übers Klavier laufen sehen wie anmutige Tänzer. Ich habe so

viele Menschen verloren, Rupert, ich will das nicht noch mal

durchmachen.“

Das Glitzern in Miles’ Augen war es, das Rupert den

Lebenswillen zurückgab. Gleich ob als Krüppel oder

körperlich Genesender, er wollte leben. Nicht nur um Miles’

Willen, der den Ausschlag zu dieser Entscheidung gegeben

hatte.

„Wir sehen uns dann“, wisperte er. „Mach’ dir keine Sorgen

um mich.“

Ein Pulk Ärzte kam herein und sedierte Rupert. Die

Schmerzen lösten sich auf, und er sank in eine tiefe Schwärze.

Page 147: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

147

Kapitel 13

ehr viel später erwachte er, obwohl er natürlich

jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Genauso gut hätte es

fünf Minuten her sein können, dass er Miles zum letzten Mal

gesehen hatte.

Eine Maschine an seinem Bett überwachte pfeifend seine

Körperfunktionen, und eine über ihm schwebende Flasche

versorgte ihn mit Flüssigkeit. Er wunderte sich, wie er bei

diesem Lärm hatte schlafen können. Richtig, er war

narkotisiert gewesen! Schlagartig kehrte die Erinnerung

wieder. Langsam blinzelnd betrachtete er seine Umgebung;

das künstliche Licht tat in den Augen weh. Auf dem Tisch

neben dem Kopfende konnte er Blumen erkennen und einen

Brief, der sehr offiziell aussah. Ächzend beugte er sich vor,

um ihn zu lesen. Die Buchstaben flirrten und entwickelten ein

Eigenleben, sie hüpften kichernd aus der Linie, als er

versuchte, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.

Missmutig legte er die Stirn in Falten und schloss erschöpft

die Augen.

„Die Bestätigung und das Honorar zum Verkauf der 500.

Ausgabe von Paris für Idealisten“, sagte eine weit entfernte

Stimme. „Raoul hat es vorbeigebracht, mit den besten

Wünschen. Die Rosen sind von Gisèle und Thierry, und der

Wiesenstrauß und die Pralinen von Julien.“

Unter Schmerzen drehte er den Kopf zur Seite. Miles saß

dort, er hatte sich ein wenig vorgebeugt. Beinahe hätte Rupert

ihn nicht erkannt. Seine sonst sehr schöne Stimme war ein

Krächzen, und er sah aus wie einer der Clochards unter den

Brücken der Seine. Seine Kleidung, auf die er soviel Wert

legte, war zerknittert, sein Kinn unrasiert und sein

normalerweise gepflegt glänzendes Haar strähnig.

Eine Aufmerksamkeit und Genesungswünsche von Jacques

fehlten, Rupert konnte sich denken, weshalb. Einem

S

Page 148: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

148

Nebenbuhler schickte man keine Geschenke, sondern hoffte

auf eine Verschlechterung.

„Wie lange …?“ flüsterte Rupert. Eigentlich wollte er es gar

nicht wissen.

„Sieben Tage“, erwiderte Miles ebenso leise. „Wegen der

Schmerzen haben sie dich nicht aufgeweckt und dir

Beruhigungsmittel verabreicht.“

„Warst du … die ganze Zeit hier?“

„Ja.“

„Du solltest nach Hause und dich ausruhen.“

Miles strich über Ruperts Haar, hielt es zurück und sah ihm

direkt ins Gesicht. Seine graublauen Augen wirkten durch den

Schlafmangel noch größer und intensiver. „Du bist schwer

verletzt, ich kann dich nicht alleine lassen. Außerdem soll ich

die Schwester informieren, wenn du aufwachst, damit sie dir

etwas Morphium spritzt.“

Rupert wurde leicht nervös. Er realisierte, dass er verbunden

war. Sein linkes Bein steckte in Gips, und er selbst in einer Art

Korsett, das man im Bett an einem Gestell aufgebaut hatte.

Auch sein Arm war bandagiert. Die Finger beider Hände

konnte er nicht bewegen, da sie wohl ebenfalls ruhiggestellt

waren. Die stechenden Schmerzen, die ihn plötzlich

durchzuckten, lokalisierte er im Rückgrat. Um das zu fragen,

was er fürchtete, benötigte er mehrere Anläufe.

„Bin ich … bin ich gelähmt?“

Miles nahm seine umwickelten Hände in seine. Rupert

meinte, die frostige Kühle seiner Haut durch das

Verbandsmaterial zu spüren und schauderte zusammen. Miles’

Blick ließ ihn nicht los, doch er antwortete mit einer

Gegenfrage.

„Warum hast du’s getan?“

„Ich weiß nicht“, jammerte Rupert. „Werde ich wieder

gehen können, Miles? Ich wollte nicht, dass es so endet. Es

schien mir – die beste Lösung.“

„Wofür?“

Page 149: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

149

„Bitte beantworte meine Frage. Sonst wäre ich lieber tot.

Was ist mit mir?“

Der Freund seufzte, er senkte die Lider, wie um sich zu

sammeln. Als er wieder aufsah, hatte sein Blick etwas

Distanziertes. Dennoch überwog die Sorge um Rupert.

„Ich kann dir nichts sagen. Die Ärzte wissen noch nichts

Genaues. Dein Bein ist mehrfach gebrochen, ebenso zwei

Rippen, der Arm und die Handgelenke. Die Milz und die

Leber hatten Risse erlitten, und die Wirbelsäule ist gestaucht.

Außerdem hast du sehr hohe Temperatur und ein Schädel-

Hirn-Trauma. Du bist nicht außer Gefahr, obwohl die

Operation gut verlaufen ist. Sie werden dich noch eine Weile

hierbehalten.“

„Heißt das …?“

„Wirklich dankbar kann ich erst sein, wenn das Fieber

gesunken ist. Deine Ärzte sagen, die Krise sei nach etwa zwei

Wochen überstanden.“

Das Hängegestell knarrte, als Rupert sich bewegte und vor

Schmerzen rote Sterne sah. Das Pfeifen und Piepen des

Apparates wurde laut und penetrant. „Ruf’ die Schwester …

bitte!“

Er tat es, und nach wenigen Minuten erschien eine

Krankenschwester mit dem Morphin. Sie sprach mit Miles auf

Französisch, lächelte Rupert zu und verschwand wieder,

nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatte.

„Was sagt sie?“ murmelte Rupert; das Mittel wirkte

unverzüglich. Er fühlte sich müde.

„Dass du Glück hattest und zäh bist. – Ich habe deine Eltern

benachrichtigt.“

Unter enormer Willensanstrengung öffnete Rupert die

Augen. „Warum?“

„Es schien mir richtig. Du lagst bis heute Morgen auf der

Intensivstation, ich wusste nicht, ob …“

Schluchzend brach er ab, während er zu Boden sah. Seine

breiten Schultern bebten, und er barg das Gesicht in den

Händen. Erschüttert rang Rupert die Müdigkeit nieder. „Miles.

Page 150: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

150

Nicht … es ist doch in Ordnung. Ich bin dir deswegen nicht

böse!“

Jede Vorsicht vergessend umarmte Miles den Freund, indem

er ihn aufrichtete. Die Berührung schmerzte und ließ zugleich

ein Glücksgefühl durch Rupert strömen, das ihm sagte, dass er

kämpfen würde, um gesund zu werden. Und sei es nur, um für

Miles Klavier zu spielen.

„Ich hatte solche Angst, Rupert! Ich dachte, ich werde

wahnsinnig! – Ist es meine Schuld? Warum bist du

gesprungen? Du bist nicht selbstmordgefährdet, selbst wenn

sie’s behaupten, es stimmt nicht. Warum hast du’s getan? Hat

dir jemand Rauschgift verkauft? Du kannst mir alles sagen,

das weißt du doch. Dafür bin ich da.“

Jetzt weinte er hemmungslos; die Belastung der letzten Tage

und die Anstrengung, einen kühlen Kopf zu bewahren,

während sein Freund zwischen Leben und Tod schwebte,

hatten ihn überfordert.

„Du hast mir auch nicht alles gesagt“, sagte Rupert in Miles’

Hemdkragen. Er hätte ihn gerne physisch beschwichtigt, mit

seinem Haar gespielt, das immer noch schön war und nach

Brillantine duftete. Aber sein Zustand erlaubte es nicht. Er war

verpackt wie eine ägyptische Mumie.

Das Morphin bootete seine Scheu vor dem brisanten Sujet

aus. „Ich hab dich mit Jacques gesehen.“

Das Schluchzen verebbte. Miles’ Atmung, die Rupert als

sanftes, beruhigendes Pochen am Brustkorb gespürt hatte,

beschleunigte sich und traf ihn jetzt als schmerzhaftes Stoßen

an seinen Rippen.

„Mit Jacques? Wann?“

Rupert holte tief Luft. Sein Oberkörper reagierte mit einem

furchtbaren Ziepen, das ihm flüchtig das Bewusstsein raubte.

„Kurz vor … kurz bevor … ich gegangen bin.“

„In Thierrys Lokal? In der Küche?“

Seine Stimme war kaum zu vernehmen, doch er hielt Rupert

fest wie zuvor.

Page 151: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

151

Kläglich äußerte Rupert einen Laut der Zustimmung, die

Stirn an Miles’ Schulter. Am liebsten hätte er sich in Luft

aufgelöst.

„Ich wollte dich nicht mehr quälen wie all die Wochen

vorher. Darum – hast du mich doch mitgenommen, weil du

dachtest – weil ich – dir gefalle. Ich hab es nicht verstanden,

Miles, und ich verstehe es immer noch nicht. Ich bin

langweilig, ich hätte dich gar nicht verdient. Ich hatte Angst,

weil ich Angst davor habe, dich aber nicht verletzen will. Es

war falsch, aber ich wusste nicht, wie ich es dir erklären

konnte. Ich bin nicht – oh, Miles, ich liebe dich auch, aber

nicht so, wie Jacques und du – in der Küche … als du sagtest,

du könntest ihn nicht lieben, weil - “

Er verhaspelte sich, das Morphin ließ ihn den Faden

verlieren, und er schämte sich schrecklich. Miles hörte ihm zu,

er war vollkommen ruhig. Als er sicher war, dass Rupert

nichts mehr zu sagen hatte, löste er sich von ihm.

Behutsam half er ihm in die vorgegebene, unbequeme

Haltung des Stangenkorsetts zurück.

„Warum hast du nicht auf mich gewartet, bevor du

gesprungen bist? Ich war hinter dir, eine Sekunde noch und

wir hätten diesen Irrtum aufklären können.“

Rupert stutzte. „Irrtum?“

„Du glaubst, ich begehre dich wie ein Mann eine Frau, habe

ich das richtig verstanden?“

Beschämt – auch über Miles’ unverblümte Wortwahl -

nickte Rupert.

„Dieses Licht ist furchtbar grell“, konstatierte er aus

heiterem Himmel, um das Thema in andere Bahnen zu lenken.

„Es tut richtig weh.“

Miles musterte ihn, bevor er seine Finger über Ruperts Stirn

und Augenbrauen legte. Die Dunkelheit vor seinen Augen war

fast wie ein Refugium. Es war besser, Miles während dieses

unzweifelhaft prekären Gesprächs nicht in die Augen sehen zu

müssen. Und er hatte nicht mehr diesen brennenden Schmerz

hinter den Lidern.

Page 152: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

152

„Wenn es so wäre, müssten wir darüber reden. Und egal, ob

ich dich begehren würde oder nicht; aus diesem Grund musst

du dich nicht gleich umbringen. Ich muss zugeben, dass – es

mir manchmal schwerfällt, dir meine Zuneigung nicht in einer

Weise zu offenbaren, die dich erschrecken könnte. Aber ich

mag dich einfach, das ist alles. So bin ich. Es tut mir leid, dass

du mein Verhalten falsch interpretiert hast. Ich liebe dich,

Rupert, auf reine Art. Ich könnte dir nie etwas antun oder so

roh sein wie Jacques in der Küche während deiner

Beobachtung. Mir hat das selbst Angst eingejagt. Bitte

überdenke das, bevor du noch einmal so was Törichtes tust.

Damit hättest du mich verletzt, nicht mit deiner

Zurückweisung.“

Als er die Hand wegnahm, war Rupert eingeschlafen. Er

setzte sich auf den Besucherstuhl, der seit sieben Tagen sein

einziger Komfort war, und seufzte.

Die Lust auf einen Kaffee und eine Zigarette trieb ihn

schließlich doch aus dem Hospital. Nachdem er sich erfrischt

und rasiert hätte, würde die Welt eine andere sein. Überdies

wollte er Ruperts Eltern in seinem momentanen Aufzug nicht

unter die Augen treten. Er hatte es ohnehin nicht leicht bei

ihnen, man brauchte sie nicht unnötig provozieren.

Armer Rupert! Seine Verzweiflungstat ging ihm jetzt

doppelt so nahe. Wie leichtsinnig er mit dem Leben gespielt

hatte, und das alles aus einer unbegründeten Furcht heraus.

~*~

Zwei Tage darauf trafen Ruperts Eltern in Paris ein. Miles

hatte ihnen die Adresse des Krankenhauses genannt, die des

Hotels verschwieg er, so dass sie sofort ihren Sohn besuchten.

Miles empfing sie auf dem Korridor. Von früheren

Begegnungen kannte er die Graysons andeutungsweise; der

Vater, ein etwas untersetzter Choleriker mit wilden,

stechenden Augen, mochte ihn nicht, was auf Gegenseitigkeit

beruhte. Anders verhielt es sich mit Ruperts Mutter. Von ihr

hatte Rupert den hohen, schlanken Wuchs geerbt, jedoch nicht

ihr unkonventionelles, manchmal aufsässiges Wesen, mit dem

Page 153: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

153

sie ihren tugendhaften Mann häufig vor den Kopf stieß. Was

die Sittsamkeit betraf, schlug Rupert mehr nach dem Vater.

Sie begrüßte Miles wie eine Schauspielerin mit flatternden

Handküssen, während sie ihm auf Absätzen entgegen

stöckelte, die sie fast auf Augenhöhe mit ihm emporhoben, als

sie keuchend vor ihm verharrte.

„Miles! Wie geht es Rupert? Mein armer Schatz!“

Miles hatte ihnen am Telefon von einem Unfall mit einem

angetrunkenen Autofahrer berichtet; die Wahrheit würde sie

umbringen.

„Heute sehr viel besser, Madam. Ich bin überzeugt, er wird

es schaffen. – Sir“, wandte er sich höflich grüßend an Grayson

senior, der ihm demonstrativ widerwillig die Hand gab. Beide

hatten Ruperts unglaublich blaue Augen, die Frau dunkler, der

Mann heller, fast opalisierend und durchdringender als

Ruperts.

„Wenn das mal nicht auf Ihr Konto geht“, knurrte er. „Sie

sind ein Tunichtgut. Schon immer gewesen. In Ihrem Beisein

erkenne ich meinen Sohn nicht wieder. Angeblich hat er einen

netten manierlichen Gentleman kennengelernt. Nun muss ich

auch noch feststellen, dass mein Sohn zum Lügner geworden

ist.“

„Rupert! Nun sei doch froh, dass er jemandem begegnet ist,

den er kennt und dem er vertraut! So ein Zufall, nicht wahr?

Seit wann sind Sie hier, Miles?“

Miles räusperte sich. Er musste aufpassen, dass er sich in

seinem Netz aus Halbwahrheiten nicht verstrickte. „Seit zwei

Wochen, Mrs. Grayson. Auf der Party eines gemeinsamen

Bekannten haben wir uns dann getroffen. An dem Abend, als

es … passiert ist.“

„Warum haben Sie den Kerl im Wagen nicht angezeigt?“

wetterte Grayson. „Wahrscheinlich waren’s am Ende Sie

selbst, der ihn zum Krüppel gemacht hat! Wäre Ihnen

durchaus zuzutrauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die

Gutgläubigkeit meines Sohnes ihm zum Verhängnis wird.“

Page 154: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

154

Der Mann stellte Miles’ Geduld auf eine harte Probe.

Dennoch knirschte er nur mit den Zähnen und sagte nichts.

Graysons Jähzorn entgegenzutreten brachte nichts, er hatte es

schon mehr als einmal feststellen müssen.

Wieder schüttelte Yvette Grayson bekümmert den Kopf,

während sie den toten Fuchs um ihren Hals lockerte und ihren

Hut mit der Pfauenfeder abnahm. Seit ihrer letzten Begegnung

mit Miles war ihr Haar vollständig grau geworden.

Seltsamerweise machte es sie jedoch nicht alt.

„Wie sieht er aus?“ wollte sie wissen.

„Nicht schlimm“, beruhigte Miles sie. „Es war böse am

Anfang. Aber er schläft die meiste Zeit und hat jeden Tag

weniger Schmerzen.“

Da sich Mrs. Grayson so offensichtlich auf ein Wiedersehen

freute und darüber hinaus den Ernst der Lage verkannte,

verzichtete er darauf, auf die Medikamente hinzuweisen, ohne

die Ruperts Schmerzen unerträglich wären. Wirklich geheilt

wäre er frühestens in einem halben Jahr, prophezeiten die

Ärzte, und er hatte keinen Grund, ihre Diagnose anzuzweifeln.

So schlimm wie er gestürzt war, grenzte eine Rekonvaleszenz

dieser Zeit fast an ein Wunder.

„Das ist gut. Mein armer Liebling. Allein in einem fremden

Land! Wenn er dann auch noch leiden müsste … das wäre

wahrhaft zuviel verlangt!“

„Sobald es ihm besser geht, kommt er wieder nach Hause“,

bellte Mr. Grayson. „Und aus Ihrem Dunstkreis, Mayhew,

verschwindet er endgültig, dafür trage ich persönlich Sorge.“

Mrs. Grayson verpasste ihrem Mann einen Seitenhieb mit

der Handtasche. „Du bist unmöglich! Mr. Mayhew hat für

einen raschen Krankentransport gesorgt und sich um Rupert

gekümmert, seit er hier liegt. Vielleicht wäre er ohne ihn tot.

Ein wenig Dankbarkeit wäre zumindest angebracht.“

„Pah! Du liest keine Zeitung, Weib!“

Angriffslustig zupfte Mrs. Grayson an ihren

Spitzenhandschuhen.

Page 155: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

155

„Ich weiß sehr wohl, weswegen du ihm gegenüber

Vorbehalte hast. Aber er hat unseren einzigen Sohn gerettet,

das wiegt für mich weit mehr als das. Und außerdem, Rupert:

ich dachte immer, du gibst nichts auf Verleumdungen, schon

gar nicht in der Zeitung.“

„Sie werden den Behörden nicht erzählen, dass ich hier

bin?“ forschte Miles argwöhnisch. „Das war unsere

Bedingung, Mr. Grayson. Ich hätte Ihnen sonst nicht unseren

Aufenthaltsort preisgegeben.“

„Nein, natürlich nicht“, schnauzte der. „Ich habe es

versprochen, und ein Gentleman hält sein Wort. Nun bringen

Sie uns schon zu Rupert, Mann, und seien Sie nicht kindisch!“

Rupert schlief, als sie eintraten.

Mrs. Grayson stieß einen entsetzten kurzen Schrei aus.

Mittlerweile war seine Haut dort, wo sie entblößt war, von

großflächigen Hämatomen bedeckt; ein Anblick, der sie abrupt

ernüchterte. Miles hatte nicht daran gedacht, dass sie das

schockieren könnte. Er bot ihr den Stuhl am Fenster an,

während Mr. Grayson kritisch um das Bett herumstiefelte.

„Sieht bös’ aus“, diagnostizierte er schließlich. „Wieder eine

Unaufrichtigkeit, Mayhew.“ Mit einer Zartheit, die seine

Worte Lügen strafte, streichelte er Ruperts gesunden Arm.

„Rupert. Kannst du mich hören? Dein Vater und deine

Mutter sind da“, raunte er ihm zu.

„Lassen Sie ihn schlafen, Sir“, bat Miles, der um Ruperts

Qualen wusste. Die Minuten, in denen er keine Schmerzmittel

benötigte, waren selten.

„Bin ich extra in dieses barbarische Land gekommen, um

meinem Sohn beim Schlafen zuzusehen?! Davon habe ich als

junger Vater genug gehabt! Mit dem Unterschied, dass man es

damals noch entzückend fand.“

Einigermaßen erholt näherte sich Mrs. Grayson. Sie setzte

sich an die Kante des Bettes und nahm Ruperts verbundene

Hand in ihre, wobei sie leise weinend die andere, ebenfalls

bandagierte Hand betrachtete.

Page 156: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

156

„Sie sind nur gequetscht“, versuchte Miles sie aus dem

Hintergrund zu trösten, da er ihre Traurigkeit erahnte und sie

zu Beginn ebenfalls empfunden hatte. „Er wird seine Hände

wieder gebrauchen können wie vorher.“

„Er macht soviel mit seinen Händen“, klagte sie, als habe sie

ihn nicht gehört. „Haben Sie ihn je am Klavier gesehen? Wenn

seine Finger steif bleiben, wird er nie mehr derselbe sein. Es

ist das einzige, was er gut kann, sagt er. Und dieses grässliche

kalte Gestell, in dem er liegt, was ist das? – Mein armer

kleiner Rupert! Was hat man ihm nur angetan? Und dabei

klang sein Brief so optimistisch und fröhlich! Ich habe mich so

sehr gefreut über seine Veränderung!“

„Dass wir ihm die Auszeit zugebilligt haben, versteht sich

von selbst“, erklärte Mr. Grayson, wie um sich vor Miles zu

rechtfertigen, der laut Ruperts Brief überhaupt nichts darüber

wissen konnte, da er nicht einmal erwähnt war.

„Sir?“ Miles tat ahnungslos, was wiederum Mr. Graysons

Unmut entfachte.

„Na, das eine Jahr Urlaub, bevor er sich für einen Posten in

Cambridge bewirbt. So hatte ich das seinerzeit auch

gehandhabt. Man wäre ein Vollidiot, wenn man sich keine

Pause gönnen würde! Der Ernst des Lebens beginnt früh

genug.“

In diesem Moment gab Rupert ein Stöhnen von sich. Mrs.

Grayson starrte gebannt auf sein wächsernes Gesicht.

„Rupert, mein Schatz. Wir sind da, Mum und Dad.“

Langsam öffnete er die Augen. Zuerst fiel sein Blick auf

Miles, der mit auf dem Rücken gekreuzten Armen an der

Wand lehnte und durch nichts verriet, welch bedeutenden

Besuch er hatte. Er brauchte eine Weile, ehe er scharf sehen

konnte. Seine Mutter saß bei ihm, ihre Hand am Mund vor

Überraschung, ihn lebend anzutreffen.

„Sohn?“ Die schroffe Stimme seines Vaters vom anderen

Ende.

Page 157: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

157

Er schluckte. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn so sahen,

hilflos in einem Gestänge aufgebahrt. „Es tut mir leid“,

wisperte er. „Bitte verzeiht mir.“

„Oh, Rupert!“ Seine Mutter erhob sich und zerdrückte ihn

fast. „Was denn verzeihen? Es war ein dummer

Schicksalsschlag, nichts weiter! Jetzt musst du erst mal wieder

schnell gesund werden!“

„Über deine Nachricht haben wir uns sehr gefreut“, hob

Grayson senior nochmals hervor. „Stell’ dir vor, ich konnte

sogar deine Anfrage befriedigend lösen. Die Verwandten

dieses Milo Kaminski leben unter demselben Namen in New

York.

Eine Schwester ist offenbar verheiratet, aber wenn wir die

Mutter und die andere Tochter kontaktiert haben, wird es auch

kein Problem sein, sie aufzustöbern. Hat er dich denn noch gar

nicht besucht, dieser Mr. Kaminski? So wie du im Brief getönt

hast, seid ihr anscheinend ein Herz und eine Seele. Eigentlich

sollte er doch hier sein. Oder hat er Angst, sich bei dir

anzustecken? Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass du dir

falsche Freunde suchst. Dafür hast du scheinbar ein Talent.“

Vor lauter Aufregung vergaß Rupert die wieder einsetzenden

Schmerzen. Als er mit klopfendem Herzen den Raum nach

Miles absuchte, war er nicht mehr da.

„Vielen Dank für deine Mühe, Dad. Mum, danke für den

Besuch. Ich – bin sehr müde. Wenn ihr Miles auf dem

Korridor begegnet, schickt ihr ihn bitte zu mir?“

Sie fanden ihn nicht. Seine Mutter kehrte noch einmal

zurück, um es ihm auszurichten.

„Spurlos vom Erdboden verschwunden! Hoffentlich war er

nicht eine Halluzination von uns dreien.“ Verschmitzt

zwinkerte sie ihm zu.

„Er ist ein guter Junge. Was dein Vater über ihn sagt, meint

er nicht so. Er wäre nur manchmal gerne selber ein wenig Mr.

Mayhew.“

„Weiß er, weshalb Miles hier ist?“

Page 158: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

158

Sie vollführte eine geringschätzige Handbewegung. „Ach,

du kennst doch die sensationsgierigen Schmierfinken von den

Zeitungen. In der einen hat er eine Bank überfallen, in der

nächsten eine junge, gutaussehende Witwe geschändet, in der

dritten einen Collegebuben verführt … gib nichts auf das leere

Geschwätz. Wenn du den Grund erfahren willst, solltest du ihn

selbst fragen. Er wird dir am ehesten mit der Wahrheit dienen

können.

Und jetzt gute Nacht, du musst dich schonen, und der Tag

war aufregend. Wir sehen uns morgen wieder. Nächste Woche

muss dein Vater leider abreisen. Aber du hast ja Mr. Mayhew,

der ein bisschen nach dir schaut.“

Sie küsste ihn auf die Stirn.

„Vielleicht ist er nicht mehr lange da“, mutmaßte Rupert

melancholisch. „Ich glaube, ich habe ihn vergrault.“

Die Auflösung seiner heimlich gestellten Anfrage musste

den Freund in einen emotionalen Tumult gestürzt haben.

Ursprünglich hatte er es ihm ganz anders beibringen wollen.

Es war ja sogar für ihn ein Schock, hatte er mit einem

positiven Ergebnis gar nicht wirklich gerechnet und innerlich

Miles’ Angehörige für tot erklärt.

Als er wieder alleine war, ließ ihm Miles’ rätselhafter

Abgang keine Ruhe; er klingelte nach der Schwester und

bekniete sie in seinem lückenhaften Französisch, nach Miles

zu suchen.

Trotz intensiver Fahndung blieb er unauffindbar, und Rupert

verdammte seine Bewegungsunfähigkeit. Er hätte mit beinahe

hundertprozentiger Sicherheit gewettet, dass Miles zu Thierry

gelaufen war und dort über seine Trinkfestigkeit hinweg dem

Sherry zusprach. Lange darüber hadern konnte er allerdings

nicht; bald schlief er ein.

~*~

Der nächste Morgen dämmerte. Eine Gestalt an seinem Bett

ließ ihn erzittern; aus den Augenwinkeln erkannte er lediglich

einen Schatten. Das Licht war aus. Als Miles bemerkte, dass

Page 159: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

159

Rupert ihn nicht eindeutig identifizierte, änderte er seine

Position.

„Du bist verrückt“, meinte er. „Ich habe mich die ganze

Nacht vollaufen lassen. Und jetzt werde ich über dich

herfallen, deine Verbände mit den Zähnen einer nach dem

anderen vom Leib ziehen und dich mit Haut und Haar

vernaschen.“

Rupert schluckte. Angesichts seiner Machtlosigkeit in dem

Gestell und Miles’ leichter Whiskyfahne wäre das nicht

einmal völlig abwegig. Irgendwie schlummerte wohl doch

eine gleichgeschlechtliche Neigung in Miles.

„Ich wollte – etwas für dich tun. Das war wohl – nicht so

nach deinem Geschmack.“

„Rupert. Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich nicht

einmischen sollst in meine Angelegenheiten?“

„Du musst diese Leute nicht finden, wenn es dir

widerstrebt“, wandte Rupert zaghaft ein, das Gestell

schaukelte nach links, als er versuchte, sich zur Seite zu

drehen und sich somit von Miles abzuwenden, um

Desinteresse zu signalisieren.

Miles’ Schritte dröhnten in seinem Kopf, als er nahe an das

Bett herantrat. Er stützte sich schwer auf die Matratze. Die

Trunkenheit hatte er einigermaßen unter Kontrolle, doch

Rupert durchschaute ihn. Er kämpfte mit sich und dem, was er

Rupert zu sagen hatte.

„Du fehlst mir“, sagte er. „Jede Nacht in diesem verfluchten

Hotel fällt mir die Decke auf den Kopf, weil ich deine

Anwesenheit vermisse. Doch, ich möchte diese Leute treffen,

wie kommst du darauf, ich wollte nicht? Sie sind meine

Familie, nicht ‚diese Leute’. Es ist nicht so, dass ich sie

vergessen habe. Ich will sie sehen. Mit dir. Wir reisen nach

Amerika. Was hältst du davon? Du warst noch nie dort, oder?

Ich auch nicht. Meiner Mutter gefällst du, das kann ich dir

jetzt schon sagen. Sie hat immer meinen fruchtlosen

Geigenunterricht bedauert.“

Page 160: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

160

Rupert stieß ein erleichtertes Schnauben aus, das mit gutem

Willen als Auflachen bezeichnet werden konnte.

Ebenso befreit wie kühn beugte sich Miles über ihn und gab

ihm einen alkoholisierten Kuss auf die leicht geöffneten

Lippen, bevor er wieder verschwand und für die nächsten

Stunden unsichtbar blieb.

Page 161: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

161

Kapitel 14

äglicher Besuch verkürzte ihm die lange Zeit im

Korsett, das Rupert als eine himmlische Strafe seiner

unbedachten Tat akzeptierte, wenngleich es ihm zunehmend

vorkam wie eine Streckbank, die ihn auf Miles’ Körpergröße

zu trimmen versuchte.

Abgesehen von seinem treuen Begleiter, der eigentlich

immer da war, versuchten ihm seine französischen Freunde

den Krankenhausaufenthalt mit allen möglichen Mitbringseln

und Versprechungen zu versüßen.

Raoul präsentierte ihm bald das Honorar zum 1000.

verkauften Exemplar ihres Buches und brachte ihm dazu eine

Sonderedition mit, die jetzt auf dem Markt erscheinen sollte.

Miles hatte sie um einige Motive erweitert, die er mit Rupert

am Krankenbett ausgewählt hatte.

Als er sie nach Raouls Abschied durchblätterte, überwältigte

ihn die Schwermut. Würde er je wieder so unbekümmert in die

Kamera grinsen können wie auf dem Autorenfoto, auf das

Thierry bestanden und Miles zu einem Kompromiss bewegt

hatte, wenigstens einen der Fotografen abzulichten?

Er zweifelte daran und wäre vermutlich verzweifelt, wenn

Miles nicht gewesen wäre, der ihn auf andere Gedanken

brachte und ihm versicherte, dass er bald wieder der alte sein

würde, wenn er auf die kleinen Fortschritte achtete und nicht

der Vergangenheit nachtrauerte. Immerhin schmerzten seine

Hände nicht mehr. Die Brüche dort heilten am schnellsten.

Selbst die Ärzte waren verblüfft, mit welcher Akkuratesse die

Gelenke zusammenwuchsen.

~*~

In der vierten Woche kam ihn erstmals Jacques Fleury

besuchen. Verlegen knüllte er sein Barett und wagte es nicht,

T

Page 162: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

162

Rupert direkt anzusehen. Unstet ging sein Blick durch das

sterile Krankenzimmer, auf dem lediglich die Blumen für

einen Farbklecks sorgten.

„Victor hat mir erzählt, dass du spioniert hast“, begann er, es

klang nicht verärgert, eher demütig. „Ich muss mich

entschuldigen, ich wollte niemanden kränken. Am wenigsten

dich. Du bist ein ganz besonderer Mensch, der Spott nicht

verdient hat, weil du … nun - so liebenswert bist und keiner

Fliege etwas zuleide tust. Trotzdem habe ich Lügen über dich

verbreitet. Wahrscheinlich hat sie mich gewurmt, deine

Makellosigkeit. Auch darum wollte ich Victor verführen. Ich

wollte dich eifersüchtig machen. Entschuldige bitte. Ich weiß

nicht, was da in mich gefahren ist.“

Nachtragend war Rupert nicht, zumal ihm Friedfertigkeit

weniger abverlangte als Hass. Und da er sich vorstellen

konnte, welche Überwindung Jacques die Beichte kostete,

verzieh er ihm beinahe augenblicklich.

~*~

Als er trotz regelmäßiger Besuche öfter über Eintönigkeit zu

klagen anfing, beschaffte Miles ein Fortbewegungsmittel in

Form eines Rollstuhls. Entgeistert starrte Rupert den

altertümlich anmutenden Stuhl an. Von der Streckbank zum

stachelbewehrten Folterstuhl.

„Ist das ein Scherz?“

„Morgen starten sie deine Therapie. Das bedeutet, du musst

dich wieder bewegen. Die Schwester hat mir gestattet, dich als

kleinen Vorgeschmack darauf ein wenig herumzufahren.“

„Miles“, protestierte Rupert, als der ihn kurzerhand, aber

sehr einfühlsam aus dem Bett hob und in den Rollstuhl setzte.

Eigenartigerweise fiel es ihm schwer, aufrecht zu sitzen; seine

Schultern sackten nach vorne. Es tat gut, sich nach so langer

Zeit in steifer Haltung zu krümmen. „Ich komme mir

bescheuert vor in dem Ding.“

„Und ich geh’ nicht mit dir aus, wenn du aussiehst wie

Robinson Crusoe. Hinterher hält man mich noch für Freitag.“

Auf altmodische Art und irgendwie bedrohlich wetzte Miles

Page 163: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

163

ein Rasiermesser an einem Riemen, den er über den

Besucherstuhl gespannt hatte. Gelegentlich hatte eine

Schwester Rupert rasiert, doch aus Angst, ihn zu schneiden,

nie besonders gründlich. Miles musste das sehr gegen den

Strich gegangen sein; ungepflegte Bärte waren ihm zuwider.

Er ging zum kleinen Spiegel über dem Spülbecken der

Waschnische, hängte ihn ab und legte ihn Rupert mit der

Rückseite nach oben in den Schoß.

„Am besten hältst du den Spiegel. Dann kannst du mir

sagen, ob ich was vergessen habe.“

„Okay“. Er nahm den Spiegel auf, doch Miles hinderte ihn

zunächst daran, einen Blick hineinzuwerfen, indem er jäh

seinen Arm herunterdrückte, als sei ihm in letzter Sekunde

etwas eingefallen.

„Rupert“, sagte er leise. „Wann hast du dich zuletzt im

Spiegel betrachtet?“

„Hm … weiß nicht. Das muss vor meinem Unfall gewesen

sein“, erwiderte Rupert achselzuckend. „Wieso?“ Da er bereits

beim Sprechen den Spiegel seiner Funktion zuführte, schwieg

Miles und wandte sich diskret ab.

Was Rupert im Glas erblickte, war ein solcher Schock, dass

er zischend einatmete. Dieser Kerl da, bis zur Unkenntlichkeit

abgemagert, mit eingefallenen, rotumränderten Augen und

blau verfärbten Lippen, das war nicht er. Die Blutergüsse in

seinem Gesicht und am Hals waren nicht einmal das

Schlimmste. Die Ähnlichkeit mit einem monatelang

Verschollenen oder Schiffbrüchigen ließ sich nicht leugnen.

Mit der gesunden Hand betastete er die schärfer

hervortretenden Kanten seines Kiefers unter dem Bart und ließ

sie fassungslos zurücksinken. Miles’ Hände, die sich von

hinten auf seine Schultern legten, ließen ihn schreckhaft

zusammenfahren.

„Wir müssen nicht in die Stadt. Ich dachte nur, ein wenig

frische Luft täte dir gut. Fünf Minuten nur. Der Park unten ist

auch ganz schön.“

Page 164: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

164

Rupert legte den Kopf in den Nacken und schaute zu Miles

auf. „Ich möchte aber raus“, hauchte er.

Die Rasur genoss Rupert wider Erwarten. Nach kurzer

Bänglichkeit schloss er die Augen und lauschte dem

kratzenden Geräusch, das die störrische Gesichtsbehaarung

verursachte. Miles war so vorsichtig wie ein professioneller

Barbier, der seit fünfzig Jahren nichts anderes tat, als fremden

Männern dank seiner Werkzeuge zu einem jüngeren Aussehen

zu verhelfen. Er hatte sich Ruperts Physiognomie genau

eingeprägt, was ihm jetzt zum Vorteil gereichte.

Bevor sie aufbrachen, stopfte er fürsorglich eine Decke um

Rupert.

~*~

Über einen Monat hatte Rupert keinen Grashalm gesehen

oder die Vielfalt der Welt außerhalb der Krankenhauswände

erlebt. Ehe er recht wusste, kündigte sich der Spätsommer mit

buntem Laub und rötlichem Efeu an. Er atmete die süßliche

Luft ein und fühlte sich wie Christoph Columbus, der einen

neuen Kontinent entdeckte.

Anders als versprochen, fuhr Miles ihn durch den Park zum

Olde Vic. Von weitem konnte man das Hotel erkennen und das

Fenster, aus dem Rupert sich gestürzt hatte. Es stand offen;

Miles hatte das Zimmer nicht gewechselt.

Thierry und Julien wuselten im Lokal zwischen zufriedenen

und winkenden Gästen hin und her. Als sie Rupert bemerkten,

hielten sie inne. Seine Kundschaft in den Wind schießend, stob

Thierry auf ihn zu und herzte ihn nach französischem Usus,

wobei er sich zusammenreißen musste, ihn in seinem

Überschwang nicht an sich zu pressen.

„Rupert! Wie schön, dich zu sehen! Victor meinte, ihr kämt

eventuell vorbei, aber ich hätte nicht damit – Ich bin tief

geehrt von deinem Besuch! Der bringt Glanz in meine Hütte.“

Rupert sah sich um. Eine rege, aber nicht hektische

Beschäftigung herrschte im Lokal, nur wenige Tische waren

frei. Mit dem britischen Konzept schien Miles selbst auf Dauer

einen Nerv getroffen zu haben.

Page 165: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

165

Julien war ein bisschen zurückhaltender. Beide hatten ihn

häufig am Krankenbett besucht und sich an sein verändertes

Aussehen gewöhnt, doch in „normaler“ Umgebung wirkte

Rupert so hinfällig und kränklich, dass jeden Gesunden

Skrupel befielen.

„Du schaust gut aus“, log er.

„Heuchler“, sagte Rupert freundlich. In seinem Rollstuhl

fühlte er sich dreimal so schlecht, wie er an den Mienen seiner

Freunde ablas.

„Das wird wieder“, tröstete Julien. „Am wichtigsten ist, dass

du auf dem Weg der Besserung bist und wieder laufen lernst.

Darüber hab ich mir schreckliche Gedanken gemacht, als du

da unten im Vorgarten lagst. Gott sei Dank, dass alles recht

glimpflich verlaufen ist. Und die Krankenhauskost ist halt

einfach ein Fraß, aber zum Glück musst du nicht bis in alle

Ewigkeit davon leben. Und außerdem bist du ja jetzt hier.

Jacques hat extra für dich frische Scones im Ofen.“

Der kam auch unverzüglich herbei gerannt und überschüttete

Rupert mit Küsschen, Tee und Gebäck. Von Ressentiments

gegen englische Küche und den britischen Bürger im

Allgemeinen war nichts mehr zu spüren. Alle drei leisteten

ihnen einander am Tisch Gesellschaft und interessierten sich

für Ruperts weitere Behandlung.

„Und sobald du dieses Ding nicht mehr brauchst, laden

Julien und ich dich ins Kino ein“, bestimmte Thierry. „Ich hab

mich schlau gemacht, es gibt hier eines in der Nähe, das

amerikanische Filme zeigt. Sogar einen mit Ingrid Bergman in

der Hauptrolle. Und Gregory Peck. Der ist auch nicht zu

verachten, Rupert.“

Nach ihrem spendablen Kaffeekränzchen borgte sich Miles

Thierrys Wagen, der im Hinterhof parkte. Wie schon im

Hospital nahm er Rupert auf den Arm, um ihn vom Rollstuhl

ins Auto zu verfrachten.

„Lassen wir ihn hier?“ fragte er, mit dem Kinn auf den

Rollstuhl deutend. „Du verabscheust ihn, und ich kann’s dir

nicht verdenken.“

Page 166: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

166

„Wenn du meinst … bin ich nicht zu schwer für dich?“

„Du bist ein Hüpfer, Rupert. Schon immer.“

Damit schlug er die Beifahrertür zu und stieg auf der

anderen Seite ein.

Ihr Ziel hieß Versailles. Miles liebte das verspielt anmutende

Schloss mit den Wasserfontänen im hektargroßen Garten. Für

eine Innenbesichtigung war es zu spät, doch der Garten war

jedem Bewunderer des Sonnenkönigs zugänglich.

Obwohl Rupert fürchtete, sein Gewicht könne Miles

schaden, gab es keine andere Möglichkeit, in den Park zu

gelangen als in dessen Armen. Er fühlte sich seltsam dabei,

aber vor allem angenommen und geschätzt. Jemand x-

Beliebigen hätte Miles diese Ehre nicht erwiesen. Seine

weitausgreifenden Schritte federten jede Erschütterung ab, der

Rupert im Rollstuhl unweigerlich ausgeliefert gewesen wäre

und die Schmerzen verursacht hätte.

Doch im Park, wo ihnen die übrigen Besucher hinterher

gafften, vergrub Rupert peinlich berührt das Gesicht an Miles’

Kragen, bis der Freund ihn am Brunnen abgesetzt hatte. Nicht

einmal ein winziger Schweißtropfen war auf seiner Stirn zu

sehen. Rupert war fast ein wenig beleidigt. War er tatsächlich

ein solches Leichtgewicht? Er beschloss, sich ordentlich

aufzupäppeln, sowie er alleine das Olde Vic aufzusuchen

imstande war. Jacques’ Scones waren köstlich, und auch

Herzhaftes bereitete er inzwischen passabel zu.

„Schön, oder?“ sagte Miles, den Blick auf die Fontäne in der

Mitte des Bassins gerichtet. „Wir haben gutes Wetter erwischt.

In letzter Zeit hat es nur geregnet.“

„Das tut mir leid“, murmelte Rupert unweigerlich;

überrascht schaute ihn Miles an, dann tätschelte er lachend

sein Gipsbein.

„Du bist doch nicht für das Wetter verantwortlich. – Mir tut

es leid, ich bin nicht gut im Smalltalk. Den überlasse ich lieber

Julien.“

Geduldig wartete Rupert. Er ahnte, dass Miles etwas auf

dem Herzen hatte. Hätte er nur einen Spaziergang geplant,

Page 167: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

167

wäre der Rollstuhl mitgekommen; sie wären ein bisschen im

Park herumgeschlendert und anschließend wieder ohne viele

Worte zurückgefahren. Aber so – ohne Ruperts mobile Hilfe –

musste Miles etwas Besonderes vorbereitet haben. Denn durch

die gesamte Anlage würde er ihn trotz seiner Kraft nicht

tragen können.

Gedankenverloren zupfte Miles an einer Moosflechte herum.

Hinter in seine Stirn fallenden Ponysträhnen spähte er in die

Weite. Seine Hände klatschen lautlos aneinander.

„Wirst du mitkommen nach New York?“

„Natürlich“, sagte Rupert ein wenig erstaunt. „So war’s doch

abgemacht.“

„Ich war furchtbar betrunken an dem Tag“, begründete

Miles seine Vergewisserung, den Blick stur geradeaus. „Ich

hab nichts getan, was dich aufgeregt hat?“

„Nein“, schwor Rupert. Das stimmte nicht ganz, aber so wie

Miles implizierte, hatte er es nicht empfunden. Er war nicht

unverschämt, gedankenlos oder roh gewesen. Der brüderliche

Kuss, den sie ausgetauscht hatten, würde ihm immer Miles’

Wohlwollen versichern.

„Gut“, sagte Miles wie zu sich selbst. „Dann wäre die Reise

beschlossene Sache?“

„Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt? Ich

hab dir die Suppe doch überhaupt erst eingebrockt, dann will

ich sie auch mit dir auslöffeln. Sehr zu freuen scheinst du dich

nicht auf ein Wiedersehen.“

Er klang sarkastisch, wenngleich er es nicht so meinte.

Endlich wandte sich Miles seinem Freund zu. Seine Miene

drückte die Gefühle aus, die in ihm tobten.

„Ich bin unsicher, Rupert. In fünfzehn Jahren kann sich

soviel ändern. Vielleicht nicht generell, aber ein Erlebnis wie

Auschwitz verändert die Menschen, die überleben. Es macht

sie hart und bitter. Meine Familie war nicht so. Aber was ist,

wenn sie es jetzt ist? Wenn meine Mutter mir Vorwürfe macht,

weil ich Vater nicht mit raufgezerrt habe auf den Heuwagen?“

Page 168: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

168

Rupert schwieg bestürzt. An derlei Aspekte hatte er gar nicht

gedacht.

„Warst du denn anders, vorher?“ erkundigte er sich

schüchtern. Unbewusst massierte Miles Ruperts Oberschenkel.

Es war, als ob er an irgendetwas Halt brauchte. Die Frage

wühlte ihn auf, das war ihm anzumerken.

„Ich weiß es nicht. Mein Leben war nicht das, das ich jetzt

führe. Aber vielleicht war ich glücklicher ohne Bildung und

Wohlstand. Gemessen am durchschnittlichen Verhältnis waren

wir nicht arm, aber sehr viel ärmer als meine neue Familie.

Vermutlich hat mich das schon verändert. Ich war demütiger,

bescheidener und weniger oberflächlich. Vor allem war ich

glücklicher. Wahrscheinlich verstehst du das nicht, was soll’s?

Ich versteh’s selber nicht. Man entwickelt sich weiter, mit oder

ohne Auschwitz. Kinder sind allgemein unbeschwerter. Es soll

keine Entschuldigung sein.“

Rupert lehnte sich vor, um Miles ins Gesicht zu sehen. Die

Sonnenstrahlen hatten sein eigenes, durch die lange

Krankenzeit empfindlich gewordenes erhitzt. Er war so stolz

gewesen auf seine hart erarbeitete Bräune, die durch die

Erschöpfung und den Strapazen der letzten Wochen

buchstäblich verblasst war. Sein ohnehin matter englischer

Teint erwies sich bei der Zurückgewinnung als nicht gerade

hilfreich.

„Eine Entschuldigung wofür?“

Miles blies die Backen auf und ließ die Luft entweichen.

Sein langes Deckhaar wehte nach vorne, er strich es unwillig

zurück. Er wagte es nicht, Augenkontakt herzustellen. „Für

Alpträume, Bettnässen und Verantwortungslosigkeit.“

Erst einmal sagte Rupert nichts. Die beiden letzten Faktoren

könnte er widerlegen. Trotzdem war ihm klar, dass es mit

Floskeln nicht getan war.

„Lass uns gehen“, meinte Miles schließlich mit einem

prüfenden Blick gen Himmel. Rupert regte sich nicht.

„Selbst wenn du das alles hättest: ich würde dich nicht

weniger mögen“, resümierte er.

Page 169: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

169

„Das ist sehr lieb von dir“, sagte Miles trocken, während er

Rupert hochhob und mit ihm zum Ausgang strebte.

Tief durchatmend fasste sich Rupert ein Herz. „Warum

kannst du nicht wieder nach England? Meine Mutter spricht

von Zeitungsartikeln, in denen sich Gerüchte hochschaukeln,

weil du quasi über Nacht verschwunden bist. Wäre es da nicht

besser, sich zu stellen und die Wahrheit mitzuteilen? Du bist

kein schlechter Mensch, dafür würde ich mich verbürgen.

Fehler machen doch alle mal, aber dafür gibt es die Chance,

sie wiedergutzumachen. Ich möchte dir helfen. Warum

erzählst du mir nicht, was der Grund ist für unsere Reise?“

Bedächtig setzte Miles ihn ab, den Arm noch stützend um

Ruperts Mitte, doch er ließ ihn linkisch auf seinem gesunden

Bein taumeln. Dummerweise konnte er nicht einmal die Arme

zum Erhalt des Gleichgewichts einsetzen; es tat weh, sobald er

sie auszustrecken versuchte. Miles entfernte sich weiter von

ihm. Einzig mit einer Hand hielt er ihn davon ab, auf die Erde

zu knallen. Durch die Bandagen an seinen eigenen Händen

war es Rupert nicht einmal vergönnt, nach Miles zu greifen. Er

musste sich darauf verlassen, dass er ihn nicht fallen ließ.

„Warum kannst du nicht gehen, Rupert?“

Verärgert hüpfte Rupert auf einem Bein auf ihn zu. Er

brauchte ihn doch, das wusste Miles genau. War seine Frage

dermaßen dreist, dass er ihn nun so im Stich ließ und damit

Ruperts Genesung riskierte? Gerade waren die Knochen am

Heilen, sie durften unter keinen Umständen wieder brechen.

Das wäre nicht nur ärgerlich, sondern auch äußerst peinsam.

„Ich falle doch“, schrie er panisch auf. „Bitte komm

zurück!“

Miles gehorchte. Bevor Rupert vollends die Balance verlor,

fand er sich in Miles’ Armen wieder. Ein wildes,

aufgebrachtes Schluchzen stieg in seine Kehle, das er an

Miles’ Jacke dämpfte, der ihm die Beine vom Boden schwang.

„Es war zu früh“, sagte Miles nachsichtig. „So wie es für

dich zu früh ist, laufen zu wollen. Wir brauchen beide Zeit. Ich

Page 170: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

170

hätte es dir im Übrigen nicht nachgetragen, wenn du es nicht

mehr gekonnt hättest, das Laufen.“

Rupert verstand den Wink. Vielleicht würde er nie mit ihm

darüber reden. Was war so beschämend, dass man es für sich

behielt, fast daran zugrunde ging und dabei die übelsten

Verleumdungen in Kauf nahm?

~*~

Im Wagen überfiel Rupert das Gefühl, etwas versäumt zu

haben. Es war mehr eine Intuition, er konnte nicht näher

definieren, was es war, jedenfalls bat er Miles, rechts an den

Feldweg heranzufahren. Der tat es und schaltete den Motor ab.

Die DS neigte sich spürbar aber sanft dem Straßenbelag zu;

mit ihrer Hydropneumatik war sie ein Segen für Ruperts

geschundenen Körper. Er öffnete den Gurt; zur Sicherheit

hatte Miles ihn angeschnallt.

„Und?“ fragte Miles amüsiert, während er Rupert neugierig

fixierte. „Was gibt das jetzt? Ist dir der Gurt unangenehm? Das

muss leider sein, sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen.

Schließlich bist du Invalide, wenn auch nur vorübergehend.

Oder musst du austreten? Brauchst du Hilfe bei irgendwas

oder schaffst du’s allein?“

Rupert rutschte quer über den Sitz. Ein stechender Schmerz

fuhr durch seinen Rücken, bis seine Nase Miles’ Jochbein so

nahe war, dass ihre Spitze es berührte. Mutiger werdend küsste

er ihn kurz auf die Wange und wich gleich darauf wie ein

überängstlicher Junge, der von seiner eigenen Courage

überrascht wird, zurück. Miles’ Haut war sehr weich und ein

wenig feucht; sie roch gut. Natürlich und etwas salzig durch

den Schweiß. Im Wagen war es dampfig; Ruperts erst kürzlich

überstandene Fieberattacken vertrugen keine Zugluft, und so

blieben die Fenster geschlossen.

Um Miles’ Mundwinkel zuckte es; Ruperts kleine Einlage

hatte ihm gefallen.

„Du bist nicht verantwortungslos“, stellte Rupert richtig.

„Du hast Verantwortung für mich übernommen. Ich hätte ohne

das nie erfahren, wie spannend es sein kann, Neues zu

Page 171: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

171

entdecken. Oder anderen zu Erfolg zu verhelfen, so wie

Thierry. Ohne deine Zuversicht und Verantwortung wäre das

alles nicht möglich gewesen.“

Miles hatte die Hände nicht vom Lenkrad genommen. Jetzt

verzog er schmerzlich den Mund und betätigte die Kupplung.

„Ohne mich hättest du dir nicht um ein Haar das Genick

gebrochen.“

„Das war ganz allein meine Dummheit“, rief Rupert.

„Für die ich verantwortlich war!“

Empört über Miles’ Selbstanklage und den Zweifel über die

Eigenverantwortung schnappte Rupert nach Luft. „Ich bin

erwachsen, Miles!“

„Du bist ein Kind“, insistierte Miles. „Ein großes Kind in

einem erwachsenen Körper.“

Den Rest der Fahrt schaute Rupert stumm aus dem Fenster.

Auch Miles schien seiner Anschuldigung nichts mehr

hinzuzufügen zu haben. Der Ursprung seiner beschützenden

Art lag in seinen Erlebnissen, erkannte Rupert.

Die Schwachen, zu denen Miles in einer der

niederträchtigsten Epochen der Geschichte gehört hatte, zogen

ihn – einen äußerlich starken Mann – an, weil er auf diese Art

kompensierte, was man ihm und seiner Familie angetan hatte,

wobei er ohnmächtig hatte zusehen müssen. Darum hatte er

sich in Oxford für Rupert, der sich gegen die Streithähne nicht

hatte behaupten können, die Nase zertrümmern lassen.

Nachdem ihm dies aufgegangen war, war er Miles nicht

mehr böse. Trotzdem musste er Miles’ ungnädiges Urteil

seiner Person erst einmal verdauen, wenngleich er sicher war,

dass Miles es nicht negativ besetzt, ihm auf seine eigenwillige

Art sogar ein Kompliment gemacht hatte. Verglichen mit

Miles’ Lebenserfahrung war Rupert ja wirklich nicht mehr als

ein ABC-Schütze.

In Rupert hatte Miles gefunden, wonach er sein halbes

Leben gesucht hatte, nachdem er aus einer eigenen verzerrten

Sicht seine Familie nicht hatte retten können und nur an sich

selbst gedacht hatte. Für Rupert war es schwer, sich in diese

Page 172: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

172

Lage hineinzuversetzen, doch er konnte sich durchaus

vorstellen, dass der Selbsterhaltungstrieb in einer extremen

Situation wie dieser am meisten zählte. Insofern waren Miles’

Selbstvorwürfe nach Ruperts Dafürhalten unbegründet. Jeder

hätte zuerst an die eigene Haut gedacht. Oder? Er war sich

unschlüssig. Geschwister hatte er nicht, doch der Gedanke an

seine Mutter in einer Gaskammer oder den Vater, der die

geglückte Flucht aufgrund physischer Unzulänglichkeiten

nicht durchstand, schmerzte tatsächlich.

Als sie angekommen waren, blieb Rupert sitzen. Er machte

keinerlei Anstalten, den Arm um Miles’ Nacken zu legen,

damit dieser ihm aus dem Wagen helfen konnte. Miles

verharrte neben der offenen Beifahrertür.

„Rupert! Schmollst du?“

Rupert sagte nichts. Stattdessen kaute er auf seiner

Unterlippe herum. Es war albern, wie er sich benahm, doch

Miles hatte ihn gekränkt und sollte es wissen. Da er weiterhin

vor sich hinstierte, holte Miles den Rollstuhl und lenkte ihn

direkt an den Autositz.

„Spring’ rein“, sagte er.

Rupert sah auf; in seinen Augen funkelten verletzter Stolz

und die Furcht, nichts weiter zu sein als ein weiteres

Lämmchen, das der gute Hirte Miles auf den rechten Weg

führte.

Er konnte nicht ohne Hilfe in das Ding gelangen, seine

Handgelenke waren noch nicht kräftig genug und schmerzten

bei der geringsten Belastung. Einen Moment lang maßen sie

sich mit Blicken, wobei Miles schließlich kapitulierte und

seinen senkte.

„Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Es war nicht so

gemeint und völlig unbedacht. Ich bin ein bisschen

durcheinander durch die letzten Tage. Du bist kein Kind. Das

war ungehobelt von mir. Du bist mein bester Freund und wirst

es immer sein.“

Etwas besänftigt ließ sich Rupert in den Rollstuhl hieven.

Page 173: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

173

Kapitel 15

ie Bewegungstherapie war eine Tortur; Rupert hatte

nicht geglaubt, dass man ihn noch ärger foltern konnte

als mit dem Streckkorsett.

Um sechs Uhr morgens wurde er unbarmherzig geweckt; auf

Schmerzmittel musste er trotz Beschwerden weitgehend

verzichten. Eine rabiate Schwester packte ihn auf ein

Laufband zum „Warmwerden“ und „Lockern“, wo er unter

ständiger Beobachtung eine halbe Stunde vor sich

hinschnaufte. Danach stand Ballspielen auf dem Programm,

um seine Reflexe zu prüfen und die Armmuskeln zu stählen.

Darin war er recht gut, seine Ärzte zeigten sich zufrieden und

überrascht von seiner Leistung.

Das Bein machte Probleme. Nicht nur, dass es durch den

Gipsverband geschwächt war, auch der mehrfache Bruch

heilte sehr viel langsamer als die übrigen.

Miles, der Rupert nach wie vor täglich besuchte und

während der Therapie häufig anwesend war, empfand tiefes

Mitgefühl. Manchmal war Rupert vollkommen ausgelaugt,

verschwitzt wie nach einem Marathonlauf und litt unter

unkontrollierten Muskelzuckungen, die Tantalusqualen

verursachten. An solchen Tagen war er nur dankbar für Miles’

Hilfe, ihn ins Bett zu bringen, wo er augenblicklich einschlief.

Wenn er das Pech hatte und wach blieb, kam eine noch

aggressivere Schwester als die am Morgen und begann eine

brutal anmutende Massage, die Rupert nicht selten aufschreien

ließ, da sie keinerlei Rücksicht auf die vereinzelt noch

sichtbaren Hämatome der inneren Blutungen nahm.

Beim Zusehen litt Miles mehr als Rupert. Wenn es gar zu

schlimm wurde, verließ er fluchtartig den Raum.

Als Rupert nach einer Behandlung einmal vor Erschöpfung

nicht mehr ansprechbar war, beschloss Miles, etwas zu ändern.

D

Page 174: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

174

Stundenlang sprach und feilschte er mit den leitenden

Medizinern um den Patienten, den er nun mit nach Hause

nehmen wollte. Zwar waren die Ärzte anfangs skeptisch, doch

sie ließen sich überzeugen, als die beiden Krankenschwestern

einstimmig sein Interesse an der Behandlung des Bruders

bestätigten und er sie ohne weiteres im eigenen Heim

fortsetzen könne, sofern sie regelmäßig zur Kontrolle im

Hospital aufkreuzten.

Nach letzten Anweisungen, dutzenden ausgefüllten

Formularen und Krücken für die ersten Schritte im Gepäck,

brachte Miles Rupert ins Hotel zurück. Der konnte sein Glück

kaum fassen; er konnte sich über die unverhoffte Freiheit gar

nicht beruhigen.

„Wir werden hart arbeiten“, warnte ihn Miles. „Müßiggang

wird nicht geduldet. Am Ende des Monats will ich dich

selbständig laufen sehen, ohne Krücken, ohne Hinken. Kein

Lamentieren und kein ‚Ich kann nicht mehr’, ist das klar?“

„Ich tu’ alles“, gelobte Rupert erleichtert.

~*~

Miles hatte nicht zuviel versprochen. Das Programm, das auf

der klinikeigenen Therapie basierte, war hart.

Er hatte gehofft, auf ein wenig Verständnis zu stoßen, wenn

ihn die Müdigkeit übermannte, doch Miles ließ das nicht

gelten. Nur wenn er sah, dass Rupert sich ernsthaft quälte,

machte er eine Pause oder ließ das Training bis zum nächsten

Tag ruhen.

Der Tagesablauf war wie im Hospital fast immer der

gleiche. Allein was die Disziplin des frühen Aufstehens betraf,

machte Miles Abstriche.

Sie frönten den langen faulen Vormittagen wie vor Ruperts

Fenstersturz, frühstückten gegen elf und begannen dann mit

einem kurzen Spaziergang, den Rupert halb auf Krücken, halb

auf seinen Begleiter gestützt bewältigte.

Obwohl er mit den Krücken recht geschmeidig hantierte,

war ihm Miles als Gehhilfe angenehmer, da der nur eingriff,

wenn Rupert nach einiger Zeit schwankte und das

Page 175: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

175

Gleichgewicht zu verlieren drohte und ihm so – im Gegensatz

zu den Krücken – nicht vermittelte, beeinträchtigt sein.

Ansonsten hielt er sich unauffällig beobachtend neben ihm,

die Hände in den Hosentaschen vergraben oder eine Zigarette

rauchend, die er zur Seite schnippte, wenn er gebraucht wurde.

Ruperts eiserner Wille imponierte ihm, und er sparte nicht

mit Anerkennung, die seinen Freund anspornte, noch längere

Strecken zurückzulegen.

„Übertreib’ es nicht“, sagte er gelegentlich außer Puste vor

Anstrengung, mitzuhalten.

Am Abend kam der gemütliche Teil. Miles erwies sich als

sehr viel einfühlsamerer Masseur als die Betreuerinnen im

Krankenhaus. Er hatte spezielles Öl besorgt, mit dem er

Ruperts gesamten Körper verwöhnte, da es seine

überbeanspruchten Muskeln wärmte. Durch die ungewohnte

Art, sich fortzubewegen, hatte Rupert häufig Verspannungen

im Schulterbereich. Daran hatten die Schwestern keinen

Gedanken verschwendet. Es war schon fast ein Hohn, wie

Miles sich für seinen angeblichen Egoismus geißelte, während

im Dienst der Menschlichkeit Stehende das dringendste

Bedürfnis Kranker oder Verletzter übersahen.

Nach anfänglicher Scheu machte es Rupert nichts mehr aus,

sich auszuziehen und Miles’ sachte, aber energisch knetende

Hände auf der Haut zu spüren. Er hatte gefürchtet, Miles hege

finstere Wünsche, die er irgendwann an Rupert ausleben

würde, aber er blieb während der halben Stunde wohltuend

reserviert.

Dreimal die Woche ersetzte ein heißes Schaumbad die

Massage. Rupert fand das zwar auch sehr schön und

entspannend, freute sich aber insgeheim mehr auf die Tage

dazwischen.

~*~

Dank Miles’ liebevoller Pflege machte Rupert raschere

Fortschritte als in der unpersönlichen Atmosphäre eines

Krankenhauses.

Page 176: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

176

An ihrem „freien“ Tag besuchten die beiden das Olde Vic,

wo sich ihre Freunde beeindruckt zeigten von Ruperts rasanter

Genesung und seines täglich besser werdenden Aussehens.

Während Miles mit François und Nini in der Stadt sein

Unwesen trieb, setzte sich an einem trüben Nachmittag Gisèle

an Ruperts Tisch. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen; sie

beharrte auf einer Krankenhausphobie, weswegen sie ihm dort

nie einen Besuch abgestattet hatte.

Sie drückte sich an den Krücken vorbei auf die Eckbank, die

Rupert in Beschlag genommen hatte und dort still seinen Tee

trank.

„Salut“, begrüßte sie ihn und errötete ein wenig, oder

vielleicht hatte sie sich vor ihrem Zusammentreffen kräftig in

die Wange gekniffen. Die Palette der weiblichen Tricks war

bekanntermaßen unerschöpflich. „Schön, dass es dir wieder

besser geht. Es tut mir leid, dass ich nie da war, aber es hätte

mich bis in meine Träume verfolgt. Thierry hat dir doch

hoffentlich jedes Mal meine Grüße ausgerichtet?“

„Das hat er“, erwiderte Rupert. „Und ich trag’s dir nicht

nach, dass du nicht gekommen bist. Erstens wäre es mir

wahrscheinlich genauso gegangen an deiner Stelle, und

zweitens kennen wir uns gar nicht besonders gut.“

„Na ja.“ Sie druckste herum. „Immerhin bin ich wohl der

Grund für deine impulsive Tat … die du beinah mit dem

Leben bezahlt hast und mir trotz allem schmeichelt. Jede Frau

wäre geschmeichelt von so geballter Romantik. Könnte aus

der Feder eures Shakespeare stammen. Armer Rupert. Dabei

ist es nicht so, dass ich überhaupt nichts für dich empfinde.“

Er fing ihre Hand ein, die sie erhob, um ihm kokett über die

Wange zu streichen. „Ich glaube, das Thema ist abgehakt,

Gisèle. Ich möchte lieber nicht darüber reden.“

„Magst du mich denn gar nicht mehr? Bin ich kein bisschen

attraktiv?“ spreizte sie sich und sprang auf, um sich vor ihm zu

drehen. Verlegen blickte er weg. Die anderen Gäste im Lokal

befleißigten sich anerkennender Pfiffe. Sie lächelte ihnen zu,

winkte und setzte sich dann wieder.

Page 177: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

177

„Die würden wissen, was sie an mir haben.“

„Du bist doch mit Thierry glücklich“, argumentierte er.

„Oder nicht?“

Mädchenhaft schob sie die Unterlippe vor und deutete einen

Schmollmund an. „Natürlich. Das heißt aber doch nicht, dass

ich nicht auch meinen Spaß haben kann.“

Juliens Bemerkung über Thierrys Affären fielen ihm wieder

ein; sie schienen ein offenes Geheimnis zu sein, von dem

sogar Gisèle Wind bekommen hatte. Besonders aufgebracht

wirkte sie nicht. Er bemühte sich, nicht allzu überrascht

auszusehen. Die lockere Art, mit Beziehungen zu jonglieren,

gehörte in diesem Land wohl zum guten Ton, und er hatte

keine Lust, sich als Spießer aufzuspielen, zumal ihn die

Privatangelegenheiten der Levants nicht interessierten.

Gisèle grinste.

„Jetzt bist du baff, nicht wahr?“

„Nicht wirklich. Julien hat gesagt …“

„Julien hat gesagt …“ äffte sie ihn nach. „Ausgerechnet der?

Das glaub’ ich dir nicht. Der würde sich nie denunzieren!

Obwohl … er tut immer so harmlos, aber in Wahrheit ist er ein

ganz raffinierter Bengel. Wenn Raoul wüsste, was sein Neffe

so treibt, hätte er ihn längst wieder aufs Land zurückgeschickt.

Ich glaube fast, Julien macht es, um ihm eins auszuwischen.

Raoul ist sehr streng mit ihm, strenger als die Eltern. Da

rebelliert man schnell in Juliens Alter.“

Seine Ohren rauschten und wurden rot.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Er verkroch sich in sein

Teeglas und schlürfte geräuschvoll. Wenn sie ihn doch bloß in

Ruhe lassen würde. Seine letzte Bemerkung stachelte sie zum

Gegenteil auf. Allerdings legte sie es lediglich darauf an, ihn

zu schocken; ihre Stimme blieb ruhig, als referiere sie über das

Wetter.

„Sag’ bloß, du hast noch nichts gemerkt? Oh, Rupert, du bist

ein noch größeres Schaf als ich dachte. Julien und Thierry

schlafen miteinander. Darum hält sich seine Erfahrung mit

Mädchen in überschaubaren Grenzen. Jacques hofft immer,

Page 178: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

178

dass er zur Besinnung kommt und das Ganze nur eine

postpubertäre Verwirrung ist, aber Thierry tut nichts, um dem

Knaben Einhalt zu gebieten. Er schwelgt in Juliens

Verliebtheit. Und unter uns: wer täte das nicht? Julien ist süß

und aufgeweckt. Die meisten Männer verlernen das mit der

Zeit.“

Vor Schreck, besonders aber irritiert vor der Kaltblütigkeit

ihres Tons, stieß Rupert das halbvolle Glas um. Mit einem

verärgerten Laut langte sie nach einer Serviette und betupfte

vergeblich die nasse Tischdecke.

„Zut! Kannst du nicht aufpassen, du Tolpatsch? Du hättest

mein Kleid ruinieren können!“

Er senkte die Stimme, während er sich ungläubig über den

Tisch lehnte. „Julien und Thierry … sind ein Paar?“

„Ja, verflixt, so ist das. Nun komm schon, mach nicht so ein

entsetztes Gesicht! Ihr Engländer habt das doch erfunden. Bei

gemeinsamen Kinoabenden ist es halt nicht geblieben, es ist ja

so schön kuschelig im Dunkeln. Und weißt du was? Ich bin

nicht sauer auf Thierry, und solange er keinem Rock hinterher

steigt außer meinem, auch nicht eifersüchtig. Er ist mir ein

guter Ehemann, einen besseren Vater für meine Kinder könnte

ich mir nicht wünschen. Ein Milchbubi wie Julien ist keine

Konkurrenz für mich. Du wärst eine ernstzunehmende für

Thierry.“

Kichernd verschanzte sie sich hinter ihrem Orangensaft und

nuckelte am Strohhalm. „Jacques meint, du und Victor seid

ähnlich veranlagt, für so was hat er einen sechsten Sinn. Das

wäre aber Inzest, oder? Würde jedoch erklären, warum ich

dich kaltlasse. Und Victor kann ich dann ebenfalls nicht

überzeugen. Schade eigentlich. Ihr seid beide nicht hässlich.“

„Wir sind … keine Brüder“, stammelte Rupert, den ihre

freimütige Eröffnung verwirrte.

„Na wenigstens das nicht.“ Sie stieß einen theatralischen

Seufzer aus. „Mach’ dir nichts draus, Rupert. Du bist sowieso

nicht mein Typ.“

Page 179: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

179

Ungeschickt fasste er nach seinen Krücken. „Ich muss

gehen, Gisèle. War nett, mit dir zu plaudern.“

„He. Wolltest du nicht auf Victor warten? Der müsste jeden

Moment wieder kommen. Bei dem Sauwetter werden die

Kinder nicht länger draußen spielen wollen.“

~*~

Wie immer, wenn Rupert etwas beschäftigte, machte er

einen Spaziergang, um den Kopf freizubekommen.

Mehrmals glitschte er mit den Krücken auf dem regennassen

Trottoir aus, konnte sich aber rasch wieder aufrichten und

humpelte keuchend weiter. Er wusste selbst nicht, weshalb ihn

das Gespräch dermaßen aus der Bahn warf; schließlich hatte

Gisèle recht: derlei Neigungen waren ihm nicht neu. Wenn er

ehrlich war, hatte er sie ja am eigenen Leib erfahren. Weiter

als bis zu einem Kuss hatte die Erfahrung zwar nicht gereicht,

und es würde ihm nie einfallen, mehr zu erwarten, doch eine

Zukunft, die nur von Miles bestimmt wurde, schien ihm gar

nicht so fern, wie schon sein Hirngespinst des Hauses in

Südfrankreich bewiesen hatte. Also musste er einsehen, dass

Julien sich zu Thierry hingezogen fühlte und umgekehrt. Er

wäre ein Heuchler, wenn er das nicht wenigstens auf diffuse

Weise verstand.

Gisèle dauerte ihn schrecklich. Sie hatte sich zwar abgebrüht

gegeben, doch er ahnte, dass es sie erbitterte, nach all den

gemeinsam verbrachten Jahren mit einem scheinbar loyalen

Partner die zweite Geige zu spielen.

Wenn Thierry mit Julien zusammen war, entwickelte sich

etwas ganz Spezielles zwischen den zweien, das sogar er als

Außenstehender wahrnahm. Thierry veranschaulichte damit

seiner Frau, dass sie langweilig sei und seinen grundlegenden

Ansprüchen nicht genüge. Julien für den Spaß, Gisèle für die

Hausarbeit.

Nein, richtig war das nicht. Aber stand es ihm denn zu, sich

mit diesem Problem zu befassen? Er hatte genug mit seiner

Therapie am Hals, die ihn jeden Tag forderte. Dennoch ging

ihm das Dreiergespann nicht aus dem Sinn.

Page 180: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

180

In der Lounge wartete Miles. Gisèle hatte ihn über Ruperts

vorzeitigen Aufbruch informiert. Da er diesem nicht das

Gefühl geben wollte, unter ständiger Aufsicht zu stehen, hatte

er sich in Geduld geübt und war mit Bauchgrimmen dorthin

zurückgekehrt, wo Rupert früher oder später ebenfalls

auftauchen musste.

Als er Rupert durch die Drehtür hinken sah, warf er seine

Zigarette in den überfüllten Aschenbecher, sprang auf und lief

ihm entgegen. Er nahm ihm die Krücken ab und zwang ihn,

ohne Hilfsmittel zum Lift zu gehen. Rupert konnte es, wenn er

wollte, doch seine Bequemlichkeit und die Angst vor plötzlich

auftretenden Schmerzen hinderten ihn häufig daran.

„Wo warst du?“ In der Abgeschiedenheit des Fahrstuhls

konnte er seine Sorge nicht mehr verhehlen. „Warum hast du

nicht auf mich gewartet oder bist wenigstens direkt ins Hotel

gegangen, ehe der Regen anfing? Klatschnass bist du! Was

glaubst du, wie schnell du wieder Fieber kriegst und ich dich

ins Krankenhaus zurückbringen muss! Du hättest dich

verirren, hinfallen und dir was brechen können! Mach das nie

wieder!“

Er ließ ihm ein Bad ein, das so heiß war, dass Rupert meinte,

darin zerfließen zu müssen wie in frisch ausgebrochener Lava.

Miles blieb unerbittlich, sobald er wehleidig jammernd

hochfuhr.

„Meine Haut schlägt Blasen! Es ist viel zu heiß!“

protestierte er, als er Miles’ Hand erneut auf seinem Kopf

fühlte, die seinen Oberkörper ins Wasser zurückdrückte.

Prompt klapperte er mit den Zähnen, während er unter einer

jähen Gänsehaut erschauderte.

„Gerade heiß genug, um die Erkältungserreger abzutöten“,

versetzte Miles. „Du bist selbst schuld, also hör’ auf zu

heulen!“

Nach dem Bad packte Miles ihn unverzüglich ins Bett. Es

überraschte Rupert, wie sehr er einen Schnupfen fürchtete.

Allerdings konnte er sich im Gegensatz zu Miles nicht an sein

Page 181: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

181

hohes Fieber entsinnen, das ihn nach dem Sturz fast innerlich

verbrannt und ihn in Lebensgefahr gebracht hatte.

Er lag da und dachte nach, ohne zu einem befriedigenden

Ergebnis zu gelangen. Er hatte zu viele Hemmungen, sich des

Themas ausgiebig anzunehmen; selbst in Gedanken genierte er

sich, die unkonventionelle Beziehung der drei zu analysieren.

Miles las im Wohnbereich und hatte den Vorhang

zugezogen, um Rupert durch das Licht nicht zu stören.

Etwas später hörte Rupert die Tür; vermutlich ging Miles

hinunter in die Bar zu einem Schlummertrunk, den sie sich

dann und wann gönnten. Außerdem spielte dort jeden

Mittwochabend ein Pianist gepflegten Jazz. Nicht so gut wie

Rupert, betonte Miles, aber es genügte, solange dieser sich

noch schonen musste.

Obwohl er sich bemühte, stellte sich der Schlaf nicht ein.

Wäre er nicht so vermummt gewesen, hätte er sich ruhelos hin

und hergewälzt. Thierry, Julien und Gisèle spukten in seinem

Hirn herum.

Er begann, etwas Wirres zu träumen, an das er sich nach

einer Fünf-Minuten-Schlafphase nicht mehr erinnerte.

Aufgewühlt und orientierungslos hob er den Kopf und sah sich

um. Erst nach einigen Augenblicken erkannte er die mondäne

Einrichtung als die ihres Pariser Hotels. Einigermaßen

beruhigt sank er in die Kissen. Doch die Unruhe verließ ihn

nicht, er lauschte auf das Ticken und das halbstündige

Schlagen der nervtötenden Uhr auf der Kommode.

Erst als er erneut die sich öffnende Tür und ein Klirren des

Schlüssels vernahm, umhüllte ihn ein Gefühl der

Geborgenheit, das die Unruhe schließlich zügelte.

Wenige Augenblicke später kam Miles herein, die Knöpfe

des Pyjamas schließend. Das Quietschen der Matratze, das

entstand, als er sich hinlegte, ließ das Ticken der Uhr auf

wundersame Weise verstummen.

„Ich dachte, du schläfst längst“, sagte er. „Wenn ich gewusst

hätte, dass du wach bist, hätte ich dich zu einem Drink

eingeladen.“

Page 182: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

182

Er knipste die Lampe aus. Die darauf folgende Stille, in der

die Geräusche der Stadt unter ihnen bereits als Einschlafhilfe

dienten, wurde nur von Ruperts gelegentlichen Seufzern

unterbrochen. Schließlich setzte Miles dem ein Ende, indem er

das Licht wieder anmachte.

„Nun gut. Was drückt dich? Falls es dein Ungehorsam ist:

ich vergebe dir. Obwohl ich manchmal glaube, du provozierst

mich mit Absicht, um zu testen, wie weit du gehen kannst.“

„Das tu’ ich nicht. Entschuldige bitte. Ich bin in vieler

Hinsicht eben doch noch ein Kindskopf, du hast schon recht.“

„Also, was ist es dann?“

Stockend und beinahe schamhaft berichtete Rupert von

Thierry und Julien. Angesichts der Vermutung, dass Miles ihr

Verhältnis wahrscheinlich gut nachempfinden konnte, war ihm

die Beichte doppelt so peinlich.

Miles ließ sie zunächst unkommentiert. Erstaunt oder

abgestoßen schien er nicht zu sein. Falls doch, so vertuschte er

es gut. Rupert drehte sich auf die andere Seite, um ihn

anzusehen. Während seines Monologs hatte er es nicht

gewagt. Sein Freund lag auf dem Rücken, die Arme im

Nacken verschränkt, und starrte an die Decke.

„Gisèle tut so, als sei es ihr vollkommen gleichgültig“,

erklärte Rupert leise. „Aber das glaube ich nicht. Sie tut mir

leid, Miles.“

„Bist du sicher, dass die beiden intim miteinander sind?“

Brüskiert von dem freimütigen Ausdruck zuckte Rupert

zusammen.

„Gisèle sagt es. Und ich glaube, sie führen eine sehr

ehrliche Beziehung. Na ja, sofern man das von einer solchen

behaupten kann. Immerhin hat er seine Zuneigung für Julien

nicht vor ihr verheimlicht.“

„Wenn sie es dir genauso erzählt hat wie du mir, dann sagte

sie ‚miteinander schlafen’. Was ist denn mit uns? Wir schlafen

auch zusammen, da wir das Bett teilen. Findest du das

verwerflich oder unmoralisch? Ich dachte bisher, du magst es.

Page 183: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

183

Jedenfalls hast du sogar darauf bestanden, als ich dich fragte,

ob es in Ordnung sei.“

Rupert richtete sich auf. „Du weißt, dass das nicht dasselbe

ist. Wir sind in einem Hotelzimmer, wo keine andere

Möglichkeit besteht, als dicht nebeneinander zu schlafen. Und

ja, es gefällt mir, weil du ein Stück Heimat bist, das ich

anfangs vermisst habe. Julien und Thierry haben jeder ein

eigenes Zuhause mit eigenen Betten. Wenn Thierry eines

teilen sollte, dann mit seiner Frau. Und übrigens hat auch

Monsieur Delaroche das nicht verdient. Da besorgt er seinem

Neffen einen gutbezahlten Job, und der hat nichts anderes im

Kopf als seinen Spaß – mit Männern.“

Miles wandte ihm das Gesicht zu und grinste.

„Kommt da deine gewissenhaft sittliche Erziehung durch? –

Im Ernst, Rupert, damit solltest du dich nicht belasten. Gisèle

war dir bisher nicht gerade ein Freund. Mich wundert, dass du

dich ihretwegen so quälst. Und Raoul ahnt wahrscheinlich

sowieso etwas. Was könnte er aber daran ändern? Julien ist

zwanzig, er lässt sich nicht gängeln.“

„Nenn’ mich meinetwegen spießbürgerlich“, erwiderte

Rupert. „Aber sie sah nicht glücklich aus, als sie es mir gesagt

hat.“

Wieder herrschte Schweigen. Rupert glaubte schon, Miles

sei ins Reich der Träume unterwegs, als er den Faden des

Gesprächs wieder aufnahm. „Soll ich mit ihnen reden?“

„Mit wem?“

„Den abtrünnigen Chorknaben. Vielleicht ist ja alles nur

halb so wild, und Gisèle macht aus einer Mücke einen

Elefanten. Überdies möchte ich nicht, dass du dir deshalb die

Nächte um die Ohren schlägst.“

„Danke“, murmelte Rupert, er robbte an Miles heran und

spürte noch dessen Arm um seine Schulter, bevor er Knall auf

Fall einschlief.

Page 184: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

184

Kapitel 16

ilig hatte es Miles mit seinem Vorsatz nicht. Wichtiger

als ein klärendes Gespräch mit den Franzosen, das er

vielleicht aus Pietät scheute (Rupert wusste, dass dies nicht der

Fall war, redete es sich aber ein), war ihm Ruperts Therapie.

Es gab Momente, in denen Rupert sich einen weniger

disziplinierten Betreuer gewünscht hätte und Miles das auch

wissen ließ.

Doch seine Beschwerden prallten an ihm ab, und sowie er

drohte, ihn wieder ins Spital zu überweisen, wurde Rupert

seine Bequemlichkeit bewusst, von der er geglaubt hatte, sie

unter Miles’ Aufsicht besser entfalten zu können als bei den

mitleidslosen Krankenschwestern. Was sich jedoch als

Trugschluss herausstellte.

Im Großen und Ganzen war Miles verständig und mutete

ihm nicht zuviel zu, doch er war genauso ein ehrgeiziger

Mentor, der das Beste für seinen Schützling wollte. Da er sich

und Rupert das Ziel gesetzt hatte, bis zu einem bestimmten

Termin die Behandlung abgeschlossen zu haben, bekam das

süße Nichtstun nur kleine Chancen. Glücklicherweise vergaß

Miles es doch nicht ganz; Tiere und kleine Kinder zeigten sich

erst gelehrig und willig, wenn man ihnen die Übungen

versüßte. Erwachsene waren in dieser Hinsicht nicht viel

anders, dachte er, und sollte recht behalten.

Über Ruperts Fortschritte freute er sich mehr als Rupert

selbst.

Es war ein eigenartiges, aber auch angenehmes Gefühl für

Rupert, wenn er zwanzig Schritte ohne Hilfe zurückgelegt

hatte und dafür zur Belohnung einen Kaffee oder einen Imbiss

im nächsten Bistro spendiert bekam. Und da er geradezu

süchtig nach diesen kleinen Belohnungen wurde, strebte er

trotz seiner gespielten Meuterei an, Miles jeden Tag mit mehr

Selbständigkeit seinerseits zu überraschen. Alltägliche Dinge

E

Page 185: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

185

wie der Gang zur Toilette oder das Anziehen hatten ihm

monatelang das Leben schwer gemacht. Damit sollte endlich

Schluss sein. Es wäre zum Lachen, wenn er nicht zur alten

Form zurückfinden würde nur aufgrund eines

Missverständnisses.

Die Krücken waren ihm ohnehin hinderlich und, wie er

festgestellt hatte, nicht ungefährlich. Vor allem auf häufig

frequentierten Plätzen und Promenaden musste er aufpassen,

dass er keinen Passanten aufspießte oder einen ungünstig auf

einer Erhebung parkenden Kinderwagen ins Rollen brachte,

dem Miles hinterher gerannt und einer aufgelösten Mutter

unter tausend Entschuldigungen wieder übergeben hatte.

~*~

Eines Morgens machten sie sich dann doch auf zum Olde

Vic. Da Thierry erst am späten Vormittag öffnete, blieb ihnen

genügend Zeit, in Ruhe zu sprechen. Miles zeigte keinerlei

Anzeichen von Nervosität; er hatte Rupert versprochen, nicht

dabei sein zu müssen, falls ihm die Angelegenheit zu nahe

ging. Im Vorfeld hatten sie sich geeinigt, Gisèle nicht zu

erwähnen.

Als Freunde und temporäre Angestellte des Inhabers

besaßen sie ein Duplikat des Hausschlüssels. Hinter dem

Windfang waren Julien und Thierry dabei, alles für den Tag

vorzubereiten. Im Radio schmachtete Elvis Presley, Julien

fegte die Ecken aus, während Thierry hinter dem Tresen das

Geschirr und Gläser auf übersehene Schmutzränder und

eventuelle Risse kontrollierte. Er lief ihnen beflissen entgegen.

„Bonjour, mes amis! Ihr wisst ja, Frühstück gibt es erst in

einer Stunde. Oder hattet ihr einfach nur Sehnsucht nach mir?“

„Weder noch, Thierry.“ Bereits an Miles’ Tonfall ließ sich

erahnen, dass etwas Ernstes in der Luft lag. In der Haut des

drahtigen Kellners hätte Rupert jetzt nicht stecken mögen.

„Bringst du uns Tee? Für vier, bitte. Rupert und ich haben

etwas mit euch zu besprechen.“

Besorgt zupfte Rupert den Freund am Ärmel. Er hatte nicht

miteingebunden werden wollen in das Gespräch und Miles

Page 186: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

186

ausdrücklich darauf hingewiesen. Warum hielt er sich nicht an

die Vereinbarung?

„Klingt viel versprechend“, sagte Julien, während sich

Thierry ohne Umschweife in die Küche begab. Er setzte sich

zu den beiden an einen Tisch und strahlte. „Der Laden

brummt, Victor! Ich werde wohl meinen Job kündigen und

Thierry unter die Arme greifen müssen, damit er den täglichen

Ansturm bewältigen kann. Und ich lerne Deutsch,

Niederländisch, Spanisch und Amerikanisch, um mit jedem

Gast in seiner Heimatsprache zu kommunizieren.“

„Wunderbar“, nuschelte Miles mit der Zigarette im

Mundwinkel und riss ein Streichholz an der Schuhsohle an.

„So hab ich mir das vorgestellt.“

In trauter Runde tranken sie ihren Tee und schwatzten ein

wenig über die unglaubliche Verwandlung des einst tristen

Bistros. Vor der Tür tummelten sich einige Vorbeigehende,

sahen kurz auf die Uhr und schlenderten weiter, nachdem

Thierry sie auf die Öffnungszeiten aufmerksam gemacht hatte.

In seiner jetzigen Situation konnte er es sich leisten, seine

Gäste auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten.

Miles stellte sein Glas ab und sah Thierry und Julien einer

nach dem anderen durchdringend an, bis Julien etwas

verunsichert losprustete. „Was ist denn? Hat die pingelige

Gesundheitsbehörde eine Beschwerde vorgebracht? Oder will

dein Hotelier uns nicht mehr beliefern?“

„Oh, nein“, sagte Miles. „Alles in Ordnung, mein Liebling.“

Verdutzt ob des Kosenamens schaute Julien zu Thierry, der

verständnislos die Achseln hob. Rupert saß wie auf glühenden

Kohlen; an seinen Seiten rann Schweiß hinunter.

„Hört zu.“ Verschwörerisch beugte sich Miles ein wenig

über den Tisch, als habe er Angst, Unbefugte könnten sie

belauschen. „Das Lokal läuft morgen auf den Tag genau

erfolgreich ein Vierteljahr unter neuem Namen. Rupert und ich

dachten, dass das ein guter Anlass zum Feiern im kleinen

Rahmen wäre. Nur Rupert, ihr und ich. Kommt morgen Abend

ins Hotel. Ich bestelle Champagner und Kaviar, und wir lassen

Page 187: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

187

ohne Druck gemütlich auf uns zukommen, was sich ergibt.

Und kein Wort zu niemandem. Ihr schätzt doch Experimente?“

„Seid ihr nicht Brüder …?“ wandte Julien mit großen Augen

ein; Bedenken, das Miles mit einer nonchalanten

Schulterbewegung entkräftete. „Na und? Das soll uns nicht

daran hindern, ein bisschen Spaß zu haben. Hat’s noch nie und

wird es auch nicht. Es sei denn, euch stört es.“

Rupert stockte der Atem. Er machte ihnen einen Vorschlag,

dessen delikate Natur sie sofort erfassten. Triumphierend stieß

Thierry Julien ans Schienbein.

„Wir sind offen für alles“, versicherte er im selben Ton,

bemüht, seine Erregung zu kaschieren. „Wir könnten ja auch

schon heute vorbeikommen, wenn es keine Umstände macht,

was ist schon ein Tag mehr oder weniger. Ich hab nichts vor.

Du, Julien?“

Julien schüttelte den Kopf. „Darf ich dich küssen, Victor?

Als kleinen Aperitif? Ich meine, das ist ja wirklich – ein

großzügiges Angebot!“

Völlig überrumpelt hockte Rupert wie ein Stock neben

Miles, der sphinxhaft lächelte und leicht Ruperts Hand unterm

Tisch drückte, wie um ihm zu versichern, dass er keinen

Grund habe, sich zu ängstigen, solange Miles bei ihm war.

Doch es nützte nichts. Er fühlte sich übergangen, erniedrigt

und belogen. Von einer solchen Verabredung hatte er sich

gefürchtet. Hatte er nicht immer geahnt, dass er Miles nicht

trauen konnte? Geschah ihm ganz recht, dass er so übel

hereingelegt worden war. Er und seine verfluchte Naivität!

Als Juilen sich vorbeugte, um sein Vorhaben in die Tat

umzusetzen, stieß Miles ihn von sich, dass er mitsamt dem

Stuhl hinten überkippte, und sprang auf.

Entsetzt starrte Thierry auf den ächzenden Jungen am Boden

und half ihm im nächsten Moment auf eine Bank am Fenster.

Vor Schmerz runzelte Julien die Brauen und krümmte sich. Zu

allem bereit baute sich der kleine Thierry vor dem großen

Miles auf; das flinke Eichhörnchen forderte den mächtigen

Löwen heraus.

Page 188: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

188

„Was soll das?! Du hast ihm wehgetan! Er wollte sich nur

bedanken!“

Miles atmete schwer, er hatte sich nicht wieder gesetzt. Jetzt

nahm er Rupert am Ellenbogen, um ihn ebenfalls zum

Aufstehen zu animieren. Wie betäubt von der unerwarteten

Wende der Ereignisse folgte Rupert, seine Gedanken fuhren

Achterbahn. Vor seinen Augen schwamm alles, und er

wünschte sich die Krücken herbei, die zuhause am Schrank

lehnten. Gottlob war Miles da, an den er sich unauffällig

klammerte. Jetzt, nach dieser unmissverständlichen Abfuhr,

durfte er es wohl riskieren, auf Tuchfühlung zu gehen.

„Was seid ihr für törichte kleine Jungs“, bedeutete ihnen

Miles, seine Stimme klang plötzlich scharf und schrill vor

Zorn. Durch die heftige Abwehr, mit der er sich Julien vom

Leib gehalten hatte, war sein Haar in die Stirn gefallen. Mit

der Rupert inzwischen vertrauten, ungeduldigen Geste wischte

er es zurück.

„Für weniger kommt ihr ins Gefängnis und macht euer

Leben kaputt! Und nicht nur eures, sondern auch das eurer

Familien. Wenn ihr schon meint, euch auf diese Art amüsieren

zu müssen, dann denkt wenigstens an sie. Thierry, du hast

Frau und Kinder! Noch sind sie zu klein, um zu verstehen, was

ihr Vater so treibt, aber wenn sie es erfahren und von der

Gesellschaft geächtet werden, sehen sie dich mit anderen

Augen! Und hast du Gisèle mal gefragt, wie sie darüber denkt?

Ist dir gar nie der Gedanke gekommen, es könne sie kränken?

Oder dass sie Angst hat, jemand wie ich oder Rupert plaudern

dein Geheimnis aus?

Uns zu vertrauen ist eine große Dummheit, denn wir sind

fremd und können uns jederzeit erlauben, damit zur Polizei zu

gehen und das Land unbehelligt zu verlassen.

Dasselbe gilt für dich, Julien, wenn dabei auch nur dein

eigenes Leben ruiniert wird. Du brauchst keine Angst zu

haben: meinetwegen kannst du deinem Hang weiterfrönen; du

hast keine Familie wie Thierry. Aber du verletzt deinen Onkel

Raoul, der soviel für dich getan hat. Wenn er nicht mehr

Page 189: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

189

schweigend darüber hinwegsieht und deine Eltern

benachrichtigt, ist dein Leben vorbei, bevor es richtig

angefangen hat. Vor allem: lass Thierry in Ruhe. Er gehört

Gisèle und den Kindern. Natürlich könnt ihr euch weiterhin

treffen, euch schöne Abende im Kino machen und einen

trinken gehen, aber auf rein freundschaftlicher Basis. Nicht so

wie bisher. Ihr werdet sehen, dass euch eine platonische

Beziehung ebensoviel geben kann, wenn nicht gar mehr.“

Im letzten Teil seiner Gardinenpredigt hatte er sich zum

Großteil gefangen; er war wieder ruhig, sein Atem ging

normal. Thierry und Julien sahen elend aus auf ihrem

Sünderbänklein. Fast konnten sie einem leid tun, Rupert hatte

ohnehin ein viel zu weiches Herz. Dennoch: auch Miles war

die Rede nicht leicht gefallen.

Endlich erhob sich Thierry wie in Trance und schenkte

jedem von ihnen ein Glas Whisky ein.

„Fang’ nicht wieder damit an.“ Miles nahm ihm die

Flasche weg, ließ es aber zu, dass er sein Glas auf Ex leerte.

„Es hätte so schön werden können“, lamentierte Thierry.

„Ich dachte, ihr hättet Verständnis …“

„Das habe ich, Thierry. Mehr als du denkst. Julien ist ein

hübscher Kerl. Aber du hast Gisèle, die tausendmal hübscher

ist und außerdem deine Frau. Sie liebt dich, und es kränkt sie,

dass du sie nicht für vollwertig erachtest, indem du mit Julien

flirtest.“

„Habt ihr mit Gisèle gesprochen?“

Gemäß ihrer Absprache schüttelte Miles den Kopf. „Nein.

Das war nicht nötig. Wenn du ihr mehr Aufmerksamkeit

schenken würdest, hättest du gesehen, dass sie unglücklich ist.

Sie will es nicht zeigen aus Angst, dich zu verlieren. Aber das

ist fast so dumm wie eure heimliche Liaison. Zeig’ ihr, dass du

sie liebst. Dass du dankbar bist für François und Nini. Kinder

wirst du mit Julien nämlich nie haben.“

Julien, der immer noch ein wenig den Eingeschnappten

markierte, lachte über diese auflockernde Bemerkung wider

Page 190: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

190

Willen auf. „Sehr scharfsinnig!“ sagte er, sein Ton klang

versöhnlich. „Das wäre aber wirklich das Letzte!“

Da Julien die Sache mit Humor nahm, entspannte sich auch

Thierry etwas, er zog den Mund in die Breite. Alles in allem

wirkte sein Lächeln unsicher, aber Miles schien etwas in ihm

angestoßen zu haben, das ihn berührte und über das er

ernsthaft nachdachte.

„Ich war Gisèle die letzten zwei Jahre kein guter Ehemann.

Und dich, Julien, habe ich davon abgehalten, mit Mädchen

auszugehen. Das war nicht rechtens, ich gebe es zu. Unsere

Freundschaft muss ja nicht zu Ende sein. Vielleicht ist ein

neuer Anfang gar nicht so verkehrt. In jeder Beziehung.“

Rupert atmete auf und löste seine verkrampften Finger, mit

denen er sich an Miles’ Jackenzipfel festgehalten hatte.

Erstaunlich, wie Miles die Situation von einer kitzligen in

die richtige manövriert hatte, ohne belehrend oder taktlos zu

agieren.

Sein Misstrauen reute ihn. Miles’ Ruf, der ihm bereits auf

dem College vorausgeeilt war, bewahrheitete sich immer

wieder. Er ging keinem Konflikt aus dem Weg und steckte

voller Überraschungen. In erster Linie aber war er das, was er

selbst gewiss vehement abgestritten hätte: ein

gerechtigkeitsliebender Philanthrop.

~*~

Der November in Paris stand dem Londoner in nichts nach;

grau und regnerisch hielt er Einzug und mit ihm eine gewisse

Melancholie der Menschen, vor der auch Miles und Rupert

nicht gefeit waren. Besonders Letzterer, dem die Schwermut

ohnehin im Blut lag, konnte es gar nicht glauben, wie schnell

die Zeit verflog. Im Frühjahr waren sie hier angekommen.

Über ein halbes Jahr logierten sie nun in diesem Hotelzimmer,

wobei Rupert fast die Hälfte davon im Krankenhaus gelegen

hatte. Er hatte das dumpfe Gefühl, etwas versäumt zu haben.

Manchmal rutschte er in ein Loch, aus dem Miles ihn nur

unter großer Anstrengung herauslocken konnte. Er ging mit

ihm in die Oper, ins Kino und in vornehme Restaurants wie

Page 191: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

191

das Maxim’s, nur um Rupert zu zerstreuen. Tatsächlich halfen

ihm diese Vergnügungen über seine Trübsal hinweg. Wenn

auch nur für kurze Zeit, so war er doch dankbar, in Miles

einen verständigen Begleiter und Freund zu haben.

Durch den Wetterumschwung schmerzte sein Bein, und

wenn sie unterwegs waren, verübelte ihm Miles die Krücken

nicht, die Rupert streng genommen nicht mehr benötigte.

Doch er duldete keinen Schlendrian; bei Wind und Wetter

waren sie draußen, besuchten Raoul oder Thierry und Gisèle

mit Jacques in ihrem Heim. Die Levants hatten wieder

zueinander gefunden und turtelten so offensichtlich und

schamlos, dass Rupert mitunter rot wurde, wenn er sie

schmusen sah. Ihnen schien das trübe Wetter nicht aufs Gemüt

zu schlagen.

Julien hatte Konsequenzen gezogen und um Urlaub gebeten,

den er bei seinen Eltern verbrachte. Er brauche Abstand, sagte

er, um innerlich zu Thierry ein normales, freundschaftliches

Verhältnis aufzubauen. Das Argument war vernünftig, und so

hatte er Raouls Segen, für ein paar Wochen in seiner

südfranzösischen Heimat aufzutanken und sein bisheriges

Leben zu überdenken.

Von seinen Eltern, mit denen er gelegentlich

korrespondierte, hatte Rupert bei ihrem Krankenbesuch die

Adresse von Miles’ Angehörigen erhalten; nach einiger Zeit

fasste er sich ein Herz und schrieb an die Mutter. Seine

Handschrift war noch krakelig durch die Knochenbrüche, aber

mit gutem Willen lesbar.

Er erzählte von der Sorge Miles’, sie trage ihm den Tod des

Vaters nach. Es war verrückt, sich derart in Miles’

Privatangelegenheiten zu verbeißen, aber Rupert meinte, das

Recht dazu zu haben. Mittlerweile betrachtete er sich fast als

leiblicher Bruder. Demzufolge konnte ihm nicht gleichgültig

sein, ob Miles und seine Verwandten sich in gutem

Einvernehmen wieder sahen oder einander gram waren. Zu

guter Letzt legte er ein Foto von Miles bei, das er ohne dessen

Page 192: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

192

Wissen geschossen hatte. Sie sollten wissen, wie es ihm ging

und wie gut er aussah.

Zwei Wochen später erhielt er Antwort. Aufgeregt presste er

den Briefumschlag unter seinem Mantel an die Brust und

bewahrte ihn in der Tasche auf, bis er Zeit und Ruhe hatte, ihn

ungestört zu öffnen, wozu er sich ins Badezimmer zurückzog

und auf den Toilettendeckel setzte.

Mrs. Kaminsky war außer sich vor Freude. Sie hatte den

Sohn ebenso wie den Vater tot geglaubt, darum hatte sie nie

Anstrengungen unternommen, ihn zu finden. Ruperts Brief sei

wie ein Geschenk des Himmels, er sei herzlich eingeladen, sie

baldmöglichst zusammen mit ihrem Sohn in New York zu

besuchen. Auch Miles’ Schwestern freuten sich sehr auf ihren

lang verschollenen Bruder und auf dessen hilfsbereiten

Freund, der weder Aufwand noch Mühe gescheut hatte, sie

wieder zusammenzuführen.

Ruperts Beispiel folgend hatte auch sie eine Fotografie der

Familie mit Lenes Ehemann beigelegt, sowie ein Porträt der

Geschwister, das die Wirren des Krieges in irgendeinem

Geheimfach überstanden hatte.

Zunächst betrachtete er das Foto jüngeren Datums. Alle drei

Frauen hatten dasselbe Haar wie Miles, dunkel und weich.

Entgegen Miles’ Befürchtung wirkten sie nicht verbittert,

sondern strahlten die charismatische Gelassenheit aus, die den

Kaminskis eigen schien.

Sein Blick blieb an der jüngeren Schwester Katjuscha

hängen. Sie war etwa Mitte bis Ende Zwanzig und trug einen

Bubikopf. Ihre Augen lächelten trotz der Tatsache, dass ihr

Mund es nicht tat; er hatte so etwas noch nie gesehen und

fühlte sich unerklärlicherweise davon irritiert und angezogen

gleichermaßen. Ihre innere Heiterkeit war so präsent, dass

selbst das Foto sie nicht rauben konnte.

Die Aufnahme von Miles und seinen Schwestern rührte

nicht minder starke Empfindungen auf. Sie war abgegriffen,

fleckig und brüchig, doch machten der schlechte Zustand und

das Motiv gerade ihren Charme aus.

Page 193: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

193

Der etwa zehnjährige Milos saß in einem Korbsessel,

Katjuscha ein wenig linkisch auf dem Schoß, und grinste in

die Kamera. Zwar hatte Rupert ihn als Kind nicht gekannt,

aber er glaubte anhand der Momentaufnahme zu erkennen,

dass Miles trotz aller Schicksalsschläge von jeher ein Optimist

war. Lene stand mit feierlich ernstem Gesicht daneben und

ließ den Arm auf der Sessellehne beschützend über den

Geschwistern ruhen, so als ahne sie mit prophetischer

Weisheit die bereits aufziehenden Gewitterwolken des

unseligen Dritten Reiches.

Gerührt schluckte Rupert den Kloß im Hals und strich sachte

über das Porträt. Es musste der Familie einiges abverlangt

haben, es auf dem unsicheren Postweg über den Ozean zu

schicken.

Mit klopfendem Herzen legte er den Brief auf den

Wannenrand. Er barst fast vor Glück für Miles, zögerte

jedoch, ihn von seinem heimlichen Kontakt zu unterrichten.

Miles mochte es ja nicht, dass er sich einmischte.

Er steckte das Kuvert in seine Manteltasche, wo er es überall

mit sich herumtrug wie einen Schatz.

~*~

Etwa zur selben Zeit wurde Miles von einer Unruhe erfasst,

die Rupert rätselhaft war. Er forderte seinen Freund nicht mehr

zum Ausgehen auf; stattdessen zog er häufig alleine los und

kam erst nach Hause, wenn Rupert schon schlief. Mitunter traf

er sich mit Raoul, der sich nach Juliens Abschied etwas

umgänglicher zeigte. Abgesehen davon hatte er mit Miles

schon immer am besten gekonnt. Obwohl Rupert sich etwas

ausgeschlossen fühlte, tolerierte er Miles’ Veränderung ohne

Vorwürfe.

Doch als keine Besserung in Sicht war und Miles immer

einsilbiger wurde und auch nachts keine Ruhe fand, entschied

er, ihn aufzumuntern.

Sie saßen in einem Café. Miles ließ einen Espresso nach

dem anderen die Kehle hinunterrinnen. Noch kein einziges

Wort hatte er mit Rupert gewechselt, seit sie sich gesetzt

Page 194: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

194

hatten. Er schaute in die Ferne zu den Fenstern und manchmal

durch Rupert hindurch, als sei er Luft.

Tief einatmend nestelte er in seiner Tasche nach dem Brief.

Es war riskant, aber vielleicht die einzige Möglichkeit, etwas

von dem Miles in ihm zu wecken, den er kannte. Schweigend

platzierte er ihn auf die Mitte des Tisches und nippte an

seinem Kaffee. Eine Weile geschah nichts; Miles war zu sehr

in Gedanken, um auf Rupert zu reagieren. Erst ein Rascheln

des Papiers, verursacht durch Ruperts Finger, lenkte seine

Aufmerksamkeit auf den Freund und schließlich widerwillig

auf das Schriftstück.

„Für mich?“ fragte er gleichmütig, um gleich darauf ein

wenig barsch zu werden. „Er ist an dich adressiert. Warum

gibst du unsere Adresse weiter? Ich hab dir gesagt, ich will

nicht, dass man unseren Aufenthaltsort erfährt. Kannst du

nicht einmal das tun, was man dir sagt?“

„Öffne ihn“, sagte Rupert leise.

Miles tat es, immer noch ungehalten. Als die Fotos aus dem

Umschlag flatterten, bückte er sich danach und erstarrte.

Langsam richtete er sich auf, seine Hand zitterte.

„Woher hast du das?“ flüsterte er mit belegter Stimme.

„Ein Brief ist auch dabei“, erklärte Rupert. „Deine Mutter

freut sich sehr auf dich. Sie ist Klavierlehrerin für

Privatstunden und besitzt einen Konzertflügel. Sie spielt

immer noch Chopin am liebsten.“

Er wusste nicht, weshalb er das sagte, es war völlig

unwichtig. Und doch löste die Bemerkung in Verbindung mit

den Fotos eine emotionale Aufwallung in Miles aus: er

flüchtete mit dem Brief in die Herrentoilette.

Perplex sah Rupert ihm nach, dann erhob er sich und folgte

ihm.

Er hatte sich in einer der Kabinen hinter den Pissoirbecken

eingeschlossen. Rupert rüttelte an jeder Tür; nur eine war

verriegelt.

Page 195: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

195

„Miles“, rief er gedämpft, während er die Klinke

hinunterdrückte. „Bitte mach’ auf. Ich dachte, es freut dich.

Wo du doch nicht sicher warst …“

Der Knauf drehte sich von innen, und Miles warf sich in

seine Arme. Er weinte bitterlich und barg das Gesicht an

Ruperts Schulter, die innerhalb von Sekunden nass bis auf die

Haut wurde. Unter der Heftigkeit torkelte Rupert auf seinem

gesunden Bein mit Miles in die Sicherheit der Kabine zurück,

wo ihm die Wand Halt gewährte.

Miles war völlig fertig. Er konnte sich nicht mehr beruhigen.

Sanft und wie selbstverständlich strich ihm Rupert mit beiden

Händen durchs Haar. Das schöne, glatte Haar, das Miles seit

ihrem Parisaufenthalt wachsen ließ und nur noch an

besonderen Tagen mit Brillantine zähmte; er verlor sich

regelrecht darin und schloss die Augen, um den Moment voll

auszukosten. Plötzlich war er der Erwachsene, und Miles der

Junge mit dem verletzten Herzen, der getröstet werden musste.

„Scht“, machte er. „Es ist doch alles gut, Miles.“

Miles hielt ihn umfangen, eisern und wie ein Ertrinkender.

Es tat trotzdem nicht weh. Miles brauchte ihn, das war ein

Gefühl, das alle Pein der Welt aufgewogen hätte.

„Deine Familie liebt dich. Du brauchst keine Angst zu

haben. Du hast nicht versagt. Sie hatten gedacht, du und dein

Vater wärt tot. Wie könnten sie dir böse sein? Kannst du dir

nicht vorstellen, wie groß ihre Freude war, als sie nach so

langer Ungewissheit erfuhren, dass du wohlauf bist? Sie sind

nicht wütend.“

„Die Fotos …“ schluchzte Miles. „Darf ich sie behalten?“

Rupert lachte spröde, es fiel ihm schwer, angesichts der

aufgeladenen Situation nicht mitzuweinen. „Es sind deine. Ich

nehm’ sie dir nicht weg.“

„Oh Rupert! Ich bin hysterisch, verzeih’.“ Mit dem

Handrücken trocknete er seine Tränen und die schwarzen

Wimpern, bevor er sich schneuzte. „Komm“, sagte er und

nahm Ruperts Hand. „Wir müssen feiern.“

Page 196: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

196

Page 197: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

197

Kapitel 17

Im Olde Vic war alles leer. Den Montag hatte Thierry als

Ruhetag auserkoren; ein Luxus, den er sich gönnte. Miles

schloss die Tür auf und entkorkte hinter dem Ausschank einen

erlesenen Wein, der zu den teuersten auf der Karte gehörte.

Rupert meldete Bedenken an, doch Miles ließ sich nicht

beeinflussen. Falls Thierry ihn bezahlt haben wollte, wäre es

ihm ein Vergnügen.

Von den Flutlichtern schaltete er nur einen Teil an. Sie

verbreiteten ein schummriges Licht, das gegen den Nebel

draußen ankämpfte. Der Raum wirkte gemütlich und so

heimelig, dass Rupert wohlig fröstelte, als Miles mit dem

Wein und zwei Gläsern antanzte. Keiner von ihnen hatte das

Bedürfnis zu reden, und so genossen sie den teuren Rebensaft

in vollen Zügen.

Nach dem ersten Glas zog Miles Rupert auf die Füße.

„Spiel’“.

Es war das erste Mal seit seinem Unfall, dass Miles ihn

darum bat. Ein wenig unsicher setzte er sich auf den Schemel.

„Ich weiß nicht, Miles. Vielleicht kann ich es nicht mehr. Oder

meine Finger brechen.“

„Unsinn. Bitte. Tu’s für mich.“

Er stand hinter Rupert, wie früher. Ewigkeiten schien das

her, und doch so vertraut. Zaghaft schlug er einen Akkord auf

der Klaviatur an. Wieder kam die Musik von selbst in seine

Fingerspitzen und von dort in perfekter Harmonie auf die

Tasten. Er spürte, wie Miles seine Schulter umfasste, roh fast

und so, als müsse er sich mit Gewalt auf den Beinen halten.

Rupert spielte trotz einer Warnung in seinem Hinterkopf

weiter, er konnte gar nicht anders, es war wie ein Rausch.

Der Druck auf seinen Schultern ließ nach; als er aufsah,

entdeckte er Miles. Rittlings auf einem Stuhl sitzend

Page 198: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

198

beobachtete er den in sein Spiel Versunkenen. Um seine

Mundwinkel huschte ein wehmütiges Lächeln.

„Rupert“, sagte er sehr eindringlich, aber auch sehr

liebenswürdig. „Wir fahren nach Hause. Möchtest du Pate für

meine Tochter sein?“

Abrupt beendete Rupert den Walzer. Er musste sich verhört

haben. Heiße und kalte Kongestionen wechselten sich in

seinem Körper ab und fluteten die Adern, wo sie schließlich

gefroren.

„Was?“

„Es würde mich ehren, wenn du ja sagst.“

Mit offenem Mund wandte sich Rupert dem Freund zu, doch

er bekam keinen Ton heraus. Das musste ein Scherz sein!

Miles senkte den Blick, während er mit seinen Fingern spielte.

„Ich bin dir schon lange eine Erklärung schuldig. Das ist sie.

Ich bin Vater.“

„Nein!“ entfuhr es Rupert.

„Letzte Woche kam ein Telegramm. Von Claire. Meiner

Verlobten. Nun, wir sind eigentlich nicht verlobt … das ist der

Grund, weshalb ich fort musste. Ihr Vater war gegen die

Verbindung und hat mich wegen Notzucht angezeigt. Sie

stammt aus gutem Haus, und er wollte keinen Juden in der

Familie. Außerdem – bekam ich kalte Füße, als sie mir sagte,

dass sie ein Baby erwartet. Ich wollte die Verantwortung nicht

übernehmen. Aber inzwischen möchte ich es versuchen. Sir

Bellwood hat seine Klage zurückgezogen, nachdem er Claire

nun endlich glaubt und nicht mehr die Mär der Schändung

aufrecht hält. Er meint, es sei besser, einen Judenvater zu

haben als gar keinen. Weise Einsichten, wie ich finde.

Unsere Tochter heißt Fanny. Ich – habe sie noch nicht

gesehen, sie kam erst vor ein paar Wochen zur Welt. Würdest

du uns bei der Erziehung helfen? Sie muss dich lieben, Rupert,

oder sie ist nicht meine Tochter. Außerdem werden wir einen

Trauzeugen für die anstehende Hochzeit brauchen. Willst du?“

„Natürlich … ja“, stotterte Rupert fassungslos, Tränen traten

in seine Augen. „Mit Freuden!“

Page 199: Vom Ernst Des Lebens [Manuskript von Christine Wirth]

199

~*~

Die Autorin

Christine Wirth lebt im Badischen.

Sie liebt Tiere, ihre Familie, alte Filme und Zwiebeln.

Dankeschön an

Mareike Unting und Daniela Hartmann für die freundliche

Unterstützung. Und natürlich an Nikky ~ fürs Dasein.


Recommended