Transcript
Page 1: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

German Lifr and Lcttcn 48:l Januuy 199.5 001fX777

WAS BLEIBT - 'NUN JA! DAS NACHSTE LEBEN G E H T ABER

GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF I M JAHRE 1979

GISELA ROETHKE

HEUTE AN' - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN

Der Sturrn irn deutschen Zeitungsblatterwald vorn Sornrner 1990 uber Christa Wolfs Erzahlung Was bleibl hat sich langst gelegt.' Es ging dabei hauptsachlich um den Zeitpunkt der Veroffentlichung dieses Textes und urn die politisch allzu vorsichtigen Formulierungen, die Wolf benutzt hatte. Seit Anfang 1993 dreht sich die Debatte urn die Enthullungen von Wolfs inforrneller Mitarbeit fur die Stasi in den Jahren 1959 bis 1962. Die kontroverse Rezeption von Was bleibl hangt also rnit der jeweiligen zeitgenos- sischen politischen Diskussion zusarnrnen.

In dieser Arbeit soll Was bleibf in den zeitlichen Kontext gefugt werden, in dem es im Juni/Juli 1979 ursprunglich entstand, auch wenn heute noch nicht klar ist, welche Uberarbeitungen Wolf bis zurn November 1989 daran vornahm. Es soll gezeigt werden, da13 Christa Wolf nach ihrer Entscheidung, den Text darnals nicht zu veroffentlichen, andere literarische Mittel fand, urn ihre Kritik am System, vor allern was die Zensur, Berufsverbote und Exilierungen anging, doch noch anzubringen. Ich will hier die Beziehung zwischen Was bleibt und Wolfs 'Brief uber die Bettine' untersuchen, wobei, solangc uns die Manuskripte nicht vorliegen, nicht klar ist, inwieweit der ursprungliche Text von Was bleibf den 'Brief iiber die Bettine' beeinflufit hat, und wieviel von dem 'Brief erst in der spateren uberarbcitung von Was bleibf in dieses eingegangen ist. Aber die Tatsache der Beziehung der zwei Texte aufeinander bleibt bestehen. Diese Selbstreferentialitat ist eine Technik, die Christa Wolf wiederholt in ihren Texten verwendete. Ein besonders pragnantes Beispiel dafur ist bekannterweise der Kassandra -Roman und die dazugehorigen Vorlesungen. Im Zusarnrnenhang rnit War bleibf hat Lehnert besonders die Beziehungen zu Kein Ort. Nirgends. aufge- zeigt.*

Nach Wolf Bierrnanns Ausburgerung im November 1976, nach ihren Protesten dagegen, schien Christa Wolf sich vor allern in die Rornantikrezep-

I Lkr Strcit ubcr dicscs Buch ist rusammciigcfaflt und kornmentiert worderi in I h r ddsrh-dcutsche Lrhalurstrnl oder 'Frcundr, cs sprichl sich srhlechl mil grbundener Zungc' - Anabstn und .Malcrialicn, hrsg. von Karl Lkiritz und Hanncs Krauss, Hamhurg/%urich, 1991. Eine ganre Scrie von Stcllungnahrnen sind herausgckornrncn im GDK Bullelin, 17 (1991). 1-18 (Autorcn: Fries, HBrnigk, Kuhn. Rossrnan, Scvin, Zchl Rorncro). Andrcas Huysscn hat in der .Vcw German Cri:n'liquc, 52 (Wintrr 1991), 1 0 9 4 3 untcr dern Titel 'After the Wall: The Failure of German Inlrllcrtuals' einen dcr narhdrnkrnswrrtcstcn Artikcl rum Strcit um Wor bleibt und zur Position dcr dcutschcn lntcllektucllen narh 1989 vcrof- fcntlicht. - Tcxtstcllcn aus War bhb! wcrdcn ziticrt aus dcr Luchtcrhand Ausgabc. Frankfurt a. M . 1990. ' Herbert Lchncrt. 'Fiktionalitat und autobiographischc Motive - Zu Christa Wolfs Errahlung "Was bleibt', Wnmrer Bcilragr, 37 (1991), 423-44.

Q Buil B k k w U Ltd 199% Published by Blackwell Puhlishcn. 108 Cowley Road. Oxford OX4 IJF. UK and 238 Mlin Street. Cambridge. MA 02142. USA.

Page 2: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

WAS BLEIBT - CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979 a7

tion zuriickzuziehen. Sie schrieb zwischen 1977 und 1979 zu diesem Themenkreis die Enahlung Kcin Ort. Nirgcndr. (1979), den Essay ‘Der Schatten eines Traumes. Karoline von Giinderode - ein Entwurf (1979) und das Nachwort ‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an. Ein Brief uber die Bettine’ ( 1981).3 Obwohl das Bettine-Nachwort erst 1981 herauskam, wurde es schon im Dezember 1979 geschrieben, also in enger zeitlicher Nachbarschaft zu der Erstkonzipierung von Was bleibt im Sommer 1979. Wolfs anscheinender Riickzug in die Romantikrezeption war u.a. bedingt durch die repressiven MaBnahmen der Regierung gegen die Auto- ren, die gegen Biermanns Ausweisung protestierten. Im April 1982 von Frauke Meyer-Gosau in einem Interview auf ihre Romantikrezeption dieser Jahre angesprochen, antwortete Christa Wolf u.a.: ‘. . . weil wir da wirklich Ahnlichkeiten spuren zu unserer eigenen Reaktion auf ungleich schwerwieg- endere Prozesse und Erscheinungen, deshalb dieser Ruckgriff. (D1 11, 880) Damit hat Christa Wolf selbst schon friihzeitig auf den zeitgenossischen Bezug ihrer Romantikrezeption hingewiesen.* Die ‘ungleich schwerwiegend- eren Prozesse’ werden von ihr nicht etwa in der Romantik datiert, sondern zu DDR-Zeiten, spatestens seit 1976. In einem Artikel in der Wochmpost vom 24. November 1989, betitelt ‘Es tut weh zu wissen’, schrieb Wolf dazu: ‘. . . dan es mir und anderen seit unserem Protest gegen die Ausburg- erung Wolf Biermanns 1976 nicht moglich war, in Zeitungen und Zeitsch- riften der DDR politische Artikel zu schreiben oder uns im Rundfunk und Fernsehen zu auBern’ (lm Dialog, 125).5

‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an’ ist bisher wenig und dann vorrangig von der feministischen Literaturwissenschaft rezipiert worden, vor allem auf utopische weibliche Gegenentwurfe oder auf eine feministische Asthetik hin, d.h. man hat sich auf das letzte Viertel des Textes konzen- triext6 Wahrscheinlich aus Grunden der Zensur verlief die Rezeption in der DDR ahnlich, weil man dort nicht wagen konnte, sich auf die politische

’ Die in Klammcm angcgcbcncn Jahrcszahlcn beziehen sich auf das Enchcinungsdatum dcr Tcxte. In diescm Artikcl wcrdcn Zitatc aus dcm ‘Bettine-Brief aus dcm Band von Christa Wolf, Die Dimcnrion des Autms-Essays und AuJsiifzc, Rrdm und Gcspriichc 195%1985, 11, Frankfurt a. M. 1990, ziticrt und mit DI I1 angcgcbcn. ’ Fast zur glcichcn Zcit tatcn das auch Patricia Herminghousc in ihrcm Artikcl ‘The Rediscovery of Romanticism: Revisions and Reevaluations,’ S f d i c s in GDR Cultun andSocitly, 2 (1982), 1-17, und Monika Torten in ‘Zur Aktualitit der Romantik in der DDR- Christa Wolfund ihrc Vorliufcrinncn’, ZntschnjljLr derttsclu Philologic, 101 (1982), 244-62. Spatcrc Artikcl, die sich mit Wolfs Romantikrc- zcption beschiftigten, sind u.a. von Patrick Baab, ‘Die Mitwclt hat Anspruch auf Auskunft - Konzeptuelle Wandlung dcr Rczeption des “negativcn” romantischcn Erbes in dcr DDR am Bcispicl von Christa Wolf, Dic Horm: j w g n Lifrrafurkrtir, 29.4 (1984), 49-61, und von Flcmming Finn Hanscn ‘<Erinncrte Zukunft>. Ein zcntraler BegrilF dcr Poetik und CeschichtsaulFassung Christa Wolfs’, Orbis Lifterarum, 44 (1989), 128-60. ‘Christa Wolf, Im Dialog-Akbulk Texfr, Frankfurt a. M. 1990, S. 122-7.

Spezicll hat sich Sara Lcnnox mit diesem Thcma beschiftigt: ‘Trends in Literary Theory: The Female Aesthetic and German Women’s Writing’, C m Quor&r!j, 4.1 (1981), 63-75. Und dieselbe Autorin in ‘Nun ja! das nichstc Ixbcn gcht abcr hcutc an. Prosa von Frauen und Frauenbefrciung in der D D R , Literufur dn DDR in dm rir6zign Jdrm, hng. von Peter Uwe Hohcndahl und Patricia Hcrminghouse, Frankfurt a. M. 1983, S. 224-58.

0 Buil BI.chrell Ltd 1995.

Page 3: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

88 WAS BLEIBT - CHRIS’rA WOLF IM JAHRE 1979

Brisanz des Textes einzulassen, sondern wohl in den ferninistischen Aspekten eine Ausweichrnoglichkeit sah.’ So sind die politischen Aspekte der ersten drei Viertel des Textes bisher nur wenig angeschnitten worden und konnen nun irn Zusarnrnenhang rnit Was bleibt starker in den Vorder- grund geriickt werden. Der Text von ‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an’ IaI3t sich unter diesern neuen Blickwinkel als Christa Wolfs Ver- such lesen, die rnit Was bleibt in der Schublade verschluckte Kritik am System im kaurn verhiillenden historischen Gewand doch noch ans Publi- kurn zu bringen, wenn auch sicher an ein wesentlich eingeschrankteres.

Wolf hatte selbst grone Zweifel, wie die Neuherausgabe des Giinderode- Buches bei einer rnodernen Leserschaft ankornrnen wiirde. Sie sprach diese Zweifel offen in ihrern Yachwort, dern ‘Bettine-Brief, aus:

. . . wenn ich diese Texte wieder lese. zweifelnd eher denn zuversichtlich, dan der Leser, die Leserin von heute, gewohnt, nuchtern und sachbezogen zu denken, diese dithyrarnbische Sprache, diesen oft schwarrnerischen Ton, diese Ausschweifungen uberhaupt ertragen werden; wenn ich rnir uberlege, oh sie . . . das Zeitgmossischc in ihrrm Dialog herausfinden konnen - dann denke ich an Sie und Ihre ungestillte Geschichtsgier . . . Und ich denke daruber nach, wie die unerledigten Einlagerungen in unserer Geschichte, die produktiven Ansatze, uber die sie rn i t ‘ehernern’ oder bloR geschaftigern Schritt hinwegge- gangen ist, und umtrt Stfbstcntfrmdung rniteinander zusarnrnenhangen. (rneine Hervorhebungen; DI 11, 599)

Schon die Form des Nachwortes zur Neuherausgabe von Bettine von Arnims Briefroman Die Giinderode ist wichtig. Wolf weigerte sich, die konven- tionelle Essayforrn cines Nachwortes zu benutzen, sondern schrieb stattdessen einen ‘Brief an eine unhenannte, aber literarisch und politisch interessierte Korrespondentin, rnit der sie schon einen langeren Briefwechsel zu solchen Thernen gehabt hatte. Es wird darnit eine bestirnrnte Art von Rezeption suggeriert: eine Lesart, die Interesse nicht nur a n asthetischen Fragen, hesonders der einer weiblichen Schreibart, sondern auch a n poli- tisch-kritischern Denken voraussetzt.8 Wolf sagt irn einfiuhrenden Para- graphen iiber diese Form:

Vielleicht ist uns beiden darnit geholfen: . . . beide konnen wir Grundthernen unseres Briefdialogs fortfuhren, indern wir sie in Bettina von Arnirns Brief- roman ‘Die Gunderode’ wiedererkennen und uns den Vorteil zunutze rnachen, den der historische Abstand uns bietet. (DI 11, 572)

’ Zwci Bcispiclc dafiir sind die Artikcl von Gabrielc Lindncr, ‘Natiirlich gcht das nachstc Leben hcutc an - Wortmeldung zu Christa Wolfs Brief iibcr dic &trine’, Wnrnorn Enhigc. 28.9 (1982), 166-71, und von Zbignicw Swiatlowski, ‘Christa Wolfs Urngang mit Kulturtraditioncn’, Wnrnarn Beitrhgr, 36.1 (1990), 158-72.

Auf das Thcma der wciblichcn Schreibart, dds sich in dcr Wahl dcr BriefTorm ausdriickt, hattc u.a. schon Iindncr, a.a.O., S. 167, hingcwicsen.

0 B a i l Blsctwell Ltd 1995

Page 4: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

WAS BLElBT - CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979 89

Diese Einfuhrung ist durchaus mehrdeutig: sie liefie sich einerseits als Bemuhung um Distanz, d.h. historische Objektivitat verstehen; andererseits konnte der ‘Vorteil’ aber auch darin bestehen, daB Wolf im historischen Gewand Kritik anbringen konnte, die auch auf die Zustande in ihrer eigenen Gesellschaft gerichtet war. Wolf weist direkt auf ‘das Zeitgenossische in ihrem Dialog’, d.h. dem Briefdialog der Gunderode und Bettina von Arnims, hin und identifiziert dieses Zeitgenossische als die ‘Selbstentfremdung’ der DDR-Burger.

Der Titel, der Bettina von Arnirn zitiert, ‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an’, stellt einen direkten Bezug her zu den letzten Satzen, mit denen Was bleibt geendet hatte: ‘DaB es kein Ungluck gibt, auBer dem, nicht zu leben. Und am Ende keine Verzweiflung auRer der, nicht gelebt zu haben’ (108). Wahrend der Ton von Was bleibt elegisch resignierend ist, hat Wolf sich mit ‘Nun ja!’ wieder aufgerafft und schlagt dort einen durchaus kampferischen Ton an. Dabei ist dem ‘Nun ja!’ noch die vorausgegangene Resignation anzuhoren. Nicht dieses Leben, wie es bisher war, nicht die Vergangenheit, sondern ein ‘nachstes’ Leben soll heute anfangen, ein Leben, das h d e r u n g bringen soll, das zur Zukunft hin orientiert ist. Zwar nimmt Christa Wolf sich eine in der Vergangenheit liegende Biographie zur Vor- lage, aber was sie an ihr gerade interessiert, sind ihre zukunftsweisenden Komponenten, namlich wie sich Bettina von Arnirn gegen die eingefahrene Restauration wendete.

Wenn Christa Wolf uber Bettina von Arnim schrieb, dann stellte sie damit gleichzeitig Beziige zu sich selbst und ihrer eigenen Zeit her, j a sie identifizierte sich auf frappierende Weise mit den Meinungen ihrer Figuren, bzw. legte ihren Figuren ihre eigenen Meinunpen ~ n t e r . ~ Beispielsweise liefie sich die folgende Beobachtung Wolfs so interpretieren:

. . . die Bettine, hinter all ihren Maskeraden ein tapferer Mensch, hat sich selbst versprochen, daR sie sich niemals fur unglucklich halten und, wenn die ideale Lebensform nicht zu haben ware, ein Leben, das sich ihr bietet, annehrnen und es sich so weit wie moglich anverwandeln wurde. (Dl 11, 573)

Wenn offene Kritik, wie mit dem Text Was bleibt, in der DDR nicht moglich war, dann verwandelte Christa Wolf sich das Leben dort so an, daB sie weiter produktiv blieb und ihre Kritik durchs Hinterturchen, in der ‘Masker- ade’, doch noch einbrachte.’” In der Gegenuberstellung der Lebenstapferk- eit der Bettine und des Selbstmordes der Giinderode zeigt Christa Wolf ihre eigene Lebenshaltung. (D1 11, 573) Obwohl sie die Problematik der Giinderode begreift, nimmt sie Partei fur Bettine. Um die zeitgenossische

Marilyn Siblcy Fries hat auf dcr AATC-Konfcrcnz in Badcn-Badcn in ihrcm Vortrag ‘Reading German Literature in the American Academy: The Example ofChrista Wolf, gchaltcn am 20.7.1992, zu dcm ,Mange1 an Distant in Christa Wolfs Arbciten angcmcrkt: ‘The harder she tries to distance hcnelf from her “subject”, the closer she draws to it.’ lo Zum Thema dcr litcrarischcn ‘Verklcidung’ hattc sich Christa Wolf ausfuhrlichcr in ihrcr Stock- holmer Rede ‘Bcispiclc ohnc Nutzanwendung’ (.Mai 1978) geau&rt. (D1 11, 504-510)

0 Basil BlxkwcU Ltd 1995.

Page 5: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

90 WAS BLEIBT - CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

Parallele herzustellen: Fur Christa Wolf ware der Weggang aus der DDR einer Art von kunstlerischern Selbstmord gleichgekornrnen. I n einern Ge- sprach rnit A a k e Steenhuis rnit dcrn Titel ‘Schreiben irn Zeitbezug’ vorn 11. Dezernber 1989 beschrieb sie das so:

Die Frage war, ob man in der DDR bleiben kann. . . . Wir sahen in keinern Land eine Alternative. Dazu kam: Ich bin eigentlich nur an diesem Land brennend interessiert gewesen. Die scharfe Reibung, die zu produktiven Funken fuhrt, fiihlte ich nur hier mit alter Venweiflung, dcm Kaltgestelltsein, den Selbstzweifeln, die das Leben hier rnit sich bringt. Das war mein Schreibgrund. (Im Dialog, 148)

Fur sie galt wie fur die Bettine ‘. . . ein Leben, das sich ihr bietet, annehmen und es sich so wcit wit miiglich anverwandeln’ (rneine Hervorhebung). Diese ‘Anverwandlung’ ist naturlich das, was Wolf heutzu- tage vorgeworfen wird. Wo man sie wlhrend der Existenz der DDR irn Westen wegen ihres Mutes zur Dissidenz bewunderte, da wird ihr jetzt irn nachhinein aus heutiger Sicht ihre Konforrnitat, ja ihre Mittaterschaft vorgeworfen. Sie qualifizierte ja dieses ‘Anverwandeln’ durchaus, indern sie sagte: ‘so weit wie rnoglich’, d.h. es gab f i r sie Grenzen, bis zu denen sie rnitrnachte, und dann nicht weiter. DaB sich diese Grenzen fiir Christa Wolf, wie fiir viele DDR-Intellektuelle, im Laufe der Jahre geandert haben, das ist offensichtlich.

Das frappanteste Beispiel fur die von Christa Wolf beobachtete und zu ihrern eigenen Karnpf gegen die DDR-Zensur und Stasi genutzte Parallelitat der Zeit urn 1979 zu Bettines Biographie bietet sich in der folgenden Textstelle:

Einmal . . . hat sie die Arbeit an einem Buch abgebrochen, weil sie es nicht hatte drucken lassen kiinnen: Der lnnenminister PreuRens, in typisch mini- sterieller Venvechslung von Ursache und Wirkung, hat sie 1844 beschuldigt, sie habe die schlesischen Weber ‘aufstandisch’ gemacht. . .. Da laRt Bettine ihr ‘Armenbuch’ liegen. . .. Dieser Vorfall, sie muR es gcwuBt habcn, markierte ganz genau die Grenze, die sie nicht mehr ungestraft hatte ubcrtreten diirfen, den Punkt, an dem die sozialen Widerspriiche und zugleich deren Unliisbarkeit unter dem Regime sich am schirfstcn hervorkehrten. Die Kraft, welche die Gesellschaft umwilzen konnte, war unentwickclt, die Zeit zu mehr nicht reif a l s zu einer selbstaufopfernden, doch unwirksamcn Haltung. War bleibt? (meine Hervorhebung) Ma1 wieder an den Konig schrciben: Er solle statt des Domes in Berlin lieber tausend Hiitten in Schlesien baucn. Die Sache der Schlesier sei tragischer als Sophoklcs. - Finden Sie nicht, daR dies cine bedeutende Zsthetische Aussage ist, wenn auch, wie nicht selten in der Geschichte der deutschen Literatur, auf Kosten einer eigentlich falligen Aktion? (DI 11, 588)

Die Parallelen sind fast zu auffallig, als daR man sie noch weiter auszufuhren brauchte. DaR Wolf in der Art eines Palimpsests unter dem historischen Beispiel einen zeitgenossischen politischen Zustand als Subtext verbarg, darauf gab sie den deutlichen Hinweis rnit der Nennung des Titels Q Buil Bhckwcll Lcd 1995.

Page 6: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

WAS BLEIBT - CHRISTA WOLF IAM JAHRE 1979 91

ihres eigenen zuriickgehaltenen Textes. Oder verhalt es sich anders herum, daB sie bei der uberarbeitung des Textes von Was bleibt im Jahre 1989 - bewuBt oder unbewuRt - auf den Bettine-Essay zuruckging? Jedenfalls war Wolf ebenfalls genau klar, wo die Grenze des Stralbaren fur sie lag. Die Publikation des direkteren Textes Was bleibt ware die Grenzuberschreitung gewesen; in der historischen ‘Maskerade’ dagegen, versteckt in einem Nach- wort zum Text einer Autorin des neunzehnten Jahrhunderts, also nur einem viel kleineren Lesepublikum zuganglich und verstandlich, bewegte sich ihre Kritik noch gerade im Raum des Zulassigen. Der Zeitbezug ist jedoch ganz klar.

Der zitierte Paragraph schlieflt ab mit dem an die Leserin gewendeten Kommentar der Autorin iber die Ventilfunktion der deutschen Literatur, ‘nicht selten in der Geschichte der deutschen Literatur’, auch in der DDR wieder eine ihrer Funktionen, die statt der notwendigen politischen Aktionen die Intellektuellen beschaftigte. Das Gefuhl der Ohnmacht angesichts der Kraftlosigkeit und Unreife der Gesellschaft IaBt ihr - wie friiher der Bettine - als einzigen Ausweg das Schreiben. Wie die Bettine lien sich Christa Wolf nicht zwischen die ‘falschen Alternativen’ pressen, ‘ein wirkungsloser AuRenseiter oder ein angepaBter Philister zu sein’ (DI 11, 575).

Im letzten Paragraphen ihres Buches Was bleibl schrieb sie: ‘Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen konnen, ganz leicht und frei. Es ist noch zu fruh, aber ist es nicht immer zu friih’ (107). Und dann hatte sie das Buch in die Schublade verschwinden lassen. Aber die Frage ‘ist es nicht immer zu fruh?’, die bei unserem heutigen Wissensstand die Stasi-Hinter- grunde mitschwingen IaRt, muB ihr so nachgegangen sein, daB sie sich dann doch eine Form dafir erfand, freier zu sprechen, indem sie in die Biographie der Bettina von Arnim die eigene Problematik hineinschrieb. Den eigenen Konflikt der Grenzsituation, was man noch gerade publizieren konnte, und was zur Bestrafung gefuhrt hatte, erklarte sie anhand von Bettines Zuruckhaltung des ‘Armenbuches’: ‘In Zeiten, da aus Mangel an politischer C)ffentlichkeit . . . die Literatur das Gewissen der Gesellschaft ist, hat sie mit immer scharferen Sanktionen zu rechnen, j e mehr sie dem Volke verstandlich wird’ (DI I I , 586). Was blcibt ware in seiner zeitgenos- sischen Form einem breiteren Lesepublikum allzu verstandlich gewesen; das im Ciindcrodc-Buch versteckte Nachwort war eher f i r ein kleines Exper- tenpublikum geschrieben, d.h dem ‘Volk’, dem breiten Lesepublikum, in seiner historischen Maskerade weniger zuganglich und schaffte es wahr- scheinlich durch die vorhersehbare viel kleinere Rezipientenzahl, durch die Zensur zu kommen, obwohl Wolf dort in vielem scharfer und direkter sprach. Der Text konnte vielleicht auch deshalb durch die Zensur gelangen, weil das historische Beispiel so geschickt ausgewahlt worden war. Der anti- feudalistische Geist der Bettine verlief j a zeitgenossisch zu den Anfangen des Marxismus und pal3te deshalb ins Erbe der DDR.

In den Zustanden im Metternichschen Deutschland der 1830er und 1840er Jahre und in der DDR nach 1976 sah Wolfjedoch weniger revo- lutionare, sondern vielmehr reaktionare Ahnlichkeiten:

0 Buil Blickwell Ltd 1995.

Page 7: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

92 WAS BLEIBT - CHRlSTA WOLF IM JAHRE 1979

Das Land Utopia, in dem es frei, gleich und bruderlich zugehn sollte, weicht in den deutschen Kleinstaaten, besonders in PreuBen, der Realitat der Heiligen Allianz und der Karlsbader Beschlusse; zerbricht in offentliche Reaktion und privates Biedermeier; geht unter in Demagogenvedolgung, Zensur und Bespitzelung, in der zahen Fortdauer eines Gesellschaftswesens, welches unter monarchistischern Re.giment auf bijrgerliche Weise produzieren und seine eigenen Widerspruche nicht zur Kenntnis nehrnen will; wird von den radi- kalsten Literaten - Heine, Biirne, Biichner - zwangsweise in die Emigration getragen . . . Die deutschen Zustinde, die der junge Karl Marx ‘unter dem Niveau der Geschichte’ findet, vereinzeln jene, welche das Zeug hatten, Stirnrne einer geschichtlichen Bewegung zu sein. (DI 11, 577)

Sic iiberliefl es wiederum der Leserin, die Parallelen zur DDR wahrzuneh- men: statt der sozialistischen Revolution dorninierte der Warschauer Pakt. Dem Ruckzug ins ‘private Biedermeier’ entsprach in der DDR die Nischen- gesellschaft, deren untergrundige Gefahren sie spater in Sommcrstiick beschrieb. Die Bedrohung solchen Kuckzugs sah Wolf nach der Biermann- Ausburgerung in ihrem eigenen Kreis, so wie Bettine es erlebt hatte: ‘Bettine sieht Freundschaftsbunde unter dem Druck restaurativer Verhaltnisse auseinanderbrechen, erlebt schmerzliche Trennungen und Entfremdungen . . . sieht zu, wie den hiannern durch den Zwang zum Broterwcrb Anpas- sung aufgedrangt wird.’ (D1 11, 576)

Solch cine Vereinzelungssituation nahm Christa Wolf sich dann zur Vorlage fur ihre Kassandra. So wie cs fur Wolfs Kassandra der einzige politische Schutz war, daR man sie fur verruckt hielt, so war es einstmals Bettines Schutz gewesen, daR sie sich fur ‘narrisch’ ausgab. Dazu Christa Wolf: ‘In rrnsten Zeiten kann es ein Schutz sein, nicht ganz crnst genommen zu werden. . . . Wer, frage ich Sic, sperrt eine Sibylle, einen Kobold, eine Pythia ein?’ (DI 11, 583). Mit diesen Bezeichnungen war Bettine von ihren Zeitgenossen, die Wolf zitiert, kritisiert worden. Dennoch war Bettine einmal nur haarscharf a n einer Gefangnisstrafe vorbeigekommen. Wegen angeb- licher Steuerhinterziehung ‘wird sic zuerst zu drei, dann, in der Revision, zu zwei Monaten Gefangnis verurteilt - die hochstmogliche Strafe fur Leute von Stand’; durch das Eingreifen von Savigny wurde das Urteil nicht vollstreckt, ‘Bettine aber hat begriffen, daR ein Forrnfehler zurn Vorwand genommen wurde, ihr die Imfrumcnfc zu Z c i < p ’ (meine Hervorhebung; D1 11, 589).

Diesen Ausdruck aus dem Vokabular der Inquisition hatte Wolf auch in Was blcibt gebraucht, als sic ihre Erzahlerin feststellen lieR: ‘Mir hatten sie nicht einrnal die Instrumente gezeigt’. (30) Dicse Beobachtung war der Erzahlerin in Was blcibt von einer Auffuhrung des Brechtschen Galilco a m Berliner Ensemble suggeriert, und den Galileo nahm sich die Erzahlerin zum Beispiel: ‘Galilei, listig und furchtsam, entzieht sich der Inquisition und rettet sein Werk’ (32). So entzog sich Wolf der Zensur und rnoglicherweise Schlirnmercrn, narnlich der Exilierung, und rettete damit ihre Arbeitsrnog- lichkeit in der DDR. Sic gab sich mit der aufgezwungenen Sprachlosigkeit nicht zufrieden, sondern fand immer wieder neue, mit jedem Werk andere 0 Basil Blackwell Ltd 1995

Page 8: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

WAS ELEIBT - C H R I S T A WOLF 1.M J A H R E 1979 93

Wege, sich trotz scharfer Beobachtung kritisch auszudriicken, wenn auch nicht in jener Freiheit und Dircktheit, wie sie es sich gewiinscht hatte.

Die Biermann-Ausweisung bildet im Text ‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an’ den zeitgenossischen Bezugspunkt, wenn Christa Wolf dort uber die Amtsenthebung der Briider Grimm in den scharfsten Tonen referiert.’ ’ Jakob Grimms kleine Schrift ‘Uber meine Entlassung’ wurde sie am liebsten ‘in die Lehrplane der Oberschulen aufnehmen, als ein hinreis- sendes Beispiel f i r die stilbildende Kraft von Charakterfestigkeit und Uber- zeugungstreue’ (Dl 11, 595).“ Die Grimmsche Schrift IaBt solch brisante Parallelen zwischen 1838 und 1979 aufscheinen, daB sich Wolf in einem Akt der Selbstzensur dazu zwang, nicht direkt daraus zu zitieren: ‘. . . ich versichere Sie, daB ich an mich halten muB, nicht aus dieser Schrift und der Bettine Epistel langere Passagen zu meinem und Ihrem ingn’rnrnigcn Vergniigen zu zitieren.’ (meine Hervorhebung; D1 11, 595). Diese Stelle ist cin Beispiel fur die Art von Selbstzensur, die Christa Wolf in Was blcibt thematisiert hatte. Dieses Problem des Zensors im eigenen Kopf, der immer im voraus bedachte, was wohl noch durchgehen wurde, und was nicht mehr, war ein moralischer Konflikt, dem alle DDR-Autoren ausgesetzt waren. Christa Wolf stellte eine Gratwanderung an, die sie immer so gerade vor dem Abstiirzen bewahrte. Mit dieser Stelle wies sie einerseits auf den Zustand der Zensur hin und suggerierte dabei der Leserin, sie moge sich doch den Text zum eignen Lesen besorgcn; andererseits wurde ‘mit ingrim- migem Vergniigen’ auf die offensichtliche Anwendbarkeit des Textes auf die zeitgenossischen Zustande in der DDR hingewiesen. Jakob Grimms Schrift ‘Uber meine Entlassung’ und Bettines Brief zur Unterstutzung der Grimms an ihren Schwager Savigny, der damals an der Humboldt Universi- tat eine einfluBreiche Position hatte, bezeichnete Christa Wolf als ‘Lehr- und Musterstuck’ dafur, wie man auch der Gewalt gegeniiber mit der Wahrheit auftreten konne (DI 11, 596). Kein Wunder, daB sie nach einem solchen Muster suchte, um die eigene Schwache zu iibcrwinden.

Doch hat Wolf sich angesichts der Zensur, der Bespitzelung, der Verlet- zung des Postgeheimnisses und der Bedrohung mit Repressalien aller Art selbst Ziigel angelegt. Im Bettine-Brief bewundcrte sic die freie Sprache, zu der sie selbst noch nicht fahig war, nach der ihre Erzahlerinfigur in War bleibl vergeblich suchte, und die sie zweimal im Text von Was blcibt auf- scheinen IieB. Das geschah am Beispiel der jungen Schriftstellerin, die sich hilfesuchend an die Erzahlerin wendete, und nach der Lesung der Erzahlerin vor hauptsachlich jungen Leuten. Beide Male fallt das Wort ‘wahr’: ‘Nur habe sic es eben gem, etwas aufzuschreiben, was einfach wahr sei. Und dies dann mit anderen zu bereden. Jetzt. Hier’ (78).

Aus der Gewissensbefragung der Enahlerin von Was bleibt, welche Christa

I ’ Auf dicse Bczichung ha1 auch schon Hanscn hingewicscn. ‘<Erinnerte Zukunit> . . _’, S. 146. I * Auch dicsc implizitc Kritik an DDR-Schulbiirhcrn war politischc Auflchnung, wic von Frcya Klicr dargclcgr wordcn ist in ihrcm vie1 diskuticrtcn Buch Liig Voterland - ErcicSng in dn DDR, Miinchcn 1990.

0 Burl B l ~ t w c l l Ltd 1995.

Page 9: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

94 WAS ELEIBT - CHRISTA WOLF 1M JAHRE 1979

Wolf im Jahre 1979 nicht zu publizieren wagte, um nicht selbst in die ‘offenen Messer zu laufen’ (77), rettete sie in den Text von ‘Nun ja! Das nichste Leben geht aber heute an. . ..’ die Bewunderung f i r die Wahrhaftig- keit und den Mut der Bruder Grimm und Bettina von Amims, die sie ihrer Leserin als Modelle vorstellte. Sie gab eine detaillierte Beschreibung des Falles der Briider Grimm an der Gottinger Universitat, weil dieser zwar oft zitiert, aber doch ‘in seinen hoch interessanten Einzelheiten wenig bekannt’ sei (DI 11, 595). Den Zeitbezug stellte sie durch eine kleine Neben- bemerkung her:

Das iiblichc (rncine Hcrvorhebung). Wie nun dieser Loyalitatskonflikt durch den Starrsinn dcr Macht, die nicht Einwinde iiberpriifen, sondern Schuldbe- kenntnis und Untenverfung cnwingen will, zu unglaublichen Dirncnsionen anschwillt, in das penonliche und staatsburgcrliche Leben cines jedcn eingreift und, weil ein Konigliches Universitatskuratoriurn den springenden Punkt, die Rechtsverletzung durch den KBnig, schlechterdings nicht vcrhandeln kann, in absurden Beschuldigungen und Bestrafungen auslauft - all dies schildert, ‘glirnpflich’, aber ‘frei und ungehernrnt’, Jakob Grimrn. (DI 11, 596)

Wie wichtig ihr das Beispiel der Bettina von Arnim war, beweist sich daran, daD sie nach der ‘Wende’ eine Rede am 3. M a n 1990 vor dem AuDerordentlichen Schriftstellerkongrefl der DDR mit einem nochmaligen Ruckgriff auf Bettina von Amirn beschlofl (Im Dialos, 168). Es ging in Wolfs Rede urn die Aufarbeitung der Vergangenheit des Verbandes, und ihre Erklarung, warum sie sich nach der Biermann-Ausweisung vom Ver- band entfremdet gefihlt hatte. Dcr Verband hatte sich nicht hinter Bier- mann gestellt, sondern nur einzelne Schriftsteller taten das, unter ihnen auch Christa Wolf. Am Beispiel Bettines und deren Verhalten im Fall der Bruder Grimm wollte sie aufweisen, wie dem Verband - wie damals dern ‘Koniglichen Universitatskuratorium’ - rnehr Mut notig gewesen ware.

Die Beschaftigung mit dem Fall der Bruder Grimm hatte f i r Bettina von Arnim ahnliche Resultate gehabt, wie das Einstehen fur Wolf Biermann f i r Christa Wolf:

Der Bettine aber hat ihr Einstehen Fir deren Recht zu tiefen Einsichren in Denk- und Handlungsweiscn von Konigen, Politikern und deren Apparaten verholfcn. Schlagartig ist diese game verkehrtc Trennung von Staatsrnoral und Alltagsrnoral ihr aufgegangcn (eine Beobachtung, die ihr E r ihre spateren Biicher nitzen wird). (DI II, 598)

Die Identifikation Christa Wolfs mit ihrer fiktiven Bettina-Figur ist auffallig. Viele Texte Christa Wolfs, vor allem aber Was bleibt und ‘Nun ja! Das nachste Leben geht aber heute an’ lassen sich nach der Ausburgerung Bierrnanns unter dem Aspekt der radikalisierten Entfrerndung von dem Staat lesen, den Christa Wolf in ihrem friihen Werk Der geteilte Himmcl als den besseren deutschen Staat sah, und an dessen utopischem Potential sie 0 Buil B l v h U Lld 1995

Page 10: WAS BLEIBT - ‘NUN JA! DAS NÄCHSTE LEBEN GEHT ABER HEUTE AN’ - ZUR POLITISCH-LITERARISCHEN GRATWANDERUNG VON CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979

WAS BLEIBT - CHRISTA WOLF IM JAHRE 1979 95

auch noch bis nach dem Zusammenbruch der DDR fe~thie1t.I~ Nicht der Sozialismus als Idee, sondern Herrschafts- und Machtstrukturen, die sich des ‘real existierenden’ Sozialismus bernachtigt und ihre Vorlaufer in der langen europiischem Geschichte hatten, wurden ihr suspekt. Trotzdem aller- dings hatte sie sich mit dern DDR-Staat soweit arrangiert, daB sie ein Publikationsverbot und eine mijgliche Ausweisung vermied. Nach der Zuriickhaltung von War bfn’bt hat sie ihre Kntik an diesen Machtstrukturen in viele ihrer spiteren Texte eingelagert, aber auch in Kassundra, dem wohl wichtigsten Werk seit 1979, vonichtig im historischen Gewand. Der Text ‘Nun ja! Das nichste Leben geht aber heute an’ nahrn dabei die wichtige Funktion ein, sich am mutigen Beispiel einer als Vorliuferin empfundenen historischen Schriftstellerin aufzurichten nach den demiitigenden Selbster- kenntnissen, die Wolf im fiktiven Gewand von Was bleibf ausgedriickt hatte und dann fir sich behalten muBte.

” Marilyn Fria liest Wa 6 M I als ein wichtiges Dokument, urn Christa Wolfs Wcrke der achtziger Jahre zu vcntehcn; in ‘When the Mirror is Broken. What Remains? - Christa W d f s WQI dln‘bt’, GDR Bdlrlk, 17.1 (1991), S. 11-15.

0 Basil Blackwell Ltd 1995.


Recommended