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Braucht das Wallis einen neuen Sprachenartikel? - Mehrsprachigkeit als Aufgabe für Gesellschaft und Wissenschaft Iwar Werlen Universität Bern Institut für Sprachwissenschaft [email protected] 20. Januar 2012 11. Forschungsforum Wallis - Gesellschaft, Territorium, Kulturerbe

Iwar werlen

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Podcast des Vortrags auf die Webseite : http://www.mediatheque.ch/valais/forum-valaisan-chercheurs-socit-territoire.html

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Braucht das Wallis einen neuen Sprachenartikel? -Mehrsprachigkeit als Aufgabe für Gesellschaft und Wissenschaft

Iwar WerlenUniversität BernInstitut für [email protected]

20. Januar 2012

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Gliederung des Referates

> Einleitung: was ist eigentlich Sprachpolitik?> Der bestehende Verfassungsartikel> Die Bundesverfassung zum Thema> Hintergrund: was ist Mehrsprachigkeit?> Die Zweisprachigkeit des Wallis in der VZ 2000> Verordnete Zweisprachigkeit – die Schule und ihre Wirkung> Mehrsprachigkeit im Alltag> Warum wir mehr wissen müssten …

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Was ist eigentlich Sprachpolitik?

> Sprachpolitik umfasst Sprachpraktiken, Sprachideologien, Sprachmanagement und Sprachplanung.

> Sprachpolitik geschieht auf allen Ebenen menschlichen und gesellschaftlichen Handelns – vom alltäglichen Sprachverhalten bis hin zur Errichtung von Akademien, von der Sprachwahl beim Einkaufen bis zur Sprachwahl des Fernsehens – überall, wo sich jemand für oder gegen eine bestimmte Sprache oder Varietät entscheidet.

> In der Schweiz gilt generell die Sprachenfreiheit. Sie darf im öffentlichen Interesse auf gesetzlicher Grundlage in verhältnismässiger Weise eingeschränkt werden (z. B. durch Amtssprachenregelungen).

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Sprachpolitik im Alltag – die Marke «Valais»

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Sprachpolitik im Alltag – gestern gelesen

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Seit 1992 bietet Universitäre Fernstudien Schweiz (Fernuni Schweiz) zahlreiche anerkannte Studiengänge auf Bachelor- und Masterstufe an. Jetzt gibt es den Studiengang in Rechtswissenschaften auch auf französisch. (www.1815.ch vom 19. Januar 2012)

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Der «Sprachenartikel» der Walliser Kantonsverfassung (1907)

> 1 La langue française et la langue allemande sont déclarées nationales.

> 2 L'égalité de traitement

entre les deux langues doit être observée dans la législation et dans l'administration.

> 1 Die französische und die deutsche Sprache sind als Landessprachen erklärt.

> 2 Der Grundsatz der Gleichberechtigung beider Sprachen soll in der Gesetzgebung und in der Verwaltung durchgeführt werden.

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Weitere Bestimmungen

> Implizit enthält Artikel 52, Absatz 2, über den Staatsrat eine Regelung der Vertretung der Landessprachen in der Regierung: dort wird verlangt, dass je ein Staatsrat aus den Bezirken des Oberwallis, des Mittelwallis und des Unterwallis stammen soll. Die Sprachen sind aber nicht erwähnt – man muss wissen, welche Bezirke deutsch- und welche französischsprachig sind.

> Artikel 62, Absatz 2 verlangt, dass die Mitglieder des Kantonsgerichtes «die Kenntnisse beider Landessprachen besitzen» sollen (frz. «doivent connaître les deux langues nationales»).

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Die Bundesverfassung 2000 zum Thema

> Artikel 4: Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. / Les langues nationales sont l’allemand, le français, l’italien et le romanche.

> Artikel 18 Sprachenfreiheit / Liberté de la langue: Die Sprachenfreiheit ist gewähleistet / La liberté de la langue est garantie.

> Artikel 70 legt die Amtssprachen des Bundes fest (Absatz 1), gibt den Kantonen die Kompetenz, ihre Amtssprachen festzulegen und dabei auf die angestammten Minderheiten Rücksicht zu nehmen (Absatz 2), verpflichtet Bund und Kantone zur Förderung von Austausch und Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (Absatz 3) und den Bund zur Unterstützung der mehrsprachigen Kantone (Absatz4).

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Diskrepanzen

> Die Bundesverfassung unterscheidet Landes- und Amtssprachen (langues officielles), die Walliser Verfassung kennt nur Landessprachen (langues nationales).

> Die Bundesverfassung garantiert die Sprachenfreiheit, die Walliser Verfassung erwähnt sie nicht.

> Die Bundesverfassung enthält eine seltsame Formulierung des Territorialitätsprinzips; die Walliser Verfassung erwähnt es nicht, impliziert es aber (?).

> Die Bundesverfassung verpflichtet auch die Kantone zur Förderung von Austausch und Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften, die Walliser Verfassung sagt dazu nichts.

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Hintergrund: was ist überhaupt Mehrsprachigkeit?

> Vorbemerkung: terminologisches Durcheinander: Multilinguismus, Bilinguismus, Plurilinguismus, Mehrsprachigkeit …

> Zu unterscheiden: individuell – institutionell – gesellschaftlich> Individuelle Mehrsprachigkeit: Menschen kennen /

gebrauchen mehr als éine Sprache (mehr oder weniger gut).> Institutionelle Mehrsprachigkeit: eine Institution (z. B. ein

Staat) legt die Sprachen der Institution (Amtssprachen) fest.> Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit: die Sprachen, die in

einer gegebenen Gesellschaft verwendet oder gekannt werden.

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Innere Mehrsprachigkeit – Sprachnamen und Sprachen

> Deutsch oder Französisch sind «Sprachnamen» – sie spiegeln eine Einheit vor, die es so nicht gibt. Jede Sprache verfügt über Varietäten (regionale, stilistische, soziale, literale, orale, situationale, Berufssprachen, Fachsprachen, Jargon, Jugendsprache ….)

> Im Wallis gibt es die soziolinguistisch interessante Differenz zwischen «Güettitsch» und «Schlächttitsch», zwischen «patois» und «français». Die Bedingungen und Verhältnisse sind sehr unterschiedlich. Die «patois» gehören zum Frankoprovenzalischen, das Französische beruht auf dem Nordfranzösischen. Das «Schlächttitsch» ist ein alemannischer Dialekt, das «Güettitsch» eine auf mitteldeutscher Basis beruhende Ausgleichssprache.

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Die Zweisprachigkeit des Wallis in der VZ 2000 – Hauptsprachen Gesamt

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Neuere Zahlen sind wegen Veränderung der VZ 2010 nicht verfügbar.

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Hintergrund: die Schweizer Zahlen 2000

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Die Zweisprachigkeit des Wallis in der VZ 2000 – Hauptsprachen nach Bezirken

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Bezirk Bevölkerung Deutsch Französischübrige

SprachenBrig 23052 91.9 1.4 6.8Goms 4743 92.8 0.6 6.6Leuk 11631 91.8 2.4 5.8Raron 10380 96.1 0.8 3.0Visp 26819 87.2 1.5 11.4Conthey 20094 2.7 90.6 6.8Entremont 12138 1.7 91.9 6.5Hérens 9029 2.2 95.0 2.7Martigny 33693 1.5 88.6 9.9Monthey 33389 2.6 87.7 9.7Saint-Maurice 10420 2.0 90.1 7.9Sierre 40018 8.1 80.2 11.7Sion 36993 5.1 85.1 9.8

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Sprachliche Homogenisierung der Sprachgebiete in der Schweiz VZ 2000

Hauptsprache Sprachgebiet

Deutsch Französisch Italienisch Romanisch

Deutsch 86.6 5.1 8.3 25.0

Französisch 1.4 81.6 1.6 0.3

Italienisch 3.0 2.9 83.3 1.8

Romanisch 0.3 0.0 0.1 68.9

Andere 8.7 10.4 6.7 4.0

Grundgesamtheit 5221135 1720365 320247 26263

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Ergebnis

> Beide Kantonsteile sind stark geprägt durch die regionale Landessprache; sie übertreffen dabei meist die Zahlen für die jeweiligen Sprachgebiete in der Schweiz.

> Die Zahlen sind stark abhängig von der Gemeindestruktur: städtische Gemeinden im Tal sind weniger homogen und ausgeprägte Tourismusgemeinden ebenfalls; Berggemeinden ohne grösseren Tourismus sind sehr homogen (Goms, Val d’Hérens).

> Andere Sprachen als die beiden Landessprachen sind stärker an der Mehrsprachigkeit beteiligt als die jeweils zweite Landessprache.

> Die Bezirke Sierre und Sion zeigen noch Spuren der früheren Deutschsprachigkeit der beiden Hauptorte.

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Sprachen im Beruf – das Fenster zur Öffentlichkeit (nur Erwerbstätige)

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Oberwallis

Unterwallis

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Ergebnis

> Im Oberwallis dominiert das Walliserdeutsche an der Arbeit, im Unterwallis das Französische.

> Im Oberwallis werden generell häufiger andere Sprachen genannt als im Unterwallis. Das gilt auch für das Englische.

> Im Oberwallis hinterlässt die Deutschschweizer Sprachsituation ihre Spuren: Walliserdeutsch ist viel häufiger als Hochdeutsch.

> Im Unterwallis hinterlässt die Situation der Romandie ihre Spuren: patois romand ist kaum vertreten im Beruf.

> Im Oberwallis hinterlässt die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit mehr Spuren im Beruf als im Unterwallis (obwohl dieses mehr andere Sprachen aufweist!).

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Verordnete Mehrsprachigkeit – Die Schule und ihre Wirkung

> Der Kanton Wallis beteiligt sich an HarmoS – Förderung der L 1, der zweiten Landessprache und einer dritten Sprache (Englisch) in der Grundschule.

> Zweisprachige Schulen sind möglich; PHVS hat eigenes Zweisprachigkeitsmodell.

> In einer Studie für das NFP 56 haben wir gezeigt, dass die Politik der EDK seit 1975 gesamtschweizerisch gewirkt hat.

> Aber: das gilt vor allem für die italienische und die deutsche Schweiz. In der französischen Schweiz sind Fremdsprachen-kenntnisse weniger weit verbreitet. Englisch und Deutsch sind praktisch gleichauf (siehe nächste Folie).

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Fremdsprachenkenntnisse nach Sprachgebieten nach linguadult.ch

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Mehrsprachigkeit im Alltag - wie geht das?

> Wir wissen wenig darüber, wie Mehrsprachigkeit im Alltag tatsächlich funktioniert – Untersuchungen dazu erheben fast immer Meinungen; nur selten werden Alltagssituationen überprüft (Beispiel Biel/Bienne und Fribourg).

> Vier Modelle:- Schweizer Modell (jeder seine Sprache)- Bieler Modell (Sprache des Beginners)- Lingua Franca-Modell (Englisch in Wissenschaften)- Dominante Sprache-Modell (Französisch in

Fribourg)> Neuerer Ansatz: Linguistic Landscape

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Warum wir mehr wissen müssten …

> Zahlen wie die VZ scheinen objektiv zu sein; es geht aber immer um Interpretationen und Diskurse.

> Sprachvorstellungen («Ideologien») sind zentral: was ist eine «gute» Sprache, wer sind die Vorbilder, wer gehört zu «uns» und wer nicht, was ist sprachlich angemessen …

> Gemeinsame Sprache schafft gemeinsame Wirklichkeits-repräsentationen durch gemeinsame Diskurse. Diese Gemeinsamkeit interagiert mit anderen Dimensionen der Wirklichkeitskonstitution – positiv und negativ.

> Als Wissenschaftler beobachten, beschreiben und analysieren wir – als Betroffene konstituieren wir die Wirk-lichkeit mit, auch durch die wissenschaftlichen Aussagen.

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Schluss: Brauchen wir einen neuen Sprachenartikel?

> Was wir brauchen, ist eine Reflexion unserer eigenen Mehrsprachigkeit – das Ergebnis dieser Reflexion könnte ein neuer Sprachenartikel sein.

> Aber: Mehrsprachigkeit ist eine ständige, bleibende Aufgabe an Gesellschaft, Institutionen und Individuen – es gibt keine Lösung, die ein für allemal gilt.

> Die Zukunft jedoch wird jetzt gebaut: das symbolische Kapital, das wir jetzt nicht erwerben, wird uns morgen fehlen.

> Darum: nicht abgrenzen und trennen (wie das Territorialitäts-prinzip es will), sondern verbinden und fördern (was nicht ohne materielles Kapital geht …).

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Literatur (in Auswahl)

> Werlen, Iwar / Verena Tunger / Ursula Frei (2010a). Der zweisprachige Kanton Wallis. Visp, Rotten Verlag.

> Werlen, Iwar / Verena Tunger / Ursula Frei (2010b). Le Valais bilingue. Sierre, Éditions Monographic. [Übersetzung der deutschsprachigen Ausgabe].

> Werlen, Iwar / Lukas Rosenberger / Jachin Baumgartner (2011). Sprachkompetenzen der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz. Zürich, Seismo.

> Werlen, Iwar (2007). Receptive Multilingualism in Switzerland and the Case of Biel/Bienne. In: ten Thije, Jan D. / Ludger Zeevaert (eds.), Receptive Multilingualism. Linguistic analyses, language policies and didactic concepts. Amsterdam, Philadelphia, John Benjamins (Hamburg Studies in Multilingualism, Vol. 6), 137-158.

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