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Aus: was + wie? 1997, Jg. 26, Heft 3, S. 118-123 Kinesiologie im Kindergarten: ein Pfad zur Stille und Konzentration? Michael Schnabel Wie können kinesiologische Übungen die Kinder auf Besinnlichkeit vorbereiten? 1. Eingewöhnung im Kindergarten Herbst im Kindergarten St. Johann in Erding: Übliche Eingewöhnung der neuen Kinder in den Kindergarten. Aber da gibt es noch etwas ganz Besonderes: Den Kindern werden kinesiologische Übungen gezeigt und sie lernen, wie sie dadurch mehr Lebensenergie und Ausgewogenheit gewinnen können. "Schuhuhu, Schuhuhu, Schuhuhu", ein tiefer harmonischer Ton durchdringt den Morgenkreis. Die Kinder machen zusammen mit den Pädagoginnen gerade die Eule - eine Übung aus der Edu-Kinestetik: "Umfasse mit deiner rechten Hand die linke Schulter und drücke die Muskeln zusammen. Dreh deinen Kopf und schau über die eine und dann über die andere Schulter nach hinten. Wie eine Eule kannst du dabei 'Schuhuhu' rufen. Dann das Ganze mit der anderen Hand!" (Dennison, 1994/5). Die Gruppenleiterin berichtet: "Am Anfang des Kindergartenjahres werden zunächst mit den Kindern nur drei oder vier kinesiologische Übungen praktiziert, im Laufe des Jahres kommen dann immer mehr Übungen hinzu, so dass am Ende des Kindergartenjahres die Kinder mit allen Übungen vertraut sind" (Meixner, 1994/2). 2. Kinesiologie im Kindergarten Die beschriebene Übung hört sich ganz einfach an. Sie können die Anweisung auch gleich auf der Stelle testen. Und sofort merken Sie die entspannende Wirkung. Ja, ein Teil der kinesiologischen Übungen sind derart alltäglich, dass Kinder und Erwachsene - ohne ausdrückliche Kenntnis der Wirkungen - sie automatisch praktizieren; z.B. die Kopfhaltung: Erschrickt ein Kind, weil eine Tasse auf dem Boden zerschellt, oder weil es sich mit der Nadel gestochen hat, so kann die Erzieherin mit ihren Händen das Kind an Stirn und Hinterkopf halten. Ihre Gelassenheit, Ruhe und Kraft fließt auf das Kind über. Oder: Es war ein stressiger Tag. Sie sitzen abgespannt im Büro und sollten noch einige Formulare ausfüllen. Drei-, viermal so tief gähnen wie

Kinesiologie stille&konzentration

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Page 1: Kinesiologie stille&konzentration

Aus: was + wie? 1997, Jg. 26, Heft 3, S. 118-123

Kinesiologie im Kindergarten: ein Pfad zur Stille undKonzentration?

Michael Schnabel

Wie können kinesiologische Übungen die Kinder auf Besinnlichkeitvorbereiten?

1. Eingewöhnung im Kindergarten

Herbst im Kindergarten St. Johann in Erding: Übliche Eingewöhnung derneuen Kinder in den Kindergarten. Aber da gibt es noch etwas ganzBesonderes: Den Kindern werden kinesiologische Übungen gezeigt und sielernen, wie sie dadurch mehr Lebensenergie und Ausgewogenheit gewinnenkönnen.

"Schuhuhu, Schuhuhu, Schuhuhu", ein tiefer harmonischer Ton durchdringtden Morgenkreis. Die Kinder machen zusammen mit den Pädagoginnengerade die Eule - eine Übung aus der Edu-Kinestetik: "Umfasse mit deinerrechten Hand die linke Schulter und drücke die Muskeln zusammen. Drehdeinen Kopf und schau über die eine und dann über die andere Schulter nachhinten. Wie eine Eule kannst du dabei 'Schuhuhu' rufen. Dann das Ganze mitder anderen Hand!" (Dennison, 1994/5).

Die Gruppenleiterin berichtet: "Am Anfang des Kindergartenjahres werdenzunächst mit den Kindern nur drei oder vier kinesiologische Übungenpraktiziert, im Laufe des Jahres kommen dann immer mehr Übungen hinzu,so dass am Ende des Kindergartenjahres die Kinder mit allen Übungenvertraut sind" (Meixner, 1994/2).

2. Kinesiologie im Kindergarten

Die beschriebene Übung hört sich ganz einfach an. Sie können dieAnweisung auch gleich auf der Stelle testen. Und sofort merken Sie dieentspannende Wirkung. Ja, ein Teil der kinesiologischen Übungen sind derartalltäglich, dass Kinder und Erwachsene - ohne ausdrückliche Kenntnis derWirkungen - sie automatisch praktizieren; z.B. die Kopfhaltung: Erschricktein Kind, weil eine Tasse auf dem Boden zerschellt, oder weil es sich mit derNadel gestochen hat, so kann die Erzieherin mit ihren Händen das Kind anStirn und Hinterkopf halten. Ihre Gelassenheit, Ruhe und Kraft fließt auf dasKind über. Oder: Es war ein stressiger Tag. Sie sitzen abgespannt im Büround sollten noch einige Formulare ausfüllen. Drei-, viermal so tief gähnen wie

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und sollten noch einige Formulare ausfüllen. Drei-, viermal so tief gähnen wienur möglich! Die Finger spreizen und fest aneinander drücken! Malen Sie mitder Hand eine stehende Acht vor Ihrem Gesicht, dann vor dem Bauch undschließlich vor dem Rumpf und den Füßen. Jeweils fünf bis zehn mal! Danntrinken Sie ein Glas Mineralwasser und schon sind Sie voller Power!

Kinesiologie ist ein Konzept zur Stärkung der Lebensenergie und verhilft zurinneren Ruhe, Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Wer jedoch drei bis fünfÜbungen aus der Kinesiologie weiß, der kennt beileibe noch nicht dasgesamte Konzept der Angewandten Kinesiologie (Tourelle, 1992), wie esoffiziell definiert ist. Es handelt sich um eine Untersuchungsmethode, dieden Energiezustand eines Menschen beurteilt. Blockaden und Umleitungender menschlichen Energie können damit aufgedeckt und beseitigt werden.

Vorstellungen der chinesischen Medizin können die Wirkweisen erklären: DerMensch ist eine unzertrennliche Einheit von Körper, Geist und Seele (Ertl,1996). Diese Einheit ist derart eng zusammenzunehmen, dass psychischeLeiden durch körperliche Handlungen gelöst und körperliche Beschwerdenals psychische Fehlhaltungen gesehen werden können. Dahinter steht dieVorstellung: Im Menschen fließen auf verschiedenen Bahnen - densogenannten Meridianen - die Lebensenergien.

Ein Mensch entfaltet seine volle Leistungsfähigkeit und ist zugleich zurgrößten Konzentration und inneren Ruhe fähig, wenn die Lebensenergienoptimal fließen können. Dagegen kann unerträglicher Stress, Hektik undübermäßige Anspannung den Menschen und seine Lebensenergieschwächen. Wird der Energiestrom eingeschränkt, unterbrochen oderumgelenkt, so entstehen auf lange Sicht psychische und physischeErkrankungen (Lesch, 1994).

Ein Teilgebiet der Angewandten Kinesiologie ist die Edu-Kinestetik. Sie wurdevon Dr. Paul Dennison entwickelt (Dennison, 1995). Die Kernaussage seinerForschungen ist "Bewegung ist das Tor zum Lernen". Mit einfachen Übungenund Bewegungsbalancen erzielte er frappierende Erfolge bei Schülern mitLese- und Rechtschreibschwächen (Dennison, 1993/8). Es zeigte sich: Spieleund Bewegungen, die die Mittellinie des Körpers kreuzen, erhöhen dieKonzentration, stärken die Merkfähigkeit, steigern die Kreativität undAufmerksamkeit.

Übungen aus der Edu-Kinestetik lassen sich auch im Kindergarten einsetzen.Die Übungen wirken entspannend und beruhigend auf die Kinder. Sie sindkeine pädagogischen Tricks zur Ruhigstellung der Kinder, sondern sie lösenEnergieblockaden auf und befähigen die Kinder zur einer gelassenen undruhigen Haltung. Weiterhin regen die meisten Übungen das Zusammenspieldes logisch-kritischen und des bildhaft-phantasievollen Denkens an. Dadurch

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des logisch-kritischen und des bildhaft-phantasievollen Denkens an. Dadurchgewinnen die Kinder Konzentration und Kreativität.

3. Kinesiologie - ein Weg zur Entspannung und Konzentration

Kinesiologische Übungen schauen total einfach aus und wirken docheindrucksvoll. Die Grundmuster der Übungen sind in einigen Kinderspielenenthalten.

Edu-Kinestetik ist im Kindergarten kein Zusatzprogramm und es werdenkeine eigenen Übungsstunden angesetzt, vielmehr sind die Übungen in daspädagogische Angebot integriert. Sie unterstützen und ergänzen die Projekteder Kindergartenpädagogik: z.B. wird zur Steigerung der Aufmerksamkeit voreiner Erzählung die "Denkmütze" aufgesetzt; oder, damit beim Sport Ängsteund Verspannungen genommen werden, können die "Energieknöpfe"gedrückt werden oder die "Positiven Punkte" auf der Stirn gehalten werden.

Wenn die Kinder nach einem erlebnisreichen Wochenende wepsig undaufgedreht sind, so hilft der "Brummer", der "Tiger" oder eine "Cook-Übung"zur Beruhigung und zum harmonischen Ausgleich. Keine Übungsstundendaraus machen! Kräftig brummen, brüllen und fauchen wie ein Tiger, mussimmer ein Spiel bleiben. Denn gerade das lockere, lustige undungezwungene Spiel findet bei Kindern großen Anklang und gibt denEnergien freie Bahn. Übrigens: auch bei Elternabenden lockert die eine oderandere Übung die Teilnehmer auf und bringt oftmals eine engagierteDiskussion zustande.

Spiele zur Überkreuzung der Körpermitte waren schon zu Zeiten unsererGroßeltern bekannt und beliebt. Zusammen mit den Erkenntnissen aus derKinesiologie erhalten sie neue Bedeutung für das Zusammenspiel der beidenGehirnhälften. Besonders beliebt sind bei kleinen Kindern dieAbklatschspiele mit rhythmischen Versen: "Scheren schleifen, Scherenschleifen, ist die beste Kunst. Wer dies nicht kann, wer das nicht kann, der istein dummer Hampelmann".

Zwei Kinder stehen sich gegenüber und klatschen wechselseitig mit derlinken und der rechten Hand die linke und rechte Hand des anderen Kindes(Bezdek, 1996). Spaß haben die Kinder auch am Balancieren und Jonglieren.Mit aufgeblasenen Mülltüten können schon Dreijährige das Jonglierenversuchen.

Das Ziel dieser Spiele und der kinesiologischen Übungen im Kindergarten istnicht, möglichst früh mit den Kindern kognitive Spitzenleistung anzusteuern,sondern die Förderung der Gesamtpersönlichkeit steht im Mittelpunkt. Elternund Pädagog/innen berichten übereinstimmend: Durch diese Spiele undÜbungen werden die Kinder ausgeglichener, gesteigert in der Wahrnehmung,

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Übungen werden die Kinder ausgeglichener, gesteigert in der Wahrnehmung,selbstsicherer und in ihrem körperlichen Verhalten geschmeidiger undweniger.

4. Kinesiologie - eine Vorstufe zur Stille

Der Morgenkreis am Montag: Viele Kinder möchten losplatzen und erzählen,einige können es nicht mehr erwarten, dran zu sein und drängen sich um dieErzieherin, die nächsten wollen nicht mehr zuhören, was andere sagen.

Auch bei Kindergartenkindern stauen sich Probleme an, erzeugen zu hoheAnforderungen Stress und sie müssen eine Flut von Reizen bewältigen. DieFolge: Unruhe, Unausgeglichenheit, Hast und Nervosität. Was könnte Abhilfeschaffen? Wie können die Kinder beruhigt werden? Wie können Kinder vordiesen Anforderungen geschützt werden? Dies sind sorgenvolle Fragen vielerPädagog/innen.

Phantasiereisen, Tagträume, besinnliche Stunden, Sensibilisierungsübungenund andere meditative Formen scheinen sich anzubieten, um den KindernBesinnlichkeit, Ruhe und Stille vertraut zu machen. Und dann eine völligparadoxe Tatsache: Meditative Übungen und Formen zur Verinnerlichungentgleisen völlig. Die Kinder werden noch zappeliger, gereizter undunerträglicher. Denn es ist eine bekannte Erfahrung aus denunterschiedlichen Meditationspraktiken: Bei einem bestimmten Grad derinneren Unruhe, bei schwerwiegenden Problemen erzeugt Meditation nochmehr Unruhe und Zerrissenheit. Statt Erbauung, Besinnung und Harmoniebricht sich Aggression, Wut und Gereiztheit Bahn. Dies ist auch beiKindergartenkindern anzutreffen. Dann sind Formen der Stille undBesinnung verfrüht. Beispielsweise kann ein aufgedrehtes und überreiztesKind nicht vorsichtig und staunend eine brennende Kerze beobachten. Eswird ungestüm damit herumfuchteln und sich möglicherweise verbrennen.Übrigens gilt dies nicht nur für Kinder: Auch Pädagog/innen, die nicht mitentsprechender Konzentration und innerer Sicherheit an eine meditativeÜbung gehen, übertragen Nervosität und Anspannung auf die Kinder.

Und dennoch besteht kein Zweifel: Schon die Kinder im Kindergartenbrauchen Angebote zur Ruhe und Besinnlichkeit. Heute sogar dringlicher alsjemals zuvor. Der Lärmpegel nimmt zu, Reize jeglicher Art werden immermehr gesteigert, die Fülle an neuen Informationen wird unüberschaubarerund die Wünsche haben jedes realistische Maß aufgrund des Überangebotsverloren.

Bei diesen Voraussetzungen kann nur behutsame und überlegte Hinführungzu Übungen der Konzentration und Stille erfolgreich sein. Die Kinesiologiebietet eine Möglichkeit auf ganz einfacher und elementarer Basis, denKindern erste Hilfen bei Verspannungen und Stress zu geben. Einfache

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Kindern erste Hilfen bei Verspannungen und Stress zu geben. Einfachekörperliche Bewegungen lösen die Blockaden auf und setzen neue Energienfrei. Dadurch werden die Kinder gut eingestellt auf Übungen und Formen, diemehr Konzentration und Ruhe verlangen.

Nach dem Konzept der Kinesiologie sind Körper, Seele und Geist soineinander verwoben, dass Übungen zur seelischen Ausgeglichenheit beimKörper ihren Anfang nehmen. Somit können Entspannung undEnergieaufbau nicht allein durch Übungen erkauft werden. Nein, einegesamte Neuorientierung in der Lebensgestaltung bis hin zur vernünftigenErnährung sind vonnöten. Sogar Essen und Trinken bewirken nachkinesiologischen Erkenntnissen Beruhigung, Ausgeglichenheit undLebensqualität. Mineralwasser ist in besonderer Weise fähig, dieInformationen der Nervenbahnen weiterzuleiten. Lebensmittel wie Salate,Gemüse und Obst versorgen den Menschen mit Lebensenergien. Dagegensind Genussmittel Räuber der Lebensenergien.

Gerade diese Forderungen nach einer sinnvollen Umorientierung des Lebensschieben wir Westeuropäer meist zur Seite, wenn wir meditative Praktikenaus dem Orient übernehmen.

Kinesiologie - im Kindergarten praktiziert - ist dann nicht nur einLückenbüßer, der herhalten muss, wenn Kinder überreizt sind, sondern einVersuch einer bewussten Lebensgestaltung, die Harmonie von Körper undGeist erreichen will.

Literatur

Bezdek, Ursula; Bezdek, Monika; Schnabel, Michael: Bewegen erleben. Ein Leitfaden, der Lust an der

Bewegung weckt. Stockdorf 1996

Dennison, Paul; Dennison, Gail: EK für Kinder. Das Handbuch der EDU-KINESTETIK für Eltern, Lehrer

und Kinder jeden Alters. Freiburg 1993/8

Dennison, Paul; Dennison Gail: Brain-Gym. Freiburg 1994/5

Dennison, Paul: Befreite Bahnen. Freiburg 1995

Ertl, Antje: Kinesiologie. Gesund durch Berühren. Durch die Regulierung von Körperenergien die

Persönlichkeit entwickeln, das Immunsystem stärken und die Selbstheilungskräfte aktivieren.

München 1996

Lesch, Matthias; Förder, Gabriele: Kinesiologie. Aus dem Stress in die Balance. München 1994

Meixner, Silvia; Tumpold, Ernst: Kinder aufs Lernen vorbereiten im Kindergarten ... für Eltern und

Kindergärtner/innen. Praxis-Arbeitsmappe für den Einsatz von Edu-Kinestetik-Übungen. Wien,

Stuttgart, Kiel 1994/2

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In: Martin R. Textor (Hrsg.): Das Kita-Handbuch.http://www.kindergartenpaedagogik.de/125.html

Stuttgart, Kiel 1994/2

Tourelle, Maggie la: Was ist Angewandte Kinesiologie? Freiburg 1992