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234 6. Die Opposition „Modus" diesem speziellen Aspekt nicht ganz sinnlos. Es wird nämlich dabei sichtbar, daß in beiden Werken ein Phänomen auftaucht, für das sich zwei entgegengesetzte Erklärungen anbieten. Transpersonalismus im Zauberberg und Personalisierung der Erzählerfigur im Ulysses können einmal erklärt werden als Ausdruck für eine Auflösung der Bewußtseinsgrenzen zwischen den Individualcharakteren und für ihr Eintau- chen in ein transpersonales, überindividuelles oder kollektives Bewußtsein. Sie können zum anderen aber auch als Resultat oder besser als Spuren einer unvollständigen Individualisierung der Charaktere im Abfassungsprozeß verstanden werden, etwa in dem Sinne, daß es hier nicht zu einer Vorstellungswelt des Autors/Erzählers und der Vorstellungswelt der Romancharaktere gekommen sei. Die Unterscheidung von Perspektivismus und Aperspek-tivismus als gleichberechtigte Stile läßt unvollständige einer Romangestalt als künstlerisches Manko zu bezeichnen. Wohl aber wird man sich bemühen müssen, sie aus dem Text herauszupräparieren, um sie der Interpretation zugänglich zu machen. Am wichtigsten sind die hier besprochenen Erscheinungen jedoch für das Verständnis des inneren Konzeptions- und Abfassungsvorganges und der Katalysatorfunktion, die dabei einer Erzähler- oder Reflektorfigur in der Vorstellung des Autors zukommt. Es ist nämlich anzunehmen, daß ein Autor, der sich anschickt, eine Erzählung mit einer Erzählerfigur zu verfassen, bei der Konzeption dieser Erzählung anders zu Werke geht als ein Autor, der plant, die Vermittlung seiner Geschichte einer Reflektorfigur zu überantworten. Diese Vermutung an einem größeren Textmaterial, vor allem an Hand von ersten Entwürfen in Notizbüchern und Revisionen von Erzähltexten genauer zu überprüfen, wäre eine sehr lohnende Aufgabe für weitere Untersuchungen. 6.4.4. Die Erzählsituation in Thomas Manns „Tristan" aus textlinguistischer und erzähltheoretischer Sicht R. Harwegs textlinguistische Beschreibung der Erzählsituationen in Thomas Manns Erzählung „Tristan" nimmt von folgender Feststellung ihren Ausgang: „Die kommunikative Situation, in die ein fiktionaler Text eingebettet ist, ist komplizierter als die, in die ein nichtfiktionaler Text eingebettet ist". 52 Im Verlaufe der Analyse gerät jedoch, 52 R. Harweg, „Präsuppositionen und Rekonstruktion", 166. Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens / Franz K. Stanzel. - 7. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (S. 234-39) (UTB für Wissenschaft: Uni- Taschenbücher; 904) ISBN 3-8252-0904-0 (UTB) ISBN 3-525-03208-0 (Vandenhoeck & Ruprecht)

Stanzel ErzäHlerfigur In Th Manns Tristan

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234 6. Die Opposition „Modus"

diesem speziellen Aspekt nicht ganz sinnlos. Es wird nämlich dabei sichtbar, daß in beiden Werken ein Phänomen auftaucht, für das sich zwei entgegengesetzte Erklärungen anbieten. Transpersonalismus im Zauberberg und Personalisierung der Erzählerfigur im Ulysses können einmal erklärt werden als Ausdruck für eine Auflösung der Bewußt-seinsgrenzen zwischen den Individualcharakteren und für ihr Eintau-chen in ein transpersonales, überindividuelles oder kollektives Be-wußtsein. Sie können zum anderen aber auch als Resultat oder besser als Spuren einer unvollständigen Individualisierung der Charaktere im Abfassungsprozeß verstanden werden, etwa in dem Sinne, daß es hier nicht zu einer vollständigen Trennung der Vorstellungswelt des Au-tors/Erzählers und der Vorstellungswelt der Romancharaktere ge-kommen sei. Die Unterscheidung von Perspektivismus und Aperspek-tivismus als gleichberechtigte Stile läßt uns heute zögern, eine solche unvollständige Objektivierung einer Romangestalt als künstlerisches Manko zu bezeichnen. Wohl aber wird man sich bemühen müssen, sie aus dem Text herauszupräparieren, um sie der Interpretation zugäng-lich zu machen. Am wichtigsten sind die hier besprochenen Erschei-nungen jedoch für das Verständnis des inneren Konzeptions- und Ab-fassungsvorganges und der Katalysatorfunktion, die dabei einer Er-zähler- oder Reflektorfigur in der Vorstellung des Autors zukommt. Es ist nämlich anzunehmen, daß ein Autor, der sich anschickt, eine Er-zählung mit einer Erzählerfigur zu verfassen, bei der Konzeption die-ser Erzählung anders zu Werke geht als ein Autor, der plant, die Ver-mittlung seiner Geschichte einer Reflektorfigur zu überantworten. Diese Vermutung an einem größeren Textmaterial, vor allem an Hand von ersten Entwürfen in Notizbüchern und Revisionen von Erzähltex-ten genauer zu überprüfen, wäre eine sehr lohnende Aufgabe für wei-tere Untersuchungen.

6.4.4. Die Erzählsituation in Thomas Manns „Tristan" aus textlinguistischer und erzähltheoretischer Sicht

R. Harwegs textlinguistische Beschreibung der Erzählsituationen in Thomas Manns Erzählung „Tristan" nimmt von folgender Feststellung ihren Ausgang: „Die kommunikative Situation, in die ein fiktionaler Text eingebettet ist, ist komplizierter als die, in die ein nichtfiktionaler Text eingebettet ist".52 Im Verlaufe der Analyse gerät jedoch,

52 R. Harweg, „Präsuppositionen und Rekonstruktion", 166.

6.4. Erzählerfigur bei K. Mansfield, J. Joyce und The. Mann 235

so scheint es, diese wichtige Erkenntnis etwas in den Hintergrund und die Erzählsituation in „Tristan" wird hauptsächlich an Erzählmodellen, die aus nichtfiktionalen Kommunikationssituationen abgeleitet werden, gemessen. Es überrascht daher nicht, wenn das Ergebnis dieser Analyse auf eine Reihe von „Korrekturen am Mannschen Text (183) hinausläuft. Der Fall ist von grundsätzlichem Interesse für di immer wichtiger werdende „kommunikative Situation" zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft und soll daher auch etwas ausführt eher behandelt werden, nicht so sehr um den textlinguistischen Befund zu korrigieren, sondern um aufzuzeigen, wie die beiden Disziplinen einander ergänzen können.Eine wesentliche Voraussetzung für eine solche Symbiose ist di Kenntnisnahme der Lösungsversuche, die von der anderen Reichshälfte für ein Problem vorgelegt wurden. Harweg verengt vom Ansatz her seine Basis, wenn er die Modifikationen, die in der Diskussion a K. Hamburgers These vom epischen Präteritum angebracht wurde mit der Ausnahme jener von Weinrich ignoriert.53

Daß die Vergangenheitstempora ganz allgemein das, wie Harweg glaubt, „unabweisbar signalisierte Nachzeitigkeitsverhältnis des Senders und der Rezipienten einer fiktionalen Erzählung" (168) bezeichnen, ist, so allgemein formuliert, ebenso unhaltbar wie die generelle Fixierung der Gegenwartstempora auf „ein Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen Sen der und Sachverhalt", was allein durch den Hinweis auf im Präsens stehende Erzählungen wie Ch. Dickens', Bleak House, J. Carys Mister Johnson oder Franz Werfels Das Lied von Bernadette zu widerlege; ist, in denen das Erzählpräsens keineswegs, wie im inneren Monolog immer ein Geschehen beschreibt, das „in actu" dargestellt wird.5 Vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt erscheinen daher dies beiden Annahmen Harwegs, welche die temporale Basis für die zwei

53 Siehe Harwegs Anm. 3 auf Seite 168. Zur Modifikation der These K. Hamburgers vgl. meinen Aufsatz „Episches Präteritum, erlebte Rede, historisches Präsens", DVjs 33 (1959), 1-12; wieder abgedruckt in: V. Klot(Hrsg.), Zur Poetik des Romans, 319—338; und die Ausführungen zu KHamburgers Logik der Dichtung hier in Kap. 1:2., sowie in den Typische!Erzählsituationen, 22ff.

54 C.P. Casparis analysiert sehr eingehend den Gebrauch des Präsens als Erzähltempus von mehr als einem Dutzend englischer Romane, in denen da

„Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen Sender und Sachverhalt" fast immer nur ein untergeordneter Aspekt dieses ungewöhnlichen Tempusgebrauchs ist. Tense Without Time, Bern 1975.

Stanzel, Franz K.:Theorie des Erzählens / Franz K. Stanzel. - 7. Aufl. -Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001

(S. 234-39)

(UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 904)ISBN 3-8252-0904-0 (UTB)ISBN 3-525-03208-0 (Vandenhoeck & Ruprecht)

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Erzählmodelle bilden, die Harweg in seiner Interpretation anwendet, etwas problematisch. Bei Harwegs Modell der schriftlichen Erzählung befindet sich der Erzähler „im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten". Für dieses Erzählmodell gilt außerdem, daß sich Erzähler, Rezipienten und Sachverhalte an jeweils verschiedenen Orten befinden. Beim Modell der mündlichen Erzählung befindet sich der Erzähler „im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu seinen Rezipienten". Für den mündlichen Erzähler gilt außerdem, daß er sich „an demselben Ort wie die Rezipienten, aber an einem anderen Ort als die Sachverhalte" (169) befindet. Darüber hinaus wird noch ein drittes Modell (zusammen mit einem vierten) definiert, aber dann verworfen, obwohl es in der modernen Erzählliteratur fast ebenso häufig realisiert wird wie das erste und zweite Modell. Es handelt sich um einen Fall, der in unserem System dadurch gekennzeichnet ist, daß die Mittelbarkeit des Erzählens nicht durch eine Erzählerfigur, sondern durch eine Reflektorfigur getragen wird. Ersetzt man in der Definition von Harwegs drittem bzw. viertem Modell den Begriff Erzähler durch Reflektor, so wird daraus eine Definition der personalen ES, in der tatsächlich die Reflektorfigur, Harweg nennt sie Erzähler, „im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten" steht und sich „an demselben Ort wie die Sachverhalte, aber an einem anderen Ort als die Rezipienten befindet", wie Harwegs Definition des dritten Modells lautet. Berücksichtigt man auch die Illusion der Unmittelbarkeit und der „in actu"-Partizipation des Lesers in seiner Vorstellung, dann deckt sich Harwegs viertes Modell weitgehend mit der personalen ES: für beide gilt Gleichzeitigkeit von Sachverhalten, Erzähler (= Reflektorfigur) und Leser sowie Anwesenheit aller drei - der Vorstellung nach - an ein und demselben Ort (169, Punkt 3 u.4). Eigenartigerweise verwendet Harweg gerade dieses Modell nicht für seine Analyse der ES in „Tristan", sondern versucht die Besonderheit dieser Erzählung als Abweichung von seinen beiden ersten Modellen, der schriftlichen und mündlichen Erzählsituation eines persönlichen Erzählers zu definieren. Am Beginn der Erzählung „Tristan", auf den sich Harwegs Analyse im wesentlichen stützt, herrscht eine ES vor, die durch eine Tendenz zur Personalisierung der Erzählerfigur gekennzeichnet ist. Der auktoriale Erzähler gibt sich einmal so, als wäre er ein personales Medium, ein imaginärer Kurgast im Sanatorium „Einfried", dann aber spricht er wieder in der Rolle des auktorialen Erzählers. Er verbindet also die

6.4. Erzählerfigur bei Mansfield, J. Joyce und Th. Mann 237

Blickpunkte und die damit gegebenen Wissenshorizonte einer zeitlich und örtlich fixierten Reflektorfigur mit jenen einer zeitlich und örtlich freien Erzählerfigur. In „Tristan" leitet dieser Zustand einer zwischen auktorial und personal schwankenden ES schließlich zu einer vorherrschend auktorialen Erzählweise über. Der moderne Leser, der mit den charakteristischen Konventionen beider ES vertraut ist, kann sich auch ohne Harwegs etwas umständliche Erklärungsmodelle, wie „Fremdenführersituation" für die ES des Erzählanfangs und „Besucher-Rezipient" bzw. „Pfleger-Erzähler" für die anderen Teile der Erzählung (178f.), zurechtfinden.Die beiden Erzählsituationen, mit denen hier Thomas Mann wie auch in vielen seiner anderen Erzählungen virtuos operiert, so etwa auch in „Der Tod in Venedig" und „Schwere Stunde", lassen sich am augen-fälligsten an der ersten und der zweiten Einführung der Hauptgestalt des „Tristan", des Schriftstellers Detlev Spinell, illustrieren. Die erste erfolgt durch eine personalisierte Erzählerfigur:

Was für Existenzen hat „Einfried" nicht schon beherbergt! Sogar ein Schriftsteller ist da, ein exzentrischer Mensch, der den Namen irgendeines Minerals oder Edelsteins führt und hier dem Herrgott die Tage stiehlt [...] (Der Tod in Venedig und andere Erzählungen, 65)

Der erste Satz markiert an Stelle eines verbum cogitandi das Folgende als Innensicht einer Figur der Erzählung, er nähert sich daher auch der für die Gedankendarstellung von Figuren charakteristischen erlebten Rede. Der sich anschließende Satz unterstreicht dann noch die Innenperspektive und den daraus folgenden „limited point of view" durch die Unkenntnis des Namens des Schriftstellers, die sich der personalisierte Erzähler, der hier einem personalen Medium bzw. einer Reflektorfigur sehr nahe kommt, eingestehen muß. Im gleichen Sinne wirkt die anschließende, sehr subjektiv-persönlich formulierte Äußerung über den Schriftsteller. Ganz anders dagegen die zweite Einführung, sie erfolgt durch einen sich betont auktorial gebenden Erzähler:

Spinell hieß der Schriftsteller, der seit mehreren Wochen in „Einfried" lebte, Detlev Spinell war sein Name, und sein Äußeres war wunderlich. Man vergegenwärtige sich einen Brünetten am Anfang der Dreißiger und von stattlicher Statur [.. .] (69)

Daran schließt eine sehr ausführliche Beschreibung Spinells an, in der sich allerdings der auktoriale Erzähler darauf beschränkt, nur das zu berichten, was auch von den Kurgästen von „Einfried" an Spinell be-obachtet werden konnte. Dieser Verzicht auf Allwissenheit und Be-schränkung des Blickpunktes des auktorialen Erzählers ist die Voraus-

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238 6. Die Opposition „Modus"

Setzung für das eigenartige Schweben der ES zwischen personal und auktorial in dieser Erzählung.Eine Stelle, an der diese schwebende Erzählsituation besonders deut-lich wird, spielt auch in Harwegs Argumentation eine Rolle (182f.), da sie sich nicht ohne weiteres seinem Erklärungsmodell unterordnen läßt. Es handelt sich um die „Liebestod"-Szene: Herrn Klöterjahns Gattin spielt den Klavierauszug vom zweiten Akt der Oper Tristan und Isolde. Das musikalische Liebestod-Motiv wird in der Erzählung in metaphorischer Überhöhung literarisch nachgestaltet, wobei wiederum offen bleibt, ob an dieser Stelle nur die Gedanken und Gefühle des personalen Mediums, nämlich Spinells, oder einer personalisierten Erzählerfigur, die sich ebenso wie Spinell ganz dem Eindruck der Mu-sik überläßt, wiedergegeben werden. Diese Szene wird durch den Ein-tritt einer Patientin und ihrer Pflegerin in das Konversationszimmer, wo Herrn Klöterjahns Gattin und Herr Spinell beim Klavier sitzen, plötzlich unterbrochen:Plötzlich geschah etwas Erschreckendes. Die Spielende brach ab und rührte ihre Hand über die Augen, um ins Dunkel zu spähen, und Herr Spinell wandte sich rasch auf seinem Sitze herum. Die Tür dort hinten, die zum Korridor führte, hatte sich geöffnet, und herein kam eine finstere Gestalt [...] (86)

Dieser unerwartete Auftritt der an Altersdebilität leidenden Pastorin Höhlenrauch zerstört den Zauber der „Liebestod"-Atmosphäre, die Spinell und Frau Klöterjahn umfangen hat, endgültig. Da sich nun auch die Rückkehr der anderen Patienten, die an diesem Tage eine Schlittenpartie unternommen hatten, ankündigt, erhebt sich Spinell, um auf sein Zimmer zu gehen:

Er stand auf und ging durch das Zimmer. An der Tür dort hinten machte er halt, wandte sich um und trat einen Augenblick unruhig von einem Fuß auf den anderen. Und dann begab es sich, daß er, fünfzehn oder zwanzig Schritte von ihr entfernt, auf seine Knie sank, lautlos auf beide Knie. (86)

Harweg hat hier Schwierigkeiten mit dem Deiktikon „dort hinten" (182f.). Es ist im ersten Zitat ganz eindeutig vom Blickpunkt Spinells aufzufassen. Der Satz, der mit „An der Tür dort hinten..." beginnt, ist eindeutig ER, genauer erlebte Wahrnehmung Spinells. Wenn dasselbe Deiktikon im zweiten Zitat in unveränderter Form wieder auftaucht, obwohl die Figur, von deren Orientierungszentrum aus früher die Tür „dort hinten" gesehen worden war, sich inzwischen zur Tür hin bewegt hat, dann muß das die Aufmerksamkeit des Lesers erregen. Text-grammatisch ist diese zweite Verwendung des Deiktikons tatsächlich nicht stimmig. Literarisch betrachtet hat aber die Unstimmigkeit eine

6.4. Erzählerfigur bei K. Mausfield, J. Joyce und Th. Mann 239

ganz bestimmte Funktion, sie soll nämlich eine Art Verfremdung der Raumorientierung des Lesers auslösen, durch die seine Aufmerksam-keit gerade auf die Phrase „Tür dort hinten" gelenkt wird. Der Autor deutet wahrscheinlich damit auf eine thematische Korrespondenz zwi-schen dem für das Paar am Klavier bestürzenden Auftreten der Pasto-rin und dem nicht weniger bestürzenden Kniefall, mit dem Spinell sei-nen Abschied nimmt. Diesen Abschied berichtet ein auktorialer Er-zähler, wie aus dem beinahe biblisch-epischen Tonfall von „Und dann begab es sich, daß..." hörbar wird. Vom Standpunkt dieses auktorialen Erzählers wäre als Ortsangabe für Spinells Kniefall an sich nur „an der Tür" zu erwarten. Die Hinzufügung „dort hinten" ist ein auktoriales Zitat aus der personalen Wahrnehmungsperspektive der ersten Textstelle, die man auch als Folge einer vorübergehenden Personali-sierung der Erzählerfigur betrachten kann. Dabei ist auch zu berück-sichtigen, daß diese Perspektive des personalisierten Erzählers mit je-ner von Herrn Klöterjahns Gattin gleichgerichtet ist. Man kann nicht sagen, daß sie mit ihr identisch ist, weil von Herrn Klöterjahns Gattin meist nur Außensicht, hier nie Innensicht geboten wird. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt der Perspektivierung dieser Erzählung, vielleicht überhaupt der für die Interpretation wichtigste. Dieser Aspekt wird aber von Harwegs Analyse nicht erfaßt. Damit ist nicht gesagt, daß die Überlegungen Harwegs zur Erzählsituation von „Tristan" für die Literaturwissenschaft uninteressant oder nutzlos sind. Die vorliegende Interpretation verdankt ihnen schließlich auch die Problemstellung. In erster Linie ging es darum zu zeigen, daß der textlinguistische Befund, der - auch von Harweg nur etwas zögernd ausgesprochen -,,erzählsituationelle[n] Ungereimtheiten" (184f.) in Thomas Manns Erzählung entdeckt, keineswegs das letzte Wort über die Eigenart die-ser Textstelle zu sein braucht. Selbst wenn die Textlinguistik ausdrück-lich darauf verzichtet, „irgendetwas für die Steigerung der künstle-risch-ästhetischen Wirkung des betreffenden Textes zu leisten", so bleibt doch die Frage, ob ihre Bemühungen ohne Kooperation mit der Literaturwissenschaft tatsächlich, wie Harweg hofft, zu einer „Vertie-fung unserer Einsichten in die Struktur von Texten" und einer besseren Einsicht in die „allgemeinen Gesetze des Erzählens" (185) führen können. Das hier diskutierte Beispiel legt eher den Schluß nahe, daß zumindest für die Analyse von fiktionalen Texten eine enge Zusam-menarbeit der beiden Disziplinen am meisten Aussicht auf Erfolg eines solchen Unternehmens verheißt.

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