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Placebo: ein ɒberholter Begriff im biopsychosozialen Modell Placebo: an Antiquated Term within the Biopsychosocial Model Autor S. Schiller Institut Bethesda-Spital Basel Schlɒsselwçrter l " Placebo l " Placeboeffekt l " Physiotherapie l " biopsychosozial Key words l " placebo l " placebo effect l " physiotherapy l " biopsychosocial eingereicht 8.11.2007 akzeptiert 25.3.2008 Bibliografie DOI 10.1055/s-2008-1027752 Manuelle Therapie 2008; 12: 171 – 177 # Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 1433-2671 Korrespondenzadresse Stefan Schiller Hirzbodenweg 47 4052 Basel, Schweiz [email protected] Einleitung ! Mehr als jeder andere Aspekt der Medizin ist das Thema Placebo von einem Geheimnis umgeben [16, 46]. Unter Wissenschaftlern und praktizie- renden Ɛrzten lçst es großes Unbehagen aus [46, 47]. Abgesehen von historischen Grɒnden gibt es laut Wall [46, 47] 4 ErklȨrungen fɒr die Unbe- liebtheit des Themas. Eine ErklȨrung ist das lȨstige und kostspielige Ar- tefakt von Placebos in klinischen Untersuchun- gen. Placebobehandlungen sind wahrscheinlich die am besten untersuchten medizinischen Inter- ventionen, da der derzeitige Goldstandard klini- scher Untersuchungen darin besteht, die Effekti- vitȨt einer Therapie durch den Vergleich mit einer Placebobehandlung zu testen, die die akti- ve Behandlung in jeder Hinsicht nachahmt [15]. Der grçßte Teil der Fachliteratur zu Placebos be- zieht sich auf Befunde aus solchen Studien. Dabei wird jedoch oft ɒbersehen, dass diese Untersu- chungen durchgefɒhrt wurden, um die Effektivi- tȨt von Medikamenten zu testen, und die Place- boforschung lediglich ein Nebenprodukt ist. Im Nachhinein aus solchen Untersuchungen gezo- gene Schlussfolgerungen ɒber die EffektivitȨt von Placebos kçnnen leicht falsch interpretiert werden [18, 43]. Vor Kurzem verçffentlichte kritische Reviews der Fachliteratur ɒber Placebos zeigten, dass viele der immer noch hȨufig zitierten Untersuchungen substanzielle methodologische Fehler aufweisen [28, 29]. Die neuen Metaanalysen zerstçren alt- hergebrachte Mythen wie die oft zitierte Regel des 30 %-Placeboeffekts und schreiben Placebo- behandlungen eine wesentlich geringere oder sogar gar keine EffektivitȨt zu [28, 29]. WȨhrend der letzten 15 Jahre nahm das Interesse am Pla- ceboeffekt stark zu, was teilweise auf diese neu- en Befunde zurɒckzufɒhren ist [19, 29, 40]. Der zweite von Wall [46, 47] angefɒhrte Grund fɒr das von der Placeboreaktion ausgelçste Unbe- hagen ist das Infragestellen der eigenen geistigen Gesundheit, wenn ein Placeboeffekt der RealitȨt Zusammenfassung ! In der medizinischen Gesellschaft existieren vie- le Mythen zum Thema Placebo, und die zugrunde liegenden Mechanismen sind nach wie vor kaum bekannt. Im Gegensatz zu klinischen Untersu- chungen, bei denen Placebos eine wichtige Rolle spielen, ist es in der klinischen Praxis bei multi- dimensionalen Behandlungen wie der Physiothe- rapie unmçglich, eindeutig zu identifizieren und zu quantifizieren, welchen Anteil ein Placeboef- fekt an der BehandlungseffektivitȨt hat. Um ihre Therapien so effektiv wie mçglich zu machen, sollten Physiotherapeuten jedoch auch die Be- funde der Placeboforschung berɒcksichtigen. Ne- ben anderen VorschlȨgen betont diese Forschung die Bedeutung einer positiven und produktiven Beziehung zwischen Patient und Kliniker. Abstract ! Many myths exist around the topic placebo within the medical society and its underlying mechan- isms are still poorly understood. Contrary to clini- cal trials in which placebos play a vital role it is im- possible to clearly identify the placebo effect’s contribution to treatment efficacy in clinical prac- tice using multidimensional treatment such as physiotherapy. In order to maximise the effect of their treatments, physiotherapists should how- ever consider the findings of placebo research. Along with other suggestions this research reinfor- ces the importance of creating a positive, produc- tive relationship between patient and clinician. Schiller S. Placebo in der… Manuelle Therapie 2008; 12: 171 – 177 Fachwissen: Placebo 171 Heruntergeladen von: FH Campus Wien. Urheberrechtlich geschützt.

Placebo

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Placebo: ein �berholter Begriff im biopsychosozialenModell

Placebo: an Antiquated Term within the Biopsychosocial Model

Autor S. Schiller

Institut Bethesda-Spital Basel

Schl�sselwçrterl" Placebol" Placeboeffektl" Physiotherapiel" biopsychosozial

Key wordsl" placebol" placebo effectl" physiotherapyl" biopsychosocial

eingereicht 8.11.2007akzeptiert 25.3.2008

BibliografieDOI 10.1055/s-2008-1027752Manuelle Therapie 2008; 12:171 – 177 � Georg ThiemeVerlag KG Stuttgart · New York ·ISSN 1433-2671

KorrespondenzadresseStefan SchillerHirzbodenweg 474052 Basel, [email protected]

Einleitung!

Mehr als jeder andere Aspekt der Medizin ist dasThema Placebo von einem Geheimnis umgeben[16, 46]. Unter Wissenschaftlern und praktizie-renden �rzten lçst es großes Unbehagen aus [46,47]. Abgesehen von historischen Gr�nden gibtes laut Wall [46, 47] 4 Erkl�rungen f�r die Unbe-liebtheit des Themas.Eine Erkl�rung ist das l�stige und kostspielige Ar-tefakt von Placebos in klinischen Untersuchun-gen. Placebobehandlungen sind wahrscheinlichdie am besten untersuchten medizinischen Inter-ventionen, da der derzeitige Goldstandard klini-scher Untersuchungen darin besteht, die Effekti-vit�t einer Therapie durch den Vergleich miteiner Placebobehandlung zu testen, die die akti-ve Behandlung in jeder Hinsicht nachahmt [15].Der grçßte Teil der Fachliteratur zu Placebos be-zieht sich auf Befunde aus solchen Studien. Dabeiwird jedoch oft �bersehen, dass diese Untersu-chungen durchgef�hrt wurden, um die Effektivi-

t�t von Medikamenten zu testen, und die Place-boforschung lediglich ein Nebenprodukt ist. ImNachhinein aus solchen Untersuchungen gezo-gene Schlussfolgerungen �ber die Effektivit�tvon Placebos kçnnen leicht falsch interpretiertwerden [18, 43].Vor Kurzem verçffentlichte kritische Reviews derFachliteratur �ber Placebos zeigten, dass vieleder immer noch h�ufig zitierten Untersuchungensubstanzielle methodologische Fehler aufweisen[28, 29]. Die neuen Metaanalysen zerstçren alt-hergebrachte Mythen wie die oft zitierte Regeldes 30%-Placeboeffekts und schreiben Placebo-behandlungen eine wesentlich geringere odersogar gar keine Effektivit�t zu [28, 29]. W�hrendder letzten 15 Jahre nahm das Interesse am Pla-ceboeffekt stark zu, was teilweise auf diese neu-en Befunde zur�ckzuf�hren ist [19, 29, 40].Der zweite von Wall [46, 47] angef�hrte Grundf�r das von der Placeboreaktion ausgelçste Unbe-hagen ist das Infragestellen der eigenen geistigenGesundheit, wenn ein Placeboeffekt der Realit�t

Zusammenfassung!

In der medizinischen Gesellschaft existieren vie-le Mythen zum Thema Placebo, und die zugrundeliegenden Mechanismen sind nach wie vor kaumbekannt. Im Gegensatz zu klinischen Untersu-chungen, bei denen Placebos eine wichtige Rollespielen, ist es in der klinischen Praxis bei multi-dimensionalen Behandlungen wie der Physiothe-rapie unmçglich, eindeutig zu identifizieren undzu quantifizieren, welchen Anteil ein Placeboef-fekt an der Behandlungseffektivit�t hat. Um ihreTherapien so effektiv wie mçglich zu machen,sollten Physiotherapeuten jedoch auch die Be-funde der Placeboforschung ber�cksichtigen. Ne-ben anderen Vorschl�gen betont diese Forschungdie Bedeutung einer positiven und produktivenBeziehung zwischen Patient und Kliniker.

Abstract!

Many myths exist around the topic placebo withinthe medical society and its underlying mechan-isms are still poorly understood. Contrary to clini-cal trials in which placebos play a vital role it is im-possible to clearly identify the placebo effect’scontribution to treatment efficacy in clinical prac-tice using multidimensional treatment such asphysiotherapy. In order to maximise the effect oftheir treatments, physiotherapists should how-ever consider the findings of placebo research.Along with other suggestions this research reinfor-ces the importance of creating a positive, produc-tive relationship between patient and clinician.

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und der Verl�sslichkeit unserer Sinne zu widersprechen scheint.Tats�chlich brachten k�rzlich durchgef�hrte placebospezifischeUntersuchungen interessante neue Informationen hervor, dienicht nur das Wissen �ber den Placeboeffekt an sich erweiter-ten, sondern auch erneut die erstaunliche Komplexit�t der Inter-aktion zwischen Kçrper und Geist deutlich machten [9, 15, 19].Diese neuen Studien machten auch vom Offen/verdeckt-Paradig-ma Gebrauch, das die Ansichten �ber die zuk�nftige medizini-sche Forschung ver�nderte [9, 15, 19].Angesichts der Tatsache, dass Placebos ein integraler Bestand-teil der heutigen evidenzbasierten Praxis sind, sollte man an-nehmen, dass allgemein anerkannt wird, dass Placeboeffektebei jeder medizinischen Intervention auftreten kçnnen [11, 45].Viele Kliniker betrachten jedoch schon die bloße Erw�hnungdes Begriffs im Zusammenhang mit der von ihnen bef�rworte-ten Therapiemethode als Beleidigung. Dieses implizite Infrage-stellen der Logik einer bestimmten Behandlung und ihre Asso-ziation mit Quacksalberei sind die 2 letzten von Wall [46, 47]angef�hrten Gr�nde f�r das Unbehagen in Bezug auf die Place-boreaktion.Aber warum reagieren Kliniker auf diese Weise? Wenn allge-mein akzeptiert ist, dass sich die Effektivit�t einer Behandlungaus dem „wirklichen“ und dem Placeboeffekt zusammensetzt[32], warum sollte dann ein nachgewiesener hçherer Anteil desPlaceboeffekts die Qualit�t der Intervention insgesamt schm�-lern? Sie ist mçglicherweise trotzdem die hilfreichste Behand-lungsoption, und das sollte schließlich der ausschlaggebendeFaktor sein. Unter Ber�cksichtigung aller wissenschaftlichenund ethischen Dilemmas ist die Antwort jedoch nicht ann�-hernd so einfach wie zuvor dargestellt. Wie bereits erw�hnt,stellt das Nachdenken �ber die dem Placeboeffekt zugrunde lie-genden Faktoren – vor allem im Licht der neu entstehenden Evi-denz nicht nur aus der medizinischen, sondern auch aus ande-ren Bereichen der wissenschaftlichen Forschung – die eigenengrunds�tzlichen �berzeugungen und die Paradigmen der Reali-t�t und des Bewusstseins infrage [46, 47].Auch wenn die vorliegende Arbeit nicht die Absicht verfolgt,den Leser „[…] so tief in den Kaninchenbau der R�tselhaftigkeit“[3] zu f�hren, diskutiert sie doch einige Definitionen und My-then �ber Placebo. Dar�ber hinaus werden einige der psycholo-gischen und neurobiologischen Mechanismen des Placeboef-fekts erkl�rt und seine Rolle in der Physiotherapie sowie dasbiopsychosoziale medizinische Model beschrieben. Abschlie-ßend erfolgen Vorschl�gen f�r spezifische Placeboprozedurenzur Verbesserung der Therapieergebnisse und eine Diskussiondes den Placeboeffekt umgebenden ethischen Dilemmas.Der Artikel basiert auf der durch Abfrage der Internetdatenban-ken Medline, Cochrane, PEDro und Cinahl sowie eine Handsuchein der UniSA Library und der Barr Smith Library in Adelaide/Australien ausfindig gemachten Fachliteratur. Es wurden unter-schiedliche Sichtweisen des kontroversen Themas aufgenom-men. Da die Literatursuche jedoch nicht systematisch stattfand,wurden auch persçnliche Meinungs�ußerungen ber�cksichtigt.Die Arbeit soll zum Nachdenken anregen und hoffentlich alsGrundlage f�r weitere Diskussionen dienen.

Definitionen von Placebo!

Zahlreiche Quellen geben an, das lateinische Wort placebo be-deute auf deutsch ich werde erfreuen und sei von placebit abge-leitet, das sich mit es wird erfreuen �bersetzen l�sst [11, 23].

Wall [46] argumentiert hingegen, es handle sich um eine An-spielung auf den Psalm 116:9 (Placebo Domino in regione vivor-um bzw. so gehe ich meinen Weg vor dem Herrn im Land derLebenden), der 1. Zeile der Totenvesper. In diesem Zusammen-hang entwickelte sich die negative Konnotation des Wortes, dadie Verwandten der Toten gezwungen wurden, die Mçnche f�rdas Vespersingen zu bezahlen. Im 16. Jahrhundert wurden mitdem Begriff Unzuverl�ssigkeit und Schwindel assoziiert [40].Das medizinische Placeboph�nomen wurde bereits im fr�hen17. Jahrhundert beschrieben [47]. Der Ausdruck Placebo dienteseit dem 18. Jahrhundert zur Beschreibung einer Pseudomedi-zin und wurde 1785 erstmals in einem medizinischen Wçrter-buch definiert [41, 42]. Die Definition im Oxford Concise Medi-cal Dictionary lautet folgendermaßen:„Placebo, n. Eine Medizin, die wirkungslos ist, aber dazu beitra-gen kann, eine Kondition zu verbessern, weil der Patient an ihreKraft glaubt. Neue Medikamente werden in klinischen Untersu-chungen mit Hilfe von Placebos getestet: Die Wirkung des Me-dikaments wird mit der Placeboreaktion verglichen, die auchdann auftritt, wenn das Placebo keinerlei pharmakologisch ak-tive Substanzen enth�lt“ [37].Vor allem aus der Perspektive von Physiotherapeuten ist diesoffensichtlich eine unzul�ngliche Definition, da sie nur Medi-zin, Medikamente und pharmakologisch aktive Substanzen be-r�cksichtigt. Dar�ber hinaus ist sie unzureichend, weil sie denPlaceboeffekt nur hinsichtlich placebokontrollierter Untersu-chungen beschreibt und nicht definiert, welche Rolle Placebo-effekte bei allt�glichen Behandlungen spielen. Eine brauchbareDefinition muss alle Arten von medizinischen Interventionenund klinischen Settings einschließen.Die Definition von Placebo und Placeboeffekten war jedoch im-mer schon Gegenstand heftiger Kontroversen, und bis heute gibtes keine formale Definition, der alle Kliniker und Wissenschaft-ler zustimmen kçnnen [28, 29, 45]. Gøtzsche [20] kam sogar zudem Schluss, dass eine Definition des gegenw�rtig verwendetenPlacebokonzepts inh�rente Widerspr�che aufweist und nichtauf eine logisch konsistente Weise erreicht werden kann.Die grçßte Schwierigkeit besteht darin, die schmale Trennliniezwischen dem Placeboeffekt und den Wirkungen zus�tzlicher,sekund�rer Behandlungskomponenten zu definieren. Sekund�-re Komponenten sind z.B. der allgemeine Mobilisationseffekt,der dadurch entsteht, dass der Patient den Weg zum Behand-lungsort irgendwie zur�cklegen muss, der psychosoziale Effektder Interaktion von Patient und Kliniker, die nozizeptiven Sti-muli des Einstichs bei Injektionen oder die Erhçhung der loka-len Blutzirkulation bei passiven Gelenkmobilisationen. Insbe-sondere im Bereich der Physiotherapie ist die Behandlung oftmultidimensional, und bei genauerer Betrachtung lassen sichmeist mehrere dieser sekund�ren Komponenten identifizierenund von den spezifischen prim�ren Interventionseffekten ab-grenzen [20]. Eine Ultraschallbehandlung beinhaltet immerauch die zus�tzliche Wirkung des Gels, die massageartige Wir-kung der Sonde und offensichtlich den großen Einfluss der In-teraktion von Patient und Kliniker w�hrend des Behandlungs-rituals.Viele Forschungsergebnisse aus j�ngerer Zeit machen das Gan-ze noch komplizierter. W�hrend sich immer mehr Wissen �berdie komplexen Prozesse der Gehirnaktivit�t bei Reaktionen aufPlacebobehandlungen anh�uft, wird die Trennlinie zwischendem Placeboeffekt und den vielen anderen psychologischenund neurobiologischen Prozessen immer unklarer [19]. Ange-sichts dieser Probleme wurde vorgeschlagen, den Ausdruck Pla-

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ceboeffekt nicht mehr zu verwenden und stattdessen spezifischzu beschreiben, auf welche der verschiedenen Behandlungs-komponenten man sich bezieht [12, 27, 44]. Außerdem wurdevorgeschlagen, eine Intervention in spezifische und unspezifi-sche Effekte [29, 41] oder in charakteristische und zuf�llige Fak-toren zu unterteilen [21]. Diese Begriffe sind jedoch nicht breitakzeptiert, da sie sich kaum verallgemeinern lassen und teil-weise selbst widersprechen [20, 29, 30, 38].In der aktuellen Fachliteratur zur pharmakologischen Forschungwird Placeboeffekt oft gleichbedeutend mit psychosozialer Kom-ponente verwendet [15]. Auch diese Verwendung kann jedochnicht verallgemeinert werden, da die Interpretation jede Psycho-therapie als Placebobehandlung betrachten m�sste [45].Das Fehlen exakter Definitionen ist einer der Hauptgr�nde f�rdie widerspr�chlichen Ergebnisse der Placeboforschung. Beimwissenschaftlichen Vergleich von realen, Placebo- und Kon-trollgruppen muss der Einfluss jeder Komponente auf die Be-handlungswirkung sorgf�ltig ber�cksichtigt werden, um sinn-volle Resultate zu erzielen [28, 43].Andererseits sind diese genauen Differenzierungen sehr hypo-thetisch, wenn es um den Placeboeffekt eines klinischen Set-tings geht. Selbst bei Untersuchungen unter Laborbedingungenlassen sich die zus�tzlichen Behandlungseffekte nicht vollst�n-dig eliminieren, und bei allt�glichen klinischen Behandlungensind ihre Pr�senz und ihr Einfluss auf das Patientenergebnissehr viel grçßer [47]. Dies spiegelt sich in Teilen der Fachlite-ratur und auch in allgemeinen Interpretationen wider, die denAusdruck Placeboeffekt“ in einem umfassenderen Sinn verwen-den [12, 19].Ein weiterer oft im Zusammenhang mit dem Placeboeffekt ge-brauchter Ausdruck ist Noceboeffekt, abgeleitet vom lateini-schen ich werde schaden [47]. Im Unterschied zum Placeboef-fekt, der sich im Allgemeinen auf w�nschenswerte Ergebnissebezieht, beschreibt der Noceboeffekt die negativen Auswirkun-gen placebo�hnlicher Mechanismen. Gewçhnlich beschreibt ergenerische Ereignisse, wie z.B. eine Erkrankung, die nur da-durch entsteht, dass jemand erwartet oder davon �berzeugtist, dass etwas Negatives passieren wird. Ein extremes Beispieldaf�r w�re der Voodoo-Tod [22].Es gibt jedoch auch inh�rente Definitionsschwierigkeiten. Wennz.B. der Noceboeffekt ein Resultat einer Placebobehandlung ist,w�rde diese Behandlung sicherlich nicht als Nocebobehandlungbezeichnet. Außerdem kann eine Placebobehandlung gleichzei-tig zu Placebo- und Noceboeffekten f�hren. Ob ein spezifischesErgebnis als positiv oder negativ bewertet wird, h�ngt auch vonder individuellen Betrachtungsweise ab [45]. Aus diesen Gr�n-den werden hier alle von placebo�hnlichen Mechanismen her-vorgerufenen Effekte als Placeboeffekte bezeichnet.Abschließend muss gesagt werden, dass es trotz der gr�ndli-chen Literatursuche nicht mçglich war, zufriedenstellende De-finitionen f�r Placebo und Placeboeffekt im Zusammenhang mitPhysiotherapie zu finden bzw. zu formulieren.

Vorherrschende Mythen �ber den Placeboeffekt!

Auch innerhalb der Berufsgruppen halten sich hartn�ckig vieleGer�chte �ber den Placeboeffekt [32, 43, 46, 47]. Das wahr-scheinlich verbreitetste Ger�cht betrifft das Wirkungsausmaßeiner Placebobehandlung. Oft wird ein Wirkungsgrad von 30%zitiert [29, 46]. Interessanterweise wird gleichzeitig angenom-men, dass der mçglicherweise positiv auf eine Placebobe-

handlung ansprechende Prozentsatz ebenfalls 30% betr�gt.Diese Annahme erzeugt einen weiteren Mythos [40, 43]. DasEin-Drittel-Ger�cht geht auf die oft zitierte bahnbrechendeArbeit The Powerful Placebo von Beecher aus dem Jahr 1955zur�ck [4, 29, 46]. Eine Metaanalyse von 15 Untersuchungenergab, dass die Menge an positiven Effekten, die laut Beecher[4] dem Placeboph�nomen zugeschrieben werden konnten,durchschnittlich 35,2% betrug. Die eingeschlossenen Untersu-chungen variierten jedoch zwischen 21% und 58% und wichensomit teilweise erheblich vom Durchschnittswert ab [4]. Inder Fachliteratur �ber Placebos reichen die Sch�tzungen desProzentsatzes von potenziell geeigneten Placebopatienten von0-100% [46, 47].Kienle und Kiene [29] f�hrten ein Review der von Beecher [4]ber�cksichtigten Studien durch und kamen zu dem Schluss,dass keiner der beschriebenen Effekte tats�chlich als echterNachweis f�r einen Placeboeffekt gelten kann. Sie identifizier-ten ein breites Spektrum an Faktoren, die den falschen Eindruckeines Placeboeffekts erzeugen kçnnen, darunter statistischeGr�nde, spontane Symptombesserung, zus�tzliche Behandlun-gen, fehlerhafte Zitate und Bias der Patienten. Da in den be-r�cksichtigten Studien die Placebogruppen nur mit ihren eige-nen Ausgangswerten und nicht mit Kontrollgruppen verglichenwurden, war es nicht mçglich, potenzielle Placeboeffekte vondiesen anderen Faktoren zu unterscheiden [28, 29, 34, 43].Hr�bjartsson und Gøtzsche [28] fanden heraus, dass die genaueMessung und Differenzierung dieser Aspekte selbst bei 3-armi-gen RCTs mit realen, Placebo- und Kontrollgruppen eine großeHerausforderung darstellen. Sie f�hrten einen systematischenCochrane Review durch, in dem sie von 182 Untersuchungendie Placebogruppen mit den Kontrollruppen verglichen undeine Metaanalyse von 156 Untersuchungen vornahmen. Die Au-toren kamen zu der Schlussfolgerung, dass es im Allgemeinenkeine Evidenz f�r die Annahme eines klinisch bedeutsamen Pla-ceboeffekts gibt. Sie fanden moderate Evidenz auf eine gewisseWirkung von Placebobehandlungen in Bezug auf von den Pa-tienten berichtete kontinuierliche Outcomes wie Schmerz, aberes war unklar, ob dieser mçgliche Placeboffekt auf berichteteoder andere Bias zur�ckzuf�hren war [28]. Eine wichtige Fest-stellung ist, dass die neuen Befunde die Existenz eines Placebo-effekts nicht grunds�tzlich ausschließen, aber das powerful pla-cebo scheint nicht so powerful zu sein wie angenommen.Ein anderer weit verbreiteter Mythos ist, dass Placeboeffekteausschließlich subjektiver Natur sind, d. h. sie ver�ndern nurfunktionelle, aber keine organischen Stçrungen [32]. Es wurdesogar vorgeschlagen, eine positive Placeboreaktion kçnnte dazudienen festzustellen, ob Menschen etwas vort�uschen oder an„somatischen Halluzinationen“ leiden [47]. Offensichtlich istdies nicht der Fall, da viele Studien [32] nachweisen konnten,dass Placebos durchaus objektive biologische Wirkungen habenkçnnen. So verbessern Placebobehandlungen potenziell die mo-torische Funktion von Parkinson-Patienten, reduzieren die Grç-ße von Zwçlffingerdarmgeschw�ren, senken den Blutdruck oderver�ndern die Frequenz von Magenkontraktionen [32].Placebos kçnnen sogar Effekte hervorrufen, derer sich die Pa-tienten �berhaupt nicht bewusst sind [7]. In einer Untersu-chung wurde Patienten, die zuvor Injektionen mit dem Narko-tikum Buprenophin erhalten hatten, anschließend ein Placeboinjiziert [7]. Wie erwartet, berichteten die Patienten von einerSchmerzreduzierung. Diese analgetische Placeboreaktion warin St�rke und Dauer mit der Reaktion auf das echte Medika-ment vergleichbar, was eine typische Eigenschaft eines positi-

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ven Placeboeffekts ist. Neben den Schmerzen wurde jedochauch die Atemrate der Patienten ohne ihr Wissen gemessen.Interessanterweise f�hrten sowohl die Buprenophin- als auchdie Placebo-Injektionen zu einer Verminderung der Atemrate,obwohl das mçgliche Auftreten dieses Effekts den Patientengegen�ber mit keinem Wort erw�hnt worden war [32, 47].Einige der erstaunlichsten einer Placebobehandlung zugeschrie-benen biologischen Ver�nderungen wurden in 2 doppelt-blin-den randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesen [24,25]. Ihre Absicht bestand darin, die Effekte von Ultraschall undPlacebo-Ultraschall bei Patienten nachzuweisen, denen ein Ba-ckenzahn gezogen worden war. Nach einer Intervention mit vor-get�uschtem Ultraschall maßen die Untersucher nicht nur einesignifikante Verringerung der Schmerzen, sondern auch der Ge-sichtsschwellungen und Konzentration von C-reaktivem Proteinim Blut. Diese Resultate unterschieden sich signifikant von de-nen einer Kontrollgruppe ohne Intervention. Aufgrund des Stu-diendesigns kann der mçgliche Einfluss des Massageeffektsdurch die Sonde ausgeschlossen werden [24, 25].Beide Untersuchungen [24, 25] wurden im systematischenCochrane Review von Hr�bjartsson und Gøtzsche [28] ber�ck-sichtigt, bei dem sie einige der st�rksten Befunde aller ber�ck-sichtigten Untersuchungen erreichten. Da sich die Ergebnissejedoch derartig auff�llig von denen anderer ber�cksichtigterStudien unterscheiden, sind die Autoren skeptisch und „[…]finden es wichtig herauszufinden, ob andere Studien diese Re-sultate wiederholen kçnnen“ [28].Gem�ß einem weiteren hartn�ckigen Ger�cht stellt eine po-sitive Reaktion auf eine analgetische Placebobehandlung ei-nen Beweis daf�r dar, dass der Patient lediglich an „imagin�-ren Schmerzen“ leidet [32, 40]. Das moderne Verst�ndnisder Schmerzwissenschaft kennt keine imagin�ren Schmer-zen. „Jeder Schmerz ist real“ [13]. In diesem Zusammenhangist es hilfreich, sich daran zu erinnern, dass sich sogar ima-ginierte Prozesse als objektiv und real erweisen, wenn siedurch einen PET-Scan analysiert werden. Die elektrische Ak-tivit�t des visuellen Kortex ist dieselbe, unabh�ngig davon,ob jemand einen bestimmten Gegenstand tats�chlich siehtoder ob er sich dies lediglich vorstellt [32]. Aus der Perspek-tive eines einzelnen individuellen menschlichen Gehirns gibtes so etwas wie Einbildung �berhaupt nicht.

Mechanismen der Placeboreaktion!

In der Fachliteratur finden sich Hypothesen �ber viele verschie-dene Mechanismen der Placeboreaktion [19, 26, 30, 40 – 42, 47],die meistens in psychologische und neurobiologische Mecha-nismen unterteilt werden. Immer mehr aktuelle Forschungser-gebnisse machen jedoch deutlich, wie komplex die Interaktion

von Kçrper und Geist ist; daher �berlappen sich die beiden Be-reiche immer mehr, und es wird schwieriger, sie voneinanderabzugrenzen. Der grçßte Teil der entsprechenden Studien be-zieht sich auf analgetische Reaktionen [19], aber in den letztenJahren f�hrte auch die Untersuchung placeboinduzierter moto-rischer Verbesserungen bei Parkinson-Patienten zu umfangrei-chen neuen Erkenntnissen [15, 31].

Psychologische MechanismenDie wichtigsten mit der Placeboreaktion assoziierten psycho-logischen Mechanismen sind das Konditionierungsmodell unddas Erwartungsmodell. W�hrend sie fr�her als separate Me-chanismen galten, wird heute davon ausgegangen, dass meis-tens beide an der Placeboreaktion beteiligt sind [19].Konditionierung basiert auf dem klassischen Konditionierungs-modell von Pawlows Hunden. Der Konditionierungsprozess be-schreibt die Assoziation eines urspr�nglich neutralen mit einemunkonditionierten Stimulus, der eine unkonditionierte Reaktionhervorruft. Der neutrale wird dann zu einem konditioniertenStimulus, der eine konditionierte Reaktion hervorrufen kann,die die unkonditionierte Reaktion nachahmt oder ihr sehr stark�hnelt. In einem medizinischen Setting kçnnten der unkondi-tionierte Stimulus und die unkonditionierte Reaktion der aktiveWirkstoff und die angemessene Reaktion darauf sein. Die Um-gebung und das Behandlungsritual repr�sentieren den zu die-sem bestimmten Wirkstoff gehçrenden konditionierten Stimu-lus. Dementsprechend wird eine mit diesem konditioniertenStimulus assoziierte Placebobehandlung eine konditionierte Re-aktion – den Placeboeffekt – hervorrufen [1, 45].Ein Beispiel f�r eine unverf�lschte konditionierte Placeboreak-tion stellt das oben im Zusammenhang mit der von Benedetti[7] durchgef�hrten Untersuchung dar. Die Abnahme der Atem-rate nach einer Placeboinjektion, der eine Konditionierung aufBuprenophin vorausgegangen war, verdeutlicht Konditionie-rung als Form des unbewussten Lernens [45]. Andererseitsf�hrt bewusstes Lernen w�hrend des Konditionierungsprozes-ses zu einer Erwartungshaltung. Diese kann jedoch auch durchviele andere Arten des Lernens und kognitive Prozesse ver�n-dert werden, z. B. durch verbale Information �ber eine be-stimmte Behandlung [39].Eine von Benedetti et al. [9] durchgef�hrte Studie zeigte, dassdurch verbale Information hervorgerufene Erwartungen diePlaceboreaktionen in Bezug auf Schmerz und motorische Leis-tungsf�higkeit, jedoch nicht die Hormonsekretion beeinflussenkçnnen. Dies untermauert die Ergebnisse verschiedener Un-tersuchungen, dass die Konditionierung die Placeboreaktionenbei unbewussten physiologischen Funktionen aufhebt, wohin-gegen bewusste physiologische Prozesse von der Erwartungs-haltung aufgehoben und nur indirekt vom Konditionierungs-prozess beeinflusst werden (l" Abb. 1; [2, 35]).

klassischeKonditionierungs-

verfahren

unbewussteProzesse

(Hormonsekretion)

andere Lernquellen(z.B. verbale Information,

vergleichbare Erfahrungen)

kein Effekt

bewusste Prozesse(Schmerz,

motorische Leistungen)

Konditionierung(unbewusstes

Lernen)

bewusstesErwartungs-

lernen

Abb. 1 Effekte von Konditionierung und Erwar-tungshaltung w�hrend der Placeboreaktion (modi-fiziert nach [9, 45]).

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Neurobiologische MechanismenDer am besten erforschte neurobiologische Mechanismus desPlaceboeffekts ist der Einfluss endogener Opioide [19]. An derPlaceboanalgesie ist oft der opioidmediierte Schmerzkreislaufbeteiligt [18, 40]. Dies zeigten erstmals Levine et al. [33] in densp�ten 1970er-Jahren, indem die Verabreichung des Opioidanta-gonisten Nalaxon manche analgetische Placeboreaktionen um-kehrte. Seitdem stellten weitere Studien fest, dass die opioidin-duzierte Placeboreaktion auf sehr spezifische Kçrperregionengelenkt werden kann, was auf eine topografische Beziehung zwi-schen Erwartungen und dem opioiden System hindeutet, z. B. dieperiaqu�duktale graue Masse [7, 35]. Es gibt jedoch auch Hin-weise auf die wichtige Rolle endogener Opioide bei Konditionie-rungsprozessen und unbewussten physiologischen Placeboreak-tionen [6, 15].Die Anwendung des Offen/verdeckt-Paradigmas bei der Durch-f�hrung klinischer Untersuchungen verbesserte signifikant dasVerst�ndnis des endogenen Opioidsystems und seiner ent-scheidenden Rolle f�r den Placeboeffekt. Das Paradigma stellteine Alternative zu placebokontrollierten klinischen Untersu-chungen dar. Bei diesem Studiendesign wissen zwar alle Betei-ligten, dass eine Therapie verabreicht wird, aber keiner kenntden Zeitpunkt. Eine retrospektive Analyse der Follow-up-Mes-sungen liefert Informationen �ber die Effektivit�t der Interven-tion.Bei einer normalen placebokontrollierten klinischen Untersu-chung ist die Injektion des Cholecystokinin-Antagonisten Pro-glumid erwiesenermaßen [15] effektiver als ein Placebo, daswiederum effektiver ist als gar keine Intervention. Dieses Er-gebnis auf traditionelle Weise durchgef�hrter Untersuchungendeutet darauf hin, dass Proglumid ein effektives Schmerzmittelist. Diese Annahme stellte sich jedoch als falsch heraus [15], in-dem verdeckte Proglumid-Injektionen vçllig ineffektiv waren.Da Cholecystokinin ein Opioidantagonist ist, verst�rkt Proglu-mid indirekt die Wirkung der endogenen Opioidsysteme underhçht daher den Placeboeffekt. Proglumid kann nur dann eineSchmerzreduzierung hervorrufen, wenn es mit einer Placebore-aktion assoziiert wird, da es keine Wirkung auf die Schmerzlei-tungsbahnen, sondern vielmehr auf die Erwartungsleitungs-bahnen hat [15] (l" Abb. 2).Diese und �hnliche Befunde aus j�ngerer Zeit werfen die Fra-ge auf, ob nicht viele der Medikamente, die mçglicherweisedie nozizeptiven Leitungsbahnen beeinflussen, in Wirklichkeitihre Wirkung dadurch erzielen, dass sie mit den Erwartungs-bahnen interferieren. Diese Befunde stellen auch die Validit�tvieler Forschungsergebnisse der Vergangenheit infrage. Umdas Verst�ndnis des Placeboeffekts und des endogenen opioi-den Systems zu verbessern und den Behandlungsnutzen zumaximieren, sind mehr Untersuchungen nach dem Offen-ver-deckt-Paradigma erforderlich [5, 15].Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass neben den endogenenOpioiden auch bislang wenig erforschte nicht opioide Mecha-nismen an Placeboreaktionen beteiligt sind [19, 40]. KortikalePlastizit�t ist ein weiterer kaum verstandener Bereich, der mçg-licherweise viele Placeboeffekte beeinflusst [32].

Placebo und seine Rolle in der Physiotherapie und imbiopsychosozialen Modell!

Aus den zuvor diskutierten Gr�nden ist es schwierig, das Kon-zept des Begriffs Placebo auf die klinische Physiotherapie zu

erweitern. Bei multidimensionalen Interventionen wie einerphysiotherapeutischen Behandlung h�ngt das Ergebnis im Ge-gensatz zu pharmakologischen Interventionen sehr viel st�r-ker vom Behandlungsritual als von einer einzigen spezifischenKomponente dieser Intervention ab. Dies macht es unmçglich,einen bestimmten Teil der Behandlungswirkung als Placebo-effekt zu identifizieren.Als Argument f�r diese Sichtweise kann auch das von Engel [17]vorgeschlagene biopsychosoziale Modell herangezogen werden.Dieses Paradigma betrachtet den Patienten als ein dynamisches,

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inde

rung

Schm

erzl

inde

rung

CCK-AntagonistPlacebokeine Behandlung

falsche Interpretation

0

–1

–2

–3

0

–1

–2

–3

von oben nach unten

von unten nach oben

Erwartungs-leitungsbahnen

Schmerz-leitungsbahnen

von oben nach unten

von unten nach oben

Erwartungs-leitungsbahnen

Schmerz-leitungsbahnen

Placebo

CCK-Antagonist

Placebo

CCK-Antagonist

Schmerz

Schmerz

versteckter CCK-Antagonist

richtige Interpretation

+

–a

b

Abb. 2 a, b Demonstration der potenziellen Limitierungen placebokon-trollierter Untersuchungen zur Erforschung der therapeutischen Effektedes CCK-Antagonisten Proglumid (aus: [15]).

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interaktives Konglomerat aus Bewusstsein, Kçrper und sozialemUmfeld. Laut Engel m�ssen Kliniker s�mtliche biologischen, psy-chologischen, sozialen und kulturellen Faktoren ber�cksichtigen,um eine Krankheit oder eine Verletzung ad�quat behandeln zukçnnen [10, 17]. Daher gelten im biopsychosozialen Modell alleBehandlungskomponenten als „spezifisch“, was zur Folge hat,dass sich kein Placeboeffekt identifizieren l�sst.Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ergebnisse der Placebo-forschung kein wertvolles Wissen und Implikationen f�r dieklinische physiotherapeutische Praxis beisteuern. Tats�chlichbetonen die neuen Erkenntnisse �ber die F�higkeit von Erwar-tungen, die Neurobiologie des Patienten zu modulieren, dieKomplexit�t und die Kreiskausalit�t klinischer Ph�nomene.Sogar noch wichtiger ist, dass die Placeboforschung den mas-siven Einfluss der verbalen �ußerungen des Klinikers und derBeziehung zwischen Patient und Kliniker auf das Behand-lungsergebnis aufzeigte. Vor allem das Verh�ltnis zwischenPatient und Kliniker ist einer der Schl�sselfaktoren f�r maxi-male positive Behandlungsergebnisse [10, 19].Die Beziehung zwischen Patient und Kliniker ist das funda-mentale Prinzip einer biopsychosozial orientierten klinischenPraxis. Das Modell, bei dem diese Beziehung im Mittelpunktsteht, basiert auf dem Fassungsvermçgen und den Emotionenvon Patient und Kliniker innerhalb dieser Beziehung. Der Klini-ker sollte sich nicht nur als technischer Berater sehen, sondernnach einer Beziehung streben, in der die Beteiligten gleichbe-rechtigt sind und menschliche W�rme, Verst�ndnis, Engage-ment und Mitgef�hl im Vordergrund stehen. Borell-Carri� etal. [10] schlagen f�r die biopsychosozial orientierte klinischePraxis folgende, vom Kliniker aktiv zu fçrdernde Prinzipienvor:E Selbsterkenntnis;E Schaffung von Vertrauen;E Empathische Neugierde;E Erkennen von Bias;E Ausbildung von Emotionen – Toleranz gegen�ber Unsicher-

heit zur Unterst�tzung des Entscheidungsprozesses bei man-gelnder vollst�ndiger;

E Einsetzen von sachkundiger Intuition – auf Stillschwiegenbasierende Kompetenz;

E Kommunikation klinischer Evidenz – Einbinden des Patien-ten in die klinische Entscheidungsfindung.

Auch Noon [36] identifizierte die Beziehung zwischen Patientund Kliniker als integrale Komponente einer effektiven Be-handlung. Die von ihm Therapeutic alliance genannte Voraus-setzung einer erfolgreichen klinischen Beziehung ist eine po-sitive Einstellung von Therapeut und Patient. Diese betontgemeinsame Erwartungen und Glauben an den Behandlungs-erfolg. Noon hob außerdem hervor, dass positive Beziehungenmanchmal durch den wohl�berlegten Einsatz von Zuwen-dung, gute Kommunikation und Zusammenarbeit gefçrdertwerden m�ssen.

Spezifische Placeboprozeduren zur Gew�hrleistungguter Behandlungsergebnisse!

Zahlreiche Untersuchungen zeigten, wie schnell Erwartungshal-tungen und Konditionierungsprozesse zu Ver�nderungen vonBehandlungsergebnissen f�hren kçnnen, die viele Monate an-halten [40]. Dieses Wissen kann in der klinischen Praxis strate-gisch eingesetzt werden.

Eine gr�ndliche Erkl�rung des zugrunde liegenden Reasoningund der angestrebten Ergebnisse erhçhen wahrscheinlich die Er-wartungen des Patienten an die Behandlung und fçrdern ein po-sitives Ergebnis. Dar�ber hinaus kann der Kliniker den Glaubendes Patienten an die Therapeutenf�higkeiten st�rken, indem erzu Beginn eine Intervention w�hlt, die mit grçßter Wahrschein-lichkeit zu einer gewissen Verbesserung f�hrt. Somit schafft ereine positive Grundlage f�r die nachfolgende Therapie. Das Ver-deutlichen der erreichten Verbesserungen und deren Demons-tration anhand geeigneter Ergebnismessungen halten nicht nurdie Motivation des Patienten aufrecht, sondern fçrdern auch ei-nen Konditionierungsprozess, um weitere positive Erwartungenzu gew�hrleisten.Umgebungsfaktoren wie das Verçffentlichen von Qualifikatio-nen kçnnen ebenfalls das Vertrauen des Patienten in die F�hig-keiten des Klinikers st�rken [14].

Ethische �berlegungen!

Der wohl�berlegte Einsatz von Placebobehandlungen außerhalbklinischer Untersuchungen war in der Vergangenheit Gegen-stand vieler Debatten [11, 42]. In den letzten Jahren scheinensich Kliniker jedoch dar�ber einig zu sein, dass Placebobehand-lungen nicht in die klinische Praxis gehçren, weil sie mit einerIrref�hrung verbunden sind [11, 28]. Irref�hrung steht in extre-mem Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien des bio-psychosozialen Modells, das sich durch ein auf Gleichheit basie-rendes Verh�ltnis von Patient und Kliniker, die Schaffung vonVertrauen und die Kommunikation mit dem Patienten �ber kli-nische Evidenz auszeichnet [10].Andererseits hat die Placeboforschung aber auch gezeigt, dassdie ungefilterte Information �ber Diagnose und Behandlungbei manchen Patienten ablehnende Reaktionen und einen No-ceboeffekt auslçsen kann. Der Einsatz von Placebobehandlun-gen in kontrollierten klinischen Untersuchungen ist nach wievor allgemein akzeptiert [12, 28]. Das Offen/verdeckt-Paradig-ma sollte jedoch st�rker als Alternative in die Forschung ein-fließen, um ethische Einschr�nkungen der Placebo- und Kon-trollgruppen zu vermeiden und das Wissen �ber die komplexeInteraktion von Kçrper und Geist zu erweitern [19].

Schlussfolgerungen!

Der „r�tselhafte“ Placeboeffekt repr�sentiert die riesigen L�ckenin unserem Verst�ndnis der aus biopsychosozialer Perspektive ei-nen Menschen ausmachenden komplexen Prozesse. Mit dieserMeinung steht der Autor nicht allein: „Wenn alles �ber die �tio-logie des Placeboeffekts bekannt w�re, w�rden die Begriffe Place-bo und Placeboeffekt verschwinden und durch eine enorm kraft-volle Megapsychotherapie ersetzt werden“ [41]. Auch wenn dieErforschung der neurobiologischen und psychologischen Mecha-nismen des Placeboeffekts noch in den Kinderschuhen steckt [15]und wir noch lange nicht alles wissen, ist Hr�bjartsson [27] undSpiro [44] zuzustimmen, dass es Zeit f�r einen neuen Begriff ist.Das Festhalten an einem mit so vielen negativen Konnotationenassoziierten Begriff wirft ein schlechtes Licht auf die Ergebnisseder Placeboforschung und f�hrt dazu, dass Kliniker die Erkennt-nisse in der klinischen Praxis nur widerwillig �bernehmen.Aufmerksame, aufgeschlossene und f�rsorgliche Therapeutensollten nicht gezwungen sein, die Effektivit�t ihrer Behandlung

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mit einem Placeboeffekt begr�nden zu m�ssen. Sie wissen, dassihre �ußerungen, sehr einfachen Handlungen oder �berzeugun-gen einen großen Einfluss auf alles aus�ben kçnnen, was mit derGesundheit ihrer Patienten verbunden ist.Vor allem in der Physiotherapie ist die „spezifische“ Behandlungoft nur das oberfl�chliche Medium, �ber das der erfahrene The-rapeut die tief greifenden und wahrlich einflussreichen Behand-lungskomponenten verabreicht. Im Zeitalter der evidenzbasier-ten Praxis ist es f�r die zuk�nftige Forschung von essenziellerBedeutung, die Effektivit�t dieser verborgenen, fundamentalenBehandlungskomponenten nachzuweisen, damit Therapeutenihre Patienten auch weiterhin intuitiv und holistisch behandelnkçnnen.

Danksagung!

Herzlichst danken mçchte ich meinen Eltern f�r ihre finanzielleUnterst�tzung w�hrend meines Studiums, in dessen Rahmendiese Arbeit entstand. Ohne die Hilfe und Ermutigung durch Pe-ter Goerttler und Sebastian Klien w�re mir die Verçffentlichungdes Artikels nicht mçglich gewesen.

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