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Kampagne „Offener Vollzug im Wandel“ - Kaeser

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Referat von Hans-Jürg Käser, Direktor Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, 6. August in Witzwil

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Kampagne „Offener Vollzug im Wandel“

Medienkonferenz vom 6.8.2012 in den Anstalten Witzwil

Referat Regierungsrat Hans-Jürg Käser, Direktor Polizei- und Militärdirektion

(Es gilt das gesprochene Wort)

Warum stehe ich hinter einer solchen Kampagne?

Auch dieses Jahr hat mein Fachamt FB (Freiheitsentzug und Betreuung) wiederum ein Jahresziel mit dem Titel „Dem Straf- und Massnahmenvollzug ein Gesicht geben“. Die heutige Medienkonferenz und die anschliessende Plakatkampagne für den offenen Vollzug – ein Teilbereich der Kernaufgaben des Amtes FB - stehen deshalb denn auch unter diesem Motto und sollen in diesem Zusammenhang verstanden werden. „Tu Gutes und sprich darüber“ – Die negativen Schlagzeilen in den Medien erscheinen demgegenüber ja bekanntlich ohne spezielles Zutun unsererseits! Darum erachte ich es als wichtig und richtig, eine solche Kampagne durchzuführen. Sie durchzuführen als In-formation und Aufklärung an einen breiteren Kreis der Gesellschaft über einen Bereich unseres Verwaltungshandelns. Gerade dieser heikle Teil unserer sog. Eingriffsverwaltung (als Eingriff in verfassungs-mässige Freiheitsrechte) wird von der Politik und auch von den Medien hin und wieder zu Unrecht in Misskredit gebracht: Vom Strafvollzug erwartet „man“ Perfektion und Nullrisiko-garantie; eine unzutreffende Erwartungshaltung, weil niemand sie je so erfüllen könnte. Vom Arzt erwartet man ja auch nicht, dass er alle Patienten stets und immer 100%-ig hei-len kann; und fällt jemand durch die Maturaprüfung, wird auch nicht der Gymnasiallehrer dafür haftbar gemacht. Wohlverstanden: Fehler und mangelnde Professionalität im Strafvollzug können gravie-rende Auswirkungen auf die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Gemeinwe-sens haben. Wie eine externe vergebene Administrativuntersuchung über den Geschäfts-bereich FB aber ergeben hat, sind solche Ereignisse im Kanton Bern im durchschnittlichen Verhältnis selten. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im Jahr 2010 publik gemacht; dem bernischen Strafvollzug wurde ein gutes Zeugnis ausgestellt. Wir dürfen also zu Recht zeigen, was wir tun im offenen Strafvollzug und wie meine Mitar-beitenden dies hier im Alltag einer offenen Strafanstalt wie Witzwil umsetzen.

Strafvollzug mit Augenmass

Mit Augenmass meine ich keineswegs „Willkür“. Im Strafgesetzbuch wird bestimmt, dass der schweizerische Strafvollzug das soziale Verhalten der Gefangenen fördern soll und dabei insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Nach heutiger Rechtslage in der Schweiz bilden also längst nicht mehr Sühne oder Ver-geltung die Grundlage des Vollzugs. Vielmehr sind Resozialisierung und Reintegration die fundamentalen Ziele des modernen Schweizerischen Strafvollzuges. Meine Mitarbeiten-den in den bernischen Vollzugseinrichtungen haben also ab dem ersten Tag der Einwei-sung eines Gefangenen mit ihm auf diese Ziele hin zu arbeiten. Nun ist aber nicht jeder Delinquent am ersten Tag seiner Strafverbüssung im Hinblick auf diese Vollzugsziele gleich weit fortgeschritten oder eben rückständig. Deshalb kommt auch nicht jeder Delinquent einfach und sofort in eine offene Vollzugseinrichtung wie hier nach Witzwil. Wir verfolgen das sog. Prinzip des Stufenvollzugs, welches mit der stationär

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geschlossenen Unterbringung (beispielsweise auf Thorberg) seinen stärksten Eingriff ma-nifestiert und in der gerichtlichen Gewährung des bedingten Strafvollzuges seine mildeste Ausprägung erfährt. Dazwischen liegt eine ganze Palette verschiedenster Lockerungsstu-fen und es ist die nicht immer leichte Aufgabe der Einweisungs- und Vollzugsbehörden, hier in jedem Einzelfall individuell das zutreffende Mass zu finden und entsprechend der Entwicklung verhältnismässig anzupassen. Aus eigener Erfahrung dank wiederkehrender Frontbesuche in verschiedenen Betrieben meines Fachamtes darf ich Ihnen sagen: Das ist jeweils ein hoch sensibler und interdisziplinärer Entscheidprozess mit einem sehr, sehr hohen Anteil an prognostischer Arbeit, und gerade Letzteres macht ihn so anspruchsvoll. Um hier das richtige Augenmass zu finden, bedarf es eines bedachten, professionellen Handelns.

Zum offenen Vollzug im Kanton Bern

Aus dem Gesetzeswortlauf in Art. 76 StGB geht hervor, dass Gefangene grundsätzlich in offene Vollzugseinrichtungen einzuweisen sind (ausser bei Flucht- oder Wiederholungsge-fahr). Das ausschlaggebende Differenzierungskriterium – ob jemand seine Strafe auf dem Thorberg oder in Witzwil antritt - ist also der konkret einzuschätzende Sicherungsbedarf im Einzelfall.

Offener Vollzug ist nach Gesetz der Regelfall. Deshalb werden die Kantone im StGB auch dazu verpflichtet, offene Vollzugseinrichtun-gen zu bauen und zu betreiben. Aber nicht nur weil das Gesetz die Kantone dazu verpflichtet, betreiben wir mit den Anstal-ten Witzwil eine offene Vollzugseinrichtung. Der Kanton Bern ist ja Mitglied des Strafvoll-zugskonkordates der elf Nordwest- und Innerschweizer Kantone. Er könnte also durchaus die Haltung einnehmen: Sollen andere Konkordatskantone diese schwierige Aufgabe übernehmen; wir schicken dann unsere Delinquenten dorthin zum Vollzug und bezahlen einfach dafür. Nein! Wir packen das „heisse Eisen“ selber an, selektionieren geeignete Mitarbeitende, lassen sie spezifisch ausbilden, erarbeiten Vollzugskonzepte, sorgen für die Organisationsent-wicklung und geben dem offenen Vollzug mit Innovationen neue Perspektiven wie bei-spielsweise hier in Witzwil mit seinem konsequenten Bekenntnis zur Arbeitsagogik. Welches sind nun aber eigentlich die Charakteristika des offenen Vollzuges? Mit dem offenen Vollzug will der Gesetzgeber den Gefangenen bewusst die Möglichkeit geben, einen realitätsnahen Bezug zur Aussenwelt aufzubauen. Typisch dafür sind die geringeren baulich-technischen Sicherheitsvorkehrungen und die Möglichkeit von Voll-zugslockerungen durch organisierte Out-Door-Aktivitäten im Arbeits- und Freizeitbereich sowie die konkordatlichen Empfehlungen hinsichtlich des Urlaubs- und Besuchswesens.

Dem Sicherungsgedanken kommt im Verhältnis zum Resozialisierungsziel eine geringere Bedeutung zu als im geschlossenen Vollzug. Für eine echte Sozialisierung, Resozialisie-rung oder Reintegration in unsere Gesellschaft bedarf es der Übungsfelder. Denken wir doch zurück an unsere Kindheit und dabei an die ersten Gehversuche: Sie bestanden in nichts anderem als Aufstehen, Hinfallen, Wiederaufstehen also „Üben“ eben. Die notwendigen Übungsfelder im offenen Vollzug führen unweigerlich zu einer Senkung der Sicherungsmittel und Kontrollmöglichkeiten, auch zu höherer Durchlässigkeit zwi-schen „drinnen und draussen; zu einer erhöhten Empfindlichkeit mit Bezug auf Entwei-chungen, Einfuhr von unerlaubten Gegenständen (Drogen) sowie anderen Verletzungen im korrekten Zusammenleben und zwischenmenschlichen Umgang, Anstandsregeln und in der gegenseitigen Wertschätzung. Das alles birgt Sicherheitsrisiken, welche der Ge-setzgeber mit der Verpflichtung zum offenen Vollzug bewusst in die Verantwortung des Vollzugspersonals übergibt. Der offene Vollzug stellt – wie Sie daraus entnehmen können - an die Führungsetage und die Mitarbeitenden an der Front hohe Anforderungen und bedeutet eine spezielle Heraus-

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forderung mit Bezug auf die Sicherheitsthematik. Und ich sage es immer wieder und deshalb auch hier: Dass von den Mitarbeitenden in diesem Aufgabenfeld (Freiheitsentzug) von welcher Seite auch immer mit wiederkehren-der Regelmässigkeit eine sog. Nullrisikogarantie gefordert wird, ist absolut unsinnig, weil faktisch unerreichbar. Oder in einem Bild ausgedrückt und statistisch gesprochen: Die Lebenserwartung in der Schweiz beträgt statistisch gesehen bei Männern rund 80 Jahre, bei Frauen etwas über 84 Jahre. Die Verurteilungsrate zu unbedingten Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten beträgt rund 90%; diejenige zu Freiheitsstrafen mit einer Dauer über 6 Monate knapp 10%. Von diesen 10% bleibt lediglich die Hälfte länger als 18 Monate im Vollzug. Und jetzt stellen Sie sich das Leben als ein Metermass vor: 1 Lebensjahr = 1 cm.

Dem Strafvollzug steht als bei 90% der Verurteilten höchstens bis zu einem halben Zenti-meter und lediglich bei 10% noch etwas mehr zur Einflussnahme auf die Delinquenten zur Verfügung! Und das erst im mittleren Drittel des Metermasses, nachdem Elternhaus, Schule, soziales Netzwerk und letztlich die Gesellschaft mit allen anderen ihr früher zur Verfügung stehenden Mitteln und Instrumenten offenbar nicht das Erforderliche erreicht haben.

„WEIL ER SCHON MORGEN IHR NACHBAR SEIN KÖNNTE“ Sie sehen hinter uns die beiden Plakate unserer Kampagne. Beide wirken auf mich aussagekräftig, stark und ausgesprochen eindrücklich in Farbe und Text. Das ist bewusst so und gewollt. Beide wollen aufmerksam machen auf eines unserer Dilemmata im gesellschaftlichen Zusammenleben: Die Vollzugsarbeit ist eben nicht damit erledigt, dass eingesperrt, abgeriegelt und durch-gefüttert wird – um es auch einmal etwas salopp zu formulieren. Denn damit würden wir nichts weiter tun als „Zeitbomben“ auf den Entlassungstermin hin zu produzieren und das wollen wir nun ganz bestimmt nicht. Lassen Sie die Plakate auf sich wirken und stellen Sie die Ihnen dabei auftauchenden Fragen im Anschluss an die drei noch zu besuchenden Posten unseren Vollzugsfachleu-ten. Ich gebe abschliessend hier meiner Hoffnung Ausdruck, dass diese Plakate und die Aus-hänger auf den ausgewählten Postautolinien bei vielen Leuten Aufmerksamkeit erregen und zu Fragen Anlass geben. Das würde uns die Gelegenheit bieten, dem Strafvollzug ein Gesicht zu geben, ihn einem erweiterten Kreis etwas verständlicher zu machen; aufzei-gen, was wir tun, wohin wir wollen und wo unsere Grenzen liegen.