Die geöffneten Pulsadern autodidakti- scher Gelehrter über... · 2016. 2. 27. · wendet er sich...

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Front 11.06.12 / Nr. 133 / Seite 1 / Teil 01

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BÖRSEN UND MÄRKTE

Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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Feuilleton 12.12.12 / Nr. 290 / Seite 46 / Teil 01

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Die geöffneten Pulsadern autodidakti-scher Gelehrter

Martin Mulsow erforscht den Zusammenhang von «prekärem Wissen» undunsicherer Existenz in der Frühaufklärung

Caspar Hirschi " Was ist der Gegenstand der Wis-sensgeschichte? Die Entdeckung und Vermehrungdessen, was wir heute für wissenschaftlich gesicher-te Wahrheiten halten? Oder das Entstehen undVergehen dessen, was vergangene Kulturen fürwahr gehalten haben? Lorraine Daston hat einmalgesagt, zum Berufsethos von Historikern gehöreeine «riesengrosse Angst vor Anachronismen».Wenn dem so ist, müssten Wissenshistoriker daszweite Verständnis ihres Gegenstands verfechtenund das erste verwerfen. Das «Wissen», mit demsie sich beschäftigen, müsste eine relative Grössesein – wahr zu einer Zeit, falsch zu einer anderen,inexistent zu einer dritten.

Kunde von schrägen VögelnSo eindeutig jedoch scheint die Sache nicht zu sein,wenn man die wissensgeschichtliche Forschung be-trachtet. Wissenschaftliches Wissen geniesst in ihreinen privilegierten Status, und das liegt nicht blossdaran, dass führende Vertreter der jungen Diszi-plin ausgebildete Wissenschaftshistoriker sind.Ebenso bedeutsam dürfte sein, dass die Wissensge-schichte, zumindest in der Aussendarstellung, alsgenealogisches Projekt der «Wissensgesellschaft»betrieben wird. Da nun aber die Imagination derWissensgesellschaft auf einer bestimmten Über-zeugung beruht, nämlich jener einer wissenschaft-lichen Durchdringung aller Lebensbereiche, kön-nen Wissenshistoriker gar nicht anders, als das wis-senschaftliche Wissen ins Zentrum ihrer Betrach-tung zu stellen. Es kommt daher nicht von unge-fähr, dass eine Geschichte des Hexen-, Hirten-oder Henkerwissens bisher ausserhalb des Denk-horizonts der Disziplin gelegen hat. Einen interes-santen Versuch, diesen Denkhorizont zu weiten,unternimmt der Frühneuzeithistoriker MartinMulsow in seinem jüngsten Buch. Inhaltlich machter in ihm dort weiter, wo er in seinen früherenMonografien aufgehört hat: bei der «Schräge-Vögel-Kunde», die von theologischen Freidenkernund anderen gelehrten Hasardeuren im aufkläreri-schen «Untergrund» handelt. Methodisch jedochwendet er sich von der klassischen Ideengeschichteab und der Wissensgeschichte zu. Sein Wissens-begriff hat einen relativistischen und subjektivisti-schen Einschlag: Er umfasst alle theoretisch be-gründeten Überzeugungen von gewisser Komple-xität, so dass Wissen als «das aus der Rohmasse vonInformationen zusammengesetzte und verarbei-tete ‹Gekochte›» verstanden werden könne. DieseDefinition wärmt zwar ihrerseits eine nicht ganzausgegorene Metaphorik von Peter Burke undClaude Levi-Strauss auf, sie hat aber den Vorteil,historisch wertneutral und damit gegen eine Glori-fizierung unserer Gegenwart immun zu sein.

Mulsow benützt die Definition als semantischesAuffangbecken für seine im Titel genannte Unter-kategorie: das «prekäre Wissen». Deren Erläute-rung setzt bei den digitalisierten Wissensbeständenunserer Zeit an, die per versehentlichem Mausklickoder Systemversagen in unschöner Regelmässig-

keit von der Bildfläche verschwinden. Sobald Mul-sow aber in die Vergangenheit eintaucht, wird klar,dass er für die Zeit um 1700 von einer umfassende-ren Bedrohung spricht. «Prekäres Wissen» beziehtsich hier nicht nur auf unsichere Speichermedien,also auf Memoriertes oder Handschriftliches imGegensatz zu Gedrucktem, sondern auch auf ris-kante Inhalte und bedrohte Sprecher. Das Prekäream Wissen konnte demnach medial, epistemischund bzw. oder sozial bedingt sein.

Um die soziale Komponente zu unterstreichen,spricht Mulsow von einem «Wissensprekariat», indessen trostloser Mitte er die Mehrzahl seiner Hel-den verortet. Zu ihnen gehört zum Beispiel Theo-dor Ludwig Lau (1670–1740), ein eklektischerAutodidakt, der in seinen philosophischen Schrif-ten ein giftiges Gebräu aus Spinoza, Hobbes,Vanini und Locke zusammenrührt, mit jahrelangerArbeitslosigkeit zu kämpfen hat und sich zwischen-durch im Gefängnis die Pulsadern aufschneidet.Allgemein dominieren in Mulsows Kuriositäten-kabinett Gemüter, deren Radikalität wenigerselbstentwickelt als geborgt scheint. Es handeltesich meist um Gelehrte aus «der zweiten oder drit-ten Reihe», deren eigentliche Tragik darin bestand,selber prekärer dran zu sein als ihr Wissen. Dieradikalen Vordenker, denen sie huldigten, warenmeist schon gedruckt, ihre Ideen bekannt – unddarum umso berüchtigter. Auf der medialen Ebenebetrachtet, hatte Mulsows «Wissensprekariat» alsowenig mit «prekärem Wissen» zu tun.

Mulsow stellt das «Wissensprekariat» einer «Wis-sensbourgeoisie» gegenüber, womit er der gelehrtenStandeskultur um 1700 das Aussehen einer kapita-listischen Klassengesellschaft um 1900 verleiht.«Bourgeois» kann bei ihm moderat, orthodox, inte-griert, protegiert und anderes mehr heissen, aberauch hier ergibt sich kein notwendiger Zusammen-hang von Sozialem, Medialem und Epistemischem.Oder ein nicht gesuchter: Mulsow findet unter den«bestallten Pastoren, Lehrern und Universitätspro-fessoren» allerhand gefährdetes Gedankengut, sodass man sogar schliessen könnte, die «Wissens-bourgeoisie» habe mehr Spielraum für die Entwick-lung «prekären Wissens» gehabt als das «Wissens-prekariat». Damit aber wäre Mulsows «Moderneaus dem Untergrund» verschüttet, und Historikerwie Alan Charles Kors oder Steven Shapin dürftensich bestätigt fühlen, die den modernen Atheismusin der Orthodoxie und die modernen Naturwissen-schaften in der Aristokratie beginnen lassen.

Ergiebiger dürfte allerdings ein Erklärungs-ansatz sein, der noch für die akademische Stände-gesellschaft von heute gilt: Ob und wie stark radi-kales Denken und prekäres Leben einander bedin-gen, hängt von den Einstellungen jener Kräfte ab,die das Feld der Wissensproduktion kontrollieren.In der Aufklärung waren dies an erster Stelle dieoffiziellen Zensoren und Patrons. Wie RaymondBirn in einer Studie zur königlichen Zensur inFrankreich dargelegt hat, entwickelte die Kontroll-behörde im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine dezi-dierte Innovationskultur, die Autoren nun auch für

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Investoren wetten auf LockerungenInvestoren in den USA bringen sichzurzeit in Position, um von einer wei-teren quantitativen geldpolitischenLockerung zu profitieren.

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Feuilleton 12.12.12 / Nr. 290 / Seite 46 / Teil 02

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das Aufkochen von abgestandenen Ideen bestra-fen konnte. Was die Zensoren jedoch nie zustandebrachten, nicht einmal in der Theologie, war eineverbindliche Trennlinie zwischen Tolerablem undIntolerablem. So mussten sie für jede Schrift Ad-hoc-Beurteilungskriterien aufstellen. Mehr als al-les andere dürfte diese systemische Unsicherheitder Sanktionspraxis dazu beigetragen haben, dassAutoren aller Couleur die eigene Existenz als pre-kär erfahren konnten.

Raritäten und sprachliche EleganzMulsow streift die Kultur der Kontrolleure nur amRande und erstellt dafür einen Setzkasten mit theo-retischen Versatzstücken, der den eklektischenVerweissystemen seiner aufklärerischen Antihel-den in nichts nachsteht. Dass sein Buch trotzdemüber weite Strecken ein Lesevergnügen bietet, liegtam Reichtum der bildlichen und schriftlichen Rari-täten, die er aus norddeutschen Archiven gehobenhat und mit intellektuellem Engagement undsprachlicher Eleganz ausbreitet. Auffallend im Ver-gleich zu seinen früheren Werken sind vor allem diezahlreichen Bildinterpretationen. Man hätte sie alsLeser noch leichter nachvollziehen können, wennSuhrkamp beim Reproduzieren der Illustrationenmehr Grosszügigkeit gezeigt hätte. Manche Visua-lisierungen von Geheimwissen sind so klein ge-raten, dass man den Verlag fast verdächtigenmöchte, er habe sie vor den heutigen Lesern einweiteres Mal verschlüsseln wollen.

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