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Public Health Forum 21 Heft 78 (2012)http://elsevier.de/pubhef
Hausarztzentrierte Versorgung aus Sicht der AOK Baden-W€urttemberg
Christopher Hermann und Jurgen Graf
Eine flachendeckende, fur alle Burger
zugangliche hausarztliche Versorgung
ist das Ruckgrat eines modernen,
leistungsfahigen Gesundheitssystems.
Hausarzte sind die primare medizini-
sche Anlaufstelle fur Menschen mit
gesundheitlichen Problemen. Sie be-
urteilen, ob weitere Behandlungs-
schritte, wie beispielsweise die Uber-
weisung zu einem Facharzt oder eine
stationare Aufnahme, erforderlich
sind. Besondere Bedeutung kommt
der hausarztlichen Versorgung imMa-
nagement der Volkskrankheiten zu,
wie es sich etwa in den Disease-Ma-
nagement-Programmen als explizit
hausarztbasierten Versorgungskon-
zepten widerspiegelt.
Aber trotz der Bedeutung einer quali-
tativ hochwertigen hausarztlichen
Versorgung fur das Gesundheitssys-
tem nahm die Zahl der Hausarzte zwi-
schen 1993 und 2009 um fast acht
Prozent ab, wahrend die Zahl der
Facharzte im gleichen Zeitraum um
mehr als 50 Prozent stieg. Um dieser
Fehlentwicklung entgegenzuwirken,
hat die Politik seit annahernd 20 Jah-
ren wiederholt Anlaufe gestartet, die
hausarztliche Versorgung zu starken
undweiterzuentwickeln. Bei der haus-
arztzentrierten Versorgung (HZV)
steht bewusst die Qualitat der medi-
zinischen Versorgung im Vorder-
grund: Teilnehmende Arzte mussen
sich spezifisch fortbilden und sind ver-
pflichtet, an Qualitatszirkeln etwa zur
Arzneimitteltherapie teilzunehmen.
Ein weiterer Baustein der HZV ist
die Berucksichtigung von evidenzba-
sierten Leitlinien. In der Kunst der
Vertragsgestaltung liegt es, Regelun-
gen und Rahmenbedingungen zu
schaffen, die diese gesetzlichen
Anforderungen sowie weitere vertrag-
liche Ziele auch tatsachlich befordern
und unterstutzen.
DieAOKBaden-Wurttemberg schloss
im Mai 2008 als bundesweit erste
Krankenkasse einen Hausarztvertrag
mit Vollversorgungsanspruch und Be-
reinigung der kollektivvertraglichen
Gesamtvergutung ab. Die im Vertrag
festgelegte deutlich pauschalierte Ver-
gutungssystematik mit wenigen Ein-
zelleistungen, qualitats- und ergebnis-
abhangigen Zuschlagen, einem Zu-
schlag fur chronisch Kranke und der
Wegfall von fallzahlorientierten Men-
genbegrenzungen stellen einen Para-
digmenwechsel dar, der den auch im
Gutachten des Sachverstandigenrats
2009 benannten Veranderungsbedarf
in vielen Punkten bereits umsetzt.
Des Weiteren setzt der Vertrag finan-
zielle Anreize zur Beschaftigung von
speziell weitergebildeten Versor-
gungsassistentinnen in der Hausarzt-
praxis (VERAH). Damit befordert die
HZV der AOK Baden-Wurttemberg
bewusst einen Entwicklungspfad in
den Hausarztpraxen hin zu professio-
nellen Betreuungsstrukturen fur chro-
nisch Kranke im Rahmen von Team-
strukturen und arztlicher sowie nicht-
arztlicher Arbeitsteilung. Neben einer
Intensivierung von vorausschauender
Behandlungsplanung und Strukturie-
rung der Versorgung unmittelbar aus
Patientensicht geht damit auch eine
Entlastung der knapper werdenden
hausarztlichen Ressourcen einher,
ohne die Gesamtverantwortung aufzu-
losen oder neue Schnittstellen zu
bilden.
Um die Wirkungen des AOK-Haus-
arztvertrages zu messen, beauftragten
die Vertragspartner das Institut fur
Allgemeinmedizin der Universitat
Frankfurt am Main und die Abteilung
fur Allgemeinmedizin und Versor-
gungsforschung der Universitatsklinik
Heidelbergmit der wissenschaftlichen
Evaluation.
Die aus versorgungspolitischer Sicht
spannendste Frage ist, ob es den teil-
nehmenden Hausarzten tatsachlich
gelingt, mehr Verantwortung fur chro-
nisch Kranke zu ubernehmen und de-
ren Versorgung besser zu strukturieren
und zu koordinieren. Die Ergebnisse
fur 2009/2010 sprechen eindeutig da-
fur: Die am Hausarztvertrag teilneh-
menden Versicherten sind zum einen
alter und kranker als die Versicherten
in der Regelversorgung, zum anderen
werden sie intensiver betreut. So hat
ein im Hausarztvertrag eingeschriebe-
ner Versicherter durchschnittlich zwei
Kontakte mehr im Halbjahr als ein
Versicherter vergleichbarer Morbidi-
tat in der Regelversorgung. Gleichzei-
tig sank die Zahl der unkoordinierten
Facharztbesuche um 12,5 Prozent.
Durch die Entlastung der Facharzte
werden dort die Kapazitaten fur me-
dizinisch notwendige Behandlungen
frei. Die in den Qualitatszirkeln ver-
mittelten Inhalte zur Arzneimittelthe-
rapie zeigen ebenfalls Wirkung: Die
Zahl der Verordnungen von Medika-
menten ohne therapeutischen Zusatz-
nutzen und die Anzahl der Patienten,
die regelmaßig funf oder mehr Medi-
kamente einnehmen und dadurch be-
sonders durch Arzneimittelwechsel-
wirkungen gefahrdet sind, entwickeln
sich gunstiger als in der Regelversor-
gung. Zudem erzielt die HZV eine
deutlich hohere Umsetzungsquote
von Rabattarzneimitteln, was in
hohem Maße zur okonomisch
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ausgeglichenen Vertragsumsetzung
beitragt (Evaluationsergebnisse unter:
www.hzv-aktuell.de).
Uber 1.000 VERAHs, die inzwischen
in einem Drittel der HZV-Praxen be-
schaftigt sind, ubernehmen vom Me-
dikamenten- und Wundmanagement
bis hin zuHausbesuchen wichtigeMa-
nagement- und Unterstutzungsfunk-
tionen und optimieren so die Versor-
gung von chronisch kranken Patienten
(Quelle s.o.). Dabei sind VERAHs
und Hausarzte einer Meinung: Die
Patientenversorgung hat sich durch
die Tatigkeit der VERAH verbessert
und der Arzt wird spurbar entlastet
(Quelle s.o.). Eine Befragung der
Hausarzte (Quelle s.o.) zeigt außer-
dem, dass HZV-Arzte trotz hoherer
Arbeitsbelastung zufriedener sind,
sich weniger gestresst fuhlen und mo-
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tivierter sind, Veranderungsprozesse
anzustoßen, als Hausarzte, die nicht
an dem Programm teilnehmen. Damit
leistet die HZV sowohl einen wichti-
gen Beitrag zur Steigerung der Attrak-
tivitat des Hausarztberufs, aber auch
zum Umbau von Versorgungsstruktu-
ren, die dasGesundheitssystem auf die
demografischen Herausforderungen
und die Entwicklungen in der arztli-
chen Berufsausubung einstellen.
Die aufgefuhrten Erfolge beruhen auf
einer konstruktiv vertrauensvollen Zu-
sammenarbeit der Vertragspartner und
erfordern soviel Geduld wie Ausdauer
als auch Innovationsfreude. Die auf-
gebaute Struktur bietet vielfaltige An-
knupfungspunkte fur die weitere Ent-
wicklung von leistungsfahigen Praxen
und Vernetzungsoptionen zu weiter-
fuhrenden Versorgungsstrukturen wie
Vertragen mit Facharzten nach § 73c
SGB V. Vor diesem Hintergrund stellt
der Finanzierungsvorbehalt in § 73b
Abs. 5a SGB V eine Gefahrdung fur
die Weiterentwicklung nachweislich
erfolgreicher HZV-Strukturen dar
und gehort schnellstmoglich ersatzlos
gestrichen.
Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur siehe Literatur zum Schwerpunkt-thema.http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur
http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2012.12.005
Dr. Christopher HermannAOK Baden-WurttembergVorsitzender des VorstandsHeilbronner Straße 18470191 StuttgartDr.Christopher.Hermann@bw.aok.de
Public Health Forum 21 Heft 78 (2012)http://elsevier.de/pubhef
Einleitung
Die AOK Baden-Wurttemberg startete fur ihre Versicherten am 1. Oktober 2008 gemeinsam mit ihren Vertragspartnern
Hausarzteverband und MEDI die deutschlandweite Premiere zur hausarztzentrierten Versorgung (HZV) mit Budgetbe-
reinigung. Dermittlerweile evaluierte Vertragmit 1,1Millionen teilnehmendenVersicherten und 3.500 aktivenHausarzten
setzt Maßstabe und bestatigt die Intention des Gesetzgebers zur Starkung der hausarztlichen Versorgung in einer alter
werdenden Gesellschaft.
Summary
The AOK Baden-Wurttemberg launched for its insured on October 1st 2008 together with its partners Hausarzteverband
(GPs Association) and MEDI the Germany-wide first contract on GP-centered care including budget adjustment. The
contract evaluated with meanwhile 1.1 million participating insured and 3,500 active practitioners sets standards and
confirms the intention of the legislator to strengthen primary care in an aging society.
Schlusselworter:
Hausarztzentrierte Versorgung = GP-centered care, Evaluation = evaluation
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