View
224
Download
0
Category
Preview:
Citation preview
ALLGEMEINMEDIZIN
Einleitung
Entzündliche Zustände in der Mund- und Kieferregion sind leider nicht nur bei Karies, sondern auch bei oral- sowie mund-, kiefer- und gesichtschirurgischen Ein-griffen eine reale Komplikation. Der größte Teil der odontogenen Infektionen wird von avitalen Zähnen, Perikoronitiden, als Folge von zahnärztlich-chirurgischen Operationen und infizierten periapikalen Granulomen oder Zysten verursacht3. Durch Frakturen und Spritzen-abszesse ausgelöste Infektionen sind hingegen deutlich seltener3. Insgesamt haben bis zu 95 % aller Infektionen im orofazialen Gebiet eine odontogene Ursache3.
Im Allgemeinen muss zwischen akuten und chroni-schen Entzündungen unterschieden werden. Die akute Entzündung, die klassischerweise rapide und mit den typischen Symptomen wie Schwellung, Schmerz, Über-wärmung, Rötung und eingeschränkter Funktion ein-hergeht, ist z. B. bei der akuten Pulpitis und bei den akuten entzündlichen Mitreaktionen der Weichgewebe zu beobachten. Die chronische Entzündung kann mit ähnlichen Symptomen in deutlich geringerer Ausprä-gung ablaufen. Eine chronische Pulpitis, die über Mo-nate hinweg immer wieder Beschwerden verursacht, oder eine chronische Osteomyelitis, die unter Umstän-
Markus Tröltzsch, Philipp Kauffmann, Norman Moser, Matthias Tröltzsch
Markus Tröltzsch Dr. med. Dr. med. dent.Abteilung Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin GöttingenRobert-Koch-Straße 4037075 GöttingenE-Mail: troeltzsch@gmx.netundPraxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, Ansbach
Philipp Kauffmann Dr. med. Dr. med. dent.Abteilung Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin Göttingen
Norman Moser Arzt, Zahnarzt, Facharzt für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieAbteilung Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin Göttingen
Matthias Tröltzsch Dr. med. dent., ArztKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieKlinikum der Ludwig-Maximilians-Universität MünchenundPraxis Dr. Dr. V. Tröltzsch, Ansbach
Quintessenz 2014;65(1):73–77 73
Odontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und DifferenzialdiagnosenTeil 1: Pathologie
IndizesOdontogene Infektion, Entzündung, Infiltrat, Mediatoren, Bakterien
ZusammenfassungDie meisten Infektionen im orofazialen Bereich sind dentogener Natur. Um diese erfolgreich therapieren zu können, ist ein Grundlagenwissen über die Pathologie nötig. Das Zusammenspiel aus pathologischem Reiz, entzündlicher und mediatorvermittelter Antwort sowie daraus resultierenden Konsequenzen bestimmt das klinische Bild. Der Beitrag soll es dem Zahnarzt erleichtern, entzündliche Zustände einzuschätzen.
74 Quintessenz 2014;65(1):73–77
ALLGEMEINMEDIZINOdontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen
Direkte Folge der Noxen ist eine Gewebsschädigung, die zur Ausschüttung von Entzündungsmediatoren führt. Diese Mediatoren lösen dann die Entzündungs-reaktion mit den begleitenden Veränderungen am um-liegenden Gewebe aus1.
Den Ablauf der Entzündungsreaktion kann man grob in drei Phasen einteilen1,3 (Tab. 1):1. Seröse Phase. Sie dauert ca. 36 Stunden und ist
durch das lokale entzündliche Ödem, eine Hyper-ämie sowie daraus resultierend durch Gewebsrö-tung, Überwärmung und Schmerz gekennzeichnet. Das seröse Exsudat, welches Proteine und einige Leukozyten enthält, tritt hier auf (Abb. 2).
2. Zelluläre Phase. In dieser durch die Akkumulation von Leukozyten und ganz besonders neutrophilen Granulozyten gekennzeichneten Phase entwickelt sich die Entzündungsreaktion fort. Die neutrophilen Granulozyten sind entscheidend an der Eiterbil-dung beteiligt.
3. Reparative Phase. Die Wiederherstellung beginnt eigentlich parallel zu der gesamten Entwicklung von Anfang an, erreicht aber mit der Beseitigung der Überreste der akuten Reaktion und der Wieder-herstellung des beschädigten Gewebes ihren Hö-hepunkt. Die Reparation erfolgt über Granulations-gewebe, das in Bindegewebe umgewandelt wird.
den zu einer fast unbemerkten Schädigung des Kno-chens führt, können hier als Beispiele genannt werden.
Die bakterielle Infektion
Die bakterielle Infektion beginnt grundsätzlich mit der Inokulation. Bei diesem Vorgang erfolgt ein symptom-loses Eindringen der Pathogene in den Körper8. Ein-trittspforten für Erreger im zahnärztlichen Bereich sind z. B. infizierte Wurzelkanäle, parodontale Taschen oder Wunden. Erst nach dem Eindringen kann die nachfol-gende Infektion stattfinden. In dieser Phase kommt es zu einer Vermehrung der Erreger, welche als Antwort des Immunsystems die Entzündung auslöst. Letztere ist als die Reaktion des Gewebes auf einen pathologischen Reiz definiert1. Odontogene Infektionen gehören zu den häufigsten Infektionen überhaupt; es wird angenommen, dass weltweit ca. 75 % der Erwachsenen Läsionen als Folge einer Parodontitis aufweisen8.
Entzündung
Die Entzündungsreaktion ist eine direkte Folge einer durch Noxen ausgelösten Gewebsschädigung (Abb. 1). Nicht nur Infektionen, sondern auch physikalische, che-mische und ischämische Reize lösen diese Reaktion aus1.
Abb. 1!Ablauf der Entzündungsreaktion
Gewebsschaden/Nekrose
Entzündungsmediatoren
Akute Entzündung Chronische Entzündung
Noxen
Chemisch Ischämie Infektion
Quintessenz 2014;65(1):73–77 75
ALLGEMEINMEDIZINOdontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen
Lokaler Ablauf der Entzündung bei Infektionen (Beispiel Bakterien)
Am Ort des Eindringens und der Vermehrung der Bakteri-en werden Mediatoren und Botenstoffe gebildet (Zytokine und Chemokine), welche Leukozyten zum Austritt aus der Blutbahn und zur Migration an den Ort der Infektion anre-gen1,8. Um dies zu ermöglichen, werden Adhäsionsmole-küle auf den Leukozyten und den Endothelzellen der Gefä-ße gebildet, die dann miteinander interagieren1.
Insgesamt sind vier Stadien zu unterscheiden1,8,12 (Abb. 3):1. Margination: Es kommt zu einer Verlagerung von
Leukozyten an den Gefäßrand1.2. Endothelial-leukozytäre Adhäsion: Die Leukozyten
lagern sich an der Gefäßwand an1.3. Emigration: Danach findet eine aktive Auswande-
rung durch die Gefäßwand statt1.4. Chemotaxis: Es erfolgt eine Wanderung zur höchs-
ten Konzentration an Botenstoffen (Chemotaxine, positive Chemotaxis), die sowohl körpereigener als auch bakterieller Natur sein können1.
Die neutrophilen Granulozyten treffen aufgrund ihrer hohen Anzahl und Schnelligkeit meist zuerst am Ort der Infektion ein1. Dort töten, phagozytieren und de-gradieren sie die Bakterien. Anschließend sterben sie selbst ab und bilden so den Eiter1.
Phase KennzeichenSeröse Phase
Leukozyten
Zelluläre Phasebesonders neutrophilen Granulozyten
Reparative PhaseReaktion aktiv
Entzündung
Tab. 1!Entzündliche Stadien
Abb. 2!Entzündliches Ödem der Wange
Abb. 3!Lokale Entzündungsreaktion (PAF = plättchenaktivie-render Faktor, IZAM 1 = interzelluläres Adhäsionsmolekül 1)
Basal- membran
Endothel- zelle
P-Selektin
PAFP-Selektin
E-SelektinPAFP-SelektinIZAM 1
chemo- taktischer Rezeptor
Bakterium
Chemotaxin
Blutfluss
POSITIVE CHEMOTAXIS
EMIGRATION
stabile Adhäsion
Aktivierung
initiale Adhäsion
ENDOTHELIAL-LEUKOZYTÄRE ADHÄSION
MARGINATION
Integrine
76 Quintessenz 2014;65(1):73–77
ALLGEMEINMEDIZINOdontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen
Vasoaktiv
Neurale Aktivierung
Chemotaktisch
Entzündungsmediatoren
Serotonin, Histamin, Bradikinin, Substanz P, CGRP etc.
Schwellung durch Zuflussver-stärkung und Abflussverringerung
Schmerz und weitere Mediatorausschüttung
Anlocken und Aktivierung von Abwehrzellen
Erregerspektrum
Bei odontogenen Infektionen handelt es sich meist um aerob-anaerobe Mischinfektionen5,10. Eckert et al.2 fanden bei 65 odontogenen Abszessen 46 aerob-anae-robe Mischinfektionen, 8 anaerobe Monoinfektionen und 11 anaerobe Mischinfektionen. Dem anaeroben Anteil muss also bei der antibiotischen Therapie Rech-nung getragen werden. In der gleichen Studie wurde auch die Resistenzsituation untersucht. Gegen Erythro-mycin waren 13,1 %, gegen Ampicillin 8,8 %, gegen Penicillin 7,3 % und gegen Clindamycin 3,3 % der Erre-ger resistent, während gegen die Kombination aus Amoxicillin und Clavulansäure keine Resistenzen be-obachtet werden konnten2 (Abb. 6).
Die Parodontitis ist in Bezug auf das Erregerspektrum besonders gut erforscht. Von den ca. 500 verschiedenen Bakterienarten, die man im Parodontalspalt finden kann9, ist nur ein kleiner Teil als wirklich krankheitsaus-lösend anzusehen. Dazu gehören Actinobacillus actino-mycetemcomitans, Porphyromonas gingivalis, Bacte-roides forsythus und Dialister pneumosintes11.
Entzündungsmediatoren
Die Entzündungsreaktion ist ein durch Botenstoffe ge-steuerter Vorgang. Diese Mediatoren (Abb. 4) sind Pep-tide mit verschiedenen Aufgaben, welche nicht nur bei Entzündungen, sondern z. B. auch bei der Nozizeption und bei anaphylaktischen Prozessen eine Rolle spielen. Dazu gehören u. a. Serotonin, Histamin, Bradikinin, Substanz P und CGRP („calcitonin gene-related pepti-de“)1,6. Die vielfältigen und auch untereinander ge-koppelten Wirkungen dieser Entzündungsmediatoren lassen sich hier aus Platzgründen nicht komplett dar-stellen, so dass nur beispielhaft einige der Funktionen der genannten Botenstoffe beschrieben werden sollen.
CGRP führt zu einer Dilatation der Arteriolen, erhöht dadurch den Zustrom von Blut in das betroffene Ge-webe und fördert die Überwärmung und Rötung der Haut6. Substanz P hat u. a. eine Permeabilitätszunahme der Venolen und eine Degranulation von Mastzellen (Abb. 5) zur Folge, welche dann wiederum Histamin ausschütten6. Histamin führt einer erhöhten Permeabili-tät der kleinen Gefäße und ist damit an der Entstehung des Ödems der serösen Phase beteiligt1,6. In diese Re-aktionen werden noch weitere, hier nicht genannte Mediatoren eingeschlossen.
Abb. 5!Teilweise degranulierte Mastzellen. Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:SMCpolyhydroxysmall.jpg
Abb. 4!Entzündungsmediatoren und ihre Wirkung
Quintessenz 2014;65(1):73–77 77
ALLGEMEINMEDIZINOdontogene Infektionen – Pathologie, Therapie, Komplikationen und Differenzialdiagnosen
für maligne Erkrankungen angewendet werden, können zu einer Schwächung des Immunsystems führen4,7,8.
Für den Zahnarzt bedeutet dies, dass Patienten mit einer bekannten Immunschwäche besonders strengen Hygienerichtlinien unterliegen und dass häufi g eine antibiotische Abschirmung erfolgen sollte. Im Zweifel hilft die Konsultation des behandelnden Immunologen oder Allgemeinarztes.
Literatur 1. Böcker W, Denk H, Heitz PU. Pathologie. 3. Aufl . München: Urban und
Fischer/Elsevier, 2004. 2. Eckert AW, Maurer P, Wilhelms D, Schubert J. Keimspektren und
Antibiotika bei odontogenen Infektionen – Renaissance der Penicilline? Mund Kiefer Gesichtschir 2005;9:377-383.
3. Fragiskos FD (ed). Oral surgery. Berlin: Springer, 2007. 4. Greten H (Hrsg). Innere Medizin. Verstehen – Lernen – Anwenden.
12. Aufl . Stuttgart: Thieme, 2005. 5. Halling F. Zahnärztliche Pharmakologie. Balingen: Spitta, 2008. 6. Handwerker HO. Einführung in die Pathophysiologie des Schmerzes.
Berlin: Springer, 1999. 7. Herold G. Innere Medizin. Köln: Eigenverlag, 2009. 8. Marre R, Mertens T, Trautmann M, Vanek E. Klinische Infektiologie.
München: Urban & Fischer/Elsevier, 2000. 9. Paster BJ, Boches SK, Galvin JL et al. Bacterial diversity in human
subgingival plaque. J Bacteriol 2001;183:3770-3783. 10. Reichart PA, Hausamen J-E, Becker J, Neukam FW, Schliephake H,
Schmelzeisen R. Curriculum Chirurgie Bd 1-3. Berlin: Quintessenz, 2002.
11. Slots J, Chen C. The oral microfl ora and human periodontal disease. In: Tannock GW (ed). Medical importance of the normal microfl ora. London: Kluwer Academic Publishers, 1999:101-127.
12. Wagner H, Fischereder M (Hrsg). Innere Medizin für Zahnmediziner. 2. Aufl . Stuttgart: Thieme, 2012.
Einfl uss allgemeinmedizinischer Erkrankungen auf die Entzündung
Viele Erkrankungen können Einfl uss auf den Verlauf odontogener Entzündungen haben. Im Folgenden seien nur zwei Beispiele exemplarisch dargestellt.
Diabetes mellitus
Bei mehr als 10 % aller Patienten, die wegen odontoge-ner Entzündungen stationär behandelt werden müssen, fi nden sich erhöhte Blutzuckerwerte – im Vergleich dazu sind nur ca. 2 % der Gesamtbevölkerung Diabetiker10. Die Bedeutung des Diabetes liegt in seiner Auswir-kung auf die lokale Blutversorgung und das Immun-system7. Bei der sogenannten Mikroangiopathie wer-den die kleinen Gefäße geschädigt, so dass die lokale Blutversorgung und damit die Infektabwehr stark be-einträchtig sind. Ein wichtiger Parameter ist hier der sogenannte HbA1c-Wert, der die Menge an glykiertem Hämoglobin angibt und einen Eindruck von dem Blut-zuckerspiegel der letzten 6 bis 8 Wochen vermittelt4. Ein Wert von 6 % ist als normal und einer von unter 7,5 % als tolerabel anzusehen4,7.
Immunsuppression
Eine Schwäche im Immunsystem führt zu einer erhöh-ten Anfälligkeit gegenüber Erregern. Hierbei ist beson-ders zu erwähnen, dass auch Bakterien, Viren oder Pilze, die sonst für den Körper unproblematisch sind, Infektionen zur Folge haben können4,12. Immundefi zite teilt man in angeborene und erworbene ein, wobei Letztere wesentlich häufi ger vorkommen8. Erkrankun-gen, die eine Immunsuppression verursachen können, sind z. B. die akute und die chronische lymphatische Leukämie, der Morbus Hodgkin, das multiple Myelom und die HIV-Infektion8. Iatrogen wird eine Immunsup-pression bei Zustand nach Nieren-, Herz-, Leber-, Lungen- und Stammzelltransplantation herbeigeführt8. Auch die Therapie mit Kortikosteroiden, etwa bei Asthma, Mor-bus Crohn und rheumatischen Erkrankungen, sowie Zytostatika, die u. a. bei vielen Chemotherapieregimen
Abb. 6!Resistenzen bei odontogenen Abszessen nach Eckert et al.2
Resis
tenz
(%)
Erythromycin Ampicillin Penicillin ClindamycinKombination Amoxicillin/
Clavulansäure
0
5
10
15
20
13,1 %
8,8 %7,3 %
3,3 % 0 %
Recommended