View
217
Download
0
Category
Preview:
DESCRIPTION
Â
Citation preview
Extrem is´ mus(s)!
Was haben wir im Sommer 2006 nur
getan? Wir haben nach der Zukunft der
Universität gefragt, im Winter darauf nach der
Zukunft der Studierenden und diesesmal be-
schäftigt uns die Zukunft der Gesellschaft.
Extremismus wird immer ein viel dis-
kutiertes Thema sein, nicht zuletzt, weil die
gesellschaftliche Mitte die Landschaft politi-
scher Anschauungen festlegt. Sie setzt Gebiete
ins Zentrum, an den Rand oder außerhalb der
„Normalität“. Je nachdem, wo sich ein Gebiet
befindet, muss es sich rechtfertigen, vertei-
digen oder gegen allzu viel Nähe abgrenzen.
Diese Ausgabe richtet sich an den Fragen aus,
wo finden sich Extremismen, wie wird ihnen
begegnet und auf welche Art zeigen sie sich.
Der erste Artikel bezweifelt, dass die
„permanente Überwachung aller Europäer“
durch die Vorratsdatenspeicherung mit der
privaten Selbstbestimmung des Einzelnen in
Einklang steht. Im (unbeabsichtigten) Dialog
dazu steht der Artikel von Michael Klemm, der
nach einem neuen Verständnis von Freiheit
und Sicherheitsbedürfnis fragt.
Die Lage der „deutschen Nation“ offen-
bart einen „Extremismus der Mitte“. Ob als
Kontrast oder als Ausblick auf die zukünfti-
ge Masse der Gesellschaft, mag der Leser ent-
scheiden, jedenfalls hat Anna von Arnim genau
hingehört, wie die allgemein Verdächtigten
der extremen Rechten Jugendliche aus der
Mitte abholen wollen. Explizit kann dies bei
Christina Kaindl verfolgt werden. Sie zeigt, wie
rassistische Gewalt als Globalisierungskritik
gesehen werden kann.
Bevor die Frage in den Mittelpunkt
rückt, ob es auch jenseits von ideologischer
Fremdenfeindlichkeit zweifelhaften Umgang
mit Ausländern gibt, weist Michael Stephan
auf eine Debatte um den Extremismus ganz
anderer Art hin: die freie Gesellschaft wird
durch „Environmentalism“ torpediert.
Den staatliche Umgang mit Ausländern
- ein klassisch linkes Thema - stellt Markus
Henn in Frage und bringt einen ideell ne-
gierten Nationalstaat gegen faktisch negier-
te Menschen in Stellung. Das darauffolgende
Interview mit einem Exil-Iraner aus Leipzig
öffnet den Blick auf die ganz realen Probleme
dieser, an den Rand gedrückten, Menschen.
Die Artikel von Ken P. Kleemann
und Daniel Mützel erlauben noch ein-
mal eine differenzierte Sichtweise auf das
Extremismusproblem im Allgemeinen sowie
auf dessen islamisch-fundamentalistischen
Variante im Speziellen.
Das Magazin schließt mit einer
Betrachtung des politischen Extremismus
von links. Einerseits erfolgt ein allgemei-
ner Aufruf zu vermehrter Forschung über
das Phänomen, andererseits ein privates
Resümee der Ereignisse um den G8-Gipfel in
Heiligendamm.
Die stark gestiegene Leserzahl des letz-
ten Magazins läßt uns eine (stille) Diskussion
der Artikel vermuten, der wir Raum ge-
ben wollen. Wir nehmen gerne Leserbriefe
an und veröffentlichen sie zeitnah auf un-
serer Homepage. Wir rufen außerdem zur
Mitarbeit in unserer Projektgruppe auf. Es
sind keine speziellen Voraussetzungen nötig,
um Vortragsreihen und Workshops zu orga-
nisieren oder Magazine herauszugeben. Jeder
kann sich beteiligen und seine Ideen einbrin-
gen. Zukünftige Autoren sind ebenso willkom-
men.
Die Redaktion wünscht eine anregende
und kontroverse Lektüre!
Liebe Lesende,
2
Autorenverzeichnis
Extremismus und Überwachung von Dirk Weil
Wie bekämpft man jemanden, der sterben will? von Michael Klemm
Zur diskursiven Lage der „deutschen Nation“ von Elena Buck, Stefan Kausch, Gregor Wiedemann
Kinderlein kommet ... von Anna von Arnim
Grenzen lokaler Demokratie von Daniel Schmidt
Die Konstruktion des „Fremden“ von Susanna Karawanskij
Völkischer Antikapitalismus von Christina Kaindl
Ökoextremismus von Michael Stephan
Border, Nation: Deportation von Markus Henn
Die Aufschiebung der Abschiebung Interview mit einem Exil-Iraner
Nationalismus als Konstrukt von Julian-Christopher Marx
Kulturkampf, „Leitkültür“ oder Mekka in Deutschland oder was? von Ali Ertan Toprak
Beim Untergang der Titanic ... von Henryk M. Broder
LaLa-Land von Ken P. Kleemann
Postmoderne Verwirrspiele von Daniel Mützel
„Autonome Bewegungen“ von Michael Klemm
G8 – Großdemonstrationen und ihre Folgen von Richard Oertel
Impressum
4
5
7
9
12
14
15
16
19
21
23
26
28
30
32
33
35
37
39
Inhaltsverzeichnis
3
ANNA VON ARNIM hat an der Universität Leipzig Politik- und Kulturwissenschaft studiert.
HENRYK M. BRODER ist Journalist, Publizist und Schriftsteller. Er schreibt unter an-deren für den „Spiegel“ und den „Tagesspiegel“.
Das FORUM FÜR KRITISCHE RECHTSEXTREMISMUSFORSCHUNG (FKR) ist eine Gruppe engagier-ter StudentInnen und NachwuchswissenschaftlerInnen innerhalb des Vereins En-gagierte Wissenschaft e.V.
MARKUS HENN ist Sprecher des Münchner Flüchtlingsrats (MFR) und Student der Politikwissenschaft.
SUSANNA KARAWANSKIJ ist Projektkoordinatorin des DAPHNE-Forschungsprogramms RYPP am Institut für Politikwissenschaften an der Universität Leipzig.
CHRISTINA KAINDL promoviert derzeit in Politologie und arbeitet zu Rechtsextremis-mus, Subjektivierung im High-Tech-Kapitalismus und Kritischen Wissenschaften.
KEN P. KLEEMANN studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.
MICHAEL KLEMM studiert Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft an der Universität Leipzig und ist Mitglied im Leipziger Studentischer Arbeitskreis für Si-cherheitspolitik (LeipSich).
JULIAN-CHRISTOPHER MARX studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.
DANIEL MÜTZEL studiert Politikwissenschaft an der Universität Leipzig.
RICHARD OERTEL war Teilnehmer an den diesjährigen G8-Gipfelprotesten.
MICHAEL STEPHAN ist Student der Amerikanistik und Politikwissenschaft an der Universität Leipzig und derzeit an der Karlsuniversität in Prag.
DANIEL SCHMIDT ist Dozent im Bereich der Politischen Theorie am Institut für Poli-tikwissenschaft an der Universität Leipzig.
ALI ERTAN TOPRAK ist Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.
DIRK WEIL ist Mitarbeiter im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und studiert Politikwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
AutorInnen
Wann immer man sich mit Fragen der
Überwachung beschäftigt, gilt es die Frage
zu beantworten, ob - und wenn ja - in wel-
cher Weise Überwachung unseren Alltag be-
einflusst. Schließlich, so die gängige Meinung,
habe man ja nichts zu verbergen. Michel
Foucault beschrieb in „Überwachen und
Strafen – Die Geburt des Gefängnisses“, wie
sich das Wissen um die eigene Überwachung
auf das Verhalten der Überwachten auswirkt:
Die Folge ist eine Selbstkonditionierung auf die
Maßstäbe der Überwacher.
Dass die These von der Selbstkonditi-
onierung greift, kann am eigenen Beispiel im
Alltag beobacht werden: Fährt man an eine
Ampel heran, die gerade auf „gelb“ gesprun-
gen ist, wird man im Regelfall noch beschleu-
nigen und durchfahren. Ist diese Ampel jedoch
mit einer Kamera überwacht, wird man eher
scharf bremsen.1
Akzeptiert man diesen Einfluss der
Überwachung, so lässt sich erwarten, dass
eine bewusste Überwachung bestehen-
de Normen verengt, da die so internalisier-
te Überwachung Verhaltensweisen unterbin-
det, die man unter anderen Umständen als
eventuell grenzwertig, aber noch akzepta-
bel angesehen hätte. Überspitzt ausgedrückt
schafft Überwachung neue „Extreme“ durch
Verengung dessen, was als Norm betrachtet
wird.
Dass es sich hierbei nicht um eine
schlichte Hypothese handelt, wird mit ei-
nem Blick in die Urteilsbegründung zum
Volkszählungsurteil deutlich. Das Bundes-
verfassungsgericht führte aus: „Wer unsi-
cher ist, ob abweichende Verhaltensweisen
jederzeit notiert und als Information dauer-
haft gespeichert, verwendet oder weiterge-
geben werden, wird versuchen, nicht durch
solche Verhaltensweisen aufzufallen. [...]
Dies würde nicht nur die individuellen
Entfaltungschancen des Einzelnen beein-
trächtigen, sondern auch das Gemeinwohl,
weil Selbstbestimmung eine elementare
Funktionsbedingung eines auf Handlungs-
und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger be-
gründeten freiheitlichen demokratischen
Gemeinwesens ist.“2
An dieser Feststellung müssen sich alle
Überwachungsmaßnahmen oder sonstige
Maßnahmen messen lassen, deren anfallende
Daten geeignet sind, zur Überwachung umge-
widmet zu werden.3
Eine Überwachungsmaßnahme, insbe-
sondere dann, wenn Sie in den Kernbereich
der privaten Lebensgestaltung eingreift,
darf nur angewendet werden, wenn ande-
re Maßnahmen nicht Erfolg versprechend
sind. Aufgrund der großen Eingriffstiefe ka-
men Überwachungsmaßnahmen bislang nur
in Ermittlungsverfahren zur Aufklärung
schwerer Kriminalität zur Anwendung. Die
Liste der Straftaten, bei denen beispielswei-
se die Telekommunikation überwacht wer-
den darf, umfasst im Wesentlichen schwe-
re Delikte wie z. B. Bildung einer terroristi-
schen Vereinigung, organisierte Kriminalität,
Rauschgiftdelikte und auch Mord. Weiterhin
sind diese Maßnahmen nur dann zulässig,
wenn ein Richter deren Anwendung im laufen-
den Verfahren genehmigt. Dem Richter fällt es
zu, die Persönlichkeitsrechte in Vertretung für
die verdächtigte Person zu wahren.4
Musste bei allen bislang verabschie-
deten Maßnahmen unabhängig von ihrer
Eingriffstiefe ein begründeter Anfangsverdacht
zur Anwendung vorliegen, so wird mit der
Vorratsdatenspeicherung eine neue Qualität
der Überwachung erreicht: Die permanente
Überwachung gilt für alle Europäer.
Dies kommt de facto einer Abkehr von
der Unschuldsvermutung hin zum perma-
nent erforderlichen „Unschuldsbeleg“ gleich.
Bundesinnenminister Schäuble bestätigte die-
se Annahme im Interview mit dem Stern, in
dem er deutlich machte, „dass der Grundsatz
der Unschuldsvermutung im Kampf gegen ter-
roristische Gefahren nicht gelten könne“.5
Extremismus und ÜberwachungPowision - We know what you did last summer ...
5
1 Vgl. http://hosting.zkm.de/ctrlspace/d/intro (letzter Zugriff: 27.06.07)2 BVerfGE 65, S. 433 Anm. d. Autors: Z. B. die Mautdatenerfassung des Toll-Collect-Systems.4 Anm. d. Autors: Leider zeigt die Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht zur TKÜ, dass die Richter eine Prüfung der Anträge im Wesentlichen für überflüssig halten.5 Vgl. http://www.stern.de/politik/deutschland/:Wolfgang-Sch%E4uble-Im-Zweifel-Angeklagten/587226.html (letz-ter Zugriff: 27.06.07)6 Vgl. Michael, Donald N. (1971), Democratic Participation and Technological Planning, in: HarvardStudies in Technology and Society Information, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, S. 292
Durch die Nutzung von Telefonie- und
Internetdiensten lassen sich auch ohne die
Überwachung des gesprochenen Wortes aus
Rufnummern und Anrufzeiten weitgehen-
de Informationen über Lebensrhythmus,
Kontakte und Interessen gewinnen (z. B.
Hotlines, Datinglines, Telefonseelsorge).
Durch die Verbreitung der Mobiltelefonie
werden diese Daten weiter individuali-
siert, da ein Mobiltelefon – im Gegensatz zu
Festnetzanschlüssen – im Regelfall nur von ei-
ner Person genutzt wird. Zudem ist eine räum-
liche Ortung des Mobilfunknutzers und somit
die Erstellung eines Bewegungsprofils mög-
lich.
Durch die Vorratsdatenspeicherung
ist die Erstellung solcher Profile künftig im
Nachhinein auf sechs Monate möglich, sollten
sich die Bundesländer mit ihren Forderungen
durchsetzen wäre es gar ein Jahr.
Eine Aufzählung der zu speichern-
den Daten würde den Rahmen des Artikels
sprengen, kurz zusammengefasst wird fol-
gendes protokolliert: Die Identität der Nutzer,
Rufnummer bzw. Kennung, Standort, Art der
genutzten Dienste und Geräte sowie Zeitpunkt
und Dauer der Nutzung.
Eine Speicherung der Inhaltsdaten ist
nicht vorgesehen, jedoch ist diese manch-
mal unvermeidlich, da bspw. bei SMS
und MMS keine Trennung von Inhalts-
und Protokolldaten erfolgt. Ebenso ist die
Speicherung der E-Mail Betreffzeilen vorge-
sehen, die häufig Rückschlüsse auf den Inhalt
der Kommunikation zulassen.
Damit einher geht eine direkte
Schwächung der europäischen Presse. Welcher
potentielle Informant wird künftig – die Cicero-
Affäre im Hinterkopf – das Risiko auf sich neh-
men, Pressevertreter auf Missstände aufmerk-
sam zu machen, wenn er damit rechnen muss,
dass ein einfacher Blick in die Protokolldateien
seine Identität offenbart?
Natürlich stellt sich die Frage, ob der
Bürger einem demokratischen Staat nicht so
weit vertrauen sollte, dass die erfassten Daten
nicht missbraucht werden. Das erfordert je-
doch eine Kontrolle der Überwacher, die nach
heutiger Diktion unnötig und hinderlich ist.
Dabei bedarf es keiner Diktatur oder
schlechter Menschen an Schlüsselpositionen,
um die gesammelten Daten und die geschaf-
fene Infrastruktur rechtsstaatswidrig zu nut-
zen. Es ist erstaunlich, welches Eigenleben
Organisationen und Apparate entwickeln kön-
nen. Donald N. Michael legte 1971 dar, dass
die Ausweitung von Befugnissen der eige-
nen Organisation zwar nicht das Ziel, aber
immanente Konsequenz der Existenz einer
Organisation ist.6
In der politischen Debatte entwick-
elte sich zudem eine Spirale rhetorischer
Antiterrorlogik, der zu entrinnen nahezu un-
möglich ist. Wer Fragen nach Vereinbarkeit
bestimmter Maßnahmen mit dem Grundgesetz
stellt, riskiert damit, als Terrorhelfer gebrand-
markt zu werden. Und welcher Politiker mag
schon riskieren, als allgemein bekanntes
Sicherheitsrisiko zu gelten? Es entbehrt nicht
einer gewissen Ironie, dass auf diese Weise
Menschen in die Nähe von Extremisten
gerückt werden, die sich gerade für den Erhalt
einer freiheitlichen Grundordnung einset-
zen…
Dennoch, es geht auch anders: Das kana-
dische Parlament hat im Frühjahr 2007 die
Verlängerung der dortigen Antiterrorgesetze
abgelehnt.
DIRK WEIL
6
Seit den versuchten Anschlägen auf
zwei Regionalzüge der Deutschen Bahn mittels
so genannter Kofferbomben im Juli 2006 ist
Deutschland nicht länger nur Rückzugsraum
sondern auch Operationsgebiet islamistischer
Terroristen geworden.1 Soviel nichts Neues.
Schäuble erzählt es uns jeden Tag. An seiner
Hand auch gleich Maßnahmen zur Abwehr der
terroristischen Gefahr: Luftsicherheitsgesetz,
Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung,
Anti-Terror-Datei, Telekommunikationsü-
berwachung. Doch warum bräuchten wir
Instrumente zur Gefahrenabwehr, die zum
Teil weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr
oder Straftat ansetzen?
Terroristen sind nicht geisteskrank
Obwohl uns Selbstmordattentäter ver-
rückt erscheinen, sind sie nicht geistes-
krank. Sie handeln vor dem Hintergrund ih-
rer Informationen und ihrer Normen sehr ra-
tional.2 Terroristen, die den Verlust des eige-
nen Lebens planmäßig in Kauf nehmen, glau-
ben, dass, während sie Recht haben, alle an-
deren im Unrecht sind. Die „Richtigkeit“ ih-
rer Sache berechtigt sie für die Unterstützung
derselben zu töten und zu verletzen. Sich ei-
ner terroristischen Gruppe anzuschließen ist
dabei eine endgültige Entscheidung und die-
jenigen, die sich zu einem solchen Schritt
entschließen, distanzieren sich moralisch
vom Rest der Gesellschaft. Dies engt ihren
Blick ein und macht sie gegenüber eher ra-
tionalen Sichtweisen blind. Das terroristi-
sche Selbstmordattentat schließlich wird zur
Belohnung für die Entbehrungen während
des harten Trainings, die Überwachung durch
die Gruppenmitglieder und die Angst vor
Entdeckung.3
Asymmetrisierung von Leben und Tod
Terroristische Selbstmordanschläge
stellen für uns eine irrationale Bedrohung
dar, weil islamistische Terroristen die ih-
rer Meinung nach fundamentale Schwäche
westlicher Gesellschaften entdeckt haben
und ausnutzen: Kriegerehre und bedingungs-
lose Opferbereitschaft sind uns nach zwei
Weltkriegen fremd.4 Niemand erwartet von
uns, dass wir unser Leben als Waffe einsetzen
und auch von niemand anderen erwarten wir,
derartiges zu tun oder würden Sie ein entführ-
tes, vollbesetztes Passagierflugzeug, das über
einer deutschen Großstadt zum Absturz ge-
bracht werden soll, abschießen lassen? Der is-
lamistische Terrorismus setzt hier an und for-
dert die postheroische Gesellschaft heraus in-
dem er ihr Verhältnis zu Leben und Tod asym-
metrisch gegen sie wendet: „Amerikaner lieben
das Leben, unsere Krieger lieben den Tod“.
Nichtstun ist (k)eine Lösung
Wie bekämpft man jemanden der ster-
ben will? Für Gesellschaften im Krieg fällt
die Antwort leicht: Japanische Kamikaze-
Piloten sollten möglichst abgeschossen wer-
den, bevor sie einen selbst in die Luft ja-
gen konnten. Israel, das unter terroristischen
Attentaten bisher am schlimmsten leidet,
macht es sich zur Sicherheitsdoktrin, potenzi-
elle palästinensische Selbstmordattentäter zu
verhaften oder im Zweifelsfall zu erschießen.
Heute aber befinden sich nur wenige westli-
che Gesellschaften im Krieg und trotzdem ist
die Bedrohung durch terroristische Anschläge,
z.B. mit entführten Passagierflugzeugen,
nicht länger Utopie. Wenn Schäuble nun wie-
der an einem neuen „Terrorismusbekämp-
fungsergänzungsgesetz“ schnürt, dann nicht,
weil er seit dem an ihm verübten Attentat
an einer unbehandelten posttraumatischen
Belastungsstörung leidet5, sondern weil er
eine Antwort auf die Frage zu finden sucht,
wie man jemanden bekämpft der sterben will.
Im wissenschaftlichen Diskurs steht er damit
einer zweiten Denkschule allein gegenüber,
die auf diese Frage einfach nur die Antwort
„heroische Gelassenheit“ gibt.6 Terroristen,
die den Verlust des eigenen Lebens planmäßig
in Kauf nehmen, könne man nicht aufhalten,
sondern müsse ihre Anschläge solange aussit-
Wie bekämpft man jemanden, der sterben will?
7
zen bis sich die Überlegenheit des demokrati-
schen Rechtsstaats quasi von selbst einstellt.
Natürlich kann der Zeitgeistanalytiker Münkler
keine Anzahl von ausgesessenen Anschlägen
auf einen demokratischen Rechtsstaat nen-
nen, die auch den letzten Terroristen von der
Überlegenheit desselben überzeugen. Muss er
auch nicht. Die Gefahr wird abgewehrt indem
sie ausgesessen wird: Terrorismus ein „Risiko“
wie Arbeitslosigkeit.
Nenn- und Symbolwert der
Sicherheitsgesetzgebung
Tatsache ist, dass jemand der sterben
will, mit den uns derzeit zur Verfügung ste-
henden Mitteln der Gefahrenabwehr un-
erkannt bleibt und die Bombe weit in die
Mitte der Gesellschaft trägt. Soll aber
Gefahrenabwehr effektiv bleiben, können wir
vor der Transnationalisierung solcher, ver-
meintlich „irrationaler“ Bedrohungen nicht
so tun, als könne man diese schadlos aussit-
zen. Um die Menschen in ihrem Vertrauen zu
dem Gemeinwesen, in dem sie leben, und sei-
ne Institutionen zu stärken, ist das Polizei-
und Ordnungsrecht deshalb wieder ver-
stärkt zum Instrument gefahrenabwehren-
der Politik geworden.7 Luftsicherheitsgesetz,
Traumata die Urteilsfähigkeit des Ministers?“, in: Telepolis, 10.04.2007, <http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25046/1.html>6 Münkler, Herfried: „Psychische und ökonomische Ermattung“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 145, Seite 13 (27.05.2006)7 Klemm, Michael: Polizeirecht und Verfassung. Einschränkungen der Grundrechte durch das sächsische Polizeigesetz, 2006 (Seminararbeit)8 Preuß, Torsten: Symbolische Politik. Über die Wirksamkeit ausgewählter deutscher Sicherheitsgesetze. Ergänzt um diskurstheoretische Überlegungen, 2007 (Magisterarbeit)
Passgesetzgebung, Vorratsdatenspeicherung,
Videoüberwachung und Anti-Terror-Datei ha-
ben nicht den Sinn, den Sicherheitsbehörden
ihre Arbeit so effizient wie möglich zu ma-
chen, sondern effektive Gefahrenabwehr un-
ter Wahrung der Rechte der Betroffenen und
Dritter zu gewährleisten. Gelegentlich wird
behauptet, dass diese Gesetze nicht dazu ge-
eignet seien, die angestrebten sicherheits-
politischen Ziele zu erreichen und symboli-
sche Politik seien.8 Wenn aber die Antwort
auf die Dekonstruktion von Symbolen durch
den Terrorismus tatsächlich die Konstruktion
weiterer Symbole ist, besitzt auch dies eine
Funktion: Symbole stellen ein Folie dar, politi-
sche Grundorientierungen, Werte und Normen
zu vermitteln und Politik in ihrer Komplexität
erfahrbar zu machen.
Richtig ist, dass Polizei und
Nachrichtendienste den Bürgern in kom-
plexen Gesellschaften mit ihren vielfälti-
gen Bedrohungen keine hundertprozentige
Sicherheit vor Anschlägen garantieren kön-
nen. Aber man kann sie davon überzeugen,
dass sie ihr Bestes tun werden um Anschläge
zu verhindern und dass sie dafür über alle ge-
eigneten, erforderlichen und angemessenen
Möglichkeiten verfügen.
1 Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2006 (Vorabfassung), S. 1932 Elwert, Georg: Weder irrational noch traditionalis-tisch. Charismatische Mobilisierung und Gewaltmärkte als Basis der Attentäter des 11. September, in: Clausen/Geenen/Macamo (Hrsg.), Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003, S. 953 Milton, Rod: The psychology of terrorism, in: Australian Defence Health Services, 7 (2006), S. 624 Böhm, Andrea: „Kein Held, nirgendwo“, in: Die Zeit, 29.06.2006, Nr. 275 Mühlbauer, Peter: „Schäubles Symptome. Trüben
MICHAEL KLEMM
8
„Wir haben es […] mit einer gesellschaft-
lichen Entwicklung zu tun, die zwar kei-
ne Wiederholung des Dritten Reiches bedeu-
ten wird, die aber eine Gesellschaft zur Folge
haben könnte, die autoritär, gefährlich und
für viele Menschen bedrohlich ist.“1 Die be-
sorgniserregenden Entwicklungen am ‚extre-
men’ rechten Rand der Gesellschaft in den
letzten Jahren (Wahlerfolge rechter Parteien,
Zunahme rechtsextrem motivierter Straftaten
usw.) dürfen den Blick nicht dafür verstellen,
dass es v.a. die gesellschaftliche „Mitte“ ist, die
diskursiv verhandelt, welche Positionen zur-
zeit als ‚extrem’, und welche als ‚normal’ oder
‚demokratisch’ gelten. Diskurse verstehen wir
dabei als „Flüsse von Wissen durch die Zeit“2,
welche als Träger von aktuell gültigem Wissen
Denk- und Handlungsfelder mitbestimmen3
und somit Macht-Wirkungen ausüben. Diese
Diskurse konstituieren Sagbarkeits- und
Möglichkeitsfelder, in denen individuelle ge-
sellschaftspolitische Einstellungen mitprodu-
ziert werden4. Eine Analyse und Kritik ‚rech-
ter Extreme’ muss so auch immer Diskurse der
‚Mitte’ in den Blick nehmen, um Verbindungen
und Anschlussstellen zwischen beiden, ver-
meintlich klar abgrenzbaren Bereichen auf-
zeigen.
Die Renaissance des Patriotismus
„Wir sind Deutschland. Ja zu Schwarz-
Rot-Gold! Ja zu Deutschland-Fahnen am
Auto! Ja zu deutschem Bier! Ja zur deutschen
Frau, die lächelnd zuschaut!“5 war in der
Bild-Zeitung während der Fußball-WM 2006
in Deutschland zu lesen. Diese und unzähli-
ge weitere mediale Selbstbeweihräucherungen
der wieder entdeckten „Wir“-Gruppe kön-
nen als vorläufiger Höhepunkt eines „Neuen
Patriotismus“ gelten, der seit dem Sommer
2006 endgültig massentauglich gewor-
den zu sein scheint. Nachdem „Wir“ schon
Exportweltmeister, Papst und Oscar sind, kön-
nen wir auch endlich wieder „Wir Deutschen“6
sein. Dabei verwundert es nur auf den ersten
Blick, dass in den Augen der Öffentlichkeit kol-
lektives Glücksgefühl und Normalisierung des
deutschen Selbstbildes sich so überraschend
und unerwartet Bahn brachen. Tatsächlich lau-
fen seit Jahren diskursive Prozesse in Richtung
einer Modernisierung des „Deutschtums“.
Beispielhaft hierfür stehen groß angelegte me-
diale Imagekampagnen wie die 2002 gegrün-
deten Initiativen „Deutschland packt’s an“ und
„Deutschland TM“, letztere mit dem selbst ge-
steckten Ziel der Schaffung und Unterstützung
von zweierlei Identitäten: einer deutschen
„Corporate Identity“ für die Unternehmen und
einer nationalen Identität für jeden Einzelnen.
In vorbildlicher Arbeitsteilung haben die
Kampagnen „Deutschland – Land der Ideen“
und „Du bist Deutschland“ vor der Fußball-WM
diese die Identitätsbildung unterstützenden
Aufgaben übernommen.7 Ein Positionspapier
der Konrad-Adenauer-Stiftung prognostizierte
bereits im Jahre 2004: „Patriotismus ist frei-
lich kein seelischer Dauerzustand, er zeigt sich
dann, wenn er (heraus-)gefordert wird. Hier
ist an vieles an natürlichen [sic!] Emotionen
zurückgedrängt worden“ 8. Es zeige sich dar-
über hinaus „das Bedürfnis, auch kollekti-
ve Emotionen öffentlich artikulieren zu dür-
fen. Es mehren sich die Anzeichen, dass die-
ses Bedürfnis zunimmt“. Inzwischen „darf“
man, und tut es auch nach Kräften. Überaus
positive Bezüge auf den Patriotismus und die
Nation finden sich auf allen Diskursebenen,
vom Alltag über die Medien bis Politik und
Wissenschaft.
Migrationsdebatten
„Zuwanderung muss im ökonomi-
schen und integrationspolitischen Interesse
Deutschlands bewusst und transparent ge-
steuert werden.“9 Für den nationalen
Migrationsdiskurs lassen sich zwei proble-
matische Merkmale festhalten: Erstens wer-
den Einwanderung und Einbürgerung auf po-
litischer Ebene vorwiegend anhand ökono-
mischer Verwertbarkeitskriterien diskutiert.
Hierbei werden verschiedene Anforderungen
an MigrantInnen formuliert, z.B. hinsicht-
Zur diskursiven Lage der „deut-schen Nation“
9
lich Sprachbeherrschung, Kenntnissen „deut-
scher Kultur“ und Geschichte und wirtschaft-
licher Selbstständigkeit. Diese Hegemonie er-
langenden Diskurspositionen materialisieren
sich schließlich in behördlichen Praktiken und
der staatlichen Gesetzgebung. Vergab schon
die 2000 von Rot-Grün eingeführte Greencard-
Regelung Aufenthaltsgenehmigungen nur
für hoch bezahlte Tätigkeiten im IT-Sektor,
so sieht auch die aktuelle Reform des
Zuwanderungsrechts Einbürgerungen nur
bei wirtschaftlicher Selbstständigkeit der
EinbürgerungskandidatIn vor. Zweitens wer-
den durch die im Migrationsdiskurs verwen-
dete Sprache Kategorien geschaffen. Man
spricht z.B. von „Ausländern“, „Flüchtlingen“,
„Asylanten“, „Muslimen“ oder „Türken“.
Dabei mitgedacht: Deren Abgrenzung zur
Gruppe der „Deutschen“. Den bezeichneten
Individuen und Gruppen werden wiederum
vermeintliche Eigenschaften und erwartba-
re Verhaltensmuster zugeschrieben, oft mit-
tels stereotyper Bilder und Symboliken (der
„Fremde“, die „Exotin“, das „passive Opfer“ etc.).
Allein ihre Bezeichnung mit solchen Begriffen
markiert sie als „unnormal“. Deutsche hinge-
gen besitzen das Privileg des Unmarkiertseins
und gelten so als implizite Norm. Hiermit ver-
bindet sich einerseits eine indirekte Forderung
nach kultureller Assimilation, andererseits
führt „das Wissen über die anderen […] dazu,
dass die Grenzen zwischen ‚uns’ und ‚ihnen’
im Alltag immer aufs Neue aufgerichtet wer-
den; der Unterschied wird ständig reprodu-
ziert“10.
Orientierungshilfe Leitkultur
Fast ausschließlich in Bezug
auf die türkische oder muslimische
Minderheit in Deutschland findet der
Begriff „Parallelgesellschaft“ vor allem auf
den Diskursebenen Medien, Politik und
Wissenschaft Anwendung. Unabhängig von
seinem empirischen Gehalt11 produziert sei-
ne Verwendung eine mögliche Bedrohung der
deutschen Mehrheitsgesellschaft durch ein
Kollektiv des Fremden. Sicher nicht zufällig er-
fährt der Begriff der „deutschen Leitkultur“ im
Kontrast zur „Parallelgesellschaft“ seit gerau-
mer Zeit eine deutliche Aufwertung. Löste die
Rede von einer „deutschen Leitkultur“ vor eini-
gen Jahren noch heftige Gegenreaktionen aus,
so findet sich der Begriff mittlerweile im neu-
en Entwurf des CDU-Grundsatzprogramms,
definiert als „klares Bekenntnis zu uns selbst
als einer durch Geschichte und Kultur gepräg-
ten Gemeinschaft“12. An weiteren Definitionen
fürs „Deutschsein“ versuchen sich seit etwa ei-
nem Jahr die Einwanderungsfragebögen der
Länder Hessen und Baden-Württemberg. Hier
schlägt der einbürgerungswilligen KandidatIn
anhand von Fragenkatalogen die gesam-
te Klaviatur ‚unserer’ Vorurteile entgegen:
Einbürgerungswillige sind potenziell antide-
mokratisch, TerroristInnen, homophob, unter-
drücken Frauen und neigen zu Polygamie und
Ehrenmord. Die Deutsche dagegen zeichnet
sich durch Toleranz, Demokratie-Begeisterung
und vor allem eine „lebendige Geistes- und
Kulturgeschichte“ aus13: Der Verweis auf
Goethe und Schiller darf selbstverständlich
auch hier nicht fehlen. Neben der permanen-
ten Kennzeichnung von Unterschieden zu ei-
nem vermeintlichen „Deutschsein“ sind es vor
allem exklusiv wirkende Definitionsinhalte
des Leitkulturbegriffes (z.B. Deutschland als
Geschichtsgemeinschaft und „Teil der euro-
päischen Völkerfamilie“12), die nicht nur eine
nachhaltige Integration erschweren, sondern
offensichtlichen Anschluss an rechtsextreme
Positionen bieten.
Extremismus der Mitte?
Effekt dieser drei Diskursstränge ist eine
Verstärkung der Kategorien „Wir Deutsche“ in
Abgrenzung zu „den Anderen“. Der angeblich
harmlose „Neue Patriotismus“ schaufelt neue
und befestigt alte Gräben zwischen den sprach-
lich und symbolisch vermeintlich klar abgrenz-
baren Kollektiven; der Migrationsdiskurs spie-
gelt ‚unser’ Bild von ‚den’ AusländerInnen wi-
der und weist ihnen ihre Rollen zu; die Debatte
Buchveröffentlichung des
Forums für kritische
Rechtsextremismusfor-
schung:
Der Band versammelt
Beiträge zweier Vortrags-
reihen des FKR zu Dif-
fusions- und Austausch-
prozessen zwischen
„Mitte“ und „Extremen“.
Preis: 8,50€
Bezugsmöglichkeit:www.engagiertewissenschaft.de
10
um eine Leitkultur letztendlich produziert
verschiedene Ideen vom ‚Deutschsein’ die von
Verfassungsloyalität bis zu „völkischen […]
Ideologien“14 reichen. Sind die beschriebenen
Diskurspositionen schon für sich allein bedenk-
lich, so besteht ihre viel größere Gefahr in der
Verschränkung mit anderen Diskurssträngen.
Solche Verschränkungen können brisan-
te Wirkungen hervorbringen. Bis Anfang der
90er Jahre beispielsweise dominierten in
der Migrationsdebatte Neid provozierende
Kostenargumentationen, die das Pogromklima
für Rostock und Hoyerswerda mit zu produzie-
ren halfen. Nach der faktischen Abschaffung
des Asylrechts 1993 verlagerte sich der
Schwerpunkt auf „eine angebliche Bedrohung
Deutscher durch kriminelle Ausländer“1. Seit
dem 11. September 2001 schließlich wird
Einwanderung vor allem im Zusammenhang
mit innerer Sicherheit und Terrorismus dis-
kutiert. Durch die Migrationsdebatten und
-politiken wird ein Staatsrassismus15 verhan-
delt und exekutiert, der nicht nur deutschland-
weit, sondern EU- und weltweit Menschen
ausschließt: an den Grenzen Deutschlands,
vor allem an den Rändern der sog. „Festung
Europa“ und innerhalb weltweiter Flüchtlings-
und Migrationsregime.
Ein weiteres Beispiel: „Die Deutschen
haben aus der Geschichte gelernt“13 – aber
scheinbar nur, um sie endlich vergessen zu
können: „Hitler und der Holocaust schie-
nen noch immer stärker als die deutsche
Gegenwart. Das ist vorbei. Letzte Zweifel
dürften im Fahnenmeer während der Fußball-
WM im vergangenen Sommer untergegangen
sein“16. Mit dem Patriotismusdiskurs verknüp-
fen sich Debatten um Vergangenheitsbewälti-
gung und Erinnerungskultur. Insgesamt sind
als Trend für die politischen Diskurse jenseits
und in Verbindung mit dem angesprochenen
„Patriotismus“-Thema in der Bundesrepublik
vielfältige Normalisierungstendenzen zu
beobachten, die Bezug nehmend auf die
Intention bestimmter politischer Akteure
als erfolgreiche Salamitaktik zu beschrei-
ben sind. Anschlussstellen nach rechts in
Diskurselementen der Mitte treten hier offen zu
Tage. Rechtsextremismus erscheint aus dieser
Sicht als „Effekt von Diskursverschränkungen
[…] wobei das im engeren Sinne rassistische
Wissen nur als ein Element einer diskursiven
Konstellation anzusehen ist und nur als die-
ses eine Element Wirkung erzielen kann, wenn
es sich mit anderen Diskursen verschränkt“1.
Seine Bekämpfung muss somit mit einer
„Mikropolitik der Kritik“ gesellschaftlicher
Verhältnisse beginnen, die solche Rassismen,
Essentialismen und Naturalisierungen konse-
quent aufdeckt4.
1 Jäger, Siegfried (2001): Soziale Probleme und rechtspo-pulistische Demagogie, in: Heilig / Pau (Hrsg.): Für eine tolerante Gesellschaft – gegen Rechtsextremismus und Rassismus, Berlin.2 Jäger, Siegfried (2004): Kritische Diskursanalyse, Münster.3 Wodak, Ruth et. al. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/Main.4 Vgl. dazu ausführlicher Buck, Elena/Kausch, Stefan/Rodatz, Mathias (2007): „Einleitung“, in: „Diffusionen. Der Kleine Grenzverkehr zwischen Neuer Rechter, Mitte und Extremen, Dresden.5 http://www.bild.t-online.de/BTO/news/aktuell/2006/06/08/kommentar/kommentar.html, 07.06.2007, 17:41.6 Matussek, Matthias (2006): Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können, Frankfurt.7 Langenscheidt, Florian (2006): Das Beste an Deutschland. 250 Gründe, unser Land heute zu lieben, Wiesbaden.8 Buchstab / Gauger (2004): Was die Gesellschaft zusam-menhält - Plädoyer für einen modernen Patriotismus.
9 BMI (2007): http://www.zuwanderung.de/3_polit-ziele.html, 08.06.2007, 21:04.10 Terkessidis, Mark (2007): Die Banalität des Rassismus, in: FKR (Hrsg.): Diffusionen, Dresden.11 Gegen eine empirische Relevanz des Begriffs: Janßen / Polat (2006): Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten, in: APuZ 1-2/2006.12 CDU (2007): Grundsätze für Deutschland. Beschluss der Grundsatzprogramm-Kommission.13 Hessisches Ministerium des Innern (2006): Leitfaden Wissen & Werte in Deutschland und Europa.14 Hentges, Gudrun (2007): Themen der Rechten – Themen der Mitte. Das Plädoyer für eine deutsche Leitkultur als Lehrstück, in: FKR (Hrsg.): Diffusionen, Dresden.15 Zum Begriff des Staatsrassismus vgl. ausführlicher: Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/Main; Stingelin, Martin (2003): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt/Main.16 Der Spiegel (2007): Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden was wir sind, Ausgabe 4/2007.
ELENA BUCK, STEFAN KAUSCH
UND GREGOR WIEDEMANN
FORUM FÜR KRITISCHE RECHTSEXTREMISMUSFORSCHUNG
11
„Fressen, saufen, vor der Glotze
Videos schauen, ‚Bravo’ und ‚Bild’ lesen,
(...) das schnelle Auto und der Joint mal so
eben zwischendurch“1 - so skizziert der JN
Bundesvorstand sein Bild von der heutigen
Jugend und ruft dazu auf, durch den Eintritt zu
den „Jungen Nationaldemokraten“ dem Leben
wieder einen Sinn und der Freizeit wieder ei-
nen Inhalt zu geben. Die Perspektivlosigkeit
und Zukunftsängste der jugendlichen
„Weltveränderer“ gelte es bei der JN in einen
„bewussten Widerstand“ umzuformen.
Nichts leichter als das. Man müs-
se die jungen Menschen nur in ihrer ei-
genen „Lebenswelt“ abholen und bei ih-
ren „konkreten Problemfeldern“ ansetzen.
Der JN-Bundesvorsitzende Stefan Rochow
zählt einige der „richtigen“ Themen auf:
Jugendarbeitslosigkeit, Ausbildungsmangel,
Drogen, „Veramerikanisierung (...) unse-
rer Kultur“, Schulprobleme, mangelnde
Wertvermittlung durch die Regierung. Den
Jugendlichen soll ein „geschützter Raum“ gebo-
ten werden, für Differenzen mit LehrerInnen,
Eltern und ihre sexuellen Erfahrungen fin-
den sie beim NPD-Bürgerbüro in Dresden
Gesprächspartner.
Die NPD und ihre Jugendorganisation
JN wollen breitgefächert aufstellen und jedem
Jugendlichen Perspektiven eröffnen. Die Jugend
kann wählen zwischen Musikveranstaltungen,
Demonstrationen, Wanderungen und
Singekreisen, Museumsbesuchen, Schulungs-
veranstaltungen, Vorträgen, politischen
Kampagnen und Mahnwachen. Die rechts-
extremen Parteien vereinnahmen (Sport-)
Vereine, dominieren öffentliche Jugendklubs
und Diskos, sind in Kreisschulelternräten prä-
sent, zeigen sich als Sprachrohr der Sorgen der
jungen Menschen und als Schutzschild vor der
Staatsregierung- harsche Kritik am deutschen
Staat? Nach der neuen Strategie bemühen sich
integre Persönlichkeiten vor Ort um ein mög-
lichst bürgerliches Image und moderat formu-
lierte Programmatiken. Die rechte Ideologie
transportieren sie über tages- und sozialpoli-
tische sowie regionale Sujets.
Stefan Rochow akzentuiert die
Jugendpflege der JN in Sachsen als primä-
res Handlungsfeld. Aufgrund des Eintritts
der NPD in den sächsischen Landtag 2004
distanziere man sich von Aktionismus
und Demonstrationen. Neben Pfingstlager
und Naturpfadwanderungen betont er die
Bedeutung von Schulungen um eine „kla-
re Weltanschauung zu vermitteln“ Der
Kreisverband in der Sächsischen Schweiz
wurde im Mai 2005 mit der Absicht gegründet,
„im Frontgebiet“ eine „Kaderschmiede“ zu eta-
blieren, die als „Schulungsplattform“ den jun-
gen Menschen diene und „für [den] Wahlantritt
2009“ vorbereite.2 Die „Schulungsblöcke“
Rhetorik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
und Versammlungsrecht werden mit jeweils
einem „Wissenstest“ abgeschlossen; so würden
sich die Jugendlichen bewusst mit der Politik
der JN auseinandersetzen.
Bei der vergangenen „U18-Wahl“ vo-
tierten 16,3% der unter Achtzehnjährigen für
die NPD und kürten sie so zur drittstärksten
Partei.3 Auch bei der Bundestagswahl 2005
stimmten 15% der männlichen Jungwähler
in Ostdeutschland für die rechte Partei.4
Der Mobilisierungserfolg ist laut Jens
Steinbach und Thomas Rackow auf das brei-
te Freizeitangebot der NPD und JN zurück-
zuführen. Die Jugendpflege positioniere sich
bewusst im vorpolitischen Raum, von dem
aus der Nationalismus und die Idee einer
„Volksgemeinschaft“ mehr Anziehungskraft
auf den Jugendlichen entfalten könne. In
der Sächsischen Schweiz nehmen die jungen
Menschen die Angebote der Arbeitsgemein-
schaften „Familie“, „Brauchtum“, „Soldaten
erzählen“ und „Malen und Basteln“ wahr.
Hinter den historisch- kulturellem Programm
verbirgt sich meist eine Thematisierung des
Nationalsozialismus und des Mittelalters
(Besuch von Soldatengräbern und ehema-
ligen NS-Bauten, Zeitzeugengespräche).
Kinderlein kommet ...Im Gespräch mit NPD und JN-Politikern über die Ju-
gendpolitik in Sachsen
12
Am Ostersonnabend 2006 lud die NPD
zum „Wandern auf germanischem Boden“
ein.5 Thomas Rackow erläutert, dass den
Jugendlichen hierbei der Gemeinschaftsgeist,
die Heimatverbundenheit und die Geborgenheit
innerhalb der rechten Gemeinschaft wichtig
sei. Auch die Musikveranstaltungen als sub-
kulturelles Angebot locken die Jugendlichen
zur JN und NPD: „Musik ist ein hervorragen-
des Mittel politische Inhalte zu vermitteln“
konkretisiert Stefan Rochow. Im Anschluss
an Schulungstage und historische Vorträge
bietet er daher stets Musikgruppen und
Liedermacher.
Bleibt die Frage, wie die Metamorphose
von der Sympathie der jungen Menschen
für die Freizeitangebote in eine Empathie
für die politische Ideologie der rechten
Organisationen verläuft. Uwe Leichsenring ist
der Überzeugung, dass ein „Grundkonsens mit
der Politik“ bei jedem von Anfang an vorhan-
den sei und sich dieser nur unterschiedlich in-
tensiv ausgestalte.
Ihm widersprechen Jens Steinbach
und Thomas Rackow: Die Jugend interessie-
re sich nur für das Feiern und den Spaß im
Freundeskreis. Stefan Rochow entwirft ein
anderes, differenzierteres Bild. Demnach kä-
men die Achtzehnjährigen „ganz klar aus
politischen Erwägungen“ und „ganz be-
wusst“ zur JN. Hingegen würden sich die
Vierzehnjährigen noch nicht für Politik in-
teressieren und „natürlich erst mal durch
den Gemeinschaftsaspekt“ zur JN finden.
Bis zu ihrem 21. Lebensjahr, dem Ende ihrer
„Entwicklungsphase“, wolle die JN ihnen „ein
Weltbild (...) vermitteln, das sie ebend auch sel-
ber festigt“. Dieser Schritt von der Freizeit zur
Politik ist laut dem JN-Bundesvorsitzenden
ein „sehr sehr fließender Übergang“. Zudem
stehe auch der Kameradschaftsaspekt in einer
engen Verbindung zur Politik, so dass sich dar-
aus „natürlich auch (...) Politik“ ergebe.
Seit den Ankündigungen Udo Voigts6 und
Holger Apfels7 der neunziger Jahre, durch eine
kreative und kontinuierliche Jugendarbeit ei-
nen „harten Kern“ politischer Aktivisten zu
formen, hat sich der NPD-Landesverband in
Sachsen als weitaus größter etabliert und
die JN seit ihrer angekündigten Profilbildung
2005 über zehn weitere Stützpunkte einge-
richtet. Von den Jugendlichen werden sie
als einzige mit einem jugendspezifischen
Angebot wahrgenommen, sie bieten beispiel-
lose Lösungsskizzen, offerieren ein geschlos-
senes Weltbild und dominieren ungehindert
öffentliche Räume. So gestalten sie eine al-
ternativlose rechte Erlebniswelt, entwickeln
sich aus ihrer gesellschaftlichen Isolation her-
aus und werden salonfähig. Der Kampf um
die „kulturelle Hegemonie“ reüssiert insofern,
als dass die Rechten für die jungen Menschen
zur Selbstverständlichkeit werden und der
rechtsextremistische Ideologierahmen der
Jugendlichen erweitert wird. So viel zur plu-
ralistischen Gesellschaft..?
Alle Aussagen beziehen sich auf meine Interviews mit dem JN- Bundesvorsitzendem Stefan Rochow und dem ehe-maligen Parlamentarischen Geschäftsführer und NPD- Kreisgeschäftsführer Sächsische Schweiz Uwe Leichsenring (17.5.06 Dresden), dem JN- Kreisgeschäftsführer Sächsische Schweiz und ehemaligem Kader der „Skinheads Sächsische Schweiz” Thomas Rackow (12.6.06 Pirna), dem JN- Landesvorsitzenden Sachsen Jens Steinbach (Fragebogen 28.6.06) und dem Landespressesprecher Sachsen, MdL Matthias Paul (Fragebogen 26.6.06)1 NPD- Bremerhaven 2006: „Eine andere Jugend. Vom deutschen Elend“, http://www.npd- bremerhaven.de/jungenationaldemokraten/eineanderejugend/eineanderejugend.html (Stand: 17.01.06).2 JN- Sächsische Schweiz 2006: „Herzlich Willkommen auf den Seiten der Jungen Nationaldemokraten (JN) Sächsische Schweiz!“, http://www.npd-saechsische-schweiz.de/jn (Stand: 19.04.2006).3 Gangway e.V.- Verein für Straßensozialarbeit 2006: http://www.u18.org (Stand: 03.07.2006).4 Kobylinska, Alexander/Walter, Caroline 2005: Stabil ‚Rechts’: Das Touristenziel Sächsische Schweiz wird zur Hochburg der NPD, Sendung vom 22.09.2005 in „Kontraste“.5 NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme 2006: Riesa Jg.31, Nr. 04; NPD- Sächsische Schweiz 2006: „Die Jugend ist bei uns!“, www.npd-saechsische-schweiz.de (Stand: 18.04.2006).6 Sendbühler, Karl- H. 1996: „Udo Voigt ist neuer NPD Parteivorsitzender!“, NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme, Riesa Jg.20, Nr.3/4.7 Rabe, Stefan 1998: „NPD- Parteitag bestätigt Udo Voigt im Amt“, NPD- Parteivorstand (Hg.): Deutsche Stimme, Riesa Jg. 23, Nr.2.
ANNA VON ARNIM
13
Nach einer Serie ausländerfeindlicher
und antisemitischer Straftaten machte 2000
der damalige Bundestagspräsident Thierse
eine Entdeckung:
„Jetzt begreifen wir, dass der Rechtsextre-mis-
mus nicht nur am Rand der Gesellschaft an-
gesiedelt ist, nicht isolierbar ist, sondern dass
ausländerfeindliche Einstellungen, Intole-
ranz, zunehmende Gewaltbereitschaft bis weit
in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen.“
Diese Feststellung zieht einige Fragen nach
sich. Nämlich:
• Was heißt eigentlich „in der Mitte der
Gesellschaft”? Sind nicht politische Rhetorik,
Wahlentscheidungen, Alltagsgespräche
am Stammtisch, im Verein oder sonstwo
Phänomene, die sich nicht einfach schema-
tisch ins sogenannte „politische Spektrum”
einordnen lassen?
• Findet sich diese intolerante, rassistische,
vielleicht sogar gewaltbereite „Mitte der
Gesellschaft“ möglicherweise auch bei kom-
munalen Amtsträgern, in Polizeibehörden, im
Fußballverein?
• Und wenn ja, was bedeutet das für die Arbeit
zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich ge-
gen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus engagieren? Wie werden sie in
kommunale Strukturen eingebunden?
Dies sind die Ausgangsfragen einer
Studie, die am Institut für Politikwissenschaft
der Universität Leipzig angefertigt wurde.1 Die
AutorInnen haben soziale Mikrostrukturen in
ländlichen Räumen untersucht und rekons-
truiert. Dazu wurden modellhaft zwei klei-
nere Kreisstädte in Sachsen und Bayern aus-
gewählt, die eminente Probleme mit rechts-
extremen Gruppen haben und in denen aber
auch Bündnisse gegen Rechtsextremismus
beziehungsweise für Demokratie geschmie-
det worden sind. In beiden Regionen sind die
Wahlergebnisse rechter Parteien überdurch-
schnittlich hoch, ebenso die Zustimmung zu
als rechtsextrem eingestuften Aussagen in
quantitativen Einstellungstudien.
Die Ergebnisse können kurz so zusammenge-
fasst werden:
1. Rassismus, Antisemitismus und an-
dere, vielleicht allophobe Erscheinungen exis-
tieren in der Mitte der Gesellschaft. Deshalb
macht es genau genommen gar nicht viel
Sinn, in diesem Zusammenhang von „links“,
„Mitte“ und „rechts“ zu sprechen. Vielmehr
verstärkt diese schematische Verortung die
Tendenz, dass sich zum Beispiel das lokale
Establishment von offen „rechts“ auftreten-
den Gruppierungen abgrenzt, ohne die eige-
nen Einstellungen und Beiträge zum lokalen
Diskurs zu reflektieren.
2. Für die Existenzbedingungen einer
Naziszene im ländlichen Raum ist das in-
stitutionelle Gefüge der Gemeinden von ent-
scheidender Bedeutung. Die Besonderheit von
Kleinstädten und Dörfern besteht darin, dass
der öffentliche Raum in diesen Kommunen
schneller und nachhaltiger durch bestimm-
te Gruppen und Einstellungen dominiert wer-
den kann. Manche Dinge werden eher denk-
bar und sagbar, ohne dass eine nennenswerte
Opposition dagegen steht. Dazu kommt oft ein
hoher Konformitätsdruck durch soziale und
persönliche Abhängigkeiten.
3. Das Problem im ländlichen Raum
ist nicht in erster Linie ein Mangel an zivil-
gesellschaftlichem Engagement (zumindest
in den beobachteten Fällen). Woran es ha-
pert, das ist die Offenheit der bestehenden
Strukturen für Alternativen. In beiden Städten
werden die Bürgerinitiativen von der jeweili-
gen Rathausspitze dominiert. Dabei versuch-
te man, möglichst viele lokale Gruppen und
Vereine, Schulen und Kirche einzubinden so-
wie gleichzeitig andere Gruppen, die nicht „na-
türlicherweise“ dazugehören, draußen zu hal-
ten.
Diese Erkenntnisse haben eine Relevanz
für die geplante Umstellung der bisheri-
gen Bundesprogramme zur finanziellen
Unterstützung solcher Initiativen. Nach den
Grenzen lokaler Demokratie
14
Plänen der Großen Koalition sollen diese
Gelder in Zukunft von den Kommunen selbst
verteilt werden. In der Konsequenz dürfte das
bedeuten, dass die Förderung fast ausschließ-
lich an sogenannte Quasi-Nichtregierungsor-
ganisationen geht und staatlich unabhängige
Vereine außen vor bleiben.
1 Doris Liebscher, Christian Schmidt: Grenzen lokaler Demokratie. Zivilgesellschaftliche Strukturen gegen Nazis im ländlichen Raum. Die Studie steht zur Verfügung unter: http://www.gruene-bundestag.de/cms/rechtsextremismus/dokbin/187/187846.pdf. (Im Auftrag der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen; Projektleitung: Rebecca Pates und Daniel Schmidt.)
Rechtsradikalismus und Rechtsextrem-
ismus sind schon seit geraumer Zeit Gegenstand
wissenschaftlicher Untersuchungen und eben-
so medialer Berichterstattung. In diesem
Themenfeld rückt insbesondere die „Gruppe“
der Jugendlichen ins Zentrum des Interesses;
als Opfer oder Täter rassistisch motivierter
Gewalt.
Ginge man von der Existenz eines
„Rechtsradikalismus-Gens“ aus, so könnten
die Sozialforscher den Stift beiseite legen und
die Arbeit Genforscherinnen und anderen N
aturwissenschaftlerinnen überlassen. Nun,
da dem (bisher zumindest) nicht so ist, muß
man nach anderen Ursachen suchen, die of-
fensichtlich im Bereich der Sozialisation zu
finden sind. Da Einstellungen weder ange-
boren sind, noch zwangsläufig aus unmittel-
baren Erfahrungen heraus gebildet werden,
sondern Sozialisationsergebnisse sind, gilt es
jene Instanzen zu untersuchen, wobei neben
Familie und sog. Peergroups für den Staat nur
Schule als Zugriffsmöglichkeit bleibt.
Das im Rahmen des DAPHNE II-
Programms von der Europäischen Kommission
geförderte Forschungsprojekt RYPP („right-
wing youth violence prevention program-
mes“) evaluiert die Methoden verschiede-
ner Präventions- und Sensibilisierungsprojek
te für Jugendliche und untersucht in diesem
Sinne den Zugriff des Staates auf rechtsradika-
le Einstellungen.
Das auf zwei Jahre angelegte Projekt
untersucht zum Einen die Sozialisation „Das
Fremde“ und will zum Anderen demokrati-
sche Bildungsarbeit in die Lehrerausbildung
einbinden. Zusammen mit den Partnern vom
IMER Institut der Universität Malmö und
dem Antidiskriminierungsbüro Sachsen wer-
den die Forschungsergebnisse einem inter-
nationalen Vergleich unterzogen. In Folge
werden die Ergebnisse mittels Seminare für
Lehramtsstudierende und Workshops für
Lehrende in Ostdeutschland und Südschweden
in den Unterricht implementiert.
Eine hochkarätige internationale
Konferenz zu diesem Thema findet im März
2008 in Leipzig statt.
DANIEL SCHMIDT
SUSANNA KARAWANSKIJ
Die Konstruktion des „Fremden“Das Forschungsprogramm RYPP
15
Noch in den 80er Jahren traten die
Parteien der extremen Rechten überwiegend
als Vertreter neoliberaler Positionen auf. In den
90er Jahren wandelten sich die Programme
der extremen Rechten und nahmen – in un-
terschiedlichem Ausmaß – Globalisierungs-
und Kapitalismuskritik auf. Der folgende
Artikel beleuchtet, wie es Teilen der extremen
Rechten gelingt, Erfahrungen der Einzelnen
mit der neuen Produktionsweise zu artikulie-
ren und in rechte Erklärungsmuster einzubet-
ten. Dabei zeigt sich ein Wandel der Inhalte
und der (ästhetischen) Form extrem rechter
Politik.
Anknüpfungspunkt Antiimperialismus
Zentrales Thema der JN/NPD ist der
völkische Nationalismus, dem etwa rassisti-
sche Argumente nachgeordnet sind, bzw. die-
se werden vom Nationalismus abgeleitet.
Grundlage ist ein Verständnis von Nation,
die auf einem einheitlichen Volk basiert, das
eine gemeinsame Abstammungsgeschichte
hat. Die Selbstbestimmung des »Volkes« wer-
de untergraben durch Fremdeinflüsse. ge-
nannt Imperialismus, der auf politischen, öko-
nomischen und kulturellen Ebenen agiere und
dort zu bekämpfen sei. Die »Fremdeinflüsse«
sind äußere und innere Feinde: wie etwa mul-
tinationale Konzerne und supranationale
Organisationsformen (EU, NATO), die nicht auf
Grundlage des Ethnopluralismus1 existierten.
Der Kampf gegen den »Imperialismus
der Multis und der USA« nimmt einen zen-
tralen Stellenwert ein.2 Als innere Feinde gel-
ten etwa ausländische Wohnbevölkerung
und Flüchtlinge. Kulturelle Vielfalt wird
als »Vernichtung der Kultur« und da-
mit als »Vernichtung des Volkes« gesehen.
Entsprechend sind die Anwesenheit von
»Volksfremden« in der Gesellschaft3 und die
gesellschaftlichen Prozesse Globalisierung,
Verbreitung transnationaler Unternehmen
und supranationale Organisierung Aspekte
des gleichen, existenziell bedrohlichen
Vorgangs: der imperialistische Kampf ge-
gen das Volk, dem der Nationalismus als
»Befreiungsbewegung« gegenübergestellt
wird. Gegen die Fremdeinflüsse wird die
Einheit und Gleichheit des Volkes gestellt.
Die Volksgemeinschaft verspricht soziale
Absicherung: »Der Nationalismus erstrebt so-
ziale Gerechtigkeit und nationale Solidarität.«4
In Querfrontstrategien versucht die extreme
Rechte sich an die sich allgemein links verste-
hende Globalisierungsbewegung anzubiedern
oder - wo es möglich ist - sie zu integrieren
und stellt gemeinsame Politikmöglichkeiten
heraus.
Indem multinationale Konzerne und die
Anwesenheit von Flüchtlingen, von auslän-
dischen Mitbürgern etc. in Deutschland vom
rechten Standpunkt aus als zwei Seiten der
gleichen Medaille gedacht werden, kann das
eine unmittelbar im anderen bekämpft wer-
den. Rassistische Gewalt ist dann unmittelbar
Antiglobalisierungspolitik. Die Komplexität
der realen Zusammenhänge muss nicht ge-
dacht werden, die Erfahrung von politischer
Hilflosigkeit angesichts globaler Prozesse kann
in Handlungen umgesetzt werden. Aktuell
starten die JN in Kooperation mit verschie-
denen Kameradschaften eine »antikapitalisti-
sche und antiglobalistische Kampagne Zukunft
statt Globalisierung«.5 In ihr wird zusammen-
geführt und systematisiert, was sich in den
letzten Jahren verstärkt als Bezugspunkte
rechtsextremer Mobilisierungen gezeigt
hat: Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und »pre-
käre Beschäftigungsverhältnisse« werden
als Krisenerscheinungen des Kapitalismus
gefasst. In der Schulungsbroschüre
»Privatisierung«6 wird das »Volkseigentum«
gegen die »Ausplünderung« verteidigt. Die
Sachzwanglogik herrschender Politik wird an-
gegriffen und eine »mögliche Alternative zum
bestehenden System« entgegengestellt. In völ-
kischer Reartikulation der zapatistischen
Losung »Eine Welt, in der viele Welten Platz
Völkischer Antikapitalismus als Er-folgskonzept der extremen Rechten?
16
haben« rufen sie zur Ablösung der »einen Welt
des Kapitals« durch eine »Welt der Tausend
Völker« auf.
Anknüpfungspunkt Gerechtigkeit
An welche alltäglichen Erfahrungen der
Menschen mit veränderten Anforderungen in
Arbeit und Gesellschaft können rechtsextreme
Denkangebote anknüpfen?
Die Siren-Untersuchung7 konn-
te das Ineinandergreifen von subjektiven
Erfahrungen neoliberaler Umstrukturierungen
und dem Hinwenden zu rechtsextremen
Argumentationen zeigen. Zentral scheint die
Erfahrung, dass die Einzelnen ihre Position
in der sozialen Welt aufgrund der veränderten
gesellschaftlichen Anforderungen überdenken
müssen.8
Es entstehen Gefühle von Ungerech-
tigkeit und Frustration, weil die Menschen
trotz schwerer Arbeit und schmerzlicher
Unterordnung nicht in der Lage sind, die ange-
strebte Position zu erreichen. Das Gefühl des
»aufgekündigten Gesellschaftsvertrages« be-
zieht sich auf die implizite Vorstellung, dass
»harte Arbeit« gesellschaftliche Absicherung,
Lebensstandard und Anerkennung ein-
bringe. Die Enttäuschten äußern durchaus
Bereitschaft, härter zu arbeiten und mehr zu
leisten, müssen aber feststellen, dass ihre le-
gitime Erwartung an verschiedene Aspekte
von Arbeit, Beschäftigung, sozialen Status
oder Lebensstandard dauerhaft frustriert wer-
den: Der Vertrag ist einseitig gekündigt wor-
den. Dies führt zu Ungerechtigkeitsgefühlen
und Ressentiments in Bezug auf andere sozia-
le Gruppen, die sich den Mühen der Arbeit an-
scheinend nicht in gleichem Maße unterziehen
und für die besser gesorgt werde oder die ihre
Sachen (illegal) selbst arrangierten: einerseits
Manager, Politiker mit hohem Einkommen, die
sich großzügige Pensionen zusprächen, ande-
rerseits Menschen, die von der Wohlfahrt leb-
ten, statt zu arbeiten, oder Flüchtlinge, die
vom Staat unterstützt würden. »Diese ge-
störte Balance in ihrem Bezug zur Arbeit
bei gleichzeitigem Mangel an legitimen
Ausdrucksformen für das Leiden scheint in
vielen Fällen der Schlüssel für das Verständnis
des Zusammenhanges zwischen sozioökonomi-
schem Wandel und politischen Reaktionen zu
sein.«9 Politische Botschaften und Ideologien
des Rechtspopulismus, die die zweifache
Abgrenzung »des Volkes« von Eliten oben und
Ausgestoßenen unten in Anschlag bringen, fin-
den hier Resonanz. Die Abgrenzung von angeb-
lichen untätigen Leistungsempfängern, also
Flüchtlingen, Sozialhilfeempfängern, Kranken
und Behinderten, findet sich dabei bis in die
höchsten Hierarchieebenen der Beschäftigten
(oft auch als Wohlstandschauvinismus be-
zeichnet) und ist auch in gewerkschaftlichen
Kreisen verbreitet.
Anknüpfungspunkt soziale Sicherheit
Zentral sind weiter die Angst vor Deklas-
sierung, Unsicherheit und Ohnmachtgefühle,
die mit industriellem Niedergang, prekä-
rer Beschäftigung und Entwertung von
Fähigkeiten und Qualifikationen verbun-
den sind. Die Erfahrung, Spielball der öko-
nomischen Entwicklung oder scheinbar an-
onymer Mächte zu sein, wird verbunden
mit rechtspopulistischen Mobilisierungen,
die die Bevölkerung als passives Opfer von
übermächtigen Gegenspielern ansprechen.
Ähnlich »funktioniert« die nostalgische
Wertschätzung der guten alten (Arbeiter-)
Zeiten und die populistische Glorifizierung
von traditionellen Gemeinschaften. Die öf-
fentliche Anerkennung der Probleme von
Prekarisierung und sozialem Abstieg ist hier
ein Vorteil für die extreme Rechte. Ebenso
vermag ihre Thematisierung von nationalen
oder subnationalen Einheiten als Träger kol-
lektiver Interessen die Ohnmachtgefühle an-
zusprechen, die sich nicht nur auf die indivi-
duelle Ebene beziehen, sondern auch kollekti-
ve Einheiten wie Regionen, die Arbeiterklasse,
die Nation. Die extreme Rechte thematisiert die
Alltagserfahrung der Einzelnen mit der neuen
Produktionsweise und löst sie in Richtung der
Volksgemeinschaft. Die »völkische Identität«
birgt das Versprechen von sozialer Sicherheit
und Gleichheit, Solidarität und Zugehörigkeit.
Die Aufwertung entlastet von der Sorge, ob
man selbst dazugehören wird, ob die im neu-
en Sozialstaat geforderte eigene »Aktivierung«
ausreichen wird. Gleichzeitig wird das Prinzip
der Konkurrenz für den verschärften Kampf
um gesellschaftliche Ressourcen gegen »un-
deutsche« Elemente genutzt.
17
Rechtsextremes Denken ermöglicht
also ein widersprüchliches Bewegen in den
Zumutungen, die neoliberale Politik den
Subjekten auferlegt: Einerseits werden die-
se zurückgewiesen und im rechtsextre-
men Modell von volksgemeinschaftlichem
Sozialstaat aufgelöst, andererseits werden
ihre Formen der Ausgrenzung, Brutalisierung,
Mobilisierung des Subjekts aufgegriffen und
gegen die gesellschaftlich Marginalisierten ge-
wendet. Es ermöglicht damit ein »Denken in
den Formen«, das sich inhaltlich dennoch als
Opposition geriert, mithin die Grundlagen ge-
sellschaftlicher Konkurrenz und Verwertung
affirmiert.
Dabei hilft es wenig, von »Demagogie«
oder »Instrumentalisierung« der sozialen Frage
durch die extreme Rechte zu sprechen, weil
so nicht verstanden werden kann, welchen
Stellenwert und auch inhaltliche - problemati-
sche - Konsistenz die rechten Argumentationen
zur Sozialpolitik haben und warum sie für vie-
le Menschen attraktiv erscheinen. Der aktu-
elle Rechtsextremismus »beschwindelt« die
Menschen nicht einfach, sondern er greift
subjektive Erfahrungen mit gesellschaftli-
chen Umbrüchen auf, bietet ein Modell für
ihr Verständnis und ihre Veränderung und
muss dabei nicht mit den eigenen Grundlagen
- völkischer Nationalismus, Rassismus und
Ungleichheitsideologien und Ablehnung von
Demokratie zugunsten von Volksentscheiden
und strafferen Führungskonzepten - brechen.
Indem die extreme Rechte Kritik
an Produktionsweise, Globalisierung,
Kapitalismus und politischer Passivierung »re-
volutionär« artikuliert, ist sie zwar für aktuel-
le Einbindung in den Block an der Macht un-
brauchbar. Dennoch leistet sie eine passive
Hilfe, indem sie diese Kritik absorbiert und ka-
nalisiert und emanzipatorische Perspektiven
schwächt. Der Erfolg der Linkspartei bei
der letzten Wahl zeigt, dass die Kritik von
Sozialstaatsreformen, Globalisierung und
Kapitalismus nicht per se rechts kodiert ist.
Daraus ergibt sich die Anforderung an lin-
ke Politik, die Entwicklung popular-demo-
kratischer Positionen voranzubringen, in de-
nen die alltäglichen Erfahrungen, das Leiden
und die Widersprüche der Produktionsweise
repräsentiert sind und Perspektiven auf
eine nach-kapitalistische Gesellschaft eröff-
net werden. Eine abstrakte und ausschließli-
che Fundamentalkritik oder eine Orientierung
auf realpolitisch mögliche, kleine Schritte,
die notwendig im Rahmen des Bestehenden
argumentieren, werden es nicht vermögen,
Perspektiven auf eine veränderte Gesellschaft
mit den Erfahrungen der Umarbeitung von
Lebensweisen bei den Menschen zu verbinden
und werden ihnen so auch keinen Grund ge-
ben, dieses politische Projekt als ihr eigenes zu
übernehmen.
1 Ethnopluralismus kann als »Rassismus ohne Rassen« bezeichnet werden; er stellt eine völkische Konstruktion dar, die vor allem auf die »Reinheit« von Völkern zum Erhalt ihrer Identität und Lebensfähigkeit abzielt. Vermischung von »Völkern« wird hier als Existenzgefährdung gedacht.2 Das Andocken an Kapitalismuskritik und ihre Umdeutung ins Völkische ist eine Strategie, derer sich auch der historische Faschismus bedient hat.3 Hier vor allem Ausländer, aber die Argumentation ist of-fensichtlich anschlussfähig, um auch gegen andere, inne-re »Volksschädlinge« gerichtet zu werden.4http://www.jnbuvo.de/index.php?option=com_content&task=view&id=108&Itemid=335 www.antikap.de6 http://snbp.info/files/Privatisierung.pdf7 Eine europaweite qualitative Untersuchung zu Veränderung der Anforderungen in der Arbeit und re-chtspopulistischen Denkweisen, vgl. www.siren.at und Jörg Flecker/Gudrun Hentges: »Rechtspopulistische Konjunkturen in Europa «. In: Joachim Bischoff u. a. (Hg.), Moderner Rechtspopulismus, Hamburg 2004, S. 119-1498 Dabei konnten unterschiedliche Typologien heraus-gearbeitet werden, die die jeweils sehr unterschiedli-chen Erfahrungen von prekarisierten Putzfrauen bis hoch qualifizierten IT-Arbeitern formulieren.9 In: Joachim Bischoff u. a. (Hg.), a. a. O. , S. 142
CHRISTINA KAINDL
Literatur:Christina Kaindl (Hg.): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Marburg 2005. Und: dies. (Hg.): Neoliberalismus und Subjekt. Marburg, i.Ersch.
18
Ökoextremismus? Das hört sich doch ir-
gendwie verdächtig nach längst vergangenen
Zeiten an, als Greenpeace und Co. noch eher
als versprengte Radikale und unverbesserli-
che Idealisten angesehen werden konnten, die
meist ideologisch verdächtig nahe beim linken
Klassenfeind zu finden waren. Doch weit ge-
fehlt, besagter Vorwurf ist aktuell, aktuel-
ler als je zuvor – das zumindest, wenn man
dem tschechischen Staatspräsidenten Václav
Klaus folgt. Wobei, wieder Klaus zufolge, die
Verbindung zum Kommunismus ebenso aktu-
ell ist wie damals.
Für seine Aussagen wird Klaus derzeit
häufig verspottet und angefeindet, dies mei-
nes Erachtens jedoch oft aufgrund einer ver-
kürzten Darstellung seiner Argumentation. In
diesem Artikel möchte ich zuerst seine wich-
tigsten Argumente zusammenfassen, dann ei-
nen kleinen Überblick über internationale
Reaktionen bieten, und schließlich versuchen,
ein Fazit zu ziehen.
„The – so called – climate change and
especially man-made climate change has be-
come one of the most dangerous arguments
aimed at distorting human efforts and public
policies in the whole world.”1
Dieser Satz, die Einleitung in ei-
nem Artikel von Klaus an das U.S.-
Repräsentantenhaus, ist bereits der Kern des-
sen, worauf der tschechische Präsident hinaus
möchte. Dieses Thema ist gewissermaßen sei-
ne Mission, dafür kämpft er bereits seit länge-
rem – jüngst auch mit der Veröffentlichung ei-
nes Buches ,Modrá, nikoli zelená planeta. Co
je ohroženo - klima nebo svoboda? (Der blaue,
nicht der grüne Planet. Was ist bedroht - das
Klima oder die Freiheit?), für welches der-
zeit in ganz Tschechien großflächig geworben
wird.
Ausgehend von seiner Überzeugung,
dass die wissenschaftliche Debatte über die
globale Erwärmung nicht tief genug sei, um
daraus politische Entscheidungen abzulei-
ten, sieht Klaus die aktuelle Bewegung der
Bekämpfung der Erderwärmung in erster
Linie als ein groß angelegtes Unternehmen po-
litischer Interessengruppen, das die Freiheit
bedroht. „What I am really concerned about is
the way the environmental topics have been
misused by certain political pressure groups
to attack fundamental principles underlying
free society.“2 Der Environmentalism3 habe im
21. Jahrhundert den Kommunismus als größ-
te Bedrohung der Freiheit abgelöst. Ähnlich
wie früher im Kommunismus, solle heute die
freie Entwicklung der Menschheit durch eine
zentrale und globale Steuerung abgelöst wer-
den, heute eben mit dem Ziel des Schutzes von
Erde und Natur. Im Detail sehe das so aus,
dass die Environmentalists, die ihre Ansichten
als unwiderlegbare Wahrheiten ansähen, im
Kern vor allem Angst vor der Zerstörung der
Erde verbreiteten. Der Erfolg dessen wie-
derum dränge Entscheidungsträger, illi-
berale Maßnahmen zu ergreifen, arbiträre
Grenzwerte, Regulationen und Restriktionen
einzuführen und den Einfluss von bürokrati-
schen Entscheidungsprozessen auf die Bürger
auszubauen.
Den Klimawandel beschreibt Klaus
hauptsächlich als ein natürliches Phänomen,
gegen den die Menschheit prinzipiell machtlos
sei. Stattdessen sollten Entscheidungsträger
unter allen Umständen den Prinzipien der li-
beralen Gesellschaft weiterhin folgen, und das
Recht zu wählen und zu entscheiden nicht
vom Volk auf eine Interessengruppe übertra-
gen, die behaupte, die Welt besser zu kennen
als der Rest der Menschheit. Im Umgang mit
einem sich verändernden Klima sollte man
die Möglichkeiten der Menschheit gegenüber
der Natur realistisch einschätzen. Klaus vo-
tiert deshalb auch gegen den Kyoto-Vertrag,
welcher willkürliche Ziele setze, viel kos-
te, aber keine realistischen Erfolgsaussichten
habe. Wenn Klimawandel existiere, solle man
ÖkoextremismusVáclav Klaus und der Kampf gegen den Kampf der
globalen Erwärmung
19
diesen nicht hoffnungslos bekämpfen, son-
dern sich vielmehr auf die Folgen vorbereiten.
Kosten-Nutzen-Analysen seien hierbei dem
Vorbeugeprinzip der Environmentalists vor-
zuziehen. Diesen Punkt unterstützt Klaus mit
der Argumentation, dass nicht alle Folgen ei-
ner globalen Erwärmung negativ sein müssen,
und zum Beispiel weite Teile bisher zu kalter
Gebiete bewohnbar werden könnten.
An dieser Stelle bietet sich ein
Sprung von Klaus’ Argumentation zu de-
ren Wahrnehmung in der Welt an. Ein gro-
ßes Problem Klaus’ ist, dass er vor allem
mündlich oftmals eher polemisch argumen-
tiert. Sein eben letztgenanntes Argument der
Erschließung neuer Lebensräume wurde zu-
letzt eher dergestalt wahrgenommen, dass
der Verlust von Küstenregionen durch den
Gemüseanbau in Sibirien ausgeglichen wer-
den könne4, wie er darüber hinaus oft auf-
grund persönlicher Erfahrungen argumen-
tiert. Spott und Unverständnis fordert Klaus
auf seine polterige Art geradezu heraus. Im
Gegensatz zu den eher wohlformulierten
Thesen des Papiers, das dem ersten Teil die-
ses Artikels zu Grunde lag, zielt Klaus in freier
Rede deutlich höher. Da spricht er dann schon
davon, dass die globale Erwärmung „Unsinn“
sei, und entsprechende Warnungen „überaus
gefährlich“5. Schließlich, so stellt Klaus fest,
seien auch die Warnungen vor dem Ozonloch
oder der Bevölkerungsexplosion falsch gewe-
sen.6 Tschechische Umweltschützer verglichen
ihr Land gar schon mit den Galliern bei Aste-
rix und Obelix – uneinnehmbar!7 Im März die-
sen Jahres machte sich auch Tony Blair im
britischen Unterhaus über Václav Klaus’ um-
weltpolitische Ansichten lustig8 und bei einer
Reise in die USA, verbunden mit einem Vortrag
beim Cato Institute, erntete Klaus vernichten-
de Kritik amerikanischer Medien.9 Was in der
öffentlichen Wahrnehmung allerdings eher
unterzugehen scheint, ist die Tatsache, dass
Klaus gern generell als Kämpfer für einen ra-
dikalen Liberalismus auftritt. In der eben ge-
nannten Rede beim Cato Institute wandte
sich Klaus nicht nur gegen die Umweltlobby,
er sprach vielmehr von einer allgemeinen
Bedrohung der freien Welt durch eine Vielzahl
von „Ismen“, darunter übliche Verdächtige wie
Kommunismus und Islamismus, aber auch
Feminismus, Europäismus und „human-righ-
tism.“10
Václav Klaus’ Thesen zur globa-
len Erwärmung grenzen teilweise an eine
Verschwörungstheorie. Wenn dann sogar von
Environmentalism als „Religion“ die Rede ist11,
dann hat er diese Grenze meines Erachtens be-
reits überschritten. Klaus wirkt wie ein von
einer Verschwörung der Klimaschützer getrie-
bener Altliberaler inmitten einer immer un-
freier werdenden Welt. Der einsame Kämpfer
für die Freiheit ist ihm allerdings auch auf-
grund seiner Vergangenheit als tschechischer
Staatsmann nicht unbedingt abzunehmen,
Korruption und Misswirtschaft gehörten auch
im Tschechien unter Klaus als Premier trotz
des sonst radikalen Liberalisierungsprogramm
s dazu, es kam sogar 1997 zu einem der größ-
ten Skandale seit der Wende.12 Blendet man
diese Tatsachen hingegen aus, so bleibt das
Bild eines großen libertären Ökonomen, für
den jeder Eingriff in das freie Spiel der Kräfte
des Marktes einem fundamentalistischen und
extremistischen Angriff gleich kommt.
1 Klaus, Václav: „Answers to questions from the House of Representatives of the U.S. Congress, Committee on Energy and Commerce, on the issue of mankind’s contri-bution to global warming and climate change”. Online: http://www.klaus.cz/klaus2/asp/clanek.asp?id=IgDUIjFzEXAz (letzter Zugriff: 25.06.07)2 ebd.3 Für die hier von Klaus intendierte eher negative Bedeutung als „-ismus“, also im Sinne von in etwa „Umweltismus“, existiert keine deutsche Entsprechung, daher verwende ich das englische Wort unübersetzt.10Kirchgessner, Kilian: „...Tschechien“. Online: http://www.tagesspiegel.de/meinung/Kommentare;art141,2142661 (letzter Zugriff: 25.06.07)5 Schmidt, Hans-Jörg: „Tschechien: ‚Gerede vom Klima-wandel Unsinn’“. Online: http://www.diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/290526/index.do?direct=290572&_vl_backlink=/home/index.do&selChannel=330 (letzter Zugriff: 25.06.07)6 ebd.7 Kirchgessner, Kilian: „...Tschechien“. Online: http://www.tagesspiegel.de/meinung/Kommentare;art141,21426618 Tschechien Online: „Václav Klaus: Klimawandel ist ein Mythos“. Online: http://www.tschechien-online.org/news/7655-vaclav-klaus-klimawandel-ein-mythos/ (letzter Zugriff: 25.06.07)9 ebd.10 Klaus, Václav: „Challenges of the Current Era.“ Online: http://www.vaclavklaus.cz/klaus2/asp/clanek.asp?id=3eLwSP6fD2kj (letzter Zugriff: 25.06.07)11 ebd.12 Im Zuge einer Spendenaffäre zerbrach 1997 die Regierungskoalition unter Führung der konservativen ODS, Klaus musste als Premier zurücktreten.
MICHAEL STEPHAN
20
Jede politische Haltung und Handlung
bewegt sich in einem Kontinuum zwischen
zwei gegensätzlichen Extremen; soweit sie
sich nicht einem der Extreme zuordnen lässt,
unterscheidet sie sich von diesen nur gradu-
ell. Politik ist entweder der Kampf zwischen
Extremen oder eine Auseinandersetzung
über graduelle Unterschiede innerhalb des
Kontinuums.
Extreme:
Universalismus gegen Nationalismus
Was das Verhältnis von Mensch und
Nationalstaat angeht, sind die gegensätzli-
chen Extreme die Negation des Nationalstaats
und die Negation des Menschen. Die Negation
des Nationalstaats ist der Universalismus der
Menschenrechte. Er leugnet nationale, rassi-
sche, kulturelle und sonstige Unterschiede und
behandelt jeden Menschen völlig gleich. Seine
Hauptvertreter sind: Ultraliberale, die den
Staat an sich ablehnen, und internationalisti-
sche Sozialisten, die den Nationalstaat ableh-
nen und einen sozialistischen Weltstaat errich-
ten wollen. Ein konkretes Beispiel ist die linke
Bewegung „Kein Mensch ist illegal“ mit der
Parole „no border, no nation, stop deportation“.
Der Gegensatz, die Negation des Menschen, ist
der Nationalismus. Er ordnet die Menschen
völlig ihrer nationalen Zugehörigkeit un-
ter, und diese unterwerfen sich selbst völlig
dieser Zugehörigkeit. Der reinste Ausdruck
des Nationalismus in der Geschichte war
der deutsche Nationalsozialismus mit seiner
Rassenlehre: „Du bist nichts, Dein Volk ist al-
les.“
Extreme bekämpfen sich nicht nur ge-
genseitig. Aus ihrer Sicht gehört alles, was
nicht dem eigenen Extrem entspricht, zum ge-
gensätzlichen Extrem. Der Universalist leug-
net den Unterschied zwischen Abschiebung
und Gaskammer: „Nazis morden, der Staat
schiebt ab, das ist das gleiche Rassistenpack“.
Für die Kommunistische Internationale
war die Sozialdemokratie Sozialfaschismus;
wer nicht für die Revolution kämpfte, be-
trieb Konterrevolution. Genauso hielt es der
Nationalsozialismus.
Die Mitte: Demokratie
Die Demokratie tendiert zur Mitte zwi-
schen Extremen: zwischen Universalismus
und Nationalismus; Sozialismus und
Kapitalismus; Gleichheit und Freiheit. Damit
tritt der Kampf zwischen den Extremen zurück
hinter die Auseinandersetzung über graduel-
le Unterschiede innerhalb einer gesellschaft-
lich akzeptierten Normalität um die Mitte he-
rum. Diese Normalität ist voller Widersprüche
und Inkonsequenzen; ihre Grenzen sind
unscharf und ebenfalls Gegenstand der
Auseinandersetzung. Eine Haltung, die zu ei-
ner Zeit nicht gesellschaftsfähig ist, kann es im
Laufe der Zeit werden.
Zum Teil erkennt die Demokratie ihre
Tendenz zur Mitte an, zum Teil täuscht sie
sich darüber. Schon im Grundgesetz ist die-
se Selbsttäuschung zu sehen: Es stellt mit
Absicht die Rechte des einzelnen Menschen,
die Grundrechte, an den Anfang, und bei
den Grundrechten sind es die universalisti-
schen Menschenrechte, die an erster Stelle
stehen: Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar; jeder hat das Recht. Von besonde-
rer Bedeutung ist Artikel 3: Niemand darf
wegen seiner Heimat und Herkunft benach-
teiligt werden. Dieser Artikel wird schon im
Grundrechteteil selbst gebrochen – wenn die
Bürgerrechte beginnen: Alle Deutschen haben
das Recht. Der Bruch ist klar und nie aufzuhe-
ben. Eine Ausländerin ist keine Deutsche, ein
Deutscher kein Ausländer. Der Bruch wird nur
dadurch gemildert, dass die Bürgerrechte ein-
geschränkt auch für AusländerInnen gelten
und diese eingebürgert werden können.
Jeder Staat, mag er sich noch so universal
und liberal verstehen, ist im Kern nationalis-
tisch und knüpft an die Staatsbürgerschaft we-
sentliche Rechte, die Bürgerrechte. Ein wichti-
ges Bürgerrecht findet sich im Grundgesetz
nicht ausdrücklich: das Aufenthaltsrecht.
Border, Nation: Deportation
21
(Zum Teil steckt es im Recht auf Freizügigkeit.)
Wer keinen deutschen Pass hat, fällt unter
Sondergesetze wie das Aufenthaltsgesetz und
muss sich seinen Grenzübertritt und seinen
Aufenthalt genehmigen lassen. Zwar ist dies
nicht der Nationalismus der Nazis; aber es
wird unbestreitbar an die Zugehörigkeit zur
Nation angeknüpft. Und diese Zugehörigkeit
wird auch in der liberalen, rechtsstaatlichen
Demokratie gegen Nicht-Zugehörige, gegen
AusländerInnen mit aller Gewalt durchge-
setzt. Die Grenzkontrolle und die Abschiebung
sichern dort den Schutz der Nation. Border,
Nation: Deportation.
Normalität der Extreme
Da sich die Normalität nur gradu-
ell von den Extremen unterscheidet, nimmt
sie Teile von beiden Extremen in sich auf.
Diese Teile sind es, die aus der Sicht beider
Extreme Verrat bedeuten und die Zuordnung
der Normalität zum gegensätzlichen Extrem
zulassen. Denn was sei der Unterschied zwi-
schen der Forderung der NPD nach „schritt-
weiser Rückführung hier lebender Fremder
in ihre Heimat“ und Otto Schilys „Das Boot
ist voll“? Was der Unterschied zwischen
der Forderung des NPDlers Jürgen Rieger
„Asylanten auszuhungern“ und der tatsächlich
praktizierten Entrechtung von Flüchtlingen
in Ausreiselagern? Der Unterschied ist: Schily
fordert keine massenhafte Rückführung von
AusländerInnen; und in den Ausreiselagern
werden Flüchtlinge – noch – nicht ausgehun-
gert. Der Unterschied ist graduell – aber es ist
ein Unterschied. Die Kritik, mit welcher der
Demokrat von den Extremen (und von sich
selbst) konfrontiert wird, ist die Kritik am
Wert des graduellen Unterschieds.
Das Herz freilich neigt zum
Universalismus, es empört sich auch über
Ausreiselager und Abschiebungen, nicht
nur über Aushungern und Gaskammern.
Der Verstand sucht nach einem absoluten
Unterschied zwischen der dürftigen demokra-
tischen Normalität und dem Nationalismus,
welchen er nicht findet. Jeder prüfe sich je-
doch ernsthaft, wie viel Universalismus er vor
seiner politischen Vernunft vertreten kann.
Er sollte dabei nicht vergessen, dass der of-
fizielle Internationalismus der ehemals kom-
munistischen Staaten äußerlich geblieben ist:
der Ostblock zerbrach in Nationalstaaten;
die östlichen Bundesländer kämpfen heu-
te besonders mit Ausländerfeindlichkeit.
Und wer anerkennt, dass jedes Recht auch
der Macht bedarf, um wirksam sein und ge-
schützt werden zu können, der wird sich ei-
nem reinen Universalismus verschließen
müssen. Zumindest, solange wir noch kei-
nen Weltstaat haben, in dem alle Menschen
Bürger eines einzigen Staates sind und glei-
che Rechte haben, bleibt politische Vernunft
auf die Macht des Nationalstaats ange-
wiesen. Dennoch kann man sich einset-
zen gegen viele einzelne Abschiebungen,
gegen das Asylbewerberleistungsgesetz,
gegen den Entzug des Flüchtlingsstatus’ von
Flüchtlingen aus Irak oder Afghanistan, ge-
gen persönlichen Rassismus – und für groß-
zügigen Flüchtlingsschutz, für erleichterte
Einbürgerungen, für einen Weltstaat.
MARKUS HENN
22
Powision: Hiva*, du bist gebürtiger Iraner
und lebst seit 2001 in Deutschland. Was wa-
ren die Beweggründe dein Heimatland Iran zu
verlassen und nach Europa zu kommen?
Hiva: Die iranische Gesellschaft ist ein
Gefängnis. Das Regime, die Religion und viele
gesellschaftliche Institutionen wie beispiels-
weise die Familie nehmen den Menschen die
Freiheit zu sagen, was sie wollen und zu le-
ben, wie sie wollen. Außerdem wollte ich ein
geisteswissenschaftliches Fach studieren, viel-
leicht Soziologie, aber das ist in Iran nicht an-
erkannt. Außerdem ist die universitäre Lehre,
überhaupt das ganze Bildungswesen sehr is-
lamisch geprägt und klammert potentiell kri-
tische Strömungen aus oder stempelt sie als
überkommene und falsche Ideologien ab. Ich
wollte mich damit nie abfinden und so habe
an regimekritischen Demonstrationen und
Kampagnen teilgenommen. Meine Eltern hat-
ten Angst um mich und ich war mir natürlich
im Klaren darüber, dass das nicht lange gut ge-
hen konnte. So habe ich 1999 meine Sachen ge-
packt und bin in die Ukraine geflohen, um dort
zu studieren. Die Studiengebühren konnte ich
jedoch nach zwei Jahren nicht mehr aufbrin-
gen und so bin ich über Ungarn, die Slowakei
und Tschechien nach Deutschland gekommen.
Powision: Wie hast du es geschafft, ohne Geld
so weit zu reisen?
Hiva:‚Reisen’ ist wohl nicht das richtige Wort.
Die Grenzüberfahrten organisierten meistens
Menschenschmuggler- oder Mafiabanden.
In Flüchtlingslagern bekommt man solche
Kontakte schnell. Ursprünglich wollte ich nach
Frankreich. Ich habe also mein letztes Geld zu-
sammengekratzt und mich denen sozusagen
ausgehändigt. Ich habe wochenlang in Kellern
gehaust und wurde in Containern hunderte
Kilometer durch Osteuropa transportiert. Als
ich dann im Jahre 2001 die tschechisch-deut-
sche Grenze durch ein Waldgebiet überquerte,
hatte ich Infektionen, aufgeplatzte Füße und
tagelang nichts gegessen.
Powision: Und in Deutschland war dann vor-
erst Endstation. Was ist passiert?
Hiva: Ich machte den Fehler ein deut-
sches Dorf zu passieren. Die Polizei nahm
mich fest und sperrte mich in eine Zelle. Für
mich war das ein unvergessliches Schock-
Erlebnis: Deutschland und andere europäi-
sche Staaten wecken in Menschen aus armen
Ländern Glücksfantasien. Diese hoffnungsvol-
le Erwartung wurde jedoch gleich nach mei-
ner Festnahme zerstört. Die Polizisten ver-
wehrten mir – obwohl ich offensichtlich abge-
magert und krank aussah – Nahrung und sogar
Wasser, während sie gemütlich zu Abend aßen.
Ich musste mich ausziehen und sogar eine rek-
tale Inspektion über mich ergehen lassen. Das
und ihre spöttischen Kommentare waren für
mich sehr demütigend.
Powision: Was glaubst du, warum sie dich so
behandelt haben?
Hiva: Ich weiß es nicht. Vielleicht wa-
ren sie sauer, weil ich für sie ein neuer
Bearbeitungsfall war, der Arbeitszeit kostete.
Sie telefonierten jedenfalls wie wild herum,
bis sie schließlich merkten, dass sie mich nicht
sofort wieder abschieben können, da ich kei-
nen Pass besaß. Am nächsten Tag transportier-
ten sie mich zum Bahnhof und sagten, ich solle
nach Chemnitz in ein Asylamt gehen – wieder
ohne mir etwas zu essen oder Geld zu geben.
In Chemnitz wohnte ich für einen Monat in ei-
nem Flüchtlingsheim und stellte einen Antrag
auf Asyl. Das Frankreich-Vorhaben wurde erst-
mal für längere Zeit auf Eis gelegt.
Powision: Wurde dein Antrag gebilligt?
Hiva: Nach einem Monat wurde mein
Asylantrag abgelehnt und ich wurde nach
Leipzig in ein anderes Wohnheim geschickt.
Ich nahm ein paar Gelegenheitsjobs an und
konnte mir so einen Anwalt leisten, um gegen
die Ablehnung zu klagen. Zweieinhalb Jahre
später wiesen mir die Behörden den Status
„Geduldeter" zu. Ich war fortan einer von
Die Aufschiebung der AbschiebungGlücksphantasien im Spätkapitalismus
23
knapp 200.000 Menschen in Deutschland, de-
ren Abschiebung in die unsichere Zukunft ver-
schoben wurde.
Powision: Was glaubst du, was geschehen
würde, wenn du zurück in den Iran geschickt
würdest?
Hiva: Meine Familie hatte schon damals Angst
um mich, da ich politischer Aktivist war und
an vielen regimekritischen Demos teilge-
nommen hatte. Eine Abschiebung würde ei-
nen offiziellen Weg nehmen, d.h. ich würde
ins Fadenkreuz der iranischen Behörden al-
lein schon deswegen geraten, weil ich hier
politisches Asyl beantragt habe. Seitdem die
Reformisten abgehauen sind und sich der fun-
damentalistische Flügel des Regimes in der
Atom-Frage mit den USA und ihren europäi-
schen Verbündeten anlegte, werden die staat-
lichen Repressionen gegen Abweichler und
Regimekritiker immer schärfer. Gerade im
Moment leben politisch Engagierte jeglicher
Couleur in Iran sehr gefährlich: Menschen ver-
schwinden einfach, werden eingekerkert, ge-
foltert oder auf offener Straße erhängt. Selbst
angesehene Wissenschaftler und Journalisten,
die im Ausland politisch tätig waren, kamen
nach ihrer Rückkehr in die Fänge der irani-
schen Sittenwächter. Ich könnte also bei einer
Abschiebung mit einer langen Haftstrafe oder
Schlimmerem rechnen.
Powision: Wie würdest du deine
Lebensbedingungen in Leipzig beschrei-
ben, vor allem in Bezug auf deinen Status als
„Geduldeter"?
Hiva: Ich unterliege einer so genannten
Residenzpflicht, das bedeutet, dass ich mich
innerhalb der Zone 1 in Leipzig aufhalten
muss. Ich kann also mit der Tram nicht ein-
mal bis zur Endstation fahren, wenn diese
außerhalb des Stadtgebietes liegt. Neben der
Übernachtung stellt mir das Wohnheim kos-
tenfreie Essensversorgung. Darüber hinaus
bekomme ich 48 Euro im Monat zur freien
Verfügung. Das muss dann für alles reichen,
auch für Kleidung.
Powision: Wie ist die Arbeitssituation als
„Geduldeter"? Bietet Arbeit eine Chance, die-
sen Status zu überwinden?
Hiva: Ich besitze als Geduldeter keine
Arbeitserlaubnis. Die einzige Möglichkeit,
die ich habe, sind so genannte nachrangi-
ge Arbeiten. Das sind schlecht bezahlte Jobs,
die sonst wohl niemand übernehmen wür-
de, sodass keine Konkurrenz auf dem „echten"
Arbeitsmarkt entsteht. Auch sind die Angebote
gering, gerade wenn man die Stadt nicht ver-
lassen darf.
Schwarzarbeit scheint für Leute in
meiner Lage die einzige Möglichkeit zum
Gelderwerb. Doch die Bezahlung ist noch
schlechter, verhandeln ist hier kaum mög-
lich. Ein Stundenlohn liegt bei 2 Euro. Zudem
ist man extremer Willkür ausgesetzt, da die
Situation von vielen „Arbeitgebern" ausge-
nutzt wird. Manche glauben in einem perma-
nenten Arbeitsverhältnis eine Chance zu se-
hen, irgendwann als vollwertiger Bürger an-
erkannt zu werden. Sie nehmen hohe Risiken
auf sich und arbeiten für Hungerlöhne. Das
große Problem bei der Duldung ist die enor-
me Unsicherheit: Es gibt Menschen, die le-
ben schon seit zehn Jahren als „Geduldete" in
Deutschland. Sie leben ständig in der Gefahr
abgeschoben zu werden.
Powision: Was wären denn potentielle
Arbeiten, die du auf legalem Wege annehmen
dürftest?
Hiva: Beispielsweise die Arbeit auf einem
Hühnerschlachthof. Hier kann man im re-
gulären Betrieb jedoch nur befristet arbei-
ten. Der einzige Job, der nach 6 Monaten
eine Aufstiegschance zulässt, ist derart ge-
sundheitsschädlich, dass ihn niemand so lan-
ge durchhält: Die noch lebenden Hühner müs-
sen draußen in ein Fließband gehangen wer-
den, was zum einen eine starke Belastung
für den Rücken bedeutet, da man die gleiche
Bewegung den ganzen Tag ausführt. Zum ande-
ren erhält kein Arbeiter schützende Kleidung,
was bei den auftretenden Gasen zu erhöhtem
Asthmarisiko oder Lungenkrankheiten führen
kann. Überstunden sind an der Tagesordnung
und werden grundsätzlich nicht ausgezahlt.
Eine Chance dagegen zu protestieren habe ich
nicht, da ich keinerlei Arbeitnehmerrechte ge-
nieße und der Versuch, sich gewerkschaftlich
zu organisieren, die Entlassung bedeuten wür-
de. Zwar ist die Bezahlung mit 5,80 Euro nicht
24
so schlecht, doch entfällt in diesem Fall jegli-
che Unterstützung durch das Sozialamt. Kein
Geld, kein Essen und keine Sozialwohnung
mehr. Dazu kommen natürlich noch die täg-
lichen Fahrtkosten, so dass auch hier letzten
Endes nicht viel übrig bleibt.
Powision: Wie wurdest du von der hiesi-
gen Gesellschaft aufgenommen? Fühlst du
dich als Mensch respektiert oder hast du mit
Vorurteilen und Diskriminierung zu kämp-
fen?
Hiva: Ich habe viele nette Menschen hier ken-
nen gelernt und einige davon sind auch mei-
ne Freunde geworden. Dennoch gilt, dass man
als Mensch, dem augenscheinlich nicht deut-
sches Blut durch die Adern fließt, mit dis-
kriminierender, teilweise herabwürdigender
Behandlung rechnen muss. Die Gängelung und
massive Einschränkung meiner Freiheit durch
staatliche Behörden, die Demütigung durch die
Grenzpolizisten und bei vielen Arbeitsstellen
im nachrangigen Arbeitsmarkt sind klare
Indizien dafür, dass es offizielle und gesell-
schaftliche Maßstäbe gibt, an denen der Wert
eines Menschen abgelesen wird. Es gibt aber
auch die andere Form von Rassismus, den po-
sitiven Rassismus. Natürlich scheint das auf
den ersten Blick weniger bedrohlich zu sein als
der negative. Dennoch wird auch hier eine kla-
re Trennlinie zwischen Menschen gezogen und
‚Menschentypen’ generiert, die ganz bestimm-
te Eigenschaften aufweisen – ob diese nun po-
sitiv oder negativ zu bewerten sind liegt dann
im Auge des Betrachters. Die Nähe zum negati-
ven Rassismus ist also offentsichtlich.
Powision: Wie sind deine weiteren Pläne?
Wirst du Deutschland den Rücken kehren?
Hiva: Ich möchte vorerst in Leipzig bleiben.
Mein Wunsch wäre es an der Universität eine
Geisteswissenschaft zu studieren und darüber
hinaus meine verschiedenen Sprachkenntnisse
zu vertiefen. Eine handwerkliche Ausbildung
könnte ich mir auch gut vorstellen. Mit einem
Status als „Geduldeter" bleibt das aber bloß
Wunschdenken. Ich kann so gut wie nichts
machen.
DIE FRAGEN STELLTEN:
DANIEL MÜTZEL UND FLORIAN BARTH
25
In die folgende Darstellung wird das Leipziger
„Sonntagsgespräch“ vom 29. April 2007 zum
Thema „Der Völkermord an den Armeniern“ mit-
einbezogen. Den Vortag hielt Prof. Dr. Mihran
Dabag von der Ruhr-Universität Bochum, die
Moderation übernahm Prof. Dr. Georg Meggle
von der Universität Leipzig.
Die Bezeichnung des Genozids an den
Armeniern als eben solchen gilt in bestimmten
Diskursen immer noch als ‚extreme’ Position.
Die Vernichtung des westarmenischen Lebens
in den Jahren 1915/16 war keineswegs, wie
oft behauptet, etwa Ergebnis einer mehr
oder weniger zufälligen Affekthandlung, son-
dern Ergebnis einer genauen Planung. Die
Opferzahlen sprechen für sich: nach unter-
schiedlichen Angaben bis zu 1,5 Millionen
Toten. Nach Aufständen, hervorgerufen durch
das Unabhängigkeitsstreben der Westarmenier,
wurde mit einer „Gegenoffensive“ der Türkei
ein Völkermord verübt, der bis heute nicht
verarbeitet ist. So war der Genozid nach Dabag
der Versuch, die neue türkische Identität
des Turanismus durch islamisch-orientali-
sche Imperialismus-Aspekte und einen „neu-
en Nationalismus“ möglichst konsequent zu
kreieren. Das aktive politische Gestalten des
Panturkismus, einer „Integrationsideologie“,
wurde seitens der Jungtürken konse-
quent betrieben: Ein Volk sollte entstehen,
durch eine gemeinsame Sprache, Kultur,
Wissenschaft und Wirtschaft. Auch durch
das gezielte Ausschalten von vielen Eliten
und der Opposition hat es das Regime ge-
schafft, die türkische Identität in Form ei-
ner nationalen Großreichs zu verwirklichen.
Der Islam diente hierbei als Mittel, die Einheit
der Türkei herzustellen, „Turkistan“ zu schaf-
fen. So wurde die islamische Kultur des os-
manischen Reiches in die neue Nation aufge-
nommen, obschon der Abgrenzung willen be-
wusst offensichtliche Aspekte des arabischen
Kulturlebens negiert wurden (Schrift, Sprache
etc.). Als Begründung des Genozids gaben die
Verantwortlichen eine Handlung für die na-
türliche Identität an; eine Transformation
in Kürze (also quasi in der Biographie eines
Einzelnen) wurde verlangt und schließlich
auch erreicht. Dass damit der gänzliche Verlust
der armenischen Identität und Geschichte be-
siegelt wurde, kommt in den seltensten Fällen
zur Sprache. Es soll hier auch nicht verschwie-
gen werden, dass die Armenier stolz darauf
sind, dass das Land um 301 als erstes der Welt
das Christentum zur Staatsreligion erhoben
hatte. Die Kriege indessen gegen Christen sei-
tens der Muslime begannen schon vor beinahe
1000 Jahren. Bei Kettermann liest man: „1071
vernichtet Alp Arslan die byzantinische Armee
bei Mantzikert; dadurch ist Anatolien für die
türkische Landnahme frei.“1
Identitätsmuster einer Gemeinschaft
werden, so Mihran Dabag weiter, immer wie-
der reformiert; der Referenzrahmen für eine
kollektive Identitätsbildung Armeniens ist also
seit dem Völkermord im Wandel. Folglich wird
die heutige armenische Identität aufgrund
(und nicht etwa trotz!) des Genozids gelebt.
Die rigorose Leugnung des Völkermords
an den Armeniern ist lediglich ein
Definitionsversuch, aber eine klare Rekon-
struktionsverhinderung der Tatsachen.
Demgemäß ist Dabags Hauptthese, dass die
Leugnung des Genozids dessen tatsächliche
Fortsetzung bedeutet. Heute steht folglich die
armenische Diasporagemeinschaft der „neuen
türkischen Nation“ nach wie vor unversöhn-
lich gegenüber.
Im März 2005 gab es auf Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion2 eine Debatte im
Deutschen Bundestag anlässlich der neunzigs-
ten Jährung des Beginns des Völkermords. Die
damalige Bundesregierung wurde dazu aufge-
rufen, die Versöhnung zwischen Türken und
Armeniern aus historischer Verantwortung
voranzutreiben. Die Worte ‚Völkermord’ oder
‚Genozid’ wurden in der Debatte möglichst pa-
raphrasiert. Diese Art der Sprachpolitik, in wel-
Nationalismus als KonstruktEine kurze Skizze zur Debatte um den Völkermord
an den Armeniern
26
cher sich vor allem Vorsicht und Unsicherheit
zeigen, verdeutlicht den Begriff „Völkermord“
als eine Rechtskategorie. Denn damit ergeben
sich Konsequenzen, die der Türkei einiges ab-
verlangen würden. Die Türkei, als eigentlich
laizistischer Staat, hat durch die Konstruktion
von Nationalismen erst eine relative Einheit
herstellen können - über den Islam und
mit ihm. Die türkische Anerkennung des
Völkermords an den Armeniern würde wohl
die Identität des Staates verändern, weil kei-
ne Konformität mit der Verfassung herge-
stellt werden kann. Die Präambel der tür-
kischen Verfassung3 konstatiert indirekt
die Nichtexistenz von Minderheiten, folg-
lich werden diese auch nicht geschützt.
Andersdenkende und Andersgläubige pas-
sen nicht in die neue Norm. Dennoch hat
sich die Türkei vor nunmehr 80 Jahren in
den Lausanner Verträgen verpflichtet, dass
„All inhabitants of Turkey shall be entitled to
free exercise, whether in public or private, of
any creed, religion or belief, the observance of
which shall not be incompatible with public
order and good morals” (Art. 38).4
Und um den fragwürdigen Beitritt der
Türkei zur Europäischen Union in den Diskurs
mit einfließen zu lassen, vertritt Dabag
die Auffassung, dass die Anerkennung des
Völkermordes seitens der Türkei zu einer der
Vorbedingungen des Beitrittsvorgangs gemacht
werden sollte. Ist die Europäische Union als
Ganzes bereit, den Westarmeniern, als Opfer
dieser Katastrophe, deren Recht auf Geschichte
zuzugestehen, und sie als Genozidopfer anzu-
erkennen? Man könnte die EU als Familie be-
titeln und nach der Familientauglichkeit po-
tentieller Mitglieder fragen, statt Wesentliches
wissentlich auszublenden. Ist es verständlich,
dass beschwichtigende, als „Appeasement“ be-
zeichnete Politik, angewandt wird, um die tür-
kische Staatsführung nicht zu kränken? Zwar
wurden durch das Europäische Parlament ent-
sprechende Beschlüsse5 gefasst, doch mehr
ist nicht geschehen. Außer vielleicht, dass
Bundeskanzler Gerhard Schröder dem türki-
schen Ministerpräsidenten Erdogan am Tag
der deutschen Einheit 2004 in Berlin eine
„Quadriga“ in Kleinformat überreichte. Ein
höchst beachtenswerter Vorgang.
Anstelle einer selbstkritischen Demut,
wie sie spätestens seit Bonifatius abendlän-
dische Tradition ist, wird dieses Massaker ge-
leugnet, und zwar rigoros.
Sollte ein übersteigerter Stolz- und
Ehrbegriff hinreichend sein als Legitimation
für das Stillschweigen vieler Europäer? Wie
lange kann ein beständiger Nationalismus
noch auf so viel Offenheit und Toleranz bau-
en?
Bleibt der Verweis auf den Theologen
Johannes Lepsius6, der mit seinem Lebenswerk,
dem Armenische Hilfswerk, einen wesentli-
chen Beitrag zu andauernder Wahrnehmung
und letztlich auch Verständnis der christli-
chen Armenier geleistet hat. Vielleicht kann
es gelingen, die Wichtigkeit von Diskurs über
Dissens zumindest doch zu akzeptieren, besser
noch Farbe zu bekennen. In Leipzig hat man
beim „Sonntagsgespräch“ wenigstens den nö-
tigen Mut dazu bewiesen, was nicht zuletzt
die obligatorische Polizeipräsenz während der
Veranstaltung indizierte.
1 Kettermann, Günter: Atlas zur Geschichte des Islam. Darmstadt, 20012 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/49333 http://www.tuerkei-recht.de/Verfassung2005.pdf 21.6.20074 http://net.lib.byu.edu/~rdh7/wwi/1918p/lausanne.html 21.6.20075 http://www.europarl.europa.eu/intcoop/euro/jpc/turk/history2004_turkey_de.pdf 21.6.20076 Lepsius, Johannes: Deutschland und Armenien 1914-1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919
JULIAN-CHRISTOPHER MARX
27
Es ist paradox: Auf der einen Seite for-
dert die Mehrheitsgesellschaft von Migranten
mehr Integrationswillen – gleichzeitig sinkt
aber die Bereitschaft der Mehrheit, sie als
Gleiche unter Gleichen zu akzeptieren. Wenn
sich etwa Muslime weder politisch noch be-
ruflich integrieren können, bleibt als letz-
tes Kapital, über das sie verfügen können, die
Religion. Dann aber darf die Religion niemand
kritisieren, weil sie ja die letzte Ressource
ist, die deshalb unbedingt verteidigt wer-
den muss. Dies erzeugt Abschottung und ver-
hindert selbstkritische Entwicklungen. Die
Mehrheitsgesellschaft ist an diesem Prozess
also durchaus beteiligt.
Wir wissen aus wissenschaftlichen
Untersuchungen der letzten Jahre: je größer
die Integrationschancen, desto geringer die
Anfälligkeit für autoritäre Muster und islami-
sche Ideologien.
Kaum jemand spricht aber ernsthaft
darüber, wie wenig Migrantenjugendliche
gerade mit muslimisch gepräg-
tem Hintergrund einen Abschluss
oder einen Ausbildungsplatz erhalten.
Die Bildung von Identitäten und
Identifikationen vollzieht sich oft als kom-
plexer und von Schwierigkeiten beglei-
teter Prozess mit vielfältigen Brüchen
und Umkehrmöglichkeiten. Vielfältige
Integrationsprobleme, ob in Arbeitsmarkt,
Schule oder öffentlichem Leben, deuten gar
auf eine Abkehr vom Integrationsprozess
hin. Soziale und kulturelle Konflikte im
Zusammenleben scheinen sich zu häufen.
Der Religion (Islam) kommt da-
bei offenkundig große Bedeutung zu.
Die Integration muslimisch geprägter
Zuwanderer und somit auch ihrer Religion
ist für Deutschland, anders als für manch
anderes europäisches Land mit koloni-
aler Vergangenheit, eine vergleichswei-
se neue Entwicklung und Herausforderung.
Wir haben es heute in der deutschen Gesellschaft
mit einer Wertepluralisierung zu tun. Also
nicht mit einem Wertezerfall, sondern mit ei-
ner Konkurrenz von alten Werten mit neuen.
Diese Wertepluralisierung schafft mehr
Freiheiten. Aber dieser Freiheitsgewinn
ist nicht kostenlos. Das wird oft unter-
schätzt, gerade bei Jugendlichen, die mit
der Frage konfrontiert sind, welche Werte
und Normen gelten, etwa bei Gewalt.
Werte müssen in Konflikten miteinander aus-
gehandelt werden. Denn sie verstehen sich
nicht mehr von selbst.
Genau an diesem Punkt sind wir
jetzt in Deutschland angelangt. In den
deutschen Medien und Politik missdeu-
ten aber manche diesen Prozess völlig.
Angeblich tobt jetzt wieder ein Kulturkampf.
Aber zwischen wem eigentlich?
Es ist allein ein Kampf der Ewiggestrigen. Sie
führen diesen Kampf nicht gegeneinander,
sondern gemeinsam – zum Schaden der offe-
nen Gesellschaft.
Fundamentalist wird man nicht durch
einen Glauben, sondern durch eine bestimm-
te Art zu denken oder auch nicht zu denken.
Die Fundamentalisten des Islam füh-
len sich sehr wohl in einer Gegenwart,
in der nicht mehr die Aufklärung und die
Säkularisierung den Diskurs bestimmen sol-
len, sondern das christliche Erbe und die re-
aktionären Denkmuster des 19. Jahrhunderts,
die zur großen europäischen Katastrophe
des 20. Jahrhunderts geführt haben.
Die sakralen Quellen – und zwar – aller mo-
notheistischen Religionen legitimieren nicht
mehr oder weniger Gewalt als die einer ande-
ren monotheistischen Religion. Die Geschichte
kennt genug Gewalt und Unrecht im Namen
Gottes aller monotheistischen Religionen.
Ohne die Aufklärung und Säkularisierung die
in Europa bereits stattgefunden hat, würde die
CDU heute in der gegenwärtigen Diskussion
um die richtige Migrationspolitik sicher-
lich nicht von einer vom „christlichem Erbe“
geprägten „Leitkultur“ sprechen können.
In einer Wirklichkeit, die von einer Vielzahl
an Kulturen, Religionen, Ethnien und
Philosophien geprägt ist, bildet aber eben nur
Kulturkampf, „Leitkültür“ oder Mekka in Deutschland oder was?
28
die Säkularität des Staates Gewähr für ein ge-
deihliches Miteinander.
„Wenn ich mich zu meinem Gastland
bekenne, wenn ich es als das meine betrach-
te, wenn ich der Ansicht bin, dass es fortan
ein Teil von mir ist wie ich ein Teil von ihm,
und wenn ich mich entsprechend verhalte,
dann habe ich das Recht, jeden seiner Aspekte
zu kritisieren; umgekehrt, wenn dieses Land
mich respektiert, wenn es meinen Beitrag an-
erkennt, wenn es mich in meiner Eigenart
fortan als Teil von sich betrachtet, dann hat es
das Recht, bestimmte Aspekte meiner Kultur
abzulehnen, die mit seiner Lebensweise oder
dem Geist seiner Institutionen unvereinbar
sein könnten.“
Mit diesen Worten Umschreibt der in
Frankreich lebende libanesische Schriftsteller
Amin Maalouf „die Integration“ aus der Sicht
eines muslimisch geprägten Migranten.
Integration verändert demnach bei-
de Seiten, die Mehrheitsgesellschaft
wie auch die Zuwanderer.
Amin Maaloufs Umschreibung von Integration
charakterisiert diesen Prozess auf grund-
legende Weise, hat Gültigkeit für alle
Integrationsprozesse im Zusammenhang mit
der Zuwanderung von Menschen, gleichgül-
tig aus welchem Kulturkreis sie kommen und
welches Gastland die Zuwanderer aufnimmt.
Sie zeigt, dass ein Bekenntnis zu einem Land,
dass die Identifizierung mit seinen Werten
und Konventionen einschließlich konstrukti-
ver Kritik an diesen ebenso Bestandteile des
Prozesses der Integration sind wie das Recht
des aufnehmenden Landes, Aspekte der Kultur
der Zuwanderer dann abzulehnen, wenn sie
mit der Lebensweise oder den Institutionen
des aufnehmenden Landes in Konflikt stehen.
Genau für diesen Fall haben wir ein
Grundgesetz. Darin sind die Kernwerte unse-
rer Gesellschaft dokumentiert, die uns zusam-
menhalten.
- Alevitische Gemeinschaft als Teil der de-
mokratischen Gesellschaft -
In der bundesrepublikanischen
Gesellschaft gibt es einen Konsens darü-
ber, dass die absolute Untastbarkeit des
Menschenlebens, die Gleichberechtigung von
Mann und Frau, die Trennung von Staat und
Religion, die gegenseitige Anerkennung der
Religionsgemeinschaften oder Meinungs- und
Glaubensfreiheit unveränderbar und zu ver-
teidigen sind. Von dieser Gesellschaft und
dem Staat können wir nur dann uneinge-
schränkt akzeptiert werden, wenn wir den
im GG festgeschriebenen verfassungsrecht-
lichen Konsens auch für uns akzeptieren. In
diesem Sinne betrachten die in Deutschland
lebenden Aleviten das Grundgesetz
als „gültigen Gesellschaftsvertrag“.
Man muss die liberalen Kreise der Migranten
aus muslimisch geprägten Ländern stärken.
Dazu muss Öffentlichkeit hergestellt werden.
Daran fehlt es. Vor allem darf man nicht ein-
fach Leistungen von Migranten erwarten –
und wenn sie diese erfüllen, gegen die Wand
laufen oder alleine lassen. Das kann erst recht
ein Einfallstor für islamistische Ideologien in
die Community sein.
Unsere „Leitkültür“ ist der Humanismus,
der im Grundgesetz der Bundesrepublik
im Art. 1 zum Ausdruck kommt:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Das Alevitentum ist keine missiona-
rische Religion oder Glaube. Die alevitische
Gemeinde Deutschland ist bereit ihrer gesell-
schaftlichen Verantwortung gerecht zu wer-
den. Wir stehen mehr denn je für einen inter-
religiösen und politischen Dialog mit allen ge-
sellschaftlichen Gruppierungen zur Verfügung.
„Der Weg ist das Ziel.“
ALI ERTAN TOPRAK
29
Robert Misik [österreichischer Journa-
list, Anm. d. Red.], der schon als Marxist auf
die Welt gekommen und es bis heute geblie-
ben ist, brachte eine neue Allzweckwaffe aus
dem Arsenal des dialektischen Materialismus
in Stellung: den Begriff „Islamophobie“: „Wer
den Islamismus bekämpfen will, darf sich dar-
um auch nicht ‚weigern’, von der Islamophobie
zu sprechen – schließlich treibt diese ja die
Moderaten in die Hände der Radikalen.“
Unklar blieb, warum es immer die Moderaten
sind, die in die Hände der Radikalen „getrie-
ben“ werden - und nie umgekehrt.
Warum die Riege der Gutmenschen
aus Politik, Medien und Wissenschaft nie
um eine kommode Ausrede verlegen und all-
zeit bereit ist, beide Augen zuzudrücken, ist
einfach zu erklären. Erstens macht es viel
mehr Spaß, sich für die Befreiung Palästinas
und der Gefangenen von Guantanamo ein-
zusetzen, weil man dafür nichts anderes tun
muss, als auf die Straße zu gehen und ein
Poster in die Luft zu halten. Hinzu kommt,
dass solche Aktionen garantiert folgenlos
sind. Kein Demonstrant wäre gehalten, einen
der Gefangenen von Guantanamo bei sich zu
Hause aufzunehmen, mit ihm Tisch, Bad und
Küche zu teilen, um ihm bei der Rückkehr
ins normale Leben zu helfen. Würde er sich
aber mit derselben Intensität um die verletz-
te Menschenwürde der »Importbräute« sor-
gen, hätte er bald deren Männer, Brüder und
Väter am Hals. Ein letzter Rest seiner längst
erloschenen Wirklichkeitswahrnehmung sig-
nalisiert ihm, dass ihm das nicht gut bekäme.
Da unterschreibt er lieber eine Resolution ge-
gen Zwangsprostitution und genießt zwischen
zwei Margaritas das Gefühl, sich ganz toll en-
gagiert zu haben. Es geht also nicht darum, et-
was zu tun, sondern darum, so zu tun, als ob
man etwas täte.
Die „aktive Verweigerungshaltung“,
die Schneider [Peter Schneider, deut-
scher Schriftsteller, Anm. d. Red.] in einem
Teil der moslemischen Gemeinschaft aus-
gemacht hat, findet sich also auch in der
„Mehrheitsgesellschaft“. Wissend, dass es
ein Problem gibt, dem man nicht gewach-
sen ist, entscheidet man sich für aktive
Ignoranz, organisiert Straßenfeste, gemeinsa-
me Gottesdienste zu Mohammeds Geburtstag,
Konferenzen zum Dialog der Kulturen, kurz-
um, man agiert wie der Kapitän der „Titanic“,
der das Bordorchester aufspielen lässt, um den
Passagieren den Untergang so angenehm wie
möglich zu gestalten.
Man könnte natürlich den kleinen
Spielraum, der übrig geblieben ist, auch anders
nutzen. Wenn man kaum noch etwas zu verlie-
ren hat, kann man sich mehr Mut erlauben. Der
Börsenverein des Deutschen Buchhandels hät-
te vor Jahren den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels statt an die „Islamkennerin“
Annemarie Schimmel an den von Islamisten be-
drohten Salman Rushdie verleihen und damit
demonstrieren können, was der Börsenverein
von der Todesfatwa gegen Rushdie hält, die
von Frau Schimmel mit großem Verständnis
kommentiert wurde. Die deutschen Zeitungen
hätten, statt „Jyllands-Posten“ allein zu las-
sen, die Mohammed-Karikaturen nachdru-
cken sollen, nicht nur als eine Kundgebung der
Solidarität, sondern auch als Warnung an den
islamistischen Volkssturm: Ihr könnt toben, so
viel Ihr wollt, wir lassen uns nicht beeindru-
cken und nicht erpressen. Jede Konzession, je-
der Artikel, in dem davor gewarnt wurde, Öl
ins Feuer zu gießen, jede Entschuldigung eines
Politikers oder Firmenmanagers, die sich um
einbrechende Umsätze und Gewinne sorgten,
war eine Aufforderung an den rasenden Mob,
weiter zu machen.
Wie der Genosse Zufall es woll-
te, kamen im Frühjahr 2006 drei mediale
Großevents zusammen: der Karikaturenstreit,
die Diskussion um Ehrenmorde und andere
Familienverbrechen in „Migrantenfamilien“
und die Entdeckung, dass es an vielen deut-
schen Schulen zugeht wie in einem Piranha-
Becken. Allen gemeinsam war, dass sie erstens
um das Thema „Gewalt“ kreisten und zweitens
nichts als Ratlosigkeit evozierten.
Beim Untergang der Titanic ...*
30
Ende März wurde bekannt, dass die
Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln
im Auftrag der Lehrerkonferenz einen Brief
an den Schulsenator geschrieben und ihn ge-
beten hatte, die Schule aufzulösen. In dem
Brief hieß es, ein geordneter Unterricht fin-
de nicht mehr statt, die Stimmung sei geprägt
von Zerstörung, Gewalt und menschenverach-
tendem Verhalten, Lehrer würden ignoriert
und oft auch attackiert, in bestimmte Klassen
gingen sie nur noch mit Handys, um im Notfall
Hilfe holen zu können. Die Belastung sei un-
erträglich geworden, die Schule am Ende der
Sackgasse angekommen, die Lehrer am Rande
ihrer Kräfte.
Der Anteil der Kinder deutscher
Herkunft an der Rütli-Schule, also ohne
Migrationshintergrund“, liegt knapp unter
20 Prozent, der Anteil der Kinder „arabischer
Herkunft“ dagegen bei 35 Prozent, der „türki-
scher Herkunft“ bei 26 Prozent. Wer unter sol-
chen Umständen den Ton auf dem Schulhof
angibt und wer ein „Integrationsproblem“
hat, liegt auf der Hand. Die Schüler deutscher
Herkunft werden als „Schweinefleischfresser“
beschimpft; sie versuchen, sich der Mehrheit
anzupassen, indem sie bewusst gebrochen
Deutsch sprechen, um weniger aufzufallen.
„Das hat es selbst in Berlin noch nicht
gegeben: Verzweifelte Lehrer fordern die Be-
hörden auf, ihre völlig in Gewaltexzessen ver-
sinkende Schule komplett aufzulösen“, staunte
ein Kommentator des Berliner „Tagesspiegel“.
Der „Notruf aus Neukölln“ löste eine
Diskussion über die Zustände an deutschen
Schulen mit einem hohen Anteil an „Mi-
grantenkindern“ aus. […] Selbst der Berliner
Schulsenator war oder tat überrascht. Er habe,
erklärte er, von den Vorgängen erst aus der
Zeitung erfahren. Alle fragten: Wie konnte es
so weit kommen? Was ist nur schief gelaufen?
Und was muss jetzt unternommen werden, da-
mit es nicht noch schlimmer wird.
Es war eine jener redundanten
Debatten, wie sie immer wieder in unregel-
mäßigen Abständen ausbrechen, mal über die
Leitkultur, mal über den Patriotismus und mal
eben über die Gewalt an den Schulen. Aber
diesmal war ein Detail anders. Man sprach
nicht nur über den „Migrationshintergrund“,
es wurden auch die beteiligten Ethnien beim
Namen genannt. „Früher haben die Türken die
Afrikaner gejagt“, erzählte ein Anwohner einer
Berliner Zeitung, „jetzt jagen die Araber die
Türken“. […]
Ein anderer Fall machte die Grenzen
der Polizeigewalt deutlich. Ein 15-jähriger
deutscher Schüler wurde eine Woche lang
von der Polizei zur Schule begleitet, nach-
dem er von einem 13-jährigen arabischen
Mitschüler bedroht und von dessen Clique
verprügelt worden war. Die Täter, berichte-
te der „Tagesspiegel“, gehörten einer bekann-
ten arabischen Gang an, „die seit Jahren den
Kiez terrorisierte“. Warum die Polizei den
deutschen Schüler auf dem Schulweg schütz-
te, statt die seit Jahren ihr Unwesen treiben-
de Gang von der Straße zu holen, blieb un-
geklärt. In Kreuzberg kann es vorkommen,
dass Polizisten, die einen Jugendlichen mit
„Migrationshintergrund“ festnehmen wollen,
sich zuallererst mit seiner Gang rumschlagen
müssen, die die Festnahme verhindern will.
Alles in allem wurden im Jahre 2005 ge-
nau 849 Fälle von Gewalt an Berliner Schulen
gemeldet, wobei nicht alle so spektakulär wie
die in Neukölln und Charlottenburg waren.
2006 dürften es nicht weniger werden. […]
*Auszug aus: „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“ von Henryk M. Broder. Erschienen 2006 im wjs-Verlag, Berlin. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
HENRYK M. BRODER
31
Wir machen ein Gedankenexperiment:
Stellen wir uns vor, wir leben in einem schö-
nen fernen Land nach althergebrachter vä-
terlicher Tradition. Unsere Moral, unsere
Wertsphären und unsere Institutionen sind
über viele Generationen erarbeitet und funk-
tionieren. Doch etwas ist anders, ist neu, ist
verändert. Unsere Interaktionen mit ande-
ren althergebrachten Welten haben sich in-
tensiviert; leider mehr forciert als gewollt.
Nun gibt es unter diesen anderen entwickel-
ten Welten eine dominante. Diese sieht das ge-
nauso wie wir: Alles funktioniert und ist ent-
standen durch harte, jahrhundertelange, gene-
rationsübergreifende Arbeit. Nur leider denkt
sie, dass sie – eben weil sie die dominante ist –
auch die richtige ist. Dies versucht sie mit ein-
deutigen Mitteln allen anderen Welten eben-
so klar zu machen. Die Mittel, derer sie sich
bedient, sind ein Militäretat, der zwei Drittel
der Militärausgaben des gesamten Planeten
entspricht. Davon wird der Großteil in zu-
kunftsträchtige militärische Forschung in-
vestiert. Sie verfügt über ein Heer von meh-
reren Millionen „Kriegern“, welche mit der
modernsten Ausrüstung ausgestattet sind:
Nachtsichtgerät, Infrarotsichtgerät, mobile
Dronen, fast rückstoßfreie Maschinengewehre,
die neusten atmungsaktiven Stoffe, allgelände-
taugliche und sichere Fahrzeuge mit moderns-
ten Zielerfassungsgeräten und punktuell tref-
fenden, automatischen Waffen. Des Weiteren
erfreuen sich diese „Krieger“ der schnells-
ten und effizientesten Logistik der Welt, die
es ihnen ermöglicht auch über 10 000 km
Entfernung den Ort, an dem sie sich befinden,
in ihre althergebrachte, hart erarbeitete Welt
zu transformieren.
Sie sind von der Richtigkeit ihrer
Moralvorstellungen so überzeugt, dass die
Motivation dieser „Krieger“ keinen Vergleich
findet. Diese Motivation spiegelt sich wieder
in der blinden Befolgung der Befehle, die in
Echtzeit aus ihrer Welt in alle anderen Welten
exportiert werden können. Ein System, so ef-
fizient, dass innerhalb von 100 Stunden die
drittstärkste Armee auf diesem Planeten be-
zwungen werden konnte. Nicht nur auf dem
Land sondern auch zu Luft und zu Wasser ha-
ben sie diese Vorherrschaft.
Was tun wir nun? Wir wollen unsere
Lebensweisen, unsere hart erarbeitete Welt
erhalten. Mit konventionellen militärischen
Mitteln können wir nichts erreichen. Was
bleibt uns noch? Welcher Weg kann uns erhal-
ten? Welcher Weg kann uns retten?
Interessantes Experiment?!
Offen gesprochen, wir leben in einer
Zeit, in der in unserer Welt Publikationen zir-
kulieren, die vor unserer Kapitulation warnen.
Befinden wir uns denn im Krieg? Wir kämp-
fen gegen vermeintliche Extremisten, wes-
halb wir mit ihnen nicht verhandeln können
und dürfen. Nur leider sehen sich Extremisten
nicht als solche. Ob RAF, ETA, PLO, IRA oder
Al Quaida, alle sehen sich als Krieger und da-
mit als Soldaten. Soldaten einer Welt, die der-
selben Funktion unterliegt wie unsere. Zwar
mögen der Schein und die Anwendung von
Mitteln für uns befremdlich oder gar erschre-
ckend wirken. Dennoch ändert dies nie etwas
an der jeweiligen Funktion und an dem jewei-
ligen Zielmechanismus, der dahinter steckt.
Vielleicht sollten wir nicht kapitulieren, aber
vielleicht sollten wir unseren Standpunkt nicht
als Absolutum oder als Endgültigkeit empfin-
den, schon gar nicht als richtig. Wir kapitu-
lieren nicht, sondern verhandeln. Verhandeln
von Angesicht zu Angesicht, als unterschied-
liche aber gleichwertige Partner, um zu einer
Lösung zu kommen. Wenn wir uns schon auf
Grund harter, jahrhundertelanger, generati-
onsübergreifender Arbeit die Klügeren schimp-
fen, dann muss für uns die Devise sprichwört-
lich lauten: Der Klügere gibt nach.
KEN P. KLEEMANN
LaLa-Land
32
Ein Gespenst geht um in der west-
lichen Hemisphäre – das Gespenst des
Kulturrelativismus. Es durchwaltet die
Seelen von Globalisierungsgegnern, linken
Gewerkschaftern, Friedensbewegten, Anti-
Imps und gutmenschelnden Sozialdemokraten.
Sie alle haben sich unter die gemeinsame Fahne
des Anti-Bellizismus vereinigt und kämpfen
spätestens seit Afghanistan 2001 in trauter
Einigkeit gegen „Kriegstreiberei" und „impe-
rialistische Weltpolizisten". Die dort zirkulie-
renden Meinungen reichen von einem intuitiv
hergeleiteten Pazifismus, über einem sich an-
tifaschistisch dünkenden Anti-Imperialismus
bis hin zum postmodernistisch gestützten, ra-
dikalen Kulturrelativismus. Ihnen allen ge-
mein ist die Aversion gegen die dominan-
te Position der USA auf dem weltpolitischen
Parkett, die – so die Unterstellung – mit mis-
sionarischem Aufklärungseifer und zivilisa-
torischer ‚Arroganz’ ein kulturexpansionisti-
sches Infiltrationsprogramm verfolgen, dass
sich mal in Kriegen, mal in der Schaffung neu-
er Freihandelszonen und Absatzmärkte mate-
rialisiert. In welche argumentationslogische
Aporien, analytische Schwächen und mora-
lische Fallstricke sie sich hierbei verfangen,
wird dabei – häufig aus impulsiven antiameri-
kanischen Ressentiments heraus – leider über-
sehen.
Die Skizzierung eines Weltzusammen-
hangs, der sich aus hochgradig differenzier-
ten Ideenclustern, kulturellen Netzwerken,
Identitäten und Ethnien speist, endet in sei-
ner postmodernen Ausformung in einer
Konstellation von grundsätzlich äquivalen-
ten Werten. Die relativistische Zurückhaltung
bei der Einführung von Beurteilungskriterien
erfordert eine dementsprechende Toleranz
gegenüber allen Identitäten und kulturel-
len Äußerungen. Eine durchaus wohl klin-
gende Idee, gewährt sie doch allen Denk-
und Organisationsformen die Freiheit, sich
nach ihrem Gusto zu entfalten, indem sie
eine universalistisch agierende, ‚arrogan-
te’ Missionierungsagentur theoretisch gar
nicht erst vorsieht. Problematisch jedoch
wird der heimelige Multikulturalismus,
wenn der Wert der Wertfreiheit selbst, wel-
cher erst die Freiheit der Gleichbehandlung
verbürgt, ins Fadenkreuz spezifischer
Entfaltungsprogrammierer kommt. Die res-
sentimentgeladene Fixierung auf eine angeb-
lich neokolonialistische Hegemonialkultur
aus dem reichen Westen trübt dabei den auf-
merksamen Blick auf die Bedrohung aus dem
Nahen Osten. Bin Laden bringt in einem Brief1
an die Vereinigten Staaten das Selbstbild der
Islamisten auf den erschreckenden Punkt:
"You [die USA, D.M.] are the nation who,
rather than ruling by the Shariah of Allah in
its Constitution and Laws, choose to invent
your own laws as you will and desire.”
Spätestens hier wird klar, dass der to-
talitäre Dominanzanspruch islamistischer
Denkmuster nicht mit Opferstilisierungen
und Widerstandsrhetorik erklärt werden
kann. Nicht Reaktion, sondern Aktion ist der
Handlungsmovens der Fundamentalisten.
Nicht der Verzweiflungsakt, sondern ideolo-
gisch infizierte Tötungsabsicht kennzeichnet
in den allermeisten Fällen das islamistische
Attentat.
„Der Islamist zwingt mich, in seiner Welt
als Antagonist aufzutreten und dementspre-
chend auf sein Handeln zu reagieren. Weil
er mich als seinen Feind ansieht, zwingt er
mich, ihn als meinen Feind anzusehen und
erneut in Begriffen zu denken, die ich, als
moderner Europäer, hatte vergessen wollen
[…]."2 Leon de Winter macht deutlich, dass
das Ideal der Gleichwertigkeit aller kulturel-
len Ausprägungen spätestens dann aufgege-
ben werden muss, wenn dieses Ideal und –
in der zwingenden Konsequenz – die Existenz
seiner Träger offensichtlich bedroht werden.
Denn die politische Zielgerade – das zeigt der
oben zitierte Brief islamistischer Gruppen
– ist nach islamisch-fundamentalistischer
Vernichtungslogik binär kodiert: Tod den
Ungläubigen oder totale Unterwerfung unter
das Gesetz der Scharia. Die ehrlichen Makler,
die ihr Heil am Verhandlungstisch suchen, im
Postmoderne Verwirrspiele
33
und ökonomistisch gedachten Ausprägung je-
dem Unterdrückungs- und physischen
Gewaltverhältnis vorzuziehen sind.
Nun lassen sich zwar ideologisch mo-
tivierte Handlungen wie die Unterjochung
der Frau oder die Liquidierung von
Andersdenkenden zu kulturellen Eigenheiten
verklären und mit (ebenso ideologisch moti-
vierter) demokratischer oder andersgearte-
ter Selbstbestimmung philosophisch auf ei-
nen Nenner bringen. Beides sind konstruierte
Wahrheiten, wie der Wertepluralismus selbst
auch. Die Frage ist aber vielmehr eine prag-
matische: Welche Wertvorstellungen sollen
wie viel Platz innerhalb einer Gesellschaft ein-
nehmen, um welchen sozialen Funktionen ge-
recht werden zu können. Reibungsflächen ent-
stehen erst bei universalistisch angelegten
Wertkonstellationen, was Hierarchisierungsalg
orithmen erfordert, um die Selektion der Werte
zu regulieren. Der humanistisch motivierte
Kulturrelativismus muss sich also fragen, ob
es nicht Werte gibt, die über anderen Werten
gelten sollten, ob nicht Gleichberechtigung
von Mann und Frau, Meinungs- und
Entfaltungsfreiheit, Abwesenheit von institu-
tionalisierten physischen Zwangsverhältnissen
über Werten wie Gleichwertigkeit kultureller
Äußerungsformen stehen sollten. Eine sinn-
volle Strategie der Bekämpfung des aggressi-
ven Totalitarismus islamistischer Provenienz
erfordert also Zweigleisigkeit: Zum einen das
Abschürfen moderater Kräfte, machthungri-
ger Opportunisten und der vielen Fähnchen im
Wind, bei denen klassische Erklärungsmuster
wie Hunger und Verzweiflung durchaus
ihre Berechtigung haben. Zum anderen die
Sich-Vergegenwärtigung der konfrontati-
ven totalitären Gewaltideologie, der nichts
Abschürfbares oder Verhandelbares anhängt
und auf die mit dementsprechenden Mitteln
reagiert werden muss.
kommunikativen Austausch der Lebenswelten
unter gleichberechtigten Diskussionspartnern,
vergessen dabei leicht, dass viele Islamisten
gar nicht an Verhandlungen interessiert sind.
Sie sind nicht durch Wutmanagement und
round-table-Diskussionen zur ‚Vernunft’ zu
bringen. Beinahe paradigmatisch ist der Mord
an den dänischen Regisseur Theo van Gogh im
Jahr 2005, der Augenzeugen zufolge bis zuletzt
versuchte, mit seinem Mörder, Mohammed
Bouyeri, zu diskutieren. „Natürlich können
wir darüber diskutieren", sagte dieser, wäh-
rend er unablässig Kugeln in van Goghs Körper
feuerte. „Wir reden doch darüber!"3
Wer sich den offenkundig totalitären
Zielsetzungen des politischen Islams analy-
tisch verschließt, gerät zwangsläufig auch in
logische Aporien. Ein Relativismus politischer
Ideen, radikal und konsequent an sein Ende
gedacht, mündet in eine Art darwinistischen
Existenzkampf, eine natürliche Auslese von
Ideen, in deren Verlauf die tüchtigen (totalitär-
expansionistischen) Ideen die untüchtigen (to-
lerant-passiven) ausmerzen. Er trägt also inso-
fern einen inneren Selbstwiderspruch in sich,
als dass er zwangsläufig zu seinem eigenen
Totengräber wird. Die Verharmlosung der isla-
misch-fundamentalistischen Subalternität zur
bloßen „Differenz" und „Kulturspezifik", wo sie
doch offenkundig expansionistisch und totali-
tär agiert und unverhohlen agitiert, ist analy-
tisch unbrauchbar, realpolitisch brandgefähr-
lich und darüber hinaus moralisch höchst be-
denklich.
War die Agenda der Aufklärung
und der Moderne die „Entzauberung der
Welt" (Horkheimer/Adorno), so exeku-
tiert die Postmoderne programmatisch die
„Entzauberung der Entzauberung" (Schmidt-
Salomon), welche an die Stelle eines objekti-
vierten Wertekatalogs das Dogma der morali-
schen Beliebigkeit setzt. Wer einem verabso-
lutierten Relativismus frönt, nimmt sich die
Freiheit für die Gleichsetzung von bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaften mit faschisto-
iden Unterdrückungsregimen. Man braucht
kein Apologet bürgerlicher Verhältnisse und
Ideale zu sein, um zu erkennen, dass Freiheit
und Gleichheit – so verzerrt, beliebig und
nichtssagend die Begriffe auch sein mögen –
selbst in ihrer bürgerlichen, formaljuristischen
1 http://observer.guardian.co.uk/worldview/story/0,,845725,00.html (letzter Zugriff 28.06.07)2 http://www.cicero.de/97.php?ress_id=1&item=230&aktion=blaettern&teil_num=1&teil_gesamt=12 (letzter Zugriff 28.06.07)3 http://www.benadorassociates.com/article/16672 (letz-ter Zugriff 28.06.07)
DANIEL MÜTZEL
34
In der Vorabfassung des kürzlich
veröffentlichten Verfassungsschutzbe-
richts 2006 wird man unter dem Stichwort
„Leipzig“ an acht Stellen fündig. Im Kapitel
„Rechtsextremistische Bestrebungen
und Verdachtsfälle“ wird Leipzig ein-
mal im Zusammenhang mit den neonazis-
tischen Demonstrationen des Hamburgers
Christian WORCH erwähnt und zweimal im
Zusammenhang mit der Polemisierung Michel
Friedmans durch das NPD-Mitglied Jürgen
GANSEL anlässlich des Fußball-WM Spiels
Iran-Angola. Die meisten Treffer aber fin-
den sich in der Rubrik „Linksextremistische
Bestrebungen und Verdachtsfälle“.
Deutschlands vergiftete Geister treffen
sich in Leipzig
So gibt es in Leipzig eine – z.T. konspira-
tiv hergestellte und verbreitete – Publikation
aus der autonomen Szene („incipito“), in der
u.a. Taterklärungen, Positionspapiere, Aufrufe
zu Demonstrationen, „Bastelanleitungen“
(Anleitungen zur Herstellung u. a. von Brand-
und Sprengsätzen) und andere für die linksex-
tremistische Diskussion und Praxis relevante
Beiträge veröffentlicht werden (S. 138).1 In der
Region Dresden/Leipzig existieren Gruppen ge-
waltbereiter Linksextremisten (S. 140). Am 1.
Mai waren bis zu 1.500 „Gewaltbereite“ un-
ter den insgesamt 5.000 Personen, die gegen
angemeldete Aufzüge der Rechtsextremisten
Christian WORCH und Steffen HUPKA de-
monstrierten (S. 145). Die „Leipziger Antifa“
(LeA) erklärt im ideologischen Streit zwischen
antideutschen und „traditionalistischen“/
pro-palästinensischen Positionen die
Unvereinbarkeit antizionistischer/antisemi-
tischer Positionen mit antifaschistischen
Positionen (S. 153). Schließlich beteiligten
sich in Leipzig am 3. Oktober mehrere hun-
dert Autonome an einer Demonstration von
insgesamt etwa 3.000 Personen gegen ei-
nen von dem Rechtsextremisten WORCH or-
ganisierten Aufzug (S. 184). Für gewalttäti-
ge Linksextremisten ist Leipzig Aktions- und
Ruheraum zugleich. Das weiß auch WORCH
und kommt deswegen immer wieder nach
Leipzig. Provokation und Reaktion wechseln
sich ab – Leipzig in den Schlagzeilen.
Politisch motivierte Kriminalität
Dabei sind Straßenkrawalle, die im
Rahmen von Demonstrationen oder im
Anschluss daran provoziert werden, eine ty-
pische Form autonomer Gewalt. Wenn von
1.500 „Gewaltbereiten“ die Rede ist, schlägt
sich das oft auch in einer hohen Zahl von
Gewalttaten nieder. Das Bundeskriminalamt
(BKA) registriert diese Gewalttaten mit extre-
mistischen Hintergrund im Definitionssystem
„Politische motivierte Kriminalität – links“. Als
politisch motiviert gilt eine Tat insbesonde-
re dann, wenn die Umstände der Tat oder die
Einstellung des Täters darauf schließen las-
sen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund
ihrer politischen Einstellung, Nationalität,
Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Reli-
gion, Weltanschauung, Herkunft, sexuel-
len Orientierung, Behinderung oder ihres äu-
ßeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesell-
schaftlichen Status richtet. Die Mittel zur
Durchsetzung politischer Ziele gewaltbe-
reiter Linksextremisten reichen dabei von
Gesetzesverletzungen über Gewalt gegen po-
litische Gegner bis hin zu vielfältigen militan-
ten Aktionsformen. Für das Land Sachsen re-
gistrierte das BKA zwar einen Rückgang von
Gewalttaten mit extremistischen Hintergrund
aus dem Bereich „Politische motivierte
Kriminalität – links“ (2006: 93, 2005: 108), al-
lerdings reicht es für den Freistaat nach Berlin
und Hessen immer noch für die dritte Stelle
in der Statistik (fünfte Stelle bezogen auf
Einwohnerzahl).
Anti, Anti, Anti…
Unter den gewaltbereiten Linksextre-
misten stellen jene, die sich selbst als Autonome
bezeichnen, den weitaus größten Anteil.
Obwohl die Bewegung der Autonomen nicht
„Autonome Bewegungen“:Politischer Extremismus von links
35
homogen ist, propagieren sie doch gemeinsame
Vorstellungen eines freien, selbstbestimmten
Lebens in „herrschaftsfreien Räumen”, die sich
durch die Abwesenheit „struktureller Gewalt”
(= staatliches Gewaltmonopol) auszeichnen.
Einen Staat lehnen sie daher als „repressiv” ab
und behalten sich das Recht vor, ihn durch die
Anwendung von Gewalt zu überwinden.
Dringender Forschungsbedarf
Zur Psychologie der Autonomen ist
auch 25 Jahre nach ihrer Formierung we-
nig bekannt. Was treibt Menschen in autono-
me Bewegungen? Welche Rolle spielt (kollek-
tive) Gewalt? Unter welchen Bedingungen lö-
sen sich Menschen aus der autonomen Szene?
In der Tat hat sich die Forschung mit diesem
Phänomen bislang kaum beschäftigt. Dabei
ist das Verständnis dieser Fragen wichtig, um
Kriminalität durch vorbeugende Maßnahmen
einzudämmen, das Sicherheitsgefühl
der Bürger zu verstärken und die durch
Kriminalität entstandenen Schäden zu verrin-
gern. Es besteht ein dringender empirischer
Forschungsbedarf.
Mehr aber als durch diffuse anarchisti-
sche und kommunistische Ideologiefragmente
ist das Selbstverständnis von Autonomen
durch Anti-Einstellungen geprägt („antikapita-
listisch”, „antifaschistisch”, „antipatriarchal”,
„antirassistisch”). Interessanterweise spielt
kollektive Gewalt eine in großem Maße iden-
titätsstiftende Rolle in der Szene obgleich es in
der Tat unzureichend wäre, die Autonomen auf
ihre Gewaltbereitschaft zu reduzieren. Denn
erst die Verbindung von Gewaltbereitschaft
mit der Kultivierung konsequenter Feindbilder
machen Autonome zu Extremisten. Über die
gewaltsame Überwindung des Systems hin-
aus, bieten sie keine weitere „Orientierung”.
Zweck und Mittel verschwimmen in diffusen
Räumen.
1 Die Redaktion erklärt ihre Auflösung am 16.10.2006 (Anm. d. Autors)
MICHAEL KLEMM
„Antirepressionsarbeit und Rote Hilfe [sind] not-wendig, ... um z. B. Revolution zu machen, ‚Antifa heißt Angriff‘ tatsächlich in der Praxis umzusetzen oder ‚Krieg dem imperialistischen Krieg‘ entgegenzusetzen.“ („DIE ROTE HILFE“ 3.2006, S. 19)
36
„Eine andere Welt ist möglich, hieß das
Motto der Demo. Eine Welt ohne Randale
und Gewalt ist es offenbar nicht.“1 Das wa-
ren die letzten Worte des Artikels über die
Großdemonstration der Globalisierungskritiker
und G8 Gegner aus der Leipziger Volkszeitung.
In der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen,
dass „die Ausschreitungen von 2000 bis 3000
schwarz vermummten Gewalttätern begon-
nen wurden, die Steine und Brandtflaschen
auf Polizisten und Fahrzeuge warfen und mit
Latten und Knüppeln prügelten.“2
In den meisten öffentlichen Medien,
vor allem des deutschsprachigen Raumes,
sah die Berichterstattung ähnlich aus.
„Die Polizei hat sich an ihren deeskalieren-
den Kurs gehalten“3, die Gewaltakte wur-
den von den linken Steinewerfern angezet-
telt, die aus ganz Europa angereist sind, um
sich eine Schlacht mit der Polizei zu liefern.
Attac, die grüne Partei, auch der Großteil der
Demonstrationsleitung distanzierte sich von
den Gewaltakten, ja verurteilte sie. Bilder
von brennenden Autos, von eingekesselten
Polizisten, von zerstörten Einkaufspassagen
erreichten die Bildschirme der gesamten
Republik. Die größten Ausschreitungen die das
Nachkriegsdeutschland jemals erlebt hatte.
Doch wo liegt der Ursprung der Eskalation?
Zwei riesige Demonstrationszüge,
deren Teilnehmerzahlen für die meisten
Menschen noch immer um die dreißigtau-
send liegen dürften, marschierten durch die
Stadt, mit dem Ziel sich im Hafengelände
zur Abschlusskundgebung zu vereinen. Am
Hafen angekommen füllte, sich der Platz un-
aufhörlich mit Menschenmassen. Bei genau-
erem Hinsehen fiel ein Polizeiwagen auf, der
zentral auf dem Versammlungsplatz hielt
– eine Provokation? Die Verwirrung wur-
de größer, als man sah, wie zwei vermumm-
te Menschen den Wagen mit Steinen beschos-
sen. Immer mehr Menschen versammelten
sich um den Polizeiwagen, Steine schlugen un-
unterbrochen in das Auto ein, bis der Fahrer
des Wagens entschied die Flucht anzutreten,
indem er den Platz in Schrittgeschwindigkeit
verließ. Der Startschuss für den Straßenkampf
war nun gegeben. Ein ständiges Geben und
Nehmen auf beiden Seiten ließ die eigentli-
che Demonstration mehr und mehr in den
Hintergrund rücken. Demonstranten kesselten
die Polizei ein, warfen riesige Steine und hetz-
ten die Polizisten. Nach kurzen Ruhephasen, in
denen sich die Polizei zurückzog, eskalierte die
Situation immer dann, wenn die Polizisten den
nächsten Vorstoß ausführten. Mit Knüppeln
in der Hand schlugen sie wahllos auf die
Demonstranten ein, die dadurch in immer grö-
ßere Aufruhr gebracht wurden.
Ein surreales Bild zweier Welten über-
schattete das Hafengelände. Auf der einen
Seite versammelten sich friedliche, auch
verängstigte Menschen, die den Reden der
Globalisierungskritiker und der Musik lau-
schen wollten. Menschen tanzten, lachten,
regten sich ab und an über den überwachen-
den Hubschrauber auf, der dem Platz seine
ständige Aufmerksamkeit schenkte. Nur durch
die Redner und den aufsteigenden Rauch wur-
den sie über die Geschehnisse der anderen
Seite informiert. Hier fand ein nicht zu bändi-
gender Kampf zwischen zwei Lagern statt, die
sich gegenseitig ihre Stärke beweisen wollten.
Die Polizei sah sich gezwungen, mit einem ra-
dikalen Schlag in das Herz der Demonstration
die Gewalt zu unterbinden. Mit einem Mal
wurden die beiden Welten mithilfe der Polizei
vereinigt. Mit Wasserwerfern, knüppelnden
Hundertschaften und schwerem Gerät dräng-
ten sie in die friedliche Demonstration vor.
Sogar ein Rollstuhlfahrer, der sich waghal-
sig dazwischen werfen wollte, um das vor-
dringen der Polizei zu verhindern, wurde von
Stockhieben aus seiner Fortbewegungshilfe
gerissen und fiel auf den Boden. Die Polizei
stürmte in die friedliche Menge, hinter-
ließ Spuren der Angst in den Herzen der
Menschen, auch in jenen, die die Gewalt ab-
lehnen. In mir selbst ist ein Stück Seele zerbro-
chen, als mir das Ausmaß der Diskriminierung
G8 – Großdemonstration und ihre Folgen
37
und der Menschenrechtsverletzung bewusst
wurde. Nun hatten die Polizisten es tatsäch-
lich geschafft, alle friedlichen Demonstranten
zwischen dem Hafenbecken und der
Polizeisperre einzukesseln. Die Gewalt su-
chenden Demonstranten haben sich zu diesem
Zeitpunkt überall in der Stadt befunden - aber
nicht an diesem Ort. Was wollte die Polizei
also erreichen mit ihrem Vorstoß?
Vor uns standen aufgereihte Polizisten,
von denen einer sagte, nachdem er gefragt
worden ist, was er hier mache: „Ich bin hier,
weil ich Lust daran verspüre, solchen Leuten
wie euch mal richtig die Fresse zu polieren.“
Und wieder ein Tritt auf die schon verletz-
te Seele. Das Bedrohungsszenario verschärfte
sich, Wasserwerfer fuhren auf, die Leute beka-
men Panik, niemand wusste, was jetzt passie-
ren sollte. Rauch über der Stadt. Doch endlich,
nach einer unendlich erscheinenden Zeit, zo-
gen sie ab. Man fühlte sich wie ein Zebra, das
im letzten Moment das Erbarmen des Löwen
erfahren durfte und verschont blieb, obwohl
man doch nur friedlich seinen Protest ausdrü-
cken wollte.
Nach diesen unglaublichen Ereignissen
fühlte man sich in den Ketten der
Scheindemokratie gefangen, der Willkür der
Staatsgewalt ausgesetzt, nur weil man auf der
Seite von Steine werfenden Autonomen ge-
standen hat? Kurze Zeit habe ich gezweifelt, ob
ich denn überhaupt an den Blockaden teilneh-
me, die für die nächste Woche geplant waren.
Doch als man wieder im Camp ein-
traf und viele die gleiche Sicht auf die
Dinge hatten, fand man wieder zur Ruhe
und mit der Ruhe kam die Energie. Lange
Gespräche, anregende Unterhaltungen mit
Globalisierungskritikern aus ganz Europa,
Musik und Tanz haben zu einer harmonischen
Atmosphäre beigetragen, in der man keinen
Funken aggressiven Umgangs spüren konn-
te. Das Lagerkonzept überraschte mit basis-
demokratischen Organisationsmustern, in der
jeder in die Verpflichtung genommen wurde,
seinen Teil zum großen Ganzen beizutragen.
Für mich war diese Lebensorganisation in den
Camps die Alternative zur kapitalorientierten
Globalisierung.
Die Zeit in der Umgebung
Heiligendamms ist dennoch gezeichnet
von tiefer Erschütterung, hervorgerufen
durch das Vorgehen der Polizei. Nicht nur
die Gewaltausbrüche, auch die Hilflosigkeit
im Umgang mit friedlichen, kreativen
Protesten haben immer wieder gezeigt, dass
die Reformdringlichkeit auch nicht vor den
Ausbildungsbedingungen der Polizisten Halt
machen kann.
Insgesamt muss man die Gewalt ver-
urteilen, sie stärkt nur die Position der
Herrschenden, lässt die positive Botschaft ver-
sickern und hindert viele Menschen, die Kritik
hegen, aufzustehen, um ihren Protest zu ver-
künden. Mit der Gewalt wurde der immen-
se finanzielle Aufwand der Staatsmacht nur
legitimiert statt angeprangert. Findet ande-
re Wege eurer Verärgerung über die globalen
Vorgänge Ausdruck zu verleihen.
1 Leipziger Volkszeitung, Montag den 04.06.2007, Artikel auf Seite 32 Frankfurter Allgemeine, Montag den 04.06.2007, Artikel auf Titelseite3 Leipziger Volkszeitung, Artikel Titelseite
RICHARD OERTEL
38
Herausgegeben vonder Projektgruppe „Powision“ am Fachschaftsrat
des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Leipzig3. Ausgabe
Erscheinungstermin: 07.2007
Preis: 1,00€
Anschrift (Leserbriefe erwünscht):Powision, c/o FSR PoWi, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig
E-Mail: kontakt@powision.dewww.powision.de
Redaktion:Florian Fritsch, Karsten Schubert, Julian-Christopher Marx,
Daniel Mützel, Ken P. Kleemann, Florian Barth und Micha Fiedlschuster
Künstlerische Gestaltung: M. E. (sadder@gmx.de)Layout: Micha Fiedlschuster, Daniel Mützel
Druck:Merkur Druck- & Kopierzentrum GmbH
Hauptmannstraße 404109 Leipzig
Verantwortlich für den Inhalt sind die jeweilig aufgeführten AutorInnen der Beiträge.Die Entscheidung hinsichtlich der Rechtschreibregeln unterliegt dem Ermessen der AutorInnen.
Das nächste Magazin erscheint voraussichtlich im Wintersemester 2007/2008. Mitarbeit und Artikel werden gewünscht.
Dank gilt den Förderern dieser Ausgabe:
ISSN 1864-9777
ISSN 1864-9777
Recommended