Rezension: Zwischen zwei Disziplinen. B.L. van der Waerden und die Entwicklung der Quantenmechanik...

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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36 (2013): Rezensionen

struktivistische Theorien h�tten die Kriminalwis-senschaft in eine Krise gest�rzt, indem sie derSkepsisvergessenheit eine Skepsisversessenheit ent-gegenstellten (S. 222). Ein korrespondenztheoreti-scher Wahrheitsbegriff w�re aber insbesondere f�rdie Kriminalwissenschaft wichtig, da hier Ereignis-abl�ufe, Motivationen und Folgen von Verbrechenrekonstruiert werden, die strafrechtliche Konse-quenzen nach sich ziehen w�rden (S. 260). Bach-hiesl verfolgt mit seiner Untersuchung nun nichtdas Ziel einer positivistischen Wende und be-schreibt Erkenntnis weiterhin als approximativ,perspektivisch und fallibel. In Auseinandersetzungmit gegenw�rtigen Arbeiten zur Erkenntnistheorie(etwa Hans Kr�mer, Kritik der Hermeneutik. In-terpretationsphilosophie und Realismus, M�nchen:C.H. Beck 2007) schl�gt er eine Differenzierungdes Wahrheitsbegriffs vor. Er unterscheidet zwi-schen faktischer und transzendenter Wahrheit, daerhobene Fakten noch nicht die Rekonstruktionder Ereignisabl�ufe garantieren und viele Bereichedie Feststellbarkeit des Faktischen �berschreitenw�rden, wie psychische Verfasstheit oder Motive.Zur Beschreibung transzendenter Wahrheit ent-lehnt Bachhiesl den Begriff „unobservables“ (S.265) und �bertr�gt den Ausdruck, der u.a. vonJames Ladyman f�r die Teilchenphysik verwendetwurde, auf die Kriminalwissenschaft. Bei der Inter-pretation von Spuren und Hinweisen werde, so dasArgument des Autors, in den Kriminalwissen-schaften immer der Bereich des Faktischen �ber-schritten, wohingegen das In-Beziehung-Setzender einzelnen Fakten h�ufig nicht reflektiert wird.Bachhiesl geht daher von einer grunds�tzlichenVerwobenheit faktischer und transzendenterWahrheit aus.

Im letzten Teil der Untersuchung wendet Bach-hiesl seinen Wahrheitsbegriff bei zwei Themen-komplexen an, die er aus historischen Quellenbei-spielen des Grazer Kriminalmuseums entwickelt:Brandstiftung und Blut. Das Deliktfeld Brandstif-tung eignet sich vor allem deshalb f�r die Argu-mentation der Studie, weil bei Br�nden die fakti-schen Indizien meist vollst�ndig zerst�rt wurden

und die „unobservables“ verst�rkt in den Mittel-punkt traten. Bei der Untersuchung von Blutspu-ren l�sst sich ein Oszillieren zwischen Blut als be-deutende Realie zur Interpretation des Tathergangsund Blut als symbolisch aufgeladener Substanzfeststellen (S. 391). So zeigt sich anhand der Bei-spiele, dass die Kriminalisten die „unobservables“wie Fakten behandelten (S. 358). Bachhiesl kommtdaher zu dem Ergebnis, dass die historischen Bei-spiele und die Anwendung des differenziertenWahrheitsbegriffs zeigen, wie das �bersteigerteVertrauen in naturwissenschaftliche Methoden inder Kriminalwissenschaft zu falschen Schl�ssenf�hrte, etwa bei der Interpretation von Brandle-gungsapparaten, indem den Brandstiftern per seeine Geistesschw�che unterstellt wurde.

Am Ende stellt sich die Frage, inwiefern der vonBachhiesl eingeforderte skeptische Realismus beider Untersuchung historischer Beispiele zu ande-ren Ergebnissen f�hrt als die von ihm kritisiertendiskursanalytischen Arbeiten. Wichtige Impulseliefert die vorliegende Arbeit f�r die gegenw�rtigeDebatte um Tendenzen der Rebiologisierung inder Kriminalwissenschaft, die sich im Umfeld derNeurowissenschaften und der Genforschung be-obachten lassen. Bachhiesl warnt hier vor einer po-sitivistischen Wende, indem er einfordert, die in-terpretative Arbeit st�rker zu problematisieren (S.442). Damit liefert Bachhiesl mit seiner wissen-schaftshistorischen Untersuchung einen konstruk-tiven Diskussionsbeitrag gegenw�rtiger Entwick-lungen in der Kriminalwissenschaft. So ist seineArbeit beispielsweise anschlussf�hig an die De-batte um den CSI-Effekt (Simon Cole, RachelDioso-Villa, Investigating the ,CSI Effect’ Effect:Media and Litigation Crisis in Criminal Law,Stanford Law Review 61 (2009), 1335–1374) undneuere soziologische Studien �ber Ermittlungs-techniken (siehe u.a. Richard Hindmarsh, BarbarPrainsack [Hrsgg.], Genetic Suspects. GlobalGovernance of Forensic DNA Profiling and Data-basing, Cambridge, New York: Cambridge Uni-versity Press 2010).

Daniel Meßner (Wien)

270 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274

DOI: 10.1002/bewi.201301628

Martina R. Schneider, Zwischen zwei Disziplinen. B.L. van der Waerden und dieEntwicklung der Quantenmechanik, (Mathematik im Kontext; 1) Heidelberg:Springer 2011. 411 S., 21 Abb., kart., e 39,95. ISBN 978-3-642-21824-8.

Werk und Wirken eines wichtigen Mathematikersdes 20. Jahrhunderts, Bartel Leendert van derWaerden, stehen im Zentrum dieser – im bestenSinne – traditionellen wissenschaftshistorischen

Studie, welche auf umfangreichen Prim�r- und Se-kund�rquellen fußt und deren Gegenstand in einendisziplin�ren Kontext eingebettet wird: den derAnwendung der mathematischen Gruppentheorie

Rezensionen

in der modernen Physik. Es geht der Autorin da-bei weder darum, eine v�llig neue Interpretationder Mathematikgeschichte zu liefern noch gr�ßeremethodische oder begriffliche Innovationen vor-zunehmen. Vielmehr zeichnet sich die Wupperta-ler Dissertation durch die genaue Lekt�re der ein-schl�gigen Publikationen van der Waerdens aus,die mit konkurrierenden Schriften verglichen wer-den, sowie durch die Analyse ihrer jeweiligen Re-zeption. In vier Teilen mit insgesamt 18 Kapitelnwerden in weitgehend chronologischen Stationenmathematische Inhalte referiert, ihre Adaptionsf�-higkeit f�r die Physik betrachtet, vergleichendalternative Ans�tze kontrastiert und bewertet so-wie ihre Wirkung nachvollzogen. Allein vier Kapi-tel sind im engeren Sinne der Biographie van derWaerdens gewidmet, die sich so eher am Randemitentfaltet. Aus der Perspektive einer (kumulativsich vervollst�ndigenden) Problem-, Methoden-und Rezeptionsgeschichte der Mathematik er-scheint dies als ein verdienstvolles Unternehmen,erg�nzt und erweitert es doch in dieser Hinsichtj�ngere Studien etwa �ber Hermann Weyl vonEberhard Scholz. Aus der Perspektive der Ge-schichte der Quantenphysik kann die Arbeit einenvertieften Einblick bieten, wie verschiedene Ma-thematiker der Physik insbesondere um 1930 zu-gearbeitet und ihr Methoden und Inhalte f�r dieAnwendung im Nachbarfach �bersetzt haben. DieEntwicklung des Spinorkalk�ls sowohl f�r quan-tenmechanische Wellengleichungen wie f�r dieAllgemeine Relativit�tstheorie wird hier detailliertnachgezeichnet.

Was aber kann das Buch f�r ein breiteres wis-senschaftshistorisch interessiertes Publikum bie-ten? Zun�chst einmal muss sich der Leser auf Seite7 die Frage stellen lassen, ob er �berhaupt mit hin-reichenden Grundkenntnissen der mathemati-schen Darstellungstheorie und der Quantenme-chanik f�r die Lekt�re qualifiziert ist. Falls ja, fol-gen in den n�chsten drei Kapiteln Crashkurse inder Geschichte der Darstellungstheorie, der Ent-wicklung der Quantenmechanik und der Anwen-dung der Gruppentheorie, die bis etwa 1928 ge-f�hrt werden, also bis zu dem Punkt, an dem vander Waerden mit eigenen Beitr�gen in die Diskus-sion eintrat. Gleichsam zur Erholung wird dieBiographie des im Jahre 1903 Geborenen einge-schoben, die wieder zun�chst nur bis 1928 erz�hltwird und auch ohne Mathematikkenntnisse gutverst�ndlich ist. Das gilt ebenso f�r die Kapitel zuseiner Leipziger Zeit, w�hrend des Dritten Reichsund zur Nachkriegszeit. Gerade zu van der Waer-dens Wirken in Deutschland w�hrend der Herr-schaft der Nationalsozialisten w�re ein Vergleichetwa mit dem vieldiskutierten Fall des PhysikersPeter Debye aufschlussreich gewesen (Dieter

Hoffmann, Mark Walker [Hrsgg.], „Fremde“ Wis-senschaftler im Dritten Reich. Die Debye-Aff�reim Kontext, G�ttingen: Wallstein 2011), insbeson-dere da die Autorin erstmalig den ,Fall‘ van derWaerden in den Archiven recherchiert hat. Nichtnur legen ihre beiden Karrierewege einen Ver-gleich nahe (Aufenthalte in G�ttingen vor 1933,Leipzig w�hrend des Nationalsozialismus undnach 1945 fr�her oder sp�ter in die Altersstellungnach Z�rich), auch zeigen sich verschiedentlich�hnliche Verhaltensweisen zwischen Kooperationund Protest in den Quellen.

Was Gliederung und Darstellung des Buches be-trifft, kann sich der Rezensent des Eindrucks nichtganz erwehren, dass sie eher den Forschungswegder Autorin widerspiegeln, denn von einer klarenVorstellung eines wie auch immer gearteten Lese-publikums geleitet worden zu sein. Dies wird ins-besondere in den beiden Hauptteilen deutlich, dieh�ufig �ber viele Seiten van der Waerdens Publika-tionen zur Anwendung der Gruppentheorie in derQuantenmechanik in betr�chtlichem mathemati-schen Detail nachvollziehen ebenso wie jene vonKollegen, die alternative Wege beschritten (wieHermann Weyl, Eugene Wigner oder der ohneGruppentheorie auskommende John Slater), w�h-rend die wissenschaftshistorischen Ertr�ge eher de-fensiv und ambivalent ausfallen. Ja man kann vander Waerdens Methode als „modern“ und „struktu-rell“ bezeichnen (S. 202) – wobei als Kennzeichender Moderne (mit Jeremy Gray) sogar „Zweckm�-ßigkeit“ verwendet werden kann –, doch verfolgtevan der Waerden hier kein Programm einer mathe-matischen Moderne, sondern �bte sich eher in Prag-matismus und Zuarbeit f�r die Physikerkollegen.Das wichtige Ziel, gerade dieses „Spezifische an vander Waerdens Forschungsweise aufzuzeigen“ (S. 5),l�st das Buch nur implizit ein, etwa wenn zwischenden Zeilen sichtbar wird, wie die Begriffe „Pragma-tismus“, „ein – in gewisser Hinsicht – ,moderner‘Zugang“ oder „Service f�r Physiker“ im Sinne einerauf die epistemischen Praktiken der Wissenschaftoder die Wissenszirkulation zielenden modernenWissenschaftsgeschichte ausbuchstabiert werdenk�nnten. �berzeugen kann die Arbeit indes dort,wo sie begriffs- und diskursanalytisch wird, so inder Analyse der Verwendung der Bezeichnung„Gruppenpest“ von Seiten mancher Physiker (S.60 ff.). Hier scheinen mit den Begriffen „Umdeu-tung“ und „Selbstinszenierung“ kurz analytischeTermini auf (S. 63 und 66), die �ber eine mathemati-sche Problemgeschichte hinausweisen. (Auch h�ttedie Tatsache, dass van der Waerden sp�ter selbstwissenschaftshistorisch t�tig war und Beitr�ge zurGeschichte der Quantentheorie geleistet hat, ge-nutzt werden k�nnen, seine Selbstwahrnehmungzu hinterfragen.)

Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 271

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36 (2013): Rezensionen

Zu h�ufig pr�gen Worte wie „m�glicherweise“,„vielleicht“ oder „man darf annehmen“ bzw. derKonjunktiv die Folgerungen der Autorin, so dasseine eigent�mliche Diskrepanz zwischen der Ex-aktheit des Gegenstandes und der Vagheit derKontexte und ihrer Wirkung zutage tritt. �ber dieohne Frage vorliegenden Ertr�ge f�r die engereMathematikgeschichte hinaus zeigt das Buch in-des, dass eine gute Dissertation, die sich vielleichtbewusst gewisse Grenzen gesteckt hat, kaum ohne�berarbeitung als wissenschaftshistorisches Buch

funktioniert, vor allem, wenn es ein etwas breiteresPublikum erreichen wollte. W�hrend in den USAoft Jahre vergehen, bis eine Dissertation in redi-gierter und oft kondensierter Form von einer Uni-versity Press gedruckt wird, zeigt sich in Deutsch-land leider ein Trend zum schnellen Print-on-demand, wobei hier selbst bei traditionsreichenWissenschaftsverlagen das Wort Lektorat zumFremdwort geworden ist. Dies ist freilich nicht ih-ren Autoren anzukreiden.

Arne Schirrmacher (Berlin)

272 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274

DOI: 10.1002/bewi.201301636

Hans-Ulrich Thamer, Daniel Droste, Sabine Happ (Hrsgg.), Die UniversitatMunster in der Zeit des Nationalsozialismus. Kontinuitaten und Bruche zwischen 1920und 1960, (Ver�ffentlichungen des Universit�tsarchivs M�nster; 5) M�nster:Aschendorff 2012. 2 Bde., 1186 S., geb., e 79,00. ISBN 978-3-402-15884-5.

Daniel Droste, Zwischen Fortschritt und Verstrickung. Die biologischen Institute derUniversitat Munster 1922 bis 1962 (Ver�ffentlichungen des Universit�tsarchivsM�nster; 6) M�nster: Aschendorff 2012. 532 S., geb., e 69,00. ISBN 978-3-402-15885-2.

L�sst sich noch etwas Neues zur Zeitgeschichteder deutschen Universit�ten sagen? Betrachtetman neuere Publikationen zur Hochschulge-schichte – etwa das großangelegte Werk zum Jubi-l�um der Berliner Humboldt-Universit�t – ist un-verkennbar, dass auf diesem Gebiet eine Professio-nalisierung stattgefunden hat, deren Ergebnisseauch Politik-, Sozial- und Kulturhistoriker mitGewinn lesen k�nnen. Andererseits l�sst sichkaum �bersehen, dass die Universit�tsgeschichteweiterhin an immanenten methodologischenProblemen leidet. Der Anspruch, die Geschichtealler Fakult�ten und Institute umfassend zu behan-deln, f�hrt h�ufig nicht nur zu einer schwer ver-daulichen Sperrigkeit der Publikationen, sondernauch zu einem Mangel an inhaltlicher Koh�renz.Beitr�ge zur Geschichte einzelner Disziplinenbleiben dabei oft der Nebent�tigkeit von Fachver-tretern �berlassen und sind wissenschafts-historisch selten ergiebig.

Auch das von Hans-Ulrich Thamer geleiteteProjekt zur Geschichte der Universit�t M�nsterim Nationalsozialismus pr�sentiert seine Ergeb-nisse in Form eines insgesamt 31 Beitr�ge umfas-senden Doppelsammelbandes. Das spricht ebensowenig gegen die Qualit�t des Resultats wie derUmstand, dass �berwiegend lokale Historiker undFachwissenschaftler beteiligt sind. Die Publikationgliedert sich in drei Teile mit Beitr�gen zur Ge-

schichte der Gesamtinstitution, zur Geschichteder Fakult�ten und Institute sowie zur Biographieeinzelner (�berwiegend unr�hmlich bekannter)Wissenschaftler. Es erscheint sinnvoll, dass dererste Teil nicht durch eine umfassende Gesamtdar-stellung, sondern durch eine Reihe thematisch fo-kussierter Essays abgedeckt wird. Themen wie diePolitik der Leitungsgremien, die �ffentlicheSelbstdarstellung, die Aberkennung von Doktor-graden, Selbstverwaltung beziehungsweise Milita-risierung der Studentenschaft oder Entnazifizie-rung werden so in konziser und gut lesbarer Formdargestellt. Wenn bei einem solchen Ansatz auchkein Anspruch auf Vollst�ndigkeit erhoben wer-den sollte, f�llt doch das Fehlen eines wichtigenAspekts auf. W�hrend Christoph Weischer einesehr gr�ndliche und instruktive Analyse der stu-dentischen Sozialstruktur liefert, fehlt eine ent-sprechende Darstellung �ber Finanzierung, Baut�-tigkeit und technische Infrastruktur. Diese Leer-stelle m�sste nicht betont werden, w�rde sie nichtauf eine grundlegende konzeptionelle Schw�chedes Bandes verweisen. Auch die meisten Beitr�gezur Geschichte der Institute zeigen ein nur sehrbeschr�nktes Interesse f�r die �konomischen Be-dingungen der Forschung und die praktischen Er-fordernisse des Lehrbetriebs. Die Universit�t er-scheint weniger als Großbetrieb denn als akademi-scher Kampfplatz, auf dem vorzugsweise um

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