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1990, wenige Monate nach dem Mauerfall, fährt Vera Tschechowa an die Orte ihrer Kindheit und lässt die ersten 50 Jahre ihrer Karriere Revue passieren. Denn die Schauspielerin lebt mit mehr Vergangenheit als andere: Der Dramatiker Anton Tschechow war ihr Urgroßonkel, Großmutter Olga ein gefeierter Filmstar, Großvater Michail ein nicht minder gefeierter Bühnenstar, der im amerikanischen Exil Marilyn Monroe Schauspielunterricht erteilte. Die Enkelin machte dann in der frühen Nachkriegszeit eine steile Karriere.Dieses PDF wurde zuerst auf www.freyermuth.com veröffentlicht. Wer die interaktiven Elemente nutzen will, die bei Scribd leider nicht funktionieren, kann dieses PDF und andere der Art weiterhin unter "Reprint des Monats" auf www.freyermuth.com herunterladen.
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rückkehr in der stunde null 1/22vol. 2009.12 info
Reprint
1990Vera Tschechowa lebt mit viel Vergangenheit: Anton Tschechow war ihr Urgroßonkel, Großmutter Olga ein Filmstar, Großvater Michail ein nicht minder gefeierter Bühnenstar. Sie selbst machte in der Nachkriegszeit Filmkarriere. 1990, kurz nach dem Mauerfall, fährt sie an die ostdeutschen Orte ihrer Kindheit und lässt die ersten 50 Jahre ihres Lebens Revue passieren. Weiter>Von Gundolf S. Freyermuth
Rückkehr inder Stunde Null
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Das Pflaster ist holprig wie in
Erinnerungen an ferne Zeiten. Kein
Reklameschild steht weit und breit.
Dreck und Alter haben die Fassaden
entlang der Straße gedunkelt. Nach
rechts öffnet sich der Blick aufs
Wasser. Nur zwei Autos parken auf
dem Rastplatz zwischen den alten
Bäumen. Keine Yachten ankern,
kein Ausflugsdampfer tutet, kein
Segler lässt sich sehen. Am Ufer
gegenüber fehlen die Villen. Der
See ruht in sich, als seien seit Jahr-
zehnten die Uhren angehalten.
Vera Tschechowa steigt aus dem
Wagen. Die schmale Gestalt in Blue
Jeans bewegt sich fremd in der un-
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berührten Landschaft. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren ist die Tschechowa wieder am
Müggelsee. Dass sie heute, im Frühjahr 1990, ein paar Kilometer außerhalb von Berlin,
die Orte ihrer Kindheit suchen kann, dazu haben die Wirren eines Jahrhunderts europä-
ischer Geschichte beigetragen: die russische Revolution, der deutsche Faschismus, der
Zusammenbruch des Preußo-Sozialismus.
Ein Urgroßvater Veras amtierte als der letzte Eisenbahnminister des Zaren, und der
Urgroßonkel war Anton Tschechow, der Dichter von Drei Schwestern, Die Möwe und Der
Kirschgarten. Großmutter Olga stammte aus Tiflis. Ihre Tochter Ada, die Veras Mutter
wurde, brachte sie in Moskau zur Welt. Kurz darauf floh die Familie aus dem Russland
der Revolution.
Der leichte Wind, der den See kräuselt, fährt durch Vera Tschechowas Haar. Sie macht
ein paar Schritte in Richtung Wasser. Ihre Silhouette vor dem Hintergrund des dunstigen
Sees: Für Sekunden gleicht das Bild einem spätromantischen Gemälde, einer Allegorie
der Sehnsucht nach Heimat, nach der eigenen Geschichte. Eine Sehnsucht allerdings,
die selbst aus der Fremde kommt.
Von Berlin aus steigt Olga Tschechowa in den zwanziger Jahren zum Star des inter-
nationalen Kinos auf, als Schauspielerin und als eine der ersten Regisseurinnen der
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Filmgeschichte. Ihr (Ex-) Mann Michail Tschechow feiert derweil Triumphe am Moskauer
Künstlertheater und Ende der zwanziger Jahre, ebenfalls nach Berlin geflüchtet, an
Max Reinhardts Bühnen — bis beide, der russische Schauspieler und der österreichische
Theaterzauberer, aus Deutschland fliehen müssen.
1940, als seine Enkelin Vera im Zentrum des Nazi-Reichs geboren wird, schlägt sich
Michail Tschechow in Hollywood mit Nebenrollen und als Schauspiellehrer durch. Seine
erfolgreichste Schülerin wird ein Jahrzehnt später Marilyn Monroe.
Vera Tschechowa dreht sich um.
»Den See erkenne ich wieder, natürlich. Aber sonst nichts.«
Sie schüttelt ein wenig ratlos den Kopf.
Während wir die Grundstücke absuchen, auf denen das Haus ihrer Eltern gestanden ha-
ben könnte, frage ich sie nach Erinnerungen an die Kriegs-Kindheit.
»Die haben nichts mit Bombennächten oder Verdunkelungen zu tun«, die Tschechowa
lacht, »sondern mit pieseln.«
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Die Eltern wurden 1943 — Vera war drei Jahre alt — bei einem alliierten Luftangriff aus-
gebombt. Seitdem lebte die Familie beengt in einer Dachkammer.
»Das war hoch oben und die Toilette so weit weg — wenn der Hund oder ich mussten,
wurden wir einfach zum Fenster herausgehalten.«
Nach der Befreiung Berlins sorgte dann Großmutter Olga mit dem großen russischen
Namen dafür, dass Veras Vater, ein vor dem Krieg erfolgreicher Frauenarzt, wieder
seine eigene Klinik bekam — und die Familie etwas mehr Wohnraum: einen großzügigen
Gebäudekomplex direkt am Müggelsee.
Dessen Wasser plätschert an diesem diesigen Frühlingstag im Jahr eins nach der Wende
dunkel und melancholisch zu unseren Füßen.
»Wir hatten einen eigenen Anlegesteg«, erinnert sich Vera Tschechowa, »wo der Damp-
fer hielt und Menschen ausspuckte.«
Ihre Augen suchen das Ufer links und rechts ab. Das »Institut für Binnenfischerei« ver-
fügt über einen Bootssteg, auch das »Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlen-
schutz der Deutschen Demokratischen Republik«. Aber beide Anlegestellen sind klein;
viel, viel zu klein.
»Scheint in der Erinnerung an die Kindheit nicht alles größer?« wende ich ein.
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»Quatsch!« Vera Tschechowa schüttelt unwillig den Kopf, und die zarte, mädchenhafte
Person wandelt sich unvermittelt zur resoluten Dame: »Unser Steg war größer. Basta!«
Nun kommt nur noch das Anwesen in Frage, auf dem das funkelnagelneue Seehotel
steht. Durch die enge Lobby, die einer Kontrollstelle gleicht, gelangen wir in den In-
nenhof. Seine Mitte bildet eine klobige Klinkerskulptur, augenscheinlich den Schikanen
eines Minigolfplatzes nachempfunden.
»Wenn ich hier aufgewachsen sein sollte«, sagt die Tschechowa, und ihre blauen Augen
schauen traurig drein, »dann ist jedenfalls nichts mehr, wie es war.«
Zur linken Hand liegt ein beiger Flachanbau mit Gästezimmern, vor uns öffnet sich ein
ungehinderter Blick auf die Weite des Sees.
»Da!« Vera Tschechowa beginnt aufgeregt zu hüpfen. »Da waren die Schweineställe!«
Sie fängt meinen erstaunten Blick auf.
»Nach dem Krieg brauchte niemand Geld, da haben die Russen uns in Naturalien be-
zahlt.« Beide Hände zeigen nach rechts hinüber, wo das äußere Ende eines klassizisti-
schen Seitenflügels zu erkennen ist, letzter Überrest des älteren Gebäudes: »Und da
hatte mein Vater seine Praxis!«
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Im ersten Stock des Hotels betreten
wir ein Café, dessen Inneneinrichtung
jeden Flughafen der westlichen Welt
schmücken könnte.
»Wir haben erst im Februar eröffnet«,
antwortet die Kellnerin auf unsere
Frage nach der Geschichte des Anwe-
sens.
»Und vorher?«
»Wurde renoviert«, druckst die Frau
herum.
»Und vor der Renovierung ...?« hakt
die Tschechowa nach.
Auf dem Gesicht der Kellnerin er-
scheint eine leichte Röte. »War’s ’n
Erholungsheim vom ZK.«
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»Um Gottes Willen«, entfährt es Vera Tschechowa. Sie schlägt die Hände zusammen:
»Die Olga musste nach der Revolution im Viehwagen aus Russland fliehen, die dreht sich
im Grab herum, wenn sie erfährt, dass bei uns das ZK ...«
Wo wir jetzt sitzen und Kaffee trinken, hat Vera Tschechowa vom fünften bis zum zehn-
ten Lebensjahr gewohnt. Nachdenklich schaut sie hinaus auf den See.
»Nach all der Zeit!«, sagt sie. »Ein komisches Gefühl.«
Als sich die Eltern 1949 trennen, folgt Vera der Mutter zurück nach Berlin — zu dem
neuen Stiefvater, einem Boxer-Liebling der Berliner.
»Das ging nicht lange gut. Die Leute nahmen es meiner Mutter übel, dass sie, die
schicke geschiedene Dame vom Film, den Volksliebling verführt hatte.«
Nachdem Ada Tschechowa in der Waldbühne gar mit Steinen beworfen wurde, zieht sie
mit der Tochter in die Nähe von München und macht sich als Film-Agentin selbständig.
Vera, schwer erziehbar, verschleißt derweil teure Internate en gros.
»Die habe ich gehasst. Da waren nur reiche Arschlöcher.«
Mit sechzehn erhält sie dann, jüngster Spross der Schauspielerdynastie, ihr erstes Fil-
mangebot. Was sie in der Heinz-Erhardt-Komödie Witwer mit fünf Töchtern spielte?
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»Na, bestimmt nicht den Witwer!« Die Tschechowa lacht. Sie hat die Beklemmung ab-
geschüttelt und findet zu ihrem Temperament zurück. »Das war halt so ‘ne Klamotte.
Am Anfang machte ich nur widerwillig mit. Ich wollte Zeichnerin werden, wozu ich
allerdings kein Talent besitze.«
Ein Jahr später beginnt mit Noch minderjährig, einem Prestige-Vehikel für Paula Wes-
sely, Vera Tschechowas Aufstieg zum Filmsternchen der späten Adenauerjahre.
»Die Wessely spielte die Heldin, eine alte Frau, und ich die weibliche Hauptrolle!« Vera
Tschechowa stockt und sieht mich entgeistert an: »Ach herrje, ist das wieder ein Ver-
sprecher ...«
Ada Tschechowa, die erfolgreiche Filmagentin, jagt ihre Tochter von Film zu Film,
und von wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich um Machwerke im verklemmten
Heimat-Rühr-Kitsch-Nachkriegs-Stil.
Für die notwendige Publicity sorgt die versierte Mutter nicht minder. Ein Foto vor allem
geht durch die Gelbe Presse: Vera als demütiges Trümmermädchen, ein Tuch um den
gesenkten Kopf, das mit Sack und Pack vor einem flotten, schmucken Jungen steht.
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Bei ihm handelt es sich um einen allseits bekannten »Hüftwackler und Rock’n’Roll-
Krächzer«, wie der stern meldet — womit »die undurchsichtige Affäre Presley-Tsche-
chowa« geboren ist, »von Deutschlands Teenagern mit ratloser Bestürzung hingenom-
men«.
»Da sieht man«, sagt Vera Tschechowa, als ich ihr das Bild zeige, »dass ich eine Beutel-
ratte bin!«
Nicht zufrieden damit, von Klamotte zu Klamotte die exotische Kinoprinzessin zu ge-
ben, besteht Vera auf Schauspielunterricht in Berlin — und findet sich mit siebzehn
Jahren allein in der Großstadt.
»Das war toll. Ich habe sofort alles nachgeholt, was ich all die Jahre nicht gedurft
hatte.«
Zwei Jahre später engagiert Rudolf Noelte die Neunzehnjährige von der Schauspiel-
schule weg für eine Reihe von Einaktern, die er in Berlin inszeniert. Ihr Bühnenpartner
ist Klaus Kinski. Er stellt ihr vom ersten Tag an nach, lungert Stunden vor ihrer Haustür
herum, um die verschüchterte Schönheit dann mit »Du kleines Russentier« zu begrü-
ßen.
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»Alle in der Schauspielschule haben mich beneidet. Aber ich fand ihn so widerlich. Der
stank und spuckte beim Sprechen, ganz fürchterlich. Und weil ich nichts mit ihm anfan-
gen wollte, hat er mich eines Abends auf der Bühne gewürgt ... Also, ich lief blau und
rot an, konnte nur noch keuchen. Ach, der Kinski war ein richtiges Schwein.«
Ihre Theaterkarriere hindert Vera Tschechowa nicht, Filme herunterzukurbeln, als ginge
es nur darum, schmutzige Hemden zu waschen.
»Fürs Geld natürlich«, lacht sie ein wenig bitter, »nur hab’ ich davon nie was gesehen,
meine Mutter hat alles kassiert ...«
Zu den besseren Engagements jener Jahre gehört Marietto, Camilla und der liebe Gott,
eine Vittorio de Sica-Produktion.
»Aber den Italienern war ich zu dünn. Es war die Zeit der Busenwunder. Die wollten,
dass ich mir was spritzen ließ, damit ich mehr Brust und Hintern bekam. Meine Mutter
musste einfliegen, um das zu verhindern.«
Der Ausbruch des Filmsternchen aus der vergoldeten Tretmühle beginnt mit den
sechziger Jahren. Damals lernt Vera Tschechowa einen Ostberliner Schauspieler aus
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Brechts Theaterschmiede kennen. Der erklärt ihr seine Verachtung für Glitterluxus-
geschöpfe aus Glitterfilmfamilien. Und zugleich erklärt er ihr seine Liebe. Vera wird
schwanger. Aber noch ist sie minderjährig und Mutter wie Großmutter halten nichts von
der Ehe.
»Eine Tschechowa heiratet nicht! Weil man doch selbständig ist und der ganze Quark.«
»Aber Ihre Großmutter war doch auch ...«
»Ja, mit sechzehn. Nur ganz schnell und dann war’s vorbei.«
»Und Ihre Mutter ...«
»Gleich dreimal, das war auch nicht gerade ermutigend. Nein, lieber ein uneheliches
Kind und die Schande der Nation sein als zu heiraten!«
Vera Tschechowa bringt ihren Sohn Nikolaus 1961 zur Welt und wird alleinerziehende
Mutter. Als wäre das nicht der Provokation genug, gibt sie dann während der Filmfest-
spiele in Cannes, wo sie 1962 in der ambitionierten und vielgeschmähten Heinrich-
Böll-Verfilmung Das Brot der frühen Jahre zu sehen ist, ein Interview ganz im Stil des
rebellischen »Opas Kino ist tot«. Das berüchtigte »Oberhausener Manifest«, mit dem
der Anfang des Jungen Deutschen Films datiert, liegt erst ein paar Monate zurück. Die
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untoten Altproduzenten, die gerade von Heimat- auf Karl-May-Filme umsteigen, reagie-
ren prompt und setzen ihr vorlautes Sternchen auf die schwarze Liste.
»Da saß ich zwischen den Stühlen. Für die Jungen gehörte ich irgendwie zu Opas Kino,
durch all die Schnulzen, die ich gedreht hatte, aber die Alten beschäftigten mich auch
nicht mehr. So kam ich zum Fernsehen.«
Auf die sieben fetten Kinojahre folgen magere TV-Jahre.
»Als ich zum ersten Mal ein Fernsehstudio betrat, dachte ich: ›Das ist die Verbannung.‹
Nicht nur die Fernsehschirme, auf denen man am Ende gesehen wird, sind ja kleiner als
die Kinoleinwand. Auch die Kulissen und die Kameras waren viel bescheidener, und die
Gagen sowieso. Das Fernsehen war damals so eine Art Hörspiel mit Bildern, im besten
Fall die Fortsetzung des Theaters mit bescheideneren Mitteln.«
Die ersten Fernsehjahre der Tschechowa fallen in eins mit der Verwandlung des Ade-
nauer-Nachkriegs-Staats in die moderne Bundesrepublik. Zu Vera Tschechowa kommt
die Achtundsechziger-Revolte in Gestalt eines Mannes, der sie schon eine Weile aus der
Ferne bewundert hat.
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»Ich spielte bei Gründgens in Hamburg Theater, und da gab es eine Szene, wo mein
Rock hoch geweht wurde, und Jahre später habe ich erfahren, dass der damals als Sta-
tist dabei war und immer auf diese Szene gewartet hat.«
1968 gehört Vera Tschechowa zum Ensemble des Braunschweiger Schauspielhauses. Für
eine Fernsehproduktion reist sie nach Berlin. Alle Hotels sind ausgebucht, und Carola
Wischnewski, Besetzungschefin des SFB, quartiert zu ihren Gunsten den unbekannteren
Anfänger aus — in ein Dachzimmer mit Klappbett.
»Als ich da spät abends rein kam, stand ein Mann in der Halle und telefonierte. Auf
den Zimmern Telefone, so einen Luxus gab es damals in einer Ku’dammpension nicht.
Jedenfalls, das war der Vadim.«
Man kommt ins Gespräch. Herr Glowna, damals in Peter Zadeks berüchtigtem Bremer
Ensemble, findet schnell heraus, wem er sein Notbett verdankt. Im Gegenzug beginnt
er die verehrte Kollegin aufzuklären; über das Elend des Kapitalismus im allgemeinen
und die Verrottetheit der Institution Ehe im besonderen.
»Mit dem Hintergedanken, mich zu heiraten, der Schuft.«
Schließlich verreisen die beiden zusammen, schlafen im Doppelzimmer.
»Wir lagen wie Eisblöcke nebeneinander im Bett. Wir haben uns ja noch gesiezt.«
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Und plötzlich geschieht es:
»Fänden Sie es nicht gut«, fragt Vadim Glowna, »wenn wir heiraten?«
Es ist der Anfang einer großen, seltenen Liebesgeschichte. Sie wird lange Jahre und
viele Anfechtungen überstehen. Bündelweise Rosensträuße und Selbstverwirklichungs-
versuche ebenso wie den anfänglichen Widerstand der übergroßen Großmutter: »Sagen
Sie mal, Herr Glowna, besitzen Sie noch ein anderes Paar Hosen?«
Die politischen Wirren der späten sechziger Jahre zerstörten sie nicht, und auch das
einfache Leben auf Bauernhof-Kommunen in den frühen Siebzigern konnten ihr nichts
anhaben.
»Wie in einem Bockstall stank es«, die Tschechowa schüttelt sich, »mein Bruder soff,
Vadim lallte in der Ecke, und beide sagten: ›Ist das nicht wunderbar?‹«
Selbst die luxuriöseren Seitensprünge der achtziger Jahre gingen vorbei.
»›Ich warte auf dich‹, hat Vadim gesagt. ›Ich glaube nicht, dass es zu Ende ist.‹« Vera
Tschechowa schüttelt den Kopf: »Und da hat er ja recht behalten.«
Seit bald zwanzig Jahren besitzt das Paar eine gemeinsame Produktion, und aus der
Zusammenarbeit sind hervorragende Filme entstanden, Desperado City etwa, der 1981
den Hauptgewinn in der Cannes-Lotterie zog, oder Tschechow in meinem Leben, eine
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reportagehafte Spurensuche nach Heimat und Herkunft, in dem Vera Tschechowa 1985
unter Glownas Regie mit der eigenen Familien- ein Stück Weltgeschichte rekonstruiert.
»Der Vadim«, meint Vera Tschechowa an diesem diesigen Aprilmittag an dem See ihrer
Kindheit und nach den Wechselbädern und -fällen von über zwanzig Ehejahren, »der ist
es, und er wird es für den Rest meines Lebens wohl bleiben.«
Die Garderobiere, eine korpulente Frau um die sechzig starrt, als sie uns die Mäntel
aushändigt, die Tschechowa voll Wiedererkennen an.
Wie lange sie schon hier arbeitet? Die ältere Frau macht eine wegwerfende Handbewe-
gung:
»Früher schon.«
»Als das ZK ...?«
Die Garderobiere nickt. »Was soll man tun?« fragt sie zurück, als hätten wir ihr einen
Vorwurf gemacht. »Sehen Sie sich meine Arme an, ich habe im Zementwerk gearbeitet.
Das hier ist wenigstens leichter.«
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»Wissen Sie, was in diesem Haus war«, fragt die Tschechowa, »bevor das ZK sich hier
erholte?«
»Sicher, ‘ne Klinik. Von einem Dr. Rust ...«
»Das ist mein Vater«, sagt die Tschechowa.
Die Garderobiere schaut fassungslos. »Ich war damals bei dem Herrn Doktor in Behand-
lung!« Sie strahlt über das ganze müde Gesicht. »Ach, war das ein stattlicher Mann!«
Sie weiß nicht, was sie sagen soll, und so erzählt sie in schwerem Berliner Tonfall von
der Kurierung ihres nässenden Bauchnabels.
Ihre Rührung wirkt ansteckend. Der Tschechowa steht, während sie der schweren, ab-
gearbeiteten Frau zuhört, das Mitleid in die Augen geschrieben.
»Es ist so schön«, sagt die Garderobiere, »dass wieder andere Leute zu uns kommen
können. So wie früher ...«
Der alltägliche Umgang mit den Damen und Herren des ZK? Die Frau, die solange die
alte DDR-Elite bedient hat, verzieht den Mund.
»Sicher, Nette waren auch drunter, ein paar, die einen als Mensch angesehen haben.
Aber für die meisten war man nur Dienstbote, die haben einen gar nicht wahrgenom-
men. Jetzt«, sagt sie und lächelt hilflos, »ist es besser.«
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Vor der Tür des Hotels parken Luxuslimousinen mit westdeutschen Kennzeichen.
»Mal sehen«, meint Vera Tschechowa, »was die Frau in ein paar Monaten sagt.«
Der Weg zurück in den Westen führt durch verfallene Stadtviertel und die Tristesse
der real-existierenden Warenwelt. Ein Laden wirbt per Leuchtreklame: »Alles vom
Fisch«.
»Iiih«, sagt die Tschechowa.
Vertrauter wirkt eine Aufforderung zum Senioren-Tanztee.
»Da können Sie mich absetzen«, sagt sie.
»Ob die auch Halbstarke reinlassen«, entfährt es mir.
»Sehr charmant«, sagt Vera Tschechowa, »aber ich werde ein halbes Jahrhundert alt,
und da muss man sich als Schauspielerin allmählich umstellen. Man wird ein bisschen
oller. Jetzt kommen die Rollen, wo man sich Falten hinschminken und einen Buckel an-
kleben lässt.«
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Dass wir uns Ostberlin nähern, ist zu sich riechen. Es stinkt nach Industrie und nach
Zweitakterabgasen. Allein die dicke Dreckschicht, die auf allem lagert, scheint die Bal-
kone an den verrotteten Mietskasernen zu halten.
»Hier lebt man ja ständig am Rande des Suizids!« Die Tschechowa schließt die Augen.
»Was den Menschen angetan wird ...«
Diese Zeit der Umwälzungen, berühre sie mehr als alles, was in den späten sechziger
Jahren geschehen sei, sagt sie, als wir den Übergang Heinrich-Heine-Straße erreichen.
Damals sei es um eine Art Befreiung gegangen, um das Abschütteln der schlechten Ver-
gangenheit, um die Eröffnung einer neuen Zukunft.
»Und jetzt komme ich, kommen wir alle wieder mit der Vergangenheit in Kontakt, mit
den besseren und den schlechteren Teilen davon.«
Sie sieht mich unvermittelt an:
»Wissen Sie, was meine Lieblingsrolle bei Tschechow ist? Der Firs im Kirschgarten.«
»Das ist ein uralter Mann!« sage ich erstaunt.
»Ja«, die Tschechowa lacht, »und es ist eine ganz kleine Rolle. Trotzdem wollte ich die
immer spielen. Und die Situation in dem Hotel heute, dieser fürchterliche ZK-Bau, wo
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mal unser Haus gestanden hat, das alles hat mich an das Stück erinnert, an die Zerstö-
rung des Kirschgartens ...«
Ihn lässt Anton Tschechow auf einem bankrotten russischen Landgut blühen — bis der
Fortschritt in Gestalt eines finanztüchtigen Unternehmers das Gut übernimmt und im
Interesse moderner Rentabilität die unberührte Schönheit zerstört. Das Abholzen der
Kirschbäume symbolisiert den endgültigen Untergang der alten Ordnung, in der die idyl-
lische Schönheit nur gleichzeitig mit Ausbeutung und Rückständigkeit bewahrt werden
konnte. In der letzten Szene lauscht der siebenundachtzigjährige Firs, ein alter Lakai,
den fernen Axthieben:
»Sie sind weg. Mich haben sie ...«, zitiert Vera Tschechowa, und ihre Stimme bekommt
einen fremden Klang, einen schweren Berliner Einschlag, den ich heute zum zweiten
Mal höre. »Mich haben sie vergessen ... Macht nichts.«
Der weibliche Firs mit dem Tonfall der Garderobiere schaut zum Wagenfenster hinaus
auf die Grenzbefestigungen und den verlassenen Wachturm.
»Das Leben ist vorbei, als hättest du es gar nicht gelebt.«
Der Vopo, der sich zu uns herunterbeugt und diesen letzten Satz noch hört, wirft einen
kurzen Blick auf unsere Papiere und einen langen auf die Tschechowa.
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»Ein wunderbarer Schluss-Satz, nicht wahr?« sagt sie. »Tschechow könnte ihn heute
geschrieben haben!«
Nachtrag 1993: Vera Tschechowa und Vadim Glowna trennten sich 1990. Am 12. Juni
1991 heiratete Vera Tschechowa den Berliner Personalberater Peter Paschek. Die künst-
lerische Zusammenarbeit von Vera Tschechowa und Vadim Glowna hat das Ende ihrer
Ehe allerdings überdauert. Zuletzt arbeiteten sie 1992 gemeinsam an einem TV-Film
über den georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse. Vera Tschechowas jüngste
Produktion ist ein Film über Hans-Dietrich Genscher (Mein Halle, 1993).
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infoImpressum
Druckgeschichte
Vera Tschechowa. In: STERN, 22/90, TV Magazin, S. 4-9.
Überarbeitete Fassung nachgedruckt unter dem Titel: Rückkehr in
der Stunde Null. In: Spion unter Sternen (s. o. 1994), S. 154-167.
Digitaler reprint
Dieses Dokument wurde von Leon und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt
und am 1. Dezember 2009 auf www.freyermuth.com unter der Creative Commons License veröffentlicht (siehe
Kasten links). Version: 1.0.
Über Den autor
Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.
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