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Vorschulische Kinderbetreuung und Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder? Empirische Befunde für einheimische und ausländische Kinder
in Deutschland von 1984 bis 2003
Prof. Dr. Rolf Becker IfE, Abt. Bildungssoziologie
Universität Bern
Muesmattstrasse 27 CH-3012 Bern
Rolf.Becker@sis.unibe.ch
www.abs.unibe.ch
– First Draft: Bitte nicht zitieren oder weitergeben ohne Genehmigung des Autors – Vortrag auf dem Jahreskongress 2005 der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung: „LEADERSHIP IM BILDUNGSBEREICH UND SCHULWANDEL“ in Lugano, 21.-23. September 2005
Abstract: Vorschulische Kinderbetreuung und Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder Kann die Schule eine „Vorreiterrolle“ bei der Realisierung von Bildungschancen übernehmen? Vor dem Hintergrund der sozialen Benachteiligung von Migranten im Bildungssystem des Ankunftslandes stellt sich die Frage nach geeigneten Massnahmen, Chancengerechtigkeit beim Bildungserwerb herzustellen. In der empirischen Studie wird im Längsschnitt folgende Fragestellung untersucht: Können wir die Benachteiligung von Migranten im Schulsystem durch eine vorschulische Bildung und Erziehung reduzieren? In den bildungspolitischen Debatten wird angesichts der Befunde von TIMSS, PIRLS und PISA über den engen Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und schulischen Leistungen auch davon ausgegangen, dass vorschulische Bildung zum Abbau der schichtspezifischen Bildungsungleichheiten beitragen kann. Insbesondere wird die Ansicht geteilt, dass sich für Ausländerkinder der Besuch vorschulischer Einrichtungen günstig auf ihre späteren Bildungschancen auswirkt. Im Vortrag wird über eine Kohortenstudie berichtet, die diese Annahmen empirisch im Längsschnitt mit Hilfe von Daten des Sozioökonomischen Panels für Deutschland überprüft. Die Befunde sind ambivalent. Einerseits verbessern sich die Bildungschancen infolge vorschulischer Kinderbetreuung. Andererseits sind die positiven Bildungseffekte vergleichsweise gering und schwächen sich ab, wenn weitere Merkmale des Elternhauses berücksichtigt werden. Dann dominieren die hinlänglich bekannten Einflüsse der sozialen Herkunft und Ressourcen des Elternhauses auf den Bildungserfolg.
1
1 Einleitung Nicht dass die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler aus Deutschland oder der Schweiz im
internationalen Vergleich von Leseleistungen so ungünstig abgeschnitten haben, ist das
erstaunliche Ergebnis von PISA 2000, sondern die enorme soziale Disparität der
Lesekompetenzen bei unterdurchschnittlichen Leseleistungen. Demnach gibt es einen
signifikanten Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Verteilung von
Lesekompetenz in der Gestalt, dass Kinder aus unteren Sozialschichten eine schlechtere
Performanz als Kinder aus höheren Sozialschichten aufweisen. Dieser Zusammenhang bleibt
übrigens auch dann bestehen, wenn die Kinder von Migranten, die zudem weitaus
ungünstigere Lesekompetenzen als Einheimische aufweisen, von der Berechnung für
Mittelwert und Streuung der Lesekompetenzen ausgeschlossen werden. Diese Befunde haben
nicht zuletzt dazu beigetragen, ein − nicht in Vergessenheit geratenes, sondern schlichtweg
ignoriertes − Phänomen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken: die
dauerhafte Ungleichheit von Bildungschancen.
Demnach haben Kinder aus unteren Sozialschichten oder von Migranten offensichtlich
geringere Chancen, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben als einheimische Kinder
aus höheren Sozialschichten. Zwar befinden sich nunmehr mengenmäßig mehr Kinder
einfacher Arbeiter und Angestellten in den höheren Schullaufbahnen und an den
Hochschulen, doch haben Akademikerkinder nach wie vor eine deutlich höhere
Wahrscheinlichkeit, die Hochschulberechtigung zu erwerben und anschließend zu studieren,
als Kinder aus unteren Sozialschichten. Mit Bezug zur Entwicklung des Bildungssystems
kann somit eine deutliche Expansion und Öffnung festgestellt werden. Diese soziale Öffnung
hat jedoch nicht zu Chancengleichheit geführt. So bleibt festzustellen, dass im Zuge der
Bildungsexpansion in allen sozialen Klassen die Bildungsnachfrage angestiegen ist,
wenngleich eine Einebnung der Unterschiede nach sozialer Herkunft nur in geringem Maße
eintrat. So haben sich die mit der Initiierung einer Bildungsexpansion verknüpfte Hoffnungen
für einen Abbau von sozialen Ungleichheiten von Bildungschancen nicht erfüllt.
Wie für andere gesellschaftlich relevante Fragen gilt auch für die Bildungspolitik, dass die
politische Verarbeitung ideologischer Prämissen entweder der Gewinnung von
wissenschaftlicher Erkenntnis vorauseilt oder oftmals mit der Ignoranz wissenschaftlicher
Erkenntnis einhergeht. Bevor die Ergebnisse von PISA 2000 und Gründe über das ungünstige
Abschneiden bei den Lesekompetenzen genauer untersucht worden waren, wussten einige
Gruppierungen in der Politik und Öffentlichkeit, was zu tun ist. So wurden nicht von ungefähr
von vielen Seiten frühe Förderungen der Kinder in Kindertageseinrichtungen gefordert – so
2
zum Beispiel vom Arbeitsstab „Forum Bildung“ (2001) in der Geschäftsstelle der Bund-
Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, der von
Bundesbildungsministerin Bulmahn im Anschluss an die PISA-Studie 2000 ins Leben gerufen
wurde. So soll den Empfehlungen dieses Arbeitsstabes zufolge künftig in
Kindertageseinrichtungen die frühkindliche Bildung, insbesondere die Sprachentwicklung,
und die Leistungsbereitschaft der Kinder stärker gefördert werden. Besonders Kinder mit
Migrationshintergrund, die besonders schlecht bei PISA 2000 abgeschnitten haben, sollen die
Zielgruppe der vorschulischen Sprachförderung sein. Zusätzlich soll auch das frühe Erlernen
von Fremdsprachen gefördert werden. Des Weiteren sollen die Kinder kindgerecht auf das
weitere Lernen in der Grundschule vorbereitet werden. Neben der professionelleren Aus- und
Weiterbildung des Personals in Kindergärten und Vorschuleinrichtungen wird mit früherer
Einschulung und flexiblen Übergängen in die Grundschule die engere Verbindung von Vor-
und Grundschule erwogen. Damit auch untere Sozialschichten von diesen
Förderungsmöglichkeiten Gebrauch machen, soll die zukünftige Gebührenfreiheit
vorschulischer Kinderbetreuung geprüft werden.
Diese vorgeschlagenen Maßnahmen scheinen bei einer gezielten pädagogischen
Förderung sozial benachteiligter Kinder durchaus geeignet zu sein, den vergleichsweise
ungünstigen sozialisatorischen Einfluss von Elternhäusern in den unteren Sozialschichten
oder mit Migrationshintergrund auf den Bildungserfolg abzuschwächen, der zu ungleichen
Startchancen beim Bildungserwerb und damit langfristig zu Bildungsungleichheiten führt.
Gehen wir davon aus, dass Defizite elterlicher Ressourcen, die für die Bildung der Kinder
mobilisiert werden können, zu Ungleichheiten bei den individuellen Lernvoraussetzungen
führen, dann sind bei gleichen Lerngelegenheiten − beispielsweise die Lernkontexte in den
Schulen und ihr Unterricht − ungleiche Lernergebnisse nach sozialer oder national-ethnischer
Herkunft zu erwarten (vgl. Abbildung 1).
Diese Situation ist beispielsweise in den Primarschulen die Regel. So liegen empirische
Evidenzen dafür vor, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen
und die darauf basierende Chance, nach der Grundschule für das Gymnasium empfohlen zu
werden, eine wichtige Ursache für die Chancenungleichheit im Bildungssystem ist. So tragen
diese primären Herkunftseffekte bei den Bildungsübergängen nach der Grundschule
langfristig zur Festschreibung dauerhafter Bildungsungleichheiten über Selektion und
Verteilung auf die einzelnen Bildungslaufbahnen entsprechend der herkunftsabhängigen
Schulleistungen bei. Die Ursachen, die im Elternhaus und damit im Vorfeld der Einschulung
und Ausbildung liegen, können offensichtlich nicht durch die Grundschule kompensiert
3
4
werden. Weil ein Ausgleich von ungleich verteilten Startchancen weitgehend ausbleibt, wirkt
sich die soziale Herkunft weiterhin sowohl auf die schulische Performanz als auch auf den
Bildungsweg und den daraus resultierenden Bildungserfolg aus.
Abbildung 1: Strukturen für Generierung von Chancenungleichheit bei interpersonaler Ungleichheit – Interaktion zwischen Lernvoraussetzungen und Lerngelegenheiten in Bezug auf primäre Herkunftseffekte
Allerdings wären kompensierende Lerngelegenheiten − also Lehr- und Lernaktivitäten, die
auch auf die Erfordernisse der sozial benachteiligten Schulkinder eingeht − geeignet,
Unterschiede bei den Startchancen im Bildungssystem auszugleichen. Sinnvoll ist sicherlich,
eine relative Chancengleichheit bereits bei der Einschulung herzustellen, bevor der
Wettbewerb im Bildungssystem beginnt. So könnte die vorschulische Bildung ein geeignetes
Instrumentarium sein, die relative Gleichheit von Startchancen zu bewerkstelligen, so dass es
kaum möglich wird, die Bildungsergebnisse − die Chance, einen bestimmten Schulabschluss
zu erwerben − anhand der sozialen und nationalen Herkunft vorherzusagen.
Furchtbar neu sind allerdings diese Empfehlungen zum Elementarbereich des Bildungswesens
allerdings nicht, und darin zeigt sich die Ignoranz von Sicht- und Handlungsweisen einiger
bildungspolitischer Akteure, sondern wurden bereits im Jahre 1969 vom Deutschen
Bildungsrat diskutiert. So sieht Heckhausen (1969) – und das taucht auch in den
gegenwärtigen Forderungen nach frühzeitigem Wissenserwerb und verstärktem
systematischem Lernen nach Lernplänen in Kindergärten auf – in seinem Gutachten für diese
im Jahre 1966 konstituierte und im Jahre 1975 wieder aufgelöste Bildungskommission einen
Bildungsauftrag für den Kindergarten mit klaren Bildungszielen und ihrer curricularen
Umsetzung vor (vgl. Arbeitsstab Forum Bildung 2001: 6). Heckhausen (1969) begründet
seine Empfehlung aus entwicklungs- und motivationspsychologischer Sicht damit, dass in den
drei Lebensjahren vor der Einschulung entscheidende Grundlagen für den Grad der
intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Leistungsmotivation von Schülern und späteren
Erwachsenen gelegt werden (Heckhausen 1969: 207). Eine vorschulische Bildung würde
daher eine beschleunigte intellektuelle Entwicklung bedeuten, die auch der Höhe des
intellektuellen Niveaus zu späteren Zeitpunkten im Lebenslauf zugute kommt. Sie fördere die
Art und Ausprägung kognitiver Stile bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen
wie auch die Art und Ausprägung der andauernden Leistungsmotivation in positiver Weise.
Und schließlich präge sie eine positive Wertschätzung von Anstrengungen in bestimmten
Sachbereichen. Voraussetzung für diese persönliche Entwicklung wäre zum einen eine
professionelle Anleitung der Kinder − d.h. der Kindergarten oder die Vorschule können nicht
ausschließlich „Bewahranstalten“ sein − und zum anderen ein frühzeitiger Beginn dieser
vorschulischen Bildung ab dem vierten Lebensjahr. Insgesamt soll die vorschulische
Betreuung nicht die Familie ersetzen, sondern nur in einigen Bereichen ergänzen.
Ob derzeit die Kindergärten und Vorschulen diesen Anforderungen gerecht werden, kann
lediglich über eine empirische Überprüfung über die Bildungseffekte vorschulischer
Kinderbetreuung beurteilt werden. Es gibt gute Gründe, positive Bildungseffekte zu erwarten.
So stellen beispielsweise Bos et al. (2003: 129) bei den ersten Auswertungen der IGLU-
Studie, einem internationalen Vergleich von Schülerleistungen am Ende der vierten
Jahrgangsstufe (PIRLS 2001), fest, dass gerade Kinder aus Arbeiterschichten bessere
Lesekompetenzen aufweisen, wenn sie mehr als ein Jahr den Kindergarten besucht haben.
Andererseits wäre für benachteiligte Kinder aus der Arbeiterschicht oder mit
Migrationshintergrund nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese vorschulische
Kinderbetreuung trotz all ihrer Defizite positive Bildungseffekte hat – sei es, dass im Umgang
5
mit Kindern aus höheren Sozialschichten soziale Kompetenzen gelernt werden, die später in
der Schule nachgefragt werden, oder sei es, dass über Kontakte mit anderen Kindern in die
deutsche Sprache eingeübt wird.
Für die empirische Analyse beschränken wir aus Gründen verfügbarer Längsschnittdaten
auf Deutschland. Als Datengrundlage ziehen wir die Quer- und Längsschnittdaten des
Sozioökonomischen Panels (SOEP) heran. Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984
jährlich die ein und dieselben privaten Haushalte und ihre Mitglieder in der Bundesrepublik
Deutschland wiederholt befragt. In den privaten Haushalten werden alle Personen befragt, die
älter als 16 Jahre sind. Informationen über Kinder unter 16 Jahren werden über den
Haushaltsvorstand festgehalten. Im Jahre 1990 wurde die bislang auf die Bundesrepublik
beschränkte Erhebung von Quer- und Längsschnittinformationen auf das Gebiet der
ehemaligen DDR ausgeweitet.
Zusätzlich zu den Ost- und Westdeutschen enthält das SOEP auch Informationen über
Ausländer unterschiedlicher Nationalitäten, so dass die besondere Benachteiligung von
Migrantenkindern im bundesdeutschen Bildungssystem im Vergleich zu einheimischen
Schulkindern untersucht werden kann. Wegen unterschiedlicher Voraussetzungen und
Zeitfenster werden die Analysen für die drei Bevölkerungsgruppen – Westdeutsche,
Ostdeutsche und Ausländer – separat vorgenommen. Darüber hinaus lässt die Datenstruktur
des SOEP zu, die Angaben von Haushalten mit denen der Eltern und ihrer Kinder
systematisch zu verknüpfen. Somit sind differenzierte Analysen des sozial selektiven Zugangs
zu vorschulischen Betreuungseinrichtungen und die Effekte vorschulischer Kinderbetreuung
auf spätere Bildungschancen möglich.
Für den Zugang zur vorschulischen Kinderbetreuung untersuchen wir für den Zeitraum
von 1984 bis 2003 die Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, bevor sie eingeschult
werden. Aus logischen Gründen betrachten wir für die Auswirkung vorschulischer
Kinderbetreuung auf die Verteilung auf die Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I im Alter
von 14 Jahren die soziale Selektivität vorschulischer Betreuung im Zeitraum von 1984 bis
1995 und den Übergang am Ende der Grundschulzeit im Zeitraum von 1992 bis 2003. Aus
statistischen Gründen wird bei den Betreuungseffekten auf die Bildungschancen lediglich der
Besuch bzw. Nichtbesuch vorschulischer Kinderbetreuung im letzten Jahr vor der
Einschulung berücksichtigt (siehe auch Büchel, Spieß und Wagner 1997: 531). Schließlich
werden die 14-jährigen Schulkinder ausgeschlossen, die andere Schulen als das Gymnasium
oder die Haupt- und Realschule besuchen.
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2 Ausgewählte empirische Evidenzen
Methodische Vorüberlegungen Die empirische Überprüfung der Konsequenzen von vorschulischer Bildung für spätere
Bildungs- und Lebenschancen kann man durchaus als ein sozial- und bildungspolitisches
Experiment ansehen (Cook und Campbell 1979). Liegen Umfragedaten vor, wird dieser Test
in einem quasi-experimentellen Design vorgenommen (Heckman und Robb 1985). Bei der
Beurteilung der Wirksamkeit vorschulischer Kinderbetreuung treten jedoch methodische
Schwierigkeiten auf, wenn Umfragedaten verwendet werden, die eine zufällige Aufteilung
von Untersuchungs- und Kontrollgruppen nicht zulassen, wie dies für reine Experimente aber
notwendig ist (Heckman und Smith 1996; Heckman und Hotz 1989). Dagegen können mit
Experimentaldaten mehrstufige Bewertungs- und Entscheidungsprozesse beim Zugang zu
vorschulischen Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen nicht simuliert werden.
Ferner tritt bei der Evaluation der Konsequenzen von vorschulischer Bildung der
Spezialfall des „Problems der kausalen Inferenz“ (Holland 1984) auf, dass man ein Kind
niemals in den beiden Zuständen von Partizipation an vorschulischer Bildung und
Nichtteilnahme zugleich beobachtet. Es kann daher nicht die Frage beantwortet werden,
welche Auswirkung die Teilnahme an vorschulischer Bildung hat im Vergleich zur
Nichtteilnahme an vorschulischer Bildung, wenn ein teilnehmendes Kind nicht daran
teilgenommen hätte. Man weiß also nicht, welche Bildungschancen die Vorschulkinder
gehabt hätten, wenn sie nicht teilgenommen hätten. Deswegen kann nicht ohne weiteres – wie
dies Büchel, Spieß und Wagner (1997) aber tun – der Nutzen von vorschulischer
Kinderbetreuung durch einen einfachen Vergleich zwischen Teilnehmer und Nichtteilnehmer
an vorschulischer Bildung ermittelt werden.
Gehen wir von einer Ergebnisvariablen Yt aus, die für ein Kind im Falle einer
vorschulischen Kinderbetreuung zu einem bestimmten Zeitpunkt t und für ein Kind ohne
Beteiligung an vorschulischer Bildung ist, so kann deswegen der potentielle Nutzeneffekt
nicht identifiziert werden. Auch für die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit für
eine vorschulische Kinderbetreuung
1tY
0tY
01tt YYt −=∆
)|1Pr( itcD = – wobei D = 1 das Ereignis „Teilnahme an
vorschulischer Bildung“ ist und cit erklärende Variablen für dieses Ereignis sind – treten
wegen fehlender Informationen wie beim oben geschilderten Evaluationsproblem gravierende
7
Schätzprobleme auf. Aufgrund des resultierenden „selection bias“ in der Verteilung der
Effekte von vorschulischer Kinderbetreuung gilt daher:
d.h. der erwartete durchschnittliche Effekt der vorschulischen Bildung auf die späteren
Bildungschancen ist nicht gleich der Differenz der Ergebnisvariablen für eine Teilnahme und
Nichtteilnahme an vorschulischer Bildung, wie dies bei einem klassischen experimentellen
Design der Fall wäre. Deswegen ist bei multivariaten Schätzungen die Verwendung einer
Dummy-Variablen als Indikator für eine Teilnahme an vorschulischer Bildung nicht sinnvoll.
Des Weiteren ist zu bedenken, dass man – verfügt man wie in unserem Fall nicht über
perfekte Experimentaldaten – zu verzerrten Schätzergebnissen kommt, wenn man die
Selektionsprozesse und soziale Selektivität beim Zugang zur vorschulischen Bildung nicht
explizit kontrolliert. Deswegen verbietet es sich, Nichtteilnehmer ohne Kontrolle der
Selektivität in der vorschulischen Kinderbetreuung als Kontrollgruppe heranzuziehen
(Heckman 1992). So ist anzunehmen, dass höher gebildete Eltern oder erwerbstätige Mütter
oder Haushalte mit höherem Einkommen ihre Kinder eher in die Einrichtungen
vorschulischer Kinderbetreuung schicken als beispielsweise Eltern aus unteren
Sozialschichten, die geringere ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalstöcke aufweisen.
Gerade höher gebildete Eltern kennen die Möglichkeiten und Auswirkungen der frühen
vorschulischen Bildung besser als die weniger gebildeten Eltern. Erwerbstätige Mütter sind in
der Regel höher gebildet und nutzen eher die Optionen für die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf, die durch die vorschulische Kinderbetreuung gegeben ist. Diese Eltern haben nicht nur
die Ressourcen für die Nutzung von Angeboten der vorschulischer Bildung und
Kinderbetreuung, sondern sie verfügen bereits über die Ressourcen, die zu privilegierten
Bildungschancen ihrer Kinder führen – und zwar unabhängig davon, ob die Eltern ihre Kinder
in die Kindergärten oder auf Vorschulen schicken oder nicht. So bleibt zunächst unklar, ob
die besseren Bildungschancen ihrer Kinder kausal auf ihre vorschulische Bildung
zurückgeführt werden können oder schlichtweg auf der begünstigenden Sozialisation im
Elternhaus beruhen.
Das damit verbundene Evaluationsproblem kann durch die Kontrolle sozialer Selektivität
bei der Nutzung vorschulischer Kinderbetreuung und Bildung vor der Einschulung zumindest
teilweise gelöst werden. Es ist aber auch deutlich geworden, dass – wie bereits angedeutet –
die Einbeziehung einer Dummy-Variablen in multivariate Schätzungen, die indiziert, ob ein
Kind an vorschulischer Bildung teilgenommen hat, ein unzureichendes Vorgehen ist, weil
),0|(),1|(),1|( 01ittittit cDYEcDYEcDE =−=≠=∆ ,
8
sich damit erhebliche verzerrte Schätzergebnisse wegen des „selectivity bias“ ergeben
(Maddala 1978: 426). Für die Lösung des angeführten Selektivitäts- und Evaluationsproblems
in ökonometrischen Verfahren gibt es mittlerweile unterschiedliche Verfahren, die sich in
ihrer Leistungsfähigkeit unterscheiden (Lechner 1998; Fitzenberger und Prey 1998).
Angesichts dieser Arbeiten kann der Schluss gezogen werden, dass es nicht die Lösung gibt,
sondern mehrere unterschiedliche Verfahren ihre Berechtigung haben. Die Lösung für das
„selection bias problem“ liegt außerhalb der formalen Statistik. Weil der Prozess der
Selektion eher ein theoretisches als ein statistisches Problem ist, kommt es darauf an, in
theoretisch angemessener Weise den Selektionsprozess bei der Nutzung vorschulischer
Kinderbetreuung zu modellieren. Ohne hinreichendes Wissen über die Art und Weise, wie
Kinder in die vorschulischen Maßnahmen hineinselektiert werden, ist es nicht möglich, die
Effekte vorschulischer Bildung hinreichend genau zu quantifizieren. Aber oftmals kennen wir
diese Selektionsprozesse entweder zu wenig oder können sie mangels Informationen nicht
ausreichend statistisch testen. Oder sie werden schlichtweg ignoriert wie im Falle der Studie
von Büchel, Spieß und Wagner (1997).
Aus theoretischen wie pragmatischen Gründen wird das von Heckman (1979)
vorgeschlagene Verfahren zur Kontrolle von Stichprobenverzerrungen verwendet, das sich
bereits in vielen bildungssoziologischen Studien bewährt hat (vgl. Becker 2003).1 Bei der
Ermittlung des Nutzens vorschulischer Kinderbetreuung für den weiteren Bildungsweg wird
im ersten Schritt der Selektionsprozess beim Zugang zur vorschulischen Bildung geschätzt.
Die Schätzergebnisse für die sozial selektive Verteilung der Nutzung vorschulischer
Kinderbetreuung gehen im zweiten Schritt als instrumentelle Variable λ in die Schätzung der
Nutzenfunktionen ein – eben in das Modell für den Übergang von der Grundschule auf die
weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I (Heckman 1997).2 Damit ist es
1 Das Matching-Verfahren ist angesichts des geringen Stichprobenumfangs für die Schulkinder kaum praktikabel. Wenn zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Kinder im Vorschulalter die Kinderbetreuungseinrichtungen besuchen, dann wird es schwierig, für die abstinenten Kinder in ausreichender Zahl einen „Zwilling“ zu finden. Diese technische Schwierigkeit wächst mit der Zahl der Variablen, die man für die Paarzusammenstellung verwenden möchte, so dass dann die Analysestichprobe immer geringer ausfällt. 2 Die Schätzergebnisse für die Nutzung des Angebots an vorschulischer Bildung werden als sogenannte inverse Mill’s Ratios (IMR) herausgeschrieben und bilden eine Variable, die dann als unabhängige Variable im Schätzmodell für die Effekte vorschulischer Bildung auf den Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen fungiert. Aus theoretischer Sicht dient das IMR als metrische Instrumental-Variable dazu, den kausalen Einfluss der mit dem Elternhaus verbundenen Ressourcen, Restriktionen und Aspirationen auf den Besuch vorschulischer Einrichtungen zu messen. Aufgrund der Möglichkeiten des Elternhauses ist von einer sozialen Selektivität der Definition der Situation, ihrer Evaluation und der daraus folgenden Entscheidung für oder gegen eine vorschulische Bildung ihrer Kinder auszugehen. In dieser Hinsicht wird durch das schrittweise Vorgehen die Wahrscheinlichkeit für die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Schullaufbahn mit der sozialen Selektivität der Entscheidungsdeterminanten „gewichtet“. Das IMR dient zudem auch als eine Korrekturvariable, die notwendig ist, weil man sonst verzerrte Schätzergebnisse für die sozial
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möglich, den vermuteten positiven Effekt vorschulischer Kinderbetreuung auf die
Bildungschancen zu beurteilen.
Datenbasis Die empirischen Quer- und Längsschnittanalysen basieren auf den Daten des Sozio-
oekonomischen Panels (SOEP Group 2001). Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984
jährlich die ein und dieselben privaten Haushalte und ihre Mitglieder in der Bundesrepublik
Deutschland wiederholt befragt. In den privaten Haushalten werden alle Personen befragt, die
älter als 16 Jahre sind. Informationen über Kinder unter 16 Jahren werden über den
Haushaltsvorstand festgehalten. Im Jahre 1990 wurde die bislang auf die Bundesrepublik
beschränkte Erhebung von Quer- und Längsschnittinformationen auf das Gebiet der
ehemaligen DDR ausgeweitet.
Zusätzlich zu den Ost- und Westdeutschen enthält das SOEP auch Informationen über
Ausländer unterschiedlicher Nationalitäten, so dass die besondere Benachteiligung von
Migrantenkindern im bundesdeutschen Bildungssystem im Vergleich zu einheimischen
Schulkindern untersucht werden kann. Wegen unterschiedlicher Voraussetzungen und
Zeitfenster werden die Analysen für die drei Bevölkerungsgruppen – Westdeutsche,
Ostdeutsche und Ausländer – separat vorgenommen. Darüber hinaus lässt die Datenstruktur
des SOEP zu, die Angaben von Haushalten mit denen der Eltern und ihrer Kinder
systematisch zu verknüpfen. Somit sind differenzierte Analysen des sozial selektiven Zugangs
zu vorschulischen Betreuungseinrichtungen und die Effekte vorschulischer Kinderbetreuung
auf spätere Bildungschancen möglich.
Für den Zugang zur vorschulischen Kinderbetreuung untersuchen wir für den Zeitraum
von 1984 bis 2003 die Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, bevor sie eingeschult
werden. Aus logischen Gründen betrachten wir für die Auswirkung vorschulischer
Kinderbetreuung auf die Verteilung auf die Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I im Alter
von 14 Jahren die soziale Selektivität vorschulischer Betreuung im Zeitraum von 1984 bis
1992 und den Übergang am Ende der Grundschulzeit im Zeitraum von 1992 bis 2003.
Besuch von Betreuungseinrichtungen im Zeitverlauf In Abbildung 2 werden in der Abfolge von Geburtsjahrgängen (Kohorten) für die drei- bis
siebenjährigen Kinder die Entwicklungen des Besuchs von Betreuungseinrichtungen vor ihrer
Einschulung dargestellt. Wie bereits oftmals dokumentiert, ist im Zeitraum von 1984 bis 2003 selektiven Entscheidungen und Übergänge erhalten würde. Deren Werte können als Vorhersagewerte für den Besuch vorschulischer Versorgungseinrichtungen interpretiert werden.
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die Nutzungsquote bei den Ostdeutschen am höchsten, gefolgt von den Westdeutschen, und
die niedrigsten Nutzungsquoten weisen Kinder von Migranten auf.
Abbildung 2: Besuch von vorschulischen Betreuungseinrichtungen der 3- bis 7-jährigen Kinder vor der Einschulung (Deutschland, 1984-2003)
8988
72
65 67
49
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Ostdeutsche
Westdeutsche
Ausländer
Quelle: SOEP 1984-2003 (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung So liegen in der Abfolge von Geburtsjahrgängen deren Quoten zwischen 49 und 67 Prozent.
Allenfalls zwei Drittel der Ausländerkinder im Alter zwischen drei und sieben Jahren
besuchen die vorschulischen Einrichtungen, insbesondere die Kindergärten, während fast drei
Viertel der westdeutschen Kinder und mehr als 80 Prozent der ostdeutschen Kinder in diesem
Lebensalter in vorschulischen Einrichtungen betreut werden. Gemessen an der Partizipation
ist bei den Deutschen – im Unterschied zu den Ausländerkindern – der Kindergarten zur
„Regel-Einrichtung“ geworden, was allerdings noch nichts über den Wandel in der Qualität
von Kindergarten als „Verwahranstalt“ aussagt (vgl. Kreyenfeld, Spieß und Wagner 2002:
203).
Betrachtet man den Besuch vorschulischer Betreuungseinrichtungen nach dem Alter der
Kinder, so steigen die relativen Anteile der Kinder in vorschulischer Bildung mit ihrem Alter
(Tabelle 1). Während in Ostdeutschland schon die meisten Kinder im Alter von drei Jahren in
diesen Einrichtungen sind, setzt in Westdeutschland der Besuch erst im vierten oder fünften
Lebensjahr ein. Die meisten Kinder in allen drei Subpopulationen besuchen im Alter von
sechs Jahren vorschulische Betreuungseinrichtungen.
11
Tabelle 1: Besuch einer vorschulischen Bildungseinrichtung Deutschland nach Alter (Abstromprozente)
Alter Westdeutsche Ausländer Ostdeutsche 3 15,9 9,2 65,7 4 57,4 44,7 85,5 5 87,9 67,2 90,5 6 93,2 73,7 92,1 7 87,6 72,9 91,5
Insgesamt 65,7 50,9 84,9
Quelle: SOEP1984-2003 (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Plausibel für diese unterschiedlichen Entwicklungen bei den betrachteten Subpopulationen
dürften folgende Gründe sein. In Ostdeutschland führt neben der fortgesetzten Tradition aus
DDR-Zeiten das strukturelle Angebot an vorschulischer Kinderbetreuung auch zur
entsprechenden Nutzung, die durch die starke Erwerbsorientierung ostdeutscher Mütter
gefördert wird. Die soziokulturelle Distanz zu Bildungsinstitutionen in Deutschland ist
möglicherweise der entscheidende Grund für die vergleichsweise niedrigen Besuchsquoten
bei den Ausländern.
Möchte man die kompensatorischen Bildungseffekte vorschulischer Bildung und
Betreuung beurteilen, ist es notwendig, abgesehen vom strukturellen Angebot an
vorschulischer Bildung die Sozialstruktur bei der Nutzung von Kindergärten und Vorschulen
zu berücksichtigen. Gibt es eine soziale Ungleichheit bei der Nutzung dieser vorschulischen
Betreuung, dann ist eine Verschärfung von Bildungsungleichheiten im Schulsystem nicht
ausgeschlossen. Aus humankapitaltheoretischer Sicht scheinen zwei Argumentationsstränge
sinnvoll, um die Nutzung vorschulischer Bildung und ihre soziale Selektivität zu beschreiben.
Zum einen weisen Büchel, Spieß und Wagner (1997: 528) aus Sicht der klassischen
Humankapitaltheorie darauf hin, dass auch frühe vorschulische Investitionen der Eltern in das
Humankapital ihrer Kinder rational sind, um ihre Bildungschancen und späteren Einkommen
zu verbessern. Zum anderen bietet die vorschulische Bildung den erwerbstätigen Müttern die
Möglichkeit, auf einem kostengünstigen Wege die Renditen ihrer eigenen
Humankapitalinvestitionen langfristig zu sichern. Diese zusätzlichen Einkommen können
dann wiederum in die Ausbildung der Kinder investiert werden.
12
Tabelle 2: Determinanten des Besuchs einer vorschulischen Bildungseinrichtung – Drei- bis siebenjährige Kinder in der Zeit von 1984 bzw. 1992 bis 2003 (odds ratio – geschätzt mit logistischer Regression)
West- deutsche
(Modell 1)
West- deutsche
(Modell 2)
Migranten
(Modell 1)
Migranten
(Modell 2)
Migranten
(Modell 3)
Ost- deutsche
Zeitdimensionen Alter 3,673*** 3,610*** 2,612*** 2,685*** 2,490*** 1,736*** Periode 1,029*** 1,031*** 1,036*** 1,034*** 1,031*** 0,974 Ressourcen des Haushalts Haushaltsgröße 0,889*** 0,931* 0,800*** 0,845*** 0,870*** 0,615*** Haushaltseinkommen 1,064*** 1,016 1,111*** 1,062* 1,074† 1,151† Bildung der Mutter 1,024 1,010 1,097*** 1,057* 1,060† 1,064 Bildung des Vaters 1,047*** 1,042*** 1,041* 1,037† 1,046 Berufliche Integration Erwerbstätigkeit Mutter 1,387*** 1,788*** 1,880*** 3,050*** Sozioökonomischer Status 1,007*** 1,011*** 1,016*** 1,014 Kulturelle Integration Mutter 1,443*** Vater 0,904 Pseudo-R² (Cox-Snell) Pseudo-R² (Nagelkerke) Besuch in % N (Insgesamt)
0,33 0,46 62,5
7.927
0,33 0,46 63,1
7.387
0,26 0,35 53,7
4.132
0,28 0,38 54,8
3.632
0,27 0,36 52,8 2.391
0,14 0,24 85,8 2.164
* p ≤ 0.05; ** p ≤ 0.01; *** p ≤ 0.01; † p ≤ 0.1 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung Allerdings spielen neben den ökonomischen Ressourcen auch andere Ressourcen und
Gelegenheiten des Elternhauses eine Rolle für Bildungsinvestitionen − etwa alternative
Betreuung von Kindern durch andere Haushaltsmitglieder oder kulturelles Kapital wie
elterliche Bildungsaspirationen, Erfahrungen der Eltern mit dem System höherer Bildung,
Vermittlung von Sprachfertigkeiten, Integration der Eltern in das Erwerbssystem und damit in
die Sozialstruktur der Gesellschaft, um einige ausgewählte Aspekte zu nennen. Insgesamt
können − vorausgesetzt die entsprechenden Ressourcen liegen vor − mit Investitionen in die
vorschulische Bildung auch Grundlagen dafür geschaffen werden, dass der intergenerationale
Transfer des Humankapitals von der Eltern- auf die Kindergeneration erfolgreich verläuft.
Die empirischen Befunde zeigen zunächst für alle Sozialgruppen, dass in der Abfolge von
Kohorten oder im historischen Ablauf die Chancen gestiegen sind, vorschulische
Bildungseinrichtungen zu besuchen. Zumindest für ältere Kinder ist es wahrscheinlich, vor
ihrer Einschulung den Kindergärten oder die Vorschule besucht zu haben.
Verfügen Haushalte über höhere Einkommen, dann besuchen Kinder vorschulische
Einrichtungen eher als, wenn nur geringe Einkommen verfügbar sind. Je größer der Haushalt
ist, desto seltener besuchen Kinder vorschulische Einrichtungen. Von der alternativen
Möglichkeit für eine kostengünstige Kinderbetreuung machen vor allem Migranten Gebrauch.
Je höher das Bildungsniveau der Eltern ist, desto eher besuchen Kinder vorschulische
13
Bildungseinrichtungen; dies ist vor allem wiederum bei den Migranten der Fall, während bei
den Ostdeutschen keine Bildungsselektivitäten vorliegen.
Je höher der sozioökonomische Status des Elternhauses ist, desto eher erfolgt eine
außerhäusliche Kinderbetreuung in vorschulischen Einrichtungen. Je besser die soziale
Integration des Elternhauses durch die Erwerbstätigkeit der Mutter gelingt, desto eher
partizipieren Kinder auch an vorschulischer Betreuung. Die strukturelle Notwendigkeit der
externen Kinderbetreuung, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sichern, verliert an
Trivialität, wenn berücksichtigt wird, dass dieser Zusammenhang vor allem bei Migranten
auftritt, die die besten Alternativen zur institutionellen außerhäuslichen Betreuung aufweisen.
Schließlich ist bei Migranten der Besuch vorschulischer Bildung am wahrscheinlichsten,
wenn die Mutter über gute (selbst eingeschätzte) Fähigkeiten verfügt, Deutsch zu sprechen.
Insgesamt zeigt sich, dass berufliche Integration, kulturelle Assimilation und verfügbares
Kulturkapital die wichtigsten Mechanismen darstellen, dass Kinder mit
Migrationshintergrund in Deutschland die vorschulischen Betreuungseinrichtungen besuchen.
Für die einheimischen Kinder hängen die Partizipationschancen vornehmlich von den
vorteilhaften sozioökonomischen Ressourcen im Elternhaus ab.
Bei den Migranten könnte man noch zusätzlich argumentieren, dass nicht alleine der
Migrantenstatus, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität
ausschlaggebend dafür ist, ob die Kinder vorschulische Betreuungseinrichtungen besuchen
oder nicht. Oder anders ausgedrückt: Es könnten auch Unterschiede zwischen den einzelnen
Nationalitäten geben und dass es daher die im vorschulischen und schulischen
Bildungssystem benachteiligten Kinder von Migranten nicht gibt. Folgendes sei vorweg
genommen: Erstens haben sich anthropologische Plausibilitätsannahmen über kulturelle
Defizite, Differenzen und Milieus – also des Fremd- oder Andersseins, wonach die
ausländischen Schulkinder und ihre Eltern nicht über die notwendigen Voraussetzungen oder
den Willen verfügen, das System vorschulischer und schulischer Bildung im Ankunftsland
mit Erfolg zu durchlaufen – empirisch nicht bestätigt. Bislang haben auch kultursoziologische
und milieutheoretische Ansätze keinen substanziellen Beitrag zur Erklärung von Entstehung
und Reproduktion sozialer Bildungsungleichheiten geliefert.
Im ersten sehr einfachen Schätzmodell deutet es sich an, dass gerade türkische Kinder im
Vergleich zu andere Nationalitäten die vergleichsweise geringsten Chancen haben, an der
vorschulischen Bildung zu partizipieren. Allerdings verschwinden die nationalen
Unterschiede gänzlich, wenn Ressourcen des Elternhauses kontrolliert werden. Es ist eben
nicht die nationale Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, die die
14
frühen Bildungschancen determinieren, sondern − wie von der Humankapitaltheorie
prognostiziert − Ressourcen, die für die Ausbildung der Kinder mobilisiert werden können.
Tabelle 3: Determinanten des Besuchs einer vorschulischen Bildungseinrichtung – nur drei- bis siebenjährige Kinder von Migranten (odds ratio – geschätzt mit logistischer Regression)
Modell 1 Modell 2 Modell 3 Alter 2,55*** 2,70*** 2,52*** Periode 1,06*** 1,04*** 1,02*** Haushaltsgröße 0,87*** 0,89*** Haushaltseinkommen 1,06* 1,07* Bildung der Mutter 1,06* 1,06† Bildung des Vaters 1,05* 1,06† Erwerbstätigkeit der Mutter 1,79*** 1,93*** Sozioökonomischer Status 1,01*** 1,01* Deutsch sprechen (Mutter) 1,46*** Deutsch sprechen (Vater) 0,97 Nationalität des Haushaltsvorstandes türkisch 0,54* 0,67 0,94 (ex-)jugoslawisch 0,68 0,65 0,59 griechisch 0,75 0,65 0,85 italienisch 0,80 0,88 1,17 spanisch 1,08 0,92 1,52 deutsch 0,87 0,63 1,33
Pseudo-R² (Cox-Snell) Pseudo-R² (Nagelkerke) Besuch in % N (Insgesamt)
0,25 0,34 53,8 4.868
0,28 0,38 54,8 3.632
0,27 0,37 52,8 2.391
* p ≤ 0.05; ** p ≤ 0.01; *** p ≤ 0.01; † p ≤ 0.1 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Bildungseffekte vorschulischer Betreuung Die empirische Überprüfung der Konsequenzen von vorschulischer Bildung für spätere
Bildungs- und Lebenschancen kann man durchaus als ein sozial- und bildungspolitisches
Experiment ansehen (Cook und Campbell 1979). Liegen Umfragedaten vor, wird dieser Test
in einem quasi-experimentellen Design vorgenommen. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit
vorschulischer Kinderbetreuung treten jedoch methodische Schwierigkeiten auf, wenn
Umfragedaten verwendet werden, die eine zufällige Aufteilung von Untersuchungs- und
Kontrollgruppen nicht zulassen, wie dies für reine Experimente aber notwendig ist.
Ferner tritt bei der Evaluation der Konsequenzen von vorschulischer Bildung der
Spezialfall des „Problems der kausalen Inferenz“ (Holland 1984) auf, dass man ein Kind
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niemals in den beiden Zuständen von Partizipation an vorschulischer Bildung und
Nichtteilnahme zugleich beobachtet. Es kann daher nicht die Frage beantwortet werden,
welche Auswirkung die Teilnahme an vorschulischer Bildung hat im Vergleich zur
Nichtteilnahme an vorschulischer Bildung, wenn ein teilnehmendes Kind nicht daran
teilgenommen hätte. Man weiß also nicht, welche Bildungschancen die Vorschulkinder
gehabt hätten, wenn sie nicht teilgenommen hätten.
Tabelle 4: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen nach Nationalität und Besuch vorschulischer Bildungseinrichtungen (Abstromprozente für Deutschland 1992-2003)
Besuch vorschulischer Bildungseinrichtung
Westdeutsche
Migranten
Ostdeutsche
HS RS GYM HS RS GYM HS RS GYM Ja 27,0 31,0 42,0 49,0 29,4 21,6 11,9 46,4 41,8 Nein 50,8 23,7 25,4 58,9 33,7 7,4 5,9 70,6 23,5 Insgesamt 28,6 30,5 41,0 51,7 30,6 17,7 11,4 48,3 40,3 Cramér’s V 0,13 0,17 0,13 HS = Hauptschule, RS = Realschule und GYM = Gymnasium Quelle: SOEP – eigene Berechnungen
Ungeachtet dieser methodischen Schwierigkeit, können wir anhand einfacher Deskriptionen
den Einfluss von vorschulischer Bildung auf die späteren Bildungschancen − gemessen
anhand der Verteilung auf die stratifizierten Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I −
abschätzen. Zunächst werden sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Migranten die
Bildungschancen befördert, wenn sie vor der Einschulung Kindergarten oder Vorschule
besuchen. Während rund 27 Prozent der westdeutschen Schulkinder, die eine vorschulische
Einrichtung besucht haben, am Ende ihrer Grundschulzeit auf die unterste Schullaufbahn, die
Hauptschule, rund 31 Prozent in die Realschule, die mittlere Schullaufbahn, und schließlich
42 Prozent auf das Gymnasium, der höchsten Schullaufbahn. Hingegen wechselt die Hälfte
der westdeutschen Schulkinder ohne Erfahrung mit vorschulischer Bildung in die
Hauptschule über und rund ein Viertel auf das Gymnasium. So gesehen, haben westdeutsche
Schulkinder mit Kindergarten- und Vorschulerfahrung eine doppelt so hohe Chance, auf das
Gymnasium zu wechseln, als ihren counterpart ohne jegliche vorschulische Bildung. Ähnliche
Chancenstrukturen bestehen bei den ostdeutschen Schulkindern, wobei diejenige ohne
Vorschulerfahrung bessere Chancen haben, mindestens auf die Realschule zu wechseln, als
dies bei den Westdeutschen der Fall ist. Oder anders ausgedrückt: Ohne Kindergarten- und
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Vorschulerfahrung haben westdeutsche Schulkinder ein 2,7-Mal größeres Risiko, in die
Hauptschule zu gelangen, als Westdeutsche mit Kindergarten- und Vorschulbesuch.
Hingegen haben Kinder von Migranten − unabhängig davon, ob sie Kindergärten bzw.
Vorschulen besucht haben oder nicht − deutlich ungünstigere Bildungschancen als
Einheimische. So haben Einheimische rund 3-Mal bessere Chancen, auf das Gymnasium zu
wechseln, während Migrantenkinder ein fast 9-Mal höheres Risiko zu haben, in die
Hauptschule zu wechseln. Besuchen sie vorschulische Einrichtungen, dann haben sie 3,4-Mal
bessere Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln, als ihre Landsleute ohne jegliche
Erfahrung mit Kindergarten und Vorschule. Verglichen mit den einheimischen Schulkindern,
die ebenfalls vorschulische Betreuungseinrichtungen besucht haben, sind die Migranten trotz
dieser Startvorteile immer noch deutlich benachteiligt beim Übergang in die Sekundarstufe I:
Einheimische mit vorschulischer Bildung haben immer noch 2,5-Mal bessere Chancen, auf
das Gymnasium zu wechseln, während Migrantenkinder mit Vorschulerfahrung die gleichen
Bildungschancen haben wie Einheimische ohne Vorschulerfahrung.
Nunmehr gibt es sicherlich nicht homogene Bildungschancen für die betrachteten
Gruppen, wenn zusätzlich weitere Ressourcen des Elternhauses in Betracht gezogen werden.
Als außerordentlich ungünstig für unsere Fragestellung erweist es sich, dass mit den Daten
des SOEP der Einfluss schulischer Leistungen sowie der Bildungsempfehlungen auf den
Übergang in die Sekundarstufe I und damit eine wichtige Komponente der primären
Herkunftseffekte und des Bildungserfolgs nicht kontrolliert werden kann (vgl. Becker 2003).
Aber offensichtlich bestimmen soziökonomische Ressourcen des Elternhauses und das
kulturelle Kapital der Eltern die Bildungschancen von Kindern.
Werden diese Ressourcen berücksichtigt, dann gibt es nur noch für die Migranten einen
signifikanten Bildungseffekt vorschulischer Betreuung. Bei diesem Bildungseffekt ist die
soziale Selektivität bei der Partizipation an vorschulischer Betreuung und Bildung in Form
von bedingten Wahrscheinlichkeiten, diese Einrichtungen besucht zu haben, berücksichtigt.
So haben Migranten, die vor ihrer Einschulung Kindergarten und Vorschule besucht haben,
signifikant bessere Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln, als ihre Landsleute ohne
vorschulische Bildung. So gesehen, rentieren sich für Migranten entsprechende Investitionen
in vorschulische Bildung, auch wenn dadurch ihre relativen Nachteile beim Bildungserwerb
gegenüber den einheimischen Schulkindern nicht wettgemacht werden können.
Tabelle 5: Einfluss des Besuchs vorschulischer Kinderbetreuungseinrichtungen auf die Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern (odds ratios – geschätzt mit multinomialer bzw. binärer Logit-Regression bei Kontrolle sozialer Selektivität des Besuchs vorschulischer Bildungseinrichtungen)
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Westdeutsche Migranten Ostdeutsche Real-
schule Gymna-
sium Real- schule
Gymna- sium
Gymna- sium
λ(vorschulische Bildung)
1,326 1,182 0,953 1,824* 0,797
Junge
0,773 0,651*
0,710 1,087 0,523*
Bildungsniveau der Mutter
1,190** 1,502*** 1,076* 1,206** 1,145*
Sozioökonomischer Status
1,031*** 1,064*** 1,006 1,026* 1,048*
Periode
1,024 0,980 1,718* 1,655 1,245
Pseudo-R² N
0,131 799
0,052 350
0,133 188
* p ≤ 0.05; ** p ≤ 0.01; *** p ≤ 0.01; † p ≤ 0.1 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Tabelle 6: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern mit Migrationshintergrund (odds ratio – geschätzt mit multinomialer Logit-Regression bei Kontrolle sozialer Selektivität des Besuchs vorschulischer Bildungseinrichtungen)
Modell 1 Modell 2 Modell 3 Real-
schule Gymna-
sium Real- schule
Gymna- sium
Real- schule
Gymna- sium
Soziale Herkunft λ(vorschulische Bildungseinrichtung)
1,017 1,900** 0,969 1,987**
Junge
0,672 1,043
Bildungsniveau der Mutter
0,935†
1,226**
Sozioökonomischer Status
0,993 1,032*
Periode
1,744* 1,717
Nationale Herkunft Türkei 0,731 0,628† 0,731 0,665 1,381 0,817 Jugoslawien 0,751 0,697 0,749 0,720 0,838 0,854 Griechenland 2,179* 3,468** 2,170* 3,810** 2,368* 3,954** Italien 0,583* 0,484* 0,479* 0,451* 0,580* 0,432* Spanien 1,520 1,247 1,526 1,106 1,180 0,504 Pseudo-R² N
0,026 350
0,039 350
0,081 350
* p ≤ 0.05; ** p ≤ 0.01; *** p ≤ 0.01; † p ≤ 0.1 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung Für die Migrantenkinder in Deutschland wurde in früheren Studien eine zunehmende
Ungleichheit von Bildungschancen festgestellt (Esser 2001). Hierbei gibt es aber eine
Binnendifferenzierung. In Deutschland haben Griechen deutlich günstigere Bildungschancen
als die größte Ausländergruppe in Deutschland, die Türken. Die Italiener, die am längsten in
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Deutschland leben, weisen noch schlechtere Bildungserfolge als die Türken auf, was gegen
die These eines kulturellen Defizits an Kenntnissen und Verhaltensweisen, die in der Schule
nachgefragt werden, bei den ausländischen Kindern spricht.
Diese vorliegenden Befunde, die unter anderem mit demselben Datensatz generiert
wurden, können wir auch dann bestätigen, wenn die Partizipation an vorschulischen
Bildungseinrichtungen kontrolliert wird. So haben Griechen die günstigsten Bildungschancen
unter den Migranten, während die Italiener die ungünstigsten Bildungschancen aufweisen.
Die relative Benachteiligung von türkischen Schulkindern beim Übergang in das Gymnasium
erweist sich als zufällig, wenn der Besuch vorschulischer Einrichtungen in Rechnung gestellt
wird. Die Binnendifferenzierung von Bildungschancen bei den Migranten ist auch dann noch
festzustellen, berücksichtigt man die sozioökonomischen Ressourcen und das Bildungskapital
der Eltern. Offensichtlich spielen auch soziale Bedingungen innerhalb der Gruppe von
Migranten eine gewichtige Rolle, die mit dem Migrationsstatus verbunden sind. Als
aussagekräftig haben sich in vorliegenden Studien Faktoren wie das Alter der Kinder bei
Einwanderung, Dauer des Verbleibs im Ankunftsland, Transferierbarkeit elterlicher
Ressourcen für den deutschen Arbeitsmarkt, etc. erwiesen.
Wenn die einheimischen Schulkinder nicht in besonderer Weise von vorschulischer Bildung
„profitieren“, stellt sich die Frage, ob wenigstens die sozial benachteiligten Arbeiterkinder
ihre Bildungschancen relativ verbessern können, wenn sie an der vorschulischen Bildung
partizipieren. Dies scheint zunächst sowohl für einheimische als auch ausländische Kinder der
Fall zu sein. So haben westdeutsche Arbeiterkinder eine 4,9-Mal bessere Chance, auf das
Gymnasium zu wechseln, wenn sie vor der Einschulung Kindergarten oder Vorschule besucht
haben. Geringer sind die Chanceunterschiede bei den ostdeutschen Arbeiterkindern, die aber
mehr von Kindergarten und Vorschule profitieren, als die westdeutschen Arbeiterkinder.
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Tabelle 7: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Schulkindern mit Vorschulbildung nach sozialer Herkunft (Abstromprozente für Westdeutschland 1992-2003)
Hauptschule Realschule Gymnasium Westdeutsche Arbeiterkinder Kindergartenbesuch 38,8 34,6 26,6 Kein Kindergartenbesuch 71,0 22,6 6,5 Kinder un- und angelernter Arbeiter Kindergartenbesuch 53,4 28,4 18,2 Kein Kindergartenbesuch 70,6 17,6 11,8 Westdeutsche Kinder aus der oberen und unteren Dienstklasse
Kindergartenbesuch 12,5 26,5 61,0 Kein Kindergartenbesuch 0,0 36,4 63,6
Migrantenkinder aus Arbeiterklasse
Kindergartenbesuch 52,5 31,7 15,8 Kein Kindergartenbesuch 61,3 31,3 7,5 Kinder un- und angelernter Arbeiter Kindergartenbesuch 54,9 28,6 16,5 Kein Kindergartenbesuch 68,8 27,1 4,2 Migrantenkinder aus der oberen und unteren Dienstklasse
Kindergartenbesuch 9,5 23,8 66,7 Kein Kindergartenbesuch 33,3 66,7 0,0
Ostdeutsche Arbeiterkinder Kindergartenbesuch 15,7 49,0 35,3 Kein Kindergartenbesuch 0,0 75,0 25,0 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung
Im Vergleich zu den Kindern aus der oberen und unteren Dienstklasse bleiben sowohl
einheimische als auch ausländische Arbeiterkinder in ihren Bildungschancen benachteiligt,
auch wenn sie Kindergarten und Vorschule besuchen. Partizipieren die Kinder aus den
höheren Sozialschichten an vorschulischer Bildung, dann bleiben die sozialen Disparitäten in
den Bildungschancen weiterhin bestehen.
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Tabelle 8: Bildungsbeteiligung von 14-jährigen Arbeiterkindern (odds ratio – geschätzt mit multinomialer Logit-Regression bei Kontrolle sozialer Selektivität des Besuchs vorschulischer Bildungseinrichtungen)
Arbeiterkinder Arbeiterkinder Nur Kinder von un- und angelernten Arbeitern
Real-
schule Gymna-
sium Real- schule
Gymna- sium
Real- schule
Gymna- sium
λ(vorschulische Bildungseinrichtung)
1,612* 1,983* 1,571† 1,922† 1,634 1,307
Junge
0,687 0,488* 0,805 0,402
Bildungsniveau der Mutter
1,288* 1,793 1,218 1,418†
Sozioökonomischer Status
1,014 1,012 1,023 1,000
Periode
1,085* 1,059 1,069† 1,004 1,230* 1,093
Pseudo-R² N
0,019 313
0,089 313
0,084 102
* p ≤ 0.05; ** p ≤ 0.01; *** p ≤ 0.01; † p ≤ 0.1 Quelle: SOEP (ungewichtete Ergebnisse) – eigene Berechnung Zudem zeigen weiterführende Analysen, dass sich der Bildungseffekt vorschulischer Bildung
relativiert, wenn Ressourcen des Elternhauses kontrolliert werden. Hierbei ist ersichtlich, dass
sich die Bildungseffekte vorschulischer Betreuung nur für Kinder qualifizierter Arbeiter
(„affluent worker“ wie etwa Facharbeiter, Meister und Poliere sowie Industriewerkmeister)
ergeben, während Kinder un- und angelernter Arbeiter in ihren Bildungschancen weiterhin
besonders benachteiligt sind. Ihre Benachteiligung kann auch durch entsprechende
Maßnahmen der vorschulischen Einrichtungen der Gegenwart kaum ausgeglichen werden.
3 Zusammenfassung und Schlussfolgerung Ziel der vorliegenden Studie war es, die Frage zu klären, ob sich die vorschulische Betreuung
in Krippenplätzen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen förderlich auf die
Bildungschancen von Jugendlichen auswirken. Im Sinne kumulativer Bildungsforschung
haben wir mit Längsschnittdaten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) versucht, die
empirische Studie fortzuführen, die von Büchel, Spieß und Wagner im Jahre 1997 vorgelegt
wurde. Unsere Replikation ist auch als eine ‚pre-evaluation study’ zu verstehen, in der eruiert
werden soll, ob vorschulische Kinderbetreuung als ein sozial- und bildungspolitisches
Förderprogramm zum Abbau herkunftsbedingter Chancenungleichheit beiträgt und ein
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geeignetes Instrumentarium für die Leistungs- und Kompetenzsteigerung bei (sozial
benachteiligten) Schulkindern ist.
Die empirischen Auswertungen mit den Panel-Daten führen zu ernüchternden
Ergebnissen. Zwar verbessern sich die Chancen für den Übergang in die höheren
Schullaufbahnen, wenn die Kinder vor ihrer Einschulung vorschulische Einrichtungen
besucht haben. Eine optimistische Sichtweise würde hervorheben, dass gerade
Migrantenkinder durch vorschulische Bildung ihre Bildungsaussichten deutlich verbessern
können. Aber eine eher pessimistische Sichtweise ergibt sich durch den Befund, dass
Migrantenkinder mit einer vorschulischen Bildung gerade solche Bildungschancen realisieren
können, wie deutsche Schulkinder ohne Besuch vorschulischer Kinderbetreuung. Auch
können Arbeiterkinder mit vorschulischer Bildung ihre Bildungsdefizite gegenüber höheren
Sozialschichten kaum wettmachen.
Trotz alledem sind die vorgelegten Befunde mit gewissen Einschränkungen zu
interpretieren, die sich aus Messungenauigkeiten und fehlenden Informationen ergeben.
Erstens führt – und darauf weisen auch Büchel, Spieß und Wagner (1997) hin –
möglicherweise die durch das SOEP vorgegebene unzureichende Abgrenzung der
unterschiedlichen Formen der vorschulischen Kinderbetreuung dazu, unsere Befunde als sehr
vorläufige zu betrachten. So ist eine präzise Extraktion von Tagesmüttern aus der heterogenen
Kategorie vorschulischer Betreuung erst seit der Befragungswelle im Jahre 2000 möglich.
Zweitens könnten wir es bei den Bildungseffekten vorschulischer Betreuung mit einem
statistischen Artefakt zu tun haben, weil mangels verfügbarer Informationen im SOEP nicht
nur die schulische Leistung der Kinder, sondern auch die Qualität der vor der Einschulung
besuchten Betreuungseinrichtungen nicht berücksichtigt werden konnte. Dieses Manko ist
erheblich, da die Forderungen nach der Professionalisierung von vorschulischer Bildung und
einer besseren Ausbildung des Lehr- und Betreuungspersonals nicht evaluiert werden kann.
Jedoch weist die von der OECD jüngst vorgelegte Studie, dass die vorschulischen
Betreuungseinrichtungen im Osten Deutschlands erheblich besser sind als im Westen
Deutschlands. So könnte der positive Einfluss von Kindergärten oder Vorschule auf
Bildungschancen möglicherweise überschätzt, weil wir es gegenwärtig noch, von einigen
Ausnahmen abgesehen, eher mit „Verwahranstalten“ als mit Einrichtungen zu tun haben, die
einen klaren Bildungsauftrag und curriculare Bildungsziele verfolgen. Daher müssten in
Zukunft der Bildungsverlauf der Kinder und die Auswirkungen der Qualität von Kindergärten
auf die schulische Leistung und den Bildungserfolg systematisch im Längsschnitt untersucht
werden (vgl. Weisshuhn 2001: 11).
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Und schließlich müssen wir drittens uns vor Augen halten, dass wir es mit einer
hochgradig selektiven Stichprobe zu tun haben, die vor allem die positiven Bildungseffekte
bei den Migranten betrifft. Die Evaluation wurde für die Kinder und ihre Eltern
vorgenommen, die mehr als acht Jahre am Sozioökonomischen Panel teilgenommen haben.
Panelmortalität, Rückwanderungen und Transmigration haben wir nicht berücksichtigt.
Ebenso wenig berücksichtigt haben wir, ob die Migrantenkinder in ihrem Heimatland
entsprechende Erfahrungen mit vorschulischer und schulischer Bildung gesammelt haben. Für
eine rationale Bildungspolitik, zu der eine theorie- und empiriegeleitete Bildungsforschung
beitragen kann, sind die Einschränkungen in der Datenlage aufzuheben und eine
Intensivierung in weiterführenden Analysen voranzutreiben.
Weiterführende Literatur Becker, Rolf und Wolfgang Lauterbach, 2004: Vom Nutzen vorschulischer Kinderbetreuung für Bildungschancen. S. 127-159 in: Rolf Becker und Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und empirische Befunde zu den Ursachen von Bildungsungleichheiten. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Becker, Rolf und Wolfgang Lauterbach (Hrsg.), 2004: Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
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