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1 Prüfungsthema: Schriftspracherwerb Thorsten Pohl Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013) Die vier zentralen Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts: 1. mündlicher Sprachgebrauch, Sprechen und Zuhören, mündliche Kommunikation 2. schriftlicher Sprachgebrauch, Schreiben, schriftliche Kommunikation über Schreibfertigkeiten verfügen [motorische Aspekte] richtig schreiben [Orthographie und Interpunktion] Texte verfassen 3. Umgang mit Texten (Literatur, Sachtexte) und Medien(-inhalten) 4. Reflexion über Sprache, Grammatik, Sprachbetrachtung Zur Orientierung Subdifferenzierung in den Bildungsstandards

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Prüfungsthema: Schriftspracherwerb

Thorsten Pohl

Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Die vier zentralen Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts: 1.  mündlicher Sprachgebrauch, Sprechen und Zuhören,

mündliche Kommunikation

2.  schriftlicher Sprachgebrauch, Schreiben, schriftliche Kommunikation

•  über Schreibfertigkeiten verfügen [motorische Aspekte]

•  richtig schreiben [Orthographie und Interpunktion]

•  Texte verfassen

3.  Umgang mit Texten (Literatur, Sachtexte) und Medien(-inhalten)

4.  Reflexion über Sprache, Grammatik, Sprachbetrachtung

Zur Orientierung

Subdifferenzierung in den Bildungsstandards

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

1.  Schlaglichter auf die Geschichte der Schrift(en)

2.  Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen

3.  Das System der deutschen Orthographie und seine Funktionen

4.  Die Phasen des Schriftspracherwerbs nach Günther: a)  Die präliteral-symbolische Phase b)  Die logographemische Phase c)  Die alphabetische Phase d)  Die orthographische Phase e)  Die integrativ-automatisierte Phase

5.  Didaktische Konzeptionen des Schriftspracherwerbs a)  Der systematische Lehrgang mittels einer Fibel b)  Der Spracherfahrungsansatz und Lesen durch Schreiben c)  Der sprachsystematische/silbenanalytische Ansatz

Gliederung

Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Vorausgehende Überlegung: Wie lässt sich gesprochene Sprache überhaupt verschriften?

Aus dem BM 1 bekannt ist Ihnen die bilaterale Struktur sprachlicher, wie auch anderer Zeichen:

•  das sinnlich Wahrnehmbare (also hör- oder lesbare)

•  die Bedeutung, der ‚Inhalt‘ (nicht sinnlich wahrnehmbar)

Ø  man spricht auch von Ausdrucks- und Inhaltsseite oder von Bezeichnendem und Bezeichnetem

Schlaglichter auf die Geschichte der Schrift(en) 1

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Ausdrucksseite:

[bɛt]

Schlaglichter auf die Geschichte der Schrift(en) 2

Inhaltsseite:

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Ausdrucksseite:

[bɛt]

Schlaglichter auf die Geschichte der Schrift(en) 2

VARIANTE 1

VARIANTE 2

Inhaltsseite:

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Phonographischer Schrifttyp: Schriftzeichen werden auf verschiedene lautliche Einheiten bezogen

•  Einzelne Laute: Alphabetschrift (Deutsch) •  Einzelne Silben: Syllabogramm (Japanisch) •  Nur Konsonanten: Konsonantenschrift (Hebräisch)

Ø  Vorteil: mit einem kleinen Zeicheninventar lässt sich ‚unendlich‘ viel verschriften

Logographischer Schrifttyp: Schriftzeichen werden auf bedeutungstragende Einheiten (Wörter oder Wortbestandteile) bezogen, z. B. Haus, Auto, -zeug, -bar (Chinesisch)

Ø  Vorteil: die Schriftverwender müssen die Lautung der Sprache nicht kennen

Schlaglichter auf die Geschichte der Schrift(en) 3

Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen 1

Rezeption (Lesen) Produktion (Schreiben) Beobachtung Kinder beobachten

Schriftkundige beim Lesen (z. B. die Mutter bei der Zeitungslektüre).

Kinder beobachten Schriftkundige beim Schreiben (z. B. das Geschwisterkind bei den Schularbeiten).

Erfahrung Kinder erfahren, wie sich Schriftsprache anhört beim Vorlesen, beim Hörbuch, evtl. beim Fernsehen.

[Kinder sehen, wie Schrift aussieht; ihre Umgebung ist in der Regel voll von Schriftsymbolen.]

Nachahmung •  Nachahmen des stillen Lesens (etwa durch Kopfbewegungen)

•  Nachahmen des lauten Vorlesens (etwa von Bilderbüchern und ‚richtigen‘ Büchern)

•  Nachahmen des Schreib-prozesses (etwa als Kritzelschrift)

•  Nachahmen von Schriftzeichen (Versuch diese genau zu kopieren oder abzumalen)

‚Reflexion‘ Fragen an Schriftkundige nach Inhalten von Geschriebenem/ Lesbarem (Was steht da?)

Aufforderung von Schriftkundigen etwas bestimmtes zu verschriften mit anschließender Betrachtung Pohl: PT - Schriftspracherwerb

(Köln 2013)

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Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen 2

Schreiben als Kopieren:

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Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen 3

Schreiben als Nachahmen einer Tätigkeit:

Schreiben als sich ausdrücken: Beispiele aus Augst & Dehn (2007, 47 f.)

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Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen 4

Alternative Verschriftungsstrategien 1 (ikonisch):

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1998

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Vorschulische Schrift- und Schriftlichkeitserfahrungen 5

Alternative Verschriftungsstrategien 2:

(aus Brügelmann & Brinkmann 1998)

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

1.  Aufzeichnungsfunktion (vonseiten des Schreibenden aus gedacht):

•  alphabetische Schreibung primär, u. U. sogar an der individuellen Artikulation orientiert

2.  Erfassungsfunktion (vonseiten des Lesers aus gedacht):

•  silbisches und morphematisches Prinzip, sowie Zusammen-/ Getrennt-, Groß-/Kleinschreibung und Interpunktion legen sich wie ein ‚Korrektiv‘ über die ‚Lautorientierung‘ des alphabetischen Prinzips

Ø  mit dem Ziel, dem Leser eine schnellere und sichere Erfassung des Inhaltes zu ermöglichen

Das System der deutschen Orthographie und seine Funktionen 2

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

U. a. genau aus dieser Konstellation heraus ergibt sich der Eindruck, das alphabetische Prinzip (die vermeintliche ‚Lauttreue‘ der Schreibung) sei nicht konsequent umgesetzt; einige Beispiele, wie Sie von Weinhold angeführt werden (2006, 6 f.): •  ein einzelner Buchstabe kann verschiedene Laute repräsentieren:

<E, e> in „Decke“, „Wage“ und „Besen“, „Ecke“ •  umgekehrt können gleiche Laute durch unterschiedliche Grapheme

repräsentiert sein: „Axt“, „Keks“, „Klacks“, „Wachs“, „unterwegs“ •  nicht jedem Buchstaben, der in einem Wort steht, entspricht ein

artikulatorisch hervorgebrachter Laut: „Bohne“, „Waage“, „Ziegel“, „Ecke“, „Rehe“

•  zudem existieren mehrgliedrige Grapheme, die zusammen-genommen einen Laut repräsentieren u. a.: <ch>, <sch>, <ng>

Das System der deutschen Orthographie und seine Funktionen 3

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 2

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1. Die präliteral-symbolische Phase: •  Abstraktionsfähigkeit durch Lösung der bildlichen Darstellung

vom dargestellten Gegenstand selbst •  Symbolverständnis, wie es auch für den Erstspracherwerb

ausgebildet werden muss, ist als notwendige Grundvoraus-setzung des Schriftspracherwerbs zu verstehen

•  Die Phase oder Strategie ist in beiden Modalitäten (Lesen und Schreiben) dominant, also sowohl bei der kindlichen Bildanschauung als auch beim kindlichen Malen oder Zeichnen.

Ø  Für den Übergang zum eigentlichen Schriftspracherwerb ist ein qualitativer Sprung notwendig:

Ø  Das Kind muss schriftsprachliches ‚Material‘ von anderen graphischen Formen unterscheiden,

Ø  wie etwa bei Kritzelschriften:

Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Die Phasen des Schriftspracherwerbs 3

2. Die logographemische Phase (allgemein): •  Der Terminus impliziert die Worteinheit (logos) und

Buchstabenzeichen (Grapheme). •  rein visuelle Operationsweise/Strategie (reading by eye), •  die sich an hervorstechenden oder auffälligen Details der

äußerlichen Wortegestalt orientiert, z. B.: Wortlänge, auffällige Buchstaben, Buchstabenkombinationen, Buchstabenpositionen, Schrifttypen, Schriftfarbe

•  die betreffenden Merkmale variieren von Lerner zu Lerner sehr stark, sind also individuell-subjektiv und nicht prognostizierbar

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 4

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2. Die logographemische Phase (Modalität Lesen): •  im Lesen kann die Strategie sehr erfolgreich sein, die Lerner

verfügen dann über einen nicht unerheblichen Lesewortschatz •  dies insbesondere unter Nutzung von Kontextinformationen

(z. B. Bilder im Bilderbuch, Firmenlogos, Situationskontexte wie die Kelloggspackung auf dem Frühstückstisch)

•  dennoch handelt es sich um ratendes Lesen: typisch für die Phase sind daher Verlesungen bei Worten mit ähnlichen visuellen Auffälligkeiten, fiktives Beispiel:

•  T o i l e t t e T e l e f o n

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 5

fokussierte visuelle Merkmale

2. Die logographemische Phase (Modalität Schreiben): •  Während die Strategie im Lesen also sehr erfolgreich sein kann, •  führt sie beim Schreiben zu erheblichen Problemen, wenn also

Wortbilder oder deren Details von den Lernern reproduziert werden müssen.

•  Typische Effekte sind: Auslassungen, Vertauschungen, Verwechslungen von Wortbestandteilen oder Buchstaben.

•  Man spricht auch von Skelettschreibungen:

↔ [für „vier Kinder“]

•  Diese Unzulänglichkeitserfahrung führt dem Modell zufolge – aber sicherlich auch durch den Einfluss des Schreib- und Leseunterrichts – zu einem Strategiewechsel.

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 6

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3. Die alphabetische Phase (allgemein): •  Der Übergang in diese Phase bildet in gewisser Weise eine

kleine „Revolution“ in der kindlichen Sprachwahrnehmung, •  denn es kommt hier zu einer für den Erwerb der Schriftsprache

absolut grundlegenden Umorientierung von den kommuni-kativen Inhalten zur Analyse der lautlichen Struktur (das ist auch für Erwachsene ein ganz ungewöhnlicher Modus der Sprachwahrnehmung!).

•  Angebahnt wird diese Teilkompetenz (Fachterminus: „Phonologische Bewusstheit“) bereits vorschulisch durch unter anderem Abzählverse, Kinderreime und Kinderlieder (z.B.: Auf der Lauer auf der Mauer, Drei Chinesen mit dem Kontrabass),

•  die allesamt besonders auffällige phonetische Charakteristika aufweisen, die überdies bewusst manipuliert werden.

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 7

3. Die alphabetische Phase (Modalität Schreiben): •  Die Strategie ist im Schreiben erfolgreich und dominant, •  denn sofern die Kinder in den Graphem-Phonem-

Korrespondenzen weiter fortgeschritten sind, •  können sie mehr oder weniger alles verschriften, was sie auch

sprechen können (writing by ear). •  Typisch für diese Phase sind extrem phonetisch ggf. dabei

auch dialektal orientierte Verschriftungen:

•  Überaus erstaunlich sind Schreibweisen, die von einer extrem genauen Analyse des Artikulationsprozesses zeugen:

„fünpf“ für <fünf>

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 8

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3. Die alphabetische Phase (Modalität Lesen): •  Im Lesen erweist sich die Strategie – insbesondere im Vergleich

mit dem vorhergehenden logographemischen Lesen – zunächst als extrem umständlich und aufwändig:

1.  Für die einzelnen Wortbestandteile müssen Graphem-Phonem-Zuordnungen vorgenommen werden.

2.  Die ermittelten Laute müssen miteinander verbunden werden, 3.  dabei dürfen Wortbestandteile nicht verloren gehen und die für

die Koartikulation entscheidenden Silbengrenzen erkannt/ erahnt werden.

4.  So entsteht eine „Wortvorform“ oder sogenanntes „Dehnlesen“. 5.  Für die verfremdete Wortvorform muss ein passender Lexi-

koneintrag gefunden werden (bei Erfolg kommt es zu einem Aha-Effekt, den man den Lesern deutlich anmerkt).

Ø  Dem Modell zufolge kommt es neuerlich zu einem Strategiewechsel; in diesem Fall zuerst im Lesen.

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Dehnlesen/Koartikulation (Videobeispiel):

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Aha-Effekt bei Finden des Lexikoneintrags (Videobeispiel):

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4. Die orthographische Phase (Modalität Lesen): •  Der Leseprozess lässt sich durch die Beachtung wieder-

kehrender orthographischer Muster/Strukturen beschleunigen und von Beginn an stärker auf die phonologische Zielform hin ausrichten.

•  Die Kinder konzentrieren sich dabei auf verschiedene Morpheme (-er, -en, -lich etc.) und spezifische Rechtschreibmuster (-eh-, -tt-, -tz- etc.).

•  Neben der expliziten Instruktion seitens des Unterrichts geht die Forschung dabei von impliziten Hypothesen- und Regelbildungsprozessen bzw. intuitiv gewonnenen Rechtschreibmustern aus.

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4. Die orthographische Phase (Modalität Schreiben): •  Die Strategie ist dem Modell zufolge in beiden Modalitäten

gleichermaßen dominant und erfolgreich. •  Die im Lesen entdeckten Muster werden dann auch im

Schreiben verfügbar, sodass die stark phonetisch orientierten Schreibweisen der alphabetischen Phase mehr und mehr durch orthographische Strukturen überlagert werden (zugunsten der Erfassungsfunktion).

•  Äußerliches Merkmal der inneren Regelbildungsprozesse sind vor allem Übergeneralisierungen (also die Ausdehnung eines Strukturmerkmals auf nicht zulässige Bereiche):

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 11

5. Die integrativ-automatisierte Phase: •  Die Phase bildet streng genommen keine eigene Strategie,

sondern bezeichnet lediglich den kompetenten und routinierten Schriftkundigen, der wegen des hohen Automatisierungsgrades für Schreib- und insbesondere für Lesevorgänge wenig kognitive Ressourcen aufzubringen benötigt.

•  Gleichwohl dauert dieser Prozess noch weit in die Sekundarstufe(n) hinein an und ist Gegenstand des Orthographieerwerbs und Rechtschreibunterrichts im engeren Sinne.

•  Wer sich diesbezüglich weiter informieren möchte, lese im Ergänzungstext den Beitrag von Steinig und Huneke (im Vorlesungsreader enthalten).

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U-Kurven-Verlauf: „Fahrrad“ „farat“ „Fahrrad“ [etwa Einschulung] [ca. 1. Klasse] [ca. 2. Klasse]

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 14

orthographische Realisierung

kognitive Repräsentation +

-

Kritik am Entwicklungsmodell von Günther und an den Entwicklungsmodellen allgemein: •  Einige Autoren bezweifeln die Existenz der logographe-

mischen Phase (z. B. Klicpera et al. 2003); sicherlich ist ihr Auftreten in starkem Zusammenhang zur ‚Buchnähe‘ des familiären Umfelds zu sehen, in dem das Kind aufwächst.

•  Die Dominanz bestimmter Modalitäten habe sich nach Scherer-Neumann in empirischen Untersuchungen nicht bestätigt, zudem bestehe eine Abhängigkeit zum Erstunterricht (2003, 517).

•  Bestimmte Wörter werden von der Entwicklungsbewegung unter Umständen nicht erfasst (z. B. und) und frühzeitig als Sichtwörter gespeichert (Scheerer-Neumann 2003, 517).

•  Trotz der genannten Kritikpunkte bieten die Modelle einen hilfreichen Orientierungsrahmen für die Didaktik des Schriftspracherwerbs (so auch Weinhold 2006, 23).

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Die Phasen des Schriftspracherwerbs 13

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a)  Der systematische Lehrgang mittels einer Fibel •  Der Ausdruck ist abgeleitet aus dem Wort „Bibel“. •  Fibeln sind heute methodenintegrierend aufgebaut, verwenden

also synthetische (vom Einzelelement ausgehend) sowie analytische Methoden (vom Ganzwort und seiner Bedeutung ausgehend).

•  Fibeln bilden systematische Lehrgänge, in denen das Graphem-inventar systematisch und Schritt für Schritt erarbeitet wird.

•  Korrespondierend wird von basalen Silben zu Worten, Sätzen und komplexen Texten fortgeschritten.

•  Nahezu alle Fibellehrwerke arbeiten heute auch mit Anlaut-tabellen (s. u.), was als Öffnungstendenz des geschlossenen Lehrgangs zu betrachten ist.

Ø  Kritiker bemängeln insbesondere das stark deduktive und entindividualisierende Moment der Fibellehrgänge.

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Didaktische Konzeptionen 1

b)   Der Spracherfahrungsansatz und Lesen durch Schreiben

•  Dieser Kritik trägt der Spracherfahrungsansatz Rechnung, da es in ihm keine vorgegebene Lernprogression gibt.

•  Der Ansatz ist in dem Sinne stark entwicklungsorientiert, als den Lernenden im Rahmen von offenem Unterricht und Werkstattunterricht vielfältige für den Schriftspracherwerb relevante Lernumgebungen zur Verfügung gestellt werden.

•  Die Lernprozesse werden dabei durch den Lehrer (und Lerner selbst) stark individualisiert,

•  in der Absicht, dass dadurch die Lernprozesse dem Entwicklungstand der Lerner angepasst sind.

•  Brinkmann und Brügelmann als Vertreter des Ansatzes haben die sogenannte „Didaktische Landkarte zum Lesen- und Schreibenlernen“ entwickelt.

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Didaktische Konzeptionen 2

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•  Die didaktische Landkarte bildet dabei in erster Linie einen Orientierungsrahmen für die Lehrenden.

•  Die didaktischen und diagnostischen Anforderungen an die Lehrer und Lehrerinnen sind im Rahmen dieses Ansatzes sehr hoch. Pohl: PT - Schriftspracherwerb

(Köln 2013)

Didaktische Konzeptionen 3

b)  Lesen durch Schreiben •  extreme Betonung der Schreibprozesse •  vom ersten Schultag an soll geschrieben

werden; •  dies mithilfe einer Anlauttabelle, •  deren Verwendung für die Lerner

zunächst extrem aufwändig ist. •  Die dabei ablaufenden kognitiven

Prozesse sind eigentlich noch aufwändiger, als von Weinhold beschrieben (2006, 28).

•  Das Lesen soll sich dem Erfinder des Konzeptes (Jürgen Reichen) zufolge mit der Zeit von selbst einstellen.

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Didaktische Konzeptionen 4

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c)  Der sprachsystematische/silbenanalytische Ansatz

•  basiert stark auf den linguistischen Arbeiten zur Ortho-graphie von Utz Maas und Peter Eisenberg und wurde entwickelt von Christa Röber-Siekmeyer

•  Der Lehrgang startet nicht mit dem Einzellaut oder einzelnen Buchstaben, sondern nutzt von Anfang an die Silben-strukturen, wobei davon ausgegangen wird, die (mutter-sprachlichen) Lerner hätten einen guten Zugang zur Sprechsilbe.

•  Der Unterricht behandelt zunächst schwerpunktmäßig zweisilbige Wörter, deren erste Silbe betont ist (Trochäen).

•  Diese werden in eine Häuschenstruktur übertragen, •  wobei die ‚Architektur‘ des Hauses für die beiden Silben

bestimmte Plätze vorsieht:

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Didaktische Konzeptionen 5

•  Der Leseprozess wird so gestaltet, dass der „Cowboy Jim von hinten an die Wörter heranreitet“, also zunächst die Reduktionssilbe isoliert wird.

•  Auf diese Weise sollen Strukturen frühzeitig erkannt werden, wie sie sonst erst innerhalb der orthographischen Phase von den Lernern entdeckt werden.

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Didaktische Konzeptionen 6

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Empirischer Vergleich der drei vorgestellten Konzeptionen: Den Untersuchungen von Weinhold zufolge (2006 und 2009) ergeben sich zwischen den didaktischen Ansätzen kaum nennenswerte Unterschiede hinsichtlich des Lernerfolgs (allein das Konzept Lesen durch Schreiben ist in bestimmten Teilbereichen den anderen Konzeptionen z. T. etwas unter-legen). Wie muss man das Ihrer Ansicht nach erklären?

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Didaktische Konzeptionen 7

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Anhang

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Augst, Gerhard & Mechthild Dehn (2007): Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. 3., überarb. u. aktual. Aufl. Stuttgart: Klett.

Brügelmann, Hans (1994): I OI oder FIA ROISA? Kinder erfinden die Schrift - Schreibversuche am Schulanfang. In: Wie wir recht schreiben lernen. 10 Jahre Kinder auf dem Weg zur Schrift. Hrsg. v. Hans Brügelmann & Sigrun Richter. Lengwil am Bodensee: Libelle. S. 82-86.

Brügelmann, Hans & Erika Brinkmann (1998): Die Schrift erfinden. Beobachtungs-hilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben. Lengwil am Bodensee: Libelle.

Crystal, David (1995): Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt/M. u. New York: Campus.

Dürscheid, Christa (2004): Einführung in die Schriftlinguistik. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden: Verl. für Sozialwiss.

Frith, Uta (1986): Psychologische Aspekte des orthographischen Wissens: Entwicklung und Entwicklungsstörung. In: New Trends in Graphemics and Orthography. Ed. by Gerhard Augst. Berlin a. New York: de Gruyter. S. 218-233.

Günther, Klaus B. (1986): Ein Stufenmodell der Entwick-lung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: ABC und Schriftsprache. Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher. Hrsg. v. Hans Brügelmann. Konstanz: Faude. S. 32-54.

Ergänzend verwendete Literatur (1):

Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Haarmann, David (1991): Universalgeschichte der Schrift. 2., durchges. Aufl. Frankfurt: Campus.

Klicpera, Christian et al. (2003): Legasthenie. Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. München u. Basel: Reinhardt.

Raible, Wolfgang (1991): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen. Is fecit cui prodest. Heidelberg: Winter.

Scheerer-Neumann, Gerheid (2003): Entwicklung der basalen Lesefähigkeiten. In: Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Bd. 1. Hrsg. v. Ursula Bredel. Paderborn et al.: Schöningh. S. 513-524.

Schmitt, Alfred (1980): Entstehung und Entwicklung von Schriften. Köln u. Wien: Böhlau.

Thomé, Günther (1999): Orthographieerwerb. Qualitative Fehleranalysen zum Aufbau orthographischer Kompetenz. Frankfurt/M. et al.: Lang.

Weinhold, Swantje (2006): Entwicklungsverläufe im Lesen- und Schreibenlernen in Abhängigkeit verschiedener didaktischer Konzepte. In: Schriftspracherwerb empirisch. Konzepte - Diagnostik - Entwicklung. Hrsg. v. Swantje Weinhold. Baltmannsweiler: Schneider. S. 120-148.

Weinhold, Swantje (2009): Effekte fachdidaktischer Ansätze auf den Schriftsprach-erwerb in der Grundschule. In: Didaktik Deutsch. Nr. 27. S. 53-75.

Ergänzend verwendete Literatur (2):

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Pohl: PT - Schriftspracherwerb (Köln 2013)

Zwei-Wege-Modell des Worterkennens (ursprünglich nach Coldheart):