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by Nicole Holzenthal, PhD (Intersophia)
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Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus
und den Konstruktiven Realismus
(Nicole Holzenthal de Cimadevilla)
Der gegenwärtige Beitrag entstand auf der Grundlage meines am Philosophischen
Institut der Universität Wien im Juli 2011 gehaltenen wissenschaftsphilosophischen
Vortrags zur „Auseinandersetzung zwischen zwei aktuellen europäischen Philosophien“ –
nämlich dem „Philosophischen Materialismus“ (PhM) von Gustavo Bueno im
nordspanischen Oviedo und dem „Konstruktiven Realismus“ (CR) von Friedrich Wallner
aus Wien. Es handelt sich gleichzeitig gewissermaßen um eine Weiterführung meines in
Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus (CR). Studien zur Wissenschaftskultur
veröffentlichten Beitrags „Berührungspunkte und Kontraste zwischen dem Konstruktiven
Realismus und dem Philosophischen Materialismus“, in dem erste offensichtliche
Vergleichspunkte in Form einer Einführung nebeneinandergehalten wurden. Nachdem dort
allgemeine Ähnlichkeiten und Unterschiede hervorgehoben wurden, sollen im nun
vorliegenden Artikel einzelne wissenschaftsphilosophische Fragen etwas ausführlicher
behandelt werden, wobei sich deutlicher auch einige tiefgehende Unterschiede aufzeigen.
Mein Vorgehen nun ist folgendes: Ausgehend von einigen für beide Philosophen
zentralen Fragen zur Wissenschaftsphilosophie, werden die Problemstellungen beider
Ansätze einander gegenübergestellt. Angesichts der Nähe des Wiener Publikums zum CR,
sowohl beim Vortrag als auch unter der Leserschaft dieser Schrift, werde ich den größten
Raum auf den im deutschsprachigen Raum noch unbekannteren PhM verwenden, der in
den entsprechenden Punkten noch in Grundzügen vorzustellen ist, während der CR sich
angesicht seines Bekanntheitsgrades auf kurze Thesen reduzieren lässt. Bei diesem
Procedere ergeben sich einige Fragen, die sich dem Konstruktiven Realismus aus der Sicht
des Philosophischen Materialismus stellen und umgekehrt.
Noch ein paar Worte vorab. Mit Freude beobachtete ich auf der Tagung in Wien,
dass die Philosophie heute in Wien ähnlich wie in Oviedo Menschen ganz
unterschiedlicher Disziplinen anzieht: So waren neben Forschern der Philosophie bzw.
Philosophiegeschichte, auch Biologen, Literaturwissenschaftler, Psychologen, Forscher im
Bereich der Medizin usw. anzutreffen. Diese Interaktion zwischen dem philosophischen
System und anderen Disziplinen ist für beide hier zu behandelnden Ansätze
charakteristisch.
Das von Gustavo Bueno in den 1970ern in Spanien gegründete, im
spanischsprachigen Raum hoch anerkannte philosophische System des „Philosophischen
Materialismus“ (PhM), mit dem ich mich die letzten Jahre vorwiegend auseinandergesetzt
habe und das und von einer wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen
verwendet wird, umfasst als einen seiner Hauptbestandteile einen
wissenschaftsphilosophischer Ansatz, der bei wissenschaftlichen Disziplinen den
sogenannten „Kategorienabschluss“ beobachtet und sich daher selbst „Theorie des
Kategorienabschlusses“ (Teoría del Cierre Categorial) nennt – gleichzeitig der Name seines
z.Zt. fünfbändigen wissenschaftstheoretischen Werkes. Diese Theorie baut weitgehend auf
die gleiche Tradition auf wie der Konstruktive Realismus, weist in der Folge an manchen
Stellen ähnliche, konstruktivistische Wege auf, ist aber dann an anderen Stellen völlig
anders, weshalb eine detailliertere Auseinandersetzung in meinen Augen unabdingbar ist.
1. Frage: Was ist eine Wissenschaft?
Auf die Frage, was denn überhaupt eine Wissenschaft sei, geben CR und PhM
zunächst eine ähnliche Antwort: Eine Wissenschaft wird immer als Konstruktion
aufgefasst, denn die Wissenschaftler konstruieren Wissenschaft.
Doch ist eine Wissenschaft beim CR eine Diziplin im Sinne einer Gesamtheit von
lehrbarem Wissen, während der PhM unter Wissenschaft nicht allein lehrbare Kenntnisse
versteht, sondern darüber hinaus den ganzen jeweiligen materiellen Wissenschaftskörper.
Bei genauerem Hinsehen, zeigen sich also folgende ontologische Unterschiede: Im
Konstruktiven Realismus (CR) wird eine Wissenschaft immer als ein Propositionssystem
konzipiert. Dies ist ein Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, durch den mit ihm eine
Mikrowelt hergestellt wird. Die Gesamtheit der so konstruierten Mikrowelten bilden die so
genannte „Realität“. Diese konstruierte, künstliche Welt der „Realität“ ist ontologisch
streng zu unterscheiden von der „Wirklichkeit“ (der gegebenen, effektiven Welt) – ein
zentrales ontologisches Kriterium des CR.
Die Wissenschaftskonzeption des PhM dagegen ist anders, einerseits breiter und
andererseits begrenzter. Zur Unterscheidung „wissenschaftlicher“ Disziplinen von nicht
wissenschaftlichen, etwa praktischen Disziplinen sei es notwendig, genauer auf die Frage
einzugehen: Welche spezifischen Eigenschaften einer gegebenen Wissenschaft
unterscheiden sich inwiefern von denen anderer kultureller Institutionen?
Beim Bezug auf Wissenschaftstheorien, die sich auf dieser Analyseebene halten wollen,
bedienen wir uns dem Adjektiv «gnoseologisch» [basierend auf Materie/Form] (als Gegenpunkt
zur «epistemologischen» [basierend auf Subjekt/Objekt]). Eine gnoseologische Theorie ist
demnach eine Theorie, die beabsichtigt, die Strukturen der positiven Wissenschaften
festzustellen, und zwar nicht so sehr als Teil von Handlungs- oder Propositionsstrukturen,
Informatik- oder soziologischen Strukturen, sondern insofern die positiven Wissenschaften
zusätzlich zu diesen selbstverständlich (als allgemeine Komponenten) implizierten Strukturen,
auch noch spezifische Strukturen aufweisen [d.h. die nur den Wissenschaftskörpern, nicht aber
anderen kulturellen Institutionen zukommen] [...]. (NH-Ü von QC: 17-18)
An dieser Textstelle sehen wir, für den PhM lässt sich eine Wissenschaft nicht allein
auf ein System aus Propositionen, Handlungen oder gesellschaftlichen Strukturen
reduzieren, sondern es handelt sich breiter gefasst um einen Wissenschaftskörper mit
„spezifischen Strukturen“, in dem all diese Spezifikationen gleichzeitig präsent sind, der
also eine ganze Menge an „materiellen“ Bestandteilen umfasst. Diese Bestandteile haben
sich im Konstruktionsprozess zu diesem Wissenschaftskörper aneinandergekettet
(Zirkularismus und Kategorienabschluss) und bilden so die Form des relativ
abgeschlossenen Wissenschaftskörpers. „Materie“ ist hier zweifelsohne sehr weit gefasst
und kann neben Physischem auch durchaus zwischenmenschliche Relationen oder
geometrische Proportionen enthalten. Es sei daran erinnert, laut der Ontologie des PhM
gibt es drei Arten der Materie: M1 (körperlich-physische Materie), M2 (intersubjektuale,
soziale bzw. psychologische Materie) und M3 (Relationen und Ideen). Die Bestandteile
eines Wissenschaftskörpers lassen sich sicherlich in subjektuale und objektuale
Bestandteile aufteilen, doch Wissenschaften haben kein Objekt, sondern ein ganzes
Wissenschaftsfeld aus einer Vielzahl an Objekten, oft aus allen drei Arten der Materialität,
und unter diesen Bestandteilen befinden sich in manchen Wissenschaften auch Subjekte.
Interessanter noch ist beim PhM aber die (nicht ontologische, auch nicht epistemologische,
sondern „gnoseologische“1) Klassifizierung aller Bestandteile auf die drei Achsen des
sogenannten „gnoseologischen Raumes“. Dieser Raum lässt sich folgendermaßen
charakterisieren: „syntaktisch“ sind Termini, Relationen und Operationen/Handlungen;
„semantisch“ betrachtet besteht der Wissenschaftskörper aus Referenzialen, Phänomenen
und Essenzen bzw. essentiellen Strukturen; und aus „pragmatischer Sicht“ finden sich da
Normen, Dialogismen und Autologismen.
Bevor wir ein Beispiel für diese Struktur nennen, kurz noch einen Schritt zurück:
Zur Beantwortung der Frage, wie der PhM „Wissenschaft“ definiert, klassifiziert Bueno
zunächst 4 Konzeptionen von „Wissenschaft“:
1) All das, was wir tun können (Ort dieser Wissenschaft ist eine Art Werkstatt)
2) Ein geordnetes System an Propositionen, die von Prinzipien abgeleitet sind (Ort
dieser Wissenschaft ist die Akademie)
3) Beschränkung auf positive Naturwissenschaften
4) Erweiterung auf „Geistes-“ und Sozialwissenschaften“ (bzw. „Human- und
Verhaltenswissenschaften“)
Der Konstruktive Realismus deckt die ganze Bandbreite ab. Zu Beginn seiner
Formulierung hat er dazu tendiert, sich explizit auf auf 3), etwa die Physik, zu
konzentrieren, dann kamen jedoch Disziplinen wie die Psychologie und die Medizin hinzu,
um schließlich die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften implizit
abzulehnen bzw. methodologisch gar die Geisteswissenschaften höher zu bewerten, wie
wir unten sehen werden. Oft wird im CR Wissenschaft als Propositionssystem also 2)
definiert. Wenn Wallner von der Traditionellen Chinesischen Medizin spricht, klingt die
Wissenschaftlichkeit 1) der Praxis an. Für den PhM hingegen stellen zwar die kategorial
abgeschlossenen Naturwissenschaften 3) das Paradigma der „Wissenschaft“ dar, doch auch
mit den sogenannten „Human- und Verhaltenswissenschaften“ setzt er sich
wissenschaftsphilosophisch sehr intensiv auseinander. 1) und 2) werden von Bueno
abgelehnt. Insofern ist die Wissenschaftskonzeption des PhM enger gefasst als beim CR.
Ein gravierender Unterschied findet sich im Umgang mit Modellen. Der CR vertritt
die Meinung, Modelle gehören allein einer Mikrowelt an, nicht der Wirklichkeit, und in
dieser konstruierten Realität seien auch keine essenziellen Strukturen zu finden. So seien
etwa Moleküle immer Konstrukte und blieben künstlich, nie wirklich. Da der PhM diese
ontologische Unterscheidung so nicht konzipiert, bzw. wenn, dann von einer
„Hyperrealität“ (für Wallners Realität) spricht, kann er vertreten, beispielsweise Moleküle
seien zwar konstruiert, doch sie lehnen sich als Form (in dialektischer Zirkularität im
Prozess der Wissenschaftsentwicklung) immer an das gegebene Material an, weshalb das
Modell sich im Laufe der Wissenschaftsentwickung immer mehr verfeinert und, ja in
gewissem Sinne zur Materie passt.
Auf der gnoseologischen Ebene stellt der PhM, wie gesagt, mit dem sogenannten
„gnoseologischer Raum“ ein Modell darüber zur Verfügung, welche Typen von
Bestandteilen die Wissenschaftskörper allgemein konfigurieren. Durch deren Konkretion
lässt sich der spezifische Aufbau eines spezifischen Wissenschaftskörpers analysieren.
Umgekehrt lässt sich mit Hilfe dieses Schemas auch jeder einzelne
Wissenschaftsbestandteil (etwa eine Molekulär- oder Zellstruktur, s.u.) leicht
1 Der Leser sei daran erinnert, dass dieser Unterschied bereits in meinem Artikel „Berührungspunkte
und Kontraste zwischen dem Konstruktiven Realismus und dem Philosophischen Materialismus“ in
Greiner/Wallner (Hrsg.): Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus. Studien zur
Wissenschaftskultur (2010) auf den S. 176-177 umrissen wurde. In Frage 3 kommen wir darauf
zurück.
charakterisieren. Dieser Raum selbst versucht, kein dem Material aufgestülptes Modell
darzustellen, sondern eher ein Raster, das sich aus vielen gnoseologischen
Einzeluntersuchungen ergeben hat, und das nun dazu dient, Materialien der Wissenschaften
zu klassifizieren und gleichzeitig spezifische gnoseologische Strukturen der
Wissenschaftskörper (d.h. die nicht anderen kulturellen Institutionen zukommen) zu
charakterisieren.
Abbildung 1 „gnoseologischer Raum“ (NH-Ü von Gustavo Bueno TCC 1: 116)
Mit Hilfe der dreidimensionalen Struktur des gnoseologischen Raums lassen sich die
Bestandteile eines Wissenschaftskörpers im PhM orten und klassifizieren, wobei
Zuordnungen zu Achsenabschnitten miteinander kombiniert werden können. Zur
Veranschaulichung lässt sich nun als Beispiel aus der Biologie folgendes anbringen: Eine
Krebszelle etwa, die der Biologe bereits zuvor unter dem Mikroskop beobachtet hatte,
erscheint diesem GS laut PhM als autologisch erinnertes Phänomen eines Terminus.
Ist im Konstruktiven Realismus (CR) eine Krebszelle selbst ein Konstrukt, das zwar
„real“ ist, aber nicht „wirklich“, da das „Wirkliche“ sich nicht als solches erkennen lässt –
d.h. die Zelle ist als Modell gesetzt, nicht gegeben. So wäre sie dagegen beim PhM zwar
auch konstruiert, aber nun hingegen als Form derart am „Material“ orientiert, dass der
Unterschied konstruiert/nicht konstruiert allmählich verschmilzt, ein Vorgang, bei dem die
gegebene Realität erweitert wird, weshalb hierfür manchmal der bereits erwähnte Begriff
„Hyperrealität“ auftaucht. So beziehen sich die wissenschaftlichen Wahrheiten im PhM
wirklich auf die Realität, d.h. sie sind keine unechten bzw. falschen oder willkürlichen
Konstruktionen oder leere Spekulationen einer vernunftgemäß denkenden Urteilskraft o.ä.
Und sie beziehen sich auf die Realität, nicht indem sie in sie eindringen, sie beschreiben,
sie adäquat darstellen oder representieren, sondern
[...] weil bestimmte Bestandteile der Realität selbst in die Aneinanderkettungen, welche den
Wissenschaftskörper bilden, eingegliedert werden. Dies ist der Kern dessen, was wir als
„Hyperrealismus“ bezeichnet haben. (NH-Ü von Bueno TCC III: 900)
David Alvargonzález präzisiert hinsichtlich der ihn beschäftigenden Evolutionsbiologie:
[...] die Wissenschaften beschreiben oder repräsentieren nicht die Realität, sondern sind wichtige
Abschnitte der vorher bereits existierenden Realität, die nun Teil einer Wissenschaft werden, um so
eine neue Realität hervorzubringen. Deshalb ist die Wahrheit der Evolutionsbiologie von unseren
Voraussetzungen her als eine Wahrheit zu verstehen, die unsere gegenwärtige Realität und auch unser
logisches Bewusstsein bildet. Unsere gegenwärtige Realität kann auf das wissenschaftliche Theorem
der biologischen Evolution nicht mehr verzichten. Der Kreationismus stellt eine deutlich irrationale Art
dar, diese Realität zu bestimmen, weil die “creatio ex nihilo“ die bloße Formulierung eines Prinzips
darstellt, dass nicht nur falsch ist, sondern auch völlig unverständlich. Außerdem stünde, wenn die
Evolutionsbiologie nicht in Betracht gezogen würde, damit unser logisches Bewusstsein jenseits einer
Menge von sehr wichtigen Phänomenen, Konzepten und Ideen. Insofern verzichten diejenigen, die die
wissenschaftliche Evolutionsbiologie ablehnen, auf einen wichtigen Bestandteil der momentan
zugänglichen Realität und dieser Verzicht ist doppelt schlimm, wenn diese rationalen Schemata durch
eine Menge von Mythen und metaphysischen Ideen ersetzt werden. (NH-Ü von Alvargonzález 1996, S.
20 [4.1])
Auf diese Weise muss die Realität als ein werdender Vorgang (in fieri) betrachtet
werden, der auch von der Konstruktion der wissenschaftlichen Wahrheiten selbst abhängig
ist. Bildet sich hierbei eine Art „Hyperrealität“ heraus, so ist sie als eine „erweiterte“
Realität zu verstehen, die nicht nur das in Betracht zieht, was unseren Sinnen direkt
erscheint (die Erscheinungen, Phänomene), sondern all das, was aktiv ist und das
Existierende bestimmt, selbst wenn wir es nicht wahrnehmen, was sehr nach der
Wallnerschen „Wirklichkeit“ klingt. Schauen wir uns aber die in PhM-Schriften genannten
Beispiele hierfür an (elektromagnetischen Wellen, Atomstrukturen oder auch
evolutionsbiolologische Vorgänge usw.), so ist aus der Sicht des CR dort die konstruierte
Modellhaftigkeit (Mikrowelt) hier immer impliziert.
Der PhM meint aber in anderen Worten formuliert, die Resultate wissenschaftlicher
Forschung (inklusive ihrer Modelle) werden in das zuvor gegebene Material
hineingewoben. Auf der semantischen Achse geschieht dabei folgendes: Eine Wissenschaft
geht vom phänomenischen Material aus (z.B. die unter dem Mikroskop beobachteten
Zellen, die selbst Referenziale sind) zurück zu dessen essentieller Struktur (der vor der
Laboruntersuchung bereits konstruierte Krebszellen-Typus, der nun erinnert wird), die
selbst eine Form darstellt (der Vorgang des Regressus). Es handelt sich hierbei um eine
Reduktion auf die essentielle Struktur, und diese ist mehr oder weniger vergleichbar mit
einer Landkarte (s.u.). – Auch der CR spricht von dieser wissenschaftlichen Reduktion. –
Das Beispiel o.g. aus der Biologie ist recht anschaulich: Ein Gewebe (Referenzial) lässt
sich auf eine Menge von unterschiedlichen Zellen, Molekülen, Nervenstränge usw.
zurückführen, welche laut PhM die „Essenz“ des Gewebes darstellen. Ein Neurobiologe
entwirft dabei eine etwas andere „Struktur“ als ein Onkologe; beide sind als innerhalb der
Biologie durchaus komplementär zu betrachten, doch oft entstehen auch Konflikte
zwischen alternativen wissenschaftlichen Reduktionen. Sind jedoch einmal essentielle
Strukturen konstruiert, die funktionieren, das heißt dem Material gerecht werden, lassen
sich diese essentiellen Strukturen danach innerhalb dieser Wissenschaft wieder auf das
Material rückübertragen (Progressus), womit der dialektische Kreis (der Zirkularismus des
PhM) geschlossen wird. Der CR hat schon recht mit seiner Kritik an reduzierenden
Modellen, die der Wirklichkeit nicht vollständig gerecht werden, doch würde der PhM
darauf erwiedern, eben deshalb existiert die Pluralität der Wissenschaften, die zwar jede für
sich selbst reduzierend vorgeht, doch selbst in Konkurrenz zu einer anderen Disziplin steht,
die anders reduziert – was nicht immer als Ergänzung aufgefasst wird, sondern oft zu
großen Diskrepanzen und Auseinandersetzungen zwischen den Wissenschaften führt.
In beiden Ansätzen ist die Konstruktion zentral und damit auch die Handlung
überhaupt. Schreibt Wallner in der Systemanalyse (II: 109) „science is action in the last
decades“, so stellt er direkt neben die die Wissenschaften ausmachenden Propositionen die
Handlungen. Diese heißen im PhM Operationen. Dass sich im PhM die Wissenschaft nicht
allein auf Operationen reduzieren lässt, ist sehr zu unterstreichen, doch sind die
„Operationen“, wie wir noch sehen werden, sehr wichtig, weil sie unter anderem das
Kriterium für den Grad der Wissenschaftlichkeit selbst bereitstellen, denn je mehr das
„operative Subjekt“ sich neutralisieren lässt, desto höher ist der Grad an
Wissenschaftlichkeit. Hierauf kommen wir gleich zurück.
2. Frage: Wie entsteht eine Wissenschaft?
Fragen wir nun nach dem Konstruktionsprozess einer Wissenschaft selbst, so müssen
wir hierbei auf die Rolle des Subjekts achten.
Laut CR ist der Konstruktionsvorgang eine freie Erfindung durch Subjekte, insofern
handelt es sich bei der Realität der Wissenschaften um „frei erfundene Mikrowelten“
(Systemanalyse II: 71). Es sind soziokulturelle Bedingungen der Lebenswelt, welche die
Voraussetzungen bestimmen, wie eine Wissenschaft gebildet wird. Deshalb vertritt
Wallner, eine Wissenschaft in China setzt völlig Anderes voraus als eine westliche
Wissenschaft. Nun ist sich der Wiener Philosoph der daraus resultierenden Gefahr des
Relativismus bewusst, welcher sich aus diesem subjektiven Setzen ergibt und stellt ihm
deshalb seinen „Relationismus“ entgegegen, der sich, wie Wallner in seinem Master-
Seminar und bei seiner Vorlesung in Oviedo2 darstellte, um die Relationen zwischen
Theorien dreht, nicht im die Relativität derselben. Er geht davon aus, dass immer eine
Vielheit an Relationen zwischen ihnen vorliegt. Daher wirft auch Wallner selbst die Frage
auf, was die Wissenschaft von anderen Wissensarten unterscheidet bzw. wann
Wissenschaft erreicht ist. Um die Antwort bereits zu geben: Wissenschaft sei nur dann
vorhanden, wenn „Erkenntnis” bzw. „Einsicht“ hinzukomme und die Doktrin lehrbar sei.
Wir sehen, dies Kriterium ist epistemologisch begründet: Wissenschaft wird als Kenntnis
eines (oder mehrerer) Subjekte aufgefasst (Systemanalyse II: 147). Später greifen wir die
Frage auf, wann Erkenntnis bzw. Einsicht erreicht ist und bis wohin ein Wissen noch
unwissenschaftlich bleibt (siehe Frage 5).
Ganz anders ist dagegen für die Theorie des Kategorienabschlusses des PhM die
Wissenschaftskonstruktion keine freie Erfindung des Subjekts. Zwar findet auch dort die
2 Im Rahmen eines Masterstudiengangs zur Ausbildung für Philosophie-Lehrer der Sekundarstufe an
der Universität Oviedo, in der Sitzung vom 29.9.2011 und beim Abschlussvortrag von Friedrich
Wallner als Gastprofessor am Philosophischen Institut während des Kongresses Fronteras de la
ciencia: hibridaciones (Grenzen der Wissenschaft: Hybridisierungen), am Dienstag, 25.10.2011.
Geplant ist eine Publikation aller Vorträge und Master-Beiträge des Professor Wallner während
seines Aufenthaltes September/Oktober 2011 auf Spanisch.
Rolle des „gnoseologischen Subjekts“ (des Wissenschaftlers) große Beachtung, doch
werden nun die konkreten Materialien ins Zentrum der Betrachtung gestellt, da von ihnen
die Wissenschaftsbildung ausgeht. Wissenschaften sind dem PhM keine Kenntnisse,
sondern Wissenschaftskörper. Diese Materialien werden zu Beginn der wissenschaftlichen
Arbeit von den „gnoseologischen Subjekten“ (GSe) ausgewählt und verwandeln sich ab
diesem Moment in „Termini“ dieser Wissenschaft bzw. Bestandteile des nun entstehenden
Wissenschaftsfeldes. Dabei bedingen nun die Eigenschaften dieser Materialien selbst (und
nicht so sehr der subjektuale wissenschaftliche Umgang mit ihnen) die hier möglichen
essentiellen Strukturen. Diese kristallisieren sich aus dem apothetisch (in gewisser Distanz)
gegebenen Material heraus. Und zwar ähnlich wie sich eine Landkarte aus der
„Stallitenansicht“ von „Google Earth“ herausgezeichnen lässt, indem man bestimmte
geographische Eigenschaften (entweder Flüsse, Strassen oder Berge...) herauswählt und
nachzeichnet. So wie ich beim geographischen Procedere den Fluss auf meiner Landkarte
nicht einfach irgendwohin und in irgendeiner Form malen darf, sondern mich an dem vom
Satelliten Vorgegebenen ausrichten muss, darf allgemein das GS die gegebenen
Materialien nicht völlig willkürlich zueinandersetzen. Zwar kann (muss und wird) das GS
handelnd eingreifen, Materialien „operativ manipulieren“ und so in gewisser Weise
verändern (etwa durch farbliche Hervorhebung Entferntes einander näherbringen und
Naheliegendes voneinander zu unterscheiden oder, bei chemischen Experimenten,
Substanzen zusammenmischen oder durch Katalysieren voneinander trennen), doch
erfindet das GS diese Materialien nie neu und ex nihilo. Der Wissenschaftler muss immer
von ihren Eigenschaften ausgehen, selbst wenn er sie „manipuliert“. Der
Kristallisierungsvorgang ist im PhM somit weder völlig subjektual determiniert, noch
allein objektual, sondern vielmehr besteht er bzw. vollzieht er sich im Wechselspiel von
Material und Form.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für die Bedeutung des Subjekts in einer
Wissenschaft für die beiden Ansätze folgendes. Konstruiert im Wiener CR der
Wissenschaftler die Mikrowelt frei (und interpretiert sie anschließend: Einsicht bzw.
Erkenntnis), so ist in der Ovetenser Philosophie des PhM und dessen Theorie des
Kategorienabschlusses zufolge die Rolle des Subjekts in der Wissenschaftskonstruktion je
nach Art der Wissenschaften unterschiedlich und je nach dem, welche Phase bzw. welches
Moment der Wissenschaft gerade betrachtet wird. Hier wird nämlich eine im PhM
eingeführte Differenzierung meines Erachtens nach sehr wichtig, und zwar die zwischen
der Entstehung einer Wissenschaft (der eigentliche Kristallisierungsvorgang) und ihrer
Struktur (der resultierende Wissenschaftskörper). Bei der Entstehung einer Wissenschaft
handelt das „gnoseologische Subjekt” (der Wissenschaftler), vollzieht Handlungen bzw.
„Operationen“ (v.a. Zusammenbringen und Auseinanderbringen von bestimmten
Materialien zueinander). Entstehung und Struktur lassen sich allein dissoziieren, nicht
völlig voneinander trennen und also auch nicht als separat voneinander konzipieren (d.h.
Wissenschaftskörper sind immer dynamisch und befinden sich in permanenter
Entwicklung).
In dieser Formierungsphase (Entstehung) räumt auch der PhM kulturellen,
geschichtlichen, gesellschaftlichen etc. Bedingungen einen gewissen Einfluss auf den
Vorgang der Wissenschaftsbildung ein, wie der CR, der lebensweltliche Einfüsse betont.
Im PhM ist das jedoch mehr bei manchen Wissenschaften als bei anderen der Fall, wie wir
unten sehen werden. Aus dem einmal herausgebildeten bzw. herauskristallisierten
Wissenschaftskörper – d.h. aus seiner Struktur – kann das „gnoseologische Subjekt” und
dessen Operationen mehr oder weniger heraus-„neutralisiert” worden sein. Der Grad, zu
welchem dies möglich ist, hängt von der jeweiligen Wissenschaft ab. Diese Fragestellung
greifen wir unten unter den Punkten 3 und 5 wieder auf.
3. Frage: Charakterisierung der Wissenschaftstheorie und ihre Aufgabe
Nun ist das Selbstverständnis der beiden Wissenschaftsphilosophien (und damit auch
ihre jeweilige Aufgabe) sehr unterschiedlich. Kurz formuliert ist ja die des CR vorwiegend
„epistemologisch“, während die Theorie des Kategorienabschlusses sich als
„gnoseologisch“ auffasst. Zudem ist die Aufgabe des CR, den Wissenschaftlern als
Therapie zur Seite zu stehen und ihnen nichts aufzudoktrinieren, während der PhM einfach
nur klassifizieren und eine „Landkarte“ der Wissenschaften erstellen und deren
Funktionsweisen analysieren möchte.
Der CR ist aus der Sicht des PhM, der diese Unterscheidung hochhält, deshalb
epistemologisch, weil er auf die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt basiert (S/O):
Das Subjekt konstruiert und die so konstruierte Objektwelt (Realität) stellt sich der
wirklichen Objektwelt (Wirklichkeit) gegenüber. Die Objekte der Mikrowelten sind dem
CR dabei keine Beschreibungen der wirklichen Gegenstände, auch passen sie sich ihnen
nicht an, sondern sind frei gesetzt. Wenn dahingegen die Theorie des
Kategorienabschlusses „gnoseologisch“ sein soll, so heißt das für den PhM, dass sie ein
viel größeres Gewicht auf die Unterscheidung von Materie/Form legt, als auf das ebenso
auftauchende epistemologische Kriterium. Materie und Form sind dabei „konjugierte
Konzepte“, d.h. wie die beiden Seiten einer Münze kann die eine nicht ohne die andere
sein. Ausgehend von der Materie wird beispielsweise auf ihre Form geschlossen (und
umgekehrt).
Seine wissenschaftsphilosophische Aufgabe sieht der CR darin, dem Wissenschaftler
zu helfen, sich zu orientieren und über seine eigene Wissenschaft sagen zu können, auf
welchen Voraussetzungen sie fußt. Dabei kann er sich gut auf die kulturellen
(lebensweltlichen) Bedingungen der Wissenschaftskonstruktion konzentrieren, die von
Kultur zu Kultur recht unterschiedlich sind. Dagegen ist das Anliegen der Theorie des
Kategorienabschlusses, die Gesamtkonstellation der Wissenschaften und deren
Konstruktion, Funktionen und aber auch Wahrheitskonzeption zu klären. Für ihn sind
Wissenschaften in ihrer Entstehung auch sozioökonomisch, kulturell usw. bedingt.
Die gemeinsame Kulturbedingtheit der Wissenschaft, welche nämlich von beiden als
eine kulturelle Institution betrachtet wird (SA II: 71 und QC: 12), äußert sich im PhM als
Kristallisierung in „sozialem und kulturellem Kontext ideologischer Verschwommenheit“
(QC: 99). Zwar finden wir in beiden Fällen in gewissem Sinne eine Ablehnung der oft
geforderten Kulturfreiheit der Wissenschaft (Systemanalyse II: 73 und 93), doch liegt bei
den Ansätzen eine unterschiedliche Nuancierung vor. Laut CR scheint eine jede
Wissenschaft in jedem Moment der Lebenswelt verhaftet; dagegen ergibt sich im PhM, und
zwar besonders bei Wissenschaften im Sinne 3, doch die Möglichkeit einer Wissenschaft,
die strukturell (d.h. in ihrer Struktur, jedoch nicht bei ihrer Entstehung!) Momente der
Subjektneutralisierung und damit eine gewisse Ablösung von der Kulturbedingtheit
aufweist. Bei diesen Wissenschaften mag eine Neutralisierung der Operationen und
operatorischen Subjekte stattfinden und mit ihr in der Struktur (also, wie gesagt, nicht in
der Entstehung oder Rekonstruktion von Wissenschaft). Die Neutralisierung liege
gradweise unterschiedlich vor, je nach Wissenschaft. meines Erachtens lässt sich diese
Neutralisierung bzw. Eliminierung nämlich als Neutralisierung der Kulturabhängigkeit
auslegen. Denn nehmen wir zum Beispiel den Satz des Pythagoras: Sobald dieses Theorem
erst einmal formuliert (also die „Entstehung“ abgeschlossen) ist, kann von den
Operationen, die zu ihm geführt haben (von der architektonischen Praxis etwa) abgesehen
werden, insofern nun Strukturen entstanden sind, die auch auf anderem Wege erlangt
werden können. Es ist ja per Konfluenz auf unterschiedliche Weise zum Theorem zu
gelangen (zwei mathematische Beweise für ein bestimmtes Theorem). Diese „synthetische
Identität“ (Wahrheit, s.u.) – hier etwa für die Oberfläche eines Kreises A = πr2 – ist dann
laut PhM universell gültig (in Europa wie in China oder Neuguinea).
Beide Philosophen lehnen die weitverbreitete Auffassung ab, die Wissenschaft
beschreibe die Wirklichkeit. Die Wissenschaft (re)konstruiert sie ja vielmehr, wobei eine
gewisse Transformation bei beiden nicht ausgeschlossen wird. Ist beiden
wissenschaftsphilosophischen Ansätzen ihre Ablehnung des „Deskriptionismus”
gemeinsam, so verstehen beide jedoch darunter nicht genau das Gleiche. Die
unterschiedliche Auffassung besteht darin, dass der von Wallner kritisierte
„Deskriptionismus“, welcher vergeblich eine Wirklichkeitsbeschreibung vorgebe und so
versuche, Wirklichkeit mit der Realität gleichzusetzen, seinerseits weitestgehend Buenos
„Adäquationismus“ entspricht, in der Form (bzw. Theorie) und Materie vergeblich
gleichzusetzen versucht werden. Die vier wissenschaftsphilosophischen (gnoseologischen)
Ansätze des PhM habe ich bereits im Artikel „Berührungspunkte und Kontraste“ (auf S.
175) dargestellt: Deskriptionismus, Adäquationismus, Theoretizismus und Zirkularismus.
Hier sei nur kurz daran erinnert, dass widerum das gnoseologische Kriterium Materie/Form
Anwendung findet. Die Gewichtung von Materie einerseits und Form andererseits ist beim
adäquationistischen Ansatz in etwa gleich, d.h. man glaubt dann, beide in
Übereinstimmung bringen zu können. Der Deskriptionismus bedeutet demgegenüber (laut
PhM) eine Verschiebung der Gewichtung. Denn läuft nun die Kritik am
deskriptionistischen Ansatz über das erwähnte gnoseologische Kriterium Material/Form, so
kommt beim wissenschaftsphilosophischen Deskriptionismus das Hauptgewicht auf die
Materie, und die Form des Wissenschaftskörpers (Theorie) gilt weniger wichtig als der
Inhalt. (Im Extremfall folgt geradezu eine Geringschätzung der Theorie.)
Trotz der gleichzeitigen Ablehung des Deskriptionismus ist im PhM jedoch die
Wissenschaftlichkeit nicht dann erreicht, wenn „Erkenntnis” hinzukommt (CR), sondern
vielmehr, wenn ein „Abschluss3“ vollzogen wird, bei dem sich die Termini zu einem
Wissenschaftsfeld zusammenknüpfen.
4. Frage: Die Frage nach der wissenschaftlichen Wahrheit
Im Berührungspunkte-Artikel wurde bereits erwähnt, dass der PhM
Wissenschaftskörper als „supraindividuelle, objektive Entitäten“ bzw. „suprasubjektive
Institutionen“ auffasst, wohingegen ja der CR es dem Subjekt zukommen lässt, die
jeweilige Wissenschaft zu konstruieren, weshalb diese ein subjektuales Gebilde darstellt.
Trotz dieses Unterschieds sehe ich jedoch auch eine Übereinstimmung, was die Wahrheit
einer Wissenschaft anbetrifft: die Ablehnung einer absoluten Wahrheit. Der Konstruktive
Realismus unterstreicht, dass von einer absoluten Wahrheit abzusehen ist, da es nur
„lokale“ Wahrheiten gibt und diese werden in erster Linie als kulturell lokal aufgefasst:
3 Sei es ein Kategorienabschluss oder nur ein operativer Abschluss.
Eine Kultur im Sinne von Kulturkreis mag fähig sein, von der europäischen Variante
abweichende Wissenschaften zu konstruieren, wie etwa die Traditionelle Chinesische
Medizin, die daher eine eigene Wahrheit hat.
Auch dem PhM ist die Idee von nicht-absoluten Wahrheiten nicht fremd. Dort ist
eine Wahrheit ebenso in gewissen Sinne „lokal“ (auch wenn Bueno dies nicht so nennt),
aber nicht nur im kulturellen Sinne, obschon er die Wissenschaftsentstehung historisch in
Europa verankert. Die wissenschaftliche Wahrheit wird vom PhM als nicht-absolut – also
sozusagen „lokal“ – konzipiert, insofern sie vielfach vorhanden ist: insofern Wahrheiten
also in den einzelnen Wissenschaftskörpern entstehen und ihnen je angehörig sind.
Die Frage nach der Wahrheit hat im PhM nun immer mit dem sogenannten
zirkulären Vorgehen zu tun: der Schluss vom Stoff einer Wissenschaft (Materie, besonders
Phänomene, Termini, physikalische Referenziale usw.) auf deren Form (essenzielle
Strukturen bzw. Theorie) und umgekehrt wieder zurück. Zirkularistisch ist dem PhM ein
Ansatz, der voraussetzt, dass die Relation zwischen den formellen und den materiellen
Vielheiten der Wissenschaften ein zirkuläres und dialektisches Schema aufweist, und zwar
derart, dass beide Vielheiten-Typen sich gegenseitig permanent einander bedingen. David
Alvargonzález definiert den spezifisch materialistischen Zirkularismus in der
Wissenschaftsphilosophie in seinem Artikel über den Darwinismus so:
Der materialistische Zirkularismus bedeutet eine Spezifikation dieses allgemeinen [zirkularischen]
Schemas auf zweierlei Art: Erstens sind hier diese (formellen und materiellen) Vielheiten nie von der
Ebene der Handlungen unabhängig, die Subjekte an körperlichen Objekten durchführen. Zweitens wird
voraussetzt, die aufzustellenden zirkulären Schemata haben Grenzen, welche das Feld einer jeden
Wissenschaft und die Wahrheitsbereiche eines jeden Theorems definieren, weshalb es auch keinen Sinn
macht, von einer Zirkularität in Bezug auf die Gesamtheit aller existierender Phänomene zu reden.
(NH-Ü von Alvargonzález 1996: 20)
Vielmehr ist es nur die von den Wissenschaftlern als gnoseologischen Subjekten bei
der Entstehung eines Wissenschaftskörpers ausgewählte Material-Selektion
(Wissenschaftsfeld), auf die sich der Wahrheitsbereich einer konkreten Wissenschaft
bezieht – und insofern können wir diesen Wahrheitsbereich durchaus als „lokal“
bezeichnen. Bei der Präzisierung wird auch die Identität bestimmter Bestandteile des
Wissenschaftsfeldes thematisiert und die Beziehung von Propositionen zu den
unabdingbaren Handlungen des „gnoseologischen Subjekts“.
Aus der Sicht der zirkularistisch-materialistischen Philosophie ist anzunehmen, dass die Essenz der
wissenschaftlichen Wahrheit mit der Identität mancher Termini im Wissenschaftsfeld zu tun hat. Die
Wahrheit einer Wissenschaft ist [...] für die Materialien spezifisch, die für das jeweilige
Wissenschaftsfeld charaktieristisch sind. Obwohl sie mittels Propositionen formuliert wird, entsteht
bzw. wird diese Identität durch Operationen an körperlichen Gegenständen und durch die Relationen
zwischen unterschiedlichen Materialien konstruiert. Es handelt sich daher um eine Konstruktion,
welche Gegenstände, chirurgische Operationen und materielle Relationen erfordert. Deshalb betrachten
wir diese als eine synthetische Identität. (ebd.)
Was im CR als interkulturelles Phänomen „lokale Wahrheit“ genannt wird, könnte im PhM
also genauso heißen, stellt sich dort aber nicht als interkulturelles, sondern als
interdisziplinäres Phänomen heraus:
[...] der materielle Kontext, in dem eine systematische, synthetische Identität konstruiert wird,
beschränkt sich immer auf bestimmte Klassen von Phänomenen und auf finite Materialkontexte. Eben
diese Limitiertheit führt dazu, dass der Zirkularismus, der ja die Theorie des Kategorienabschlusses
charakterisiert, uns stets zwingt, die für jede einzelne Wissenschaft charakteristischen Materialien zu
bestimmen, so dass eine wissenschaftliche Wahrheit immer auf eine spezifische Menge an Phänomenen
begrenzt ist, die sich widerum von der Gesamtheit der Welt absetzen lassen. (NH-Ü von Alvargonzález
1996: 21; meine Kursive)
Wie können wir uns nun etwas konkreter vorstellen, dass die Wissenschaftlichkeit
(im Sinne 3) im PhM erst dann erlangt ist, wenn ein Regressus auf essenzielle Strukturen
vollzogen wurde und eine synthetische Identität entstanden ist und daher auch die
Wahrheiten im PhM als den verschiedenen Wissenschaftsfeldern angehörige „lokal“
aufzufassen sind (nicht absolut)? Eine chemische Wahrheit muss nicht deckungsgleich mit
einer physikalischen und schon gar nicht mit einer biologischen Wahrheit sein – von der
kulturanthropologischen ganz zu schweigen. Der gleiche „Gegenstand“, beispielsweise
eine Menge Salz, wird von der Chemie als NaCl aufgefasst, hat jedoch in der
Kulturanthropologie eine andere Wahrheit. Etwa impliziert sie bei den Maring Neuguineas
immer eine sozio-kulturelle Bedeutung, die mit der schwierigen Gewinnung von Salz im
Gebiet des Stammes zusammenhängt. Salz-besitzende Maring ziehen daraus Vorteile beim
Tauschen und bei ihren Allianzen. Doch ist die Frage nach der Wahrheit in den
Wissenschaften, die β-operative Situationen einschließen, anders anzugehen als bei
eindeutig α-operativ vorgehenden Wissenschaften, wie wir nun sehen werden.
5. Frage: Der wissenschaftstheoretische Status der „Geisteswissenschaften“
Zu Beginn der Behandlung dieser Frage stellt sich die ebenso von beiden Autoren
aufgeworfene Frage der Bezeichnung jener Wissenschaften, die weder formale
Wissenschaften, noch Naturwissenschaften sind. In Ablehnung der französischen und
englischen Bezeichnungen „lettres“ bzw. „humanités“ und „humanities“, in denen der
Wissenschaftscharakter terminologisch abgesprochen scheint, bevorzugt Wallner die
deutsche Bezeichnung „Geisteswissenschaften“. Auch Bueno möchte sie als
Wissenschaften verstanden sehen und übernimmt daher nicht die spanische Bezeichnung
„humanidades“, sondern wendet sich der Bezeichnung „ciencias humanas“ zu, die wir hier
als „Humanwissenschaften“ übersetzen, obwohl sie das gleiche semantische Feld wie die
„Geisteswissenschaften“ abdecken4, denn Bueno möchte sich gegen den dort implizierten
„Spiritualismus“ wehren. Bueno nimmt hier bewusst die Verhaltenswissenschaften hinzu
und redet daher von „Human- und Verhaltenswissenschaften“, da beide ähnliche
gnoseologische Eigenschaften aufweisen – nämlich vor allem die Subjektimplikation in
ihrer Struktur.5
Im Konstruktiven Realismus, und zwar in der 1997 erschienenen Schrift How To
Deal With Science If You Care For Other Cultures, werden nun die
„Geisteswissenschaften“ methodologisch höher wertgeschätzt als die Naturwissenschaften,
insofern ihre Methode, die Interpretation, führende Methode auch der Naturwissenschaften
4 „Human- und Verhaltenswissenschaften“ bei Bueno entsprechen also bei Wallner
„Geisteswissenschaften“. Textstellen des einen Autors an die Terminologie des anderen anzupassen,
hielte ich in diesem Fall für eine Korsettierung. 5 Siehe hierzu den Artikel von Gustavo Bueno: „La Etología como ciencia de la cultura“, besonders
den letzten Abschnitt „Continuismo y discontinuismo entre el campo de la Etología y los campos de
la Antropología y las Ciencias Humanas” in: El Basilisco, 2. Epoche, Nr. 9, 1991, S. 3-37 und
ebenso „En torno al concepto de 'Ciencias Humanas'. La distinción entre metodologías α-operatorias
y β-operatorias”, in: El Basilisco, 1. Epoche, Nr. 2, Mai-Juni 1978, S. 12-46.
werden soll. Denn nur durch Interpretation könne Erkenntnis – sein Kriterium für
Wissenschaftlichkeit – erreicht werden.
Only through interpretation the meaning of a scientific proposition system can be decided. (Wallner
HSOC: 50)
Gegenüber der im PhM vorgesehenen Möglichkeit einer relativen
Subjektneutralisierung in Humanwissenschaften (die im Grenzfall auf α-operative
Situationen zurückgehen können, obwohl sie in diesem Moment Gefahr laufen, keine
Humanwissenschaften mehr zu sein), etwa bei statistischen Untersuchungen innerhalb
dieser Disziplinen, nimmt der CR eine noch kritischere Haltung ein:
If you stress too much the methods of the natural sciences [in Geisteswissenschaften], you will loose
sight of the primary activity of the Geisteswissenschaften. (Wallner HSOC: 49)
Die primäre Aktivität der Geisteswissenschaften sei eben die Auslegung. Die
Interpretation könne den Naturwissenschaftlern nämlich laut CR dabei helfen, ihre eigene
Disziplin zu verstehen und die Struktur eines wissenschaftlichen Objekts sei dabei nicht
mehr wichtig:
[…] in constructing a for scientific object you need not and you cannot decide its ontological status. To
start with the constructed object is ontologically undefined. (From this point of view we can see the
importance of interpretation for scientific objects – for without any interpretation it is impossible to
decide what a scientific object is, anyway.) When we have determined the ontological structure of an
object after its construction, then it becomes (scientific) reality. In other words, it is decided to be our
free interpretation, what the objects are we give meaning to. (HSOC: 49-50; meine Kursive)
Dass die Auswahl der Objekte (im PhM Termini), welche wir interpretieren bzw.
denen wir eine Bedeutung zumessen, – und zwar in der Entstehung – der freien Auswahl
des Wissenschaftlers unterliegt, ist für den PhM weitestgehend auch akzeptabel.
Bei den „Human- und Verhaltenswissenschaften“ des PhM ist eine (eingeschränkte
bzw. erweiterte) Wissenschaftlichkeit (im Sinne 4) dann erreicht, wenn man – bei der
Interpretation des ausgewählten Materials – zumindest auf einen Rahmenkontext
zurückgehen (bzw. einen „operativen Abschluss“ durchführen) kann. Wie gesagt, kann
unter Umständen das „operative Subjekt” und dessen Operationen aus dem einmal
herauskristallisierten Wissenschaftskörper (Struktur) ganz oder teilweise „neutralisiert”
worden sein. Der Grad, zu welchem dies möglich sei, hänge von der jeweiligen
Wissenschaft ab, denn manche Wissenschaften neutralisieren das Subjekt und seine
Handlungen mehr, andere weniger: An den Extremen stehen die Wissenschaften mit
sogenannter α-operativer Methodik, wie etwa Pawlows Reflexlehre mit einer hohen
Neutralisierung, und denen gegenüber die sogenannten Disziplinen mit β-operativer
Methodik, welche die Subjekte gar nicht neutralisieren, wie etwa die Rechtssprechung,
deren Wissenschaftlichkeit insofern auch in Frage gestellt ist.
Es gibt Handlungen (PhM: „Operationen“), die zwar zur Konstruktion (Entstehung,
siehe Frage 2) der Wissenschaft beitragen, dann schließlich aber nicht mehr zum
Wissenschaftsfeld selbst (Struktur) gehören. Dies ist bei den α-operativ vorgehenden
„Naturwissenschaften“ der Fall. Dagegen bleiben die Handlungen anderen Disziplinen
bzw. ihrem jeweiligen Wissenschaftsfeld intern, wenn sie sich dort nicht neutralisieren
lassen, was bei den meisten Geistes-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Fall ist. Sie
bleiben der β-operativen Situation verbunden. Hier ist nun die Handlung des
Wissenschaftlers (GS) und der beobachteten Subjekte auch in der Struktur präsent. Ist es in
den α-operativ vorgehenden Wissenschaften unerheblich, welcher Wissenschaftler eine
Handlung durchgeführt hat, da die sich dort sowieso „neutralisieren“ lassen, denn die
Struktur ist nun das, was interessiert, so ist dagegen in den β-operativen Wissenschaften
nun mit der Anwesenheit von internen Operationen und Subjekten auch die kulturelle
Bedingtheit permanent wesentlich mehr präsent.
Ein eindeutiges Beispiel: Wenn nun ein GS, beispielsweise „Kulturanthropologe“
wie Edward LiPuma, einen Stamm in den Bergen Neuguineas (Maring) besucht und sie
dabei erforscht, so beeinflusst er durch seine Handlungen das Verhalten der
Urbevölkerung, die auf seine Anwesenheit und Operationen reagieren. Er und sein
Verhalten ist nicht wegzudenken aus dem Vorgang des Studiums, etwa wenn sie auf seine
Geschenke reagieren und dafür Zeremonien durchführen. Neben dem gnoseologischen
Subjekt (LiPuma) stellen auch die nativen Maring sogenannte „operative Subjekte“
(konkreter noch: agierende Subjekte der Anthropologie SA) dar. Diese sind genauso wie
ihre „Operationen“, ihr Handeln, Jagen, Feiern und sonstige Zeremonien selbst nicht
wegzudenkende Bestandteile des Wissenschaftsfeldes, das der Kulturanthropologe zu
umreißen versucht.
Die „Humanwissenschaften“ (Sozial- und Geisteswissenschaften) und ebenso die
Verhaltenswissenschaft zeichnen sich, allgemein formuliert, durch ein unstabiles
Gleichgewicht zwischen beiden α-operativen und β-operativen Situationen aus: Dies
bedeutet eine permanente Schwankung zwischen beiden Situationen, mit folgenden
„Gleichgewichtszuständen“.
Abb.2 „Gleichgewichtszustände bei den Human- und Verhaltenswissenschaften“ (NH-Ü von
Gustavo Bueno TCC Band 1: S. 211 – hier erweitert um Beispiele)
In der Tabelle grau hinterlegt ist der Normalbereich der uns hier interessierenden
Wissenschaften – den „Humanwissenschaften“, Sozial- und „Geisteswissenschaften“, inkl.
Verhaltenswissenschaft. Sie sind wissenschaftsphilosophisch für den PhM wegen ihrer
„problematischen“ Wissenschaftlichkeit (Sinn 4) besonders interessant und für den CR
wegen ihrer Erkenntnis, die auf der Interpretation beruht. Für uns in der gegenwärtigen
Untersuchung liegt ihr Interesse aber auch in der Kulturabhängigkeit, die hier ja besonders
ausgeprägt ist. Wir exemplifizieren dies gleich spezifisch anhand von Beispielen aus der
Kulturanthropologie.
Ganz oben in der Tabelle finden wir ein Grenzstadium dieser Wissenschaften: α1
liegt vor, wenn die Subjekte neutralisiert wurden und ein Regressus auf eine eigentlich für
„Naturwissenschaften“ charakteristische Situation unternommen wurde. Insofern hört die
„Humanwissenschaft“ bzw. Verhaltenswissenschaft dann eigentlich auf, eine solche
(Human- bzw. Verhaltenswissenschaft) zu sein. Dies ist etwa der Fall, wenn Pawlow das
Verhalten seiner speichelproduzierenden Untersuchshunde bei der reflexologischen Studie
auf rein mechanische Vorgänge zurückführt. Ausgehend vom Verhalten (Operationen) des
„operativen Subjekts“ Hund vollzieht der behavioristische Verhaltensforscher hier einen
Regressus zu nicht operatorischen Faktoren (d.h. unabhängig von Handlungen), die ja
eigentlich für Naturwissenschaften kennzeichnend sind.
Ganz unten in der Tabelle sehen wir das gegenüberliegende Grenzstadium dieser
„Geistes“-Wissenschaften: β2 bezeichnet diejenige Situation, in der diese Wissenschaften
für den PhM aufhören, Wissenschaften zu sein, da hier bloß Handeln von Subjekten, reine
Praxis bzw. Technologie vorliegt.
Der grau unterlegte Bereich ist nun aber bei Weitem nicht homogen. Werden
Handlungen auf umfassende Zusammenhänge zurückgeführt, so befinden wir uns noch in
geisteswissenschaftlichen Stadien, aber solche, in denen das „operative Subjekt“
weitgehend bis nur ansatzweise neutralisiert ist: α2. Hier gibt es zwei Stufungen: Wenn
man zu allgemeinen Strukturen gelangt, indem man statistische Methoden anwendet, wie
dies etwa Roy Rappaport in The Pigs for the Ancestors tat, so erreicht man das generische
I-α2 (weitgehende Neutralisierung). Erreicht man dagegen spezifische Strukturen, wie etwa
Claude Lévi-Strauss in seinem Strukturalismus, so kommt man zur spezifischen Situation
II-α2 (ansatzweise Neutralisierung).
Weniger neutralisiert sind die „operativen Subjekte“ dagegen im darunterliegenden
Bereich β1. Zu ihm gelangt man per Regressus auf essentielle Zusammenhänge. Wenn ein
Archäologe beispielsweise ein vorgeschichtliches Keramikgefäß reproduziert, um die
genaue Produktionsweise der ursprünglichen Herstellung herauszufinden, befindet er sich
im Stadium β1 – genauer gesagt ist dies ein Beispiel für den Ansatz „Verum est factum“ in
seiner generischen Form I-β1. Beeindruckend ist der Werkzeugkoffer eines solchen
archäologischen Nachbildners6, in dem sich neben allerlei Stöckchen bearbeitete
Knocheninstrumente verschiedenster Formen befinden, um die gleichen Resultate im Ton
zu verursachen wie sie die ausgegrabenen Keramikgegenstände aufweisen. Doch das
Ausschlaggebende ist hier nicht das Instrumentarium, sondern die operativen Handlungen
der Reproduktion der Funde. Spezifisch II-β1 wäre dagegen die Anwendung der
Spieltheorie.
Was nun die Beeinflussung durch die Kultur anbetrifft: Aufgrund der Tatsache, dass
in den Wissenschaften mit α-operativer Methodik die Operationen und Subjekte dem
Wissenschaftsfeld als Struktur extern sind, muss ihre Beeinflussung von der Kultur
limitierter sein als bei den anderen Disziplinen. Wenn nämlich β-operative Situationen in
einer Disziplin immer wieder auftauchen, bedingt die den operativen Subjekten eigene
Kultur nicht nur bei der Bildung (Entstehung) des Wissenschaftsfeldes, sondern oft auch
6 Etwa der in Aragon (Spanien) tätige Historiker und Archäologe Javier Fanlo, dessen
Werkzeugkoffer selbst Ergebnis jahrelanger Forschung ist.
permanent die Struktur des Wissenschaftskörpers (d.h. alles, was diese Disziplin aussagt).
Deshalb schließe ich zur Folge, dass auch der PhM, obschon ohne diese Terminologie,
durchaus „lokale Wahrheiten“ anerkennt, wie dies der Konstruktive Realismus tut. Eine
Kultur kann also andere β-operativ vorgehende Disziplinen ausbilden als andere
Kulturkreise. Konkret: Die Scharia basiert auf anderen Premissen als das britische oder das
kontinentale Rechtssystem. Die traditionelle chinesische Medizin muss nicht mit der
europäischen übereinstimmen. Doch ist damit noch nicht gesagt, dass beide Ansätze auch
auch gleichwohl die Wissenschaftlichkeit solcher praktischer Disziplinen annehmen
müssen.
Die oben aufgeworfene Frage, wann denn für den CR Erkenntnis bzw. Einsicht
erreicht ist und wann ein Wissen dagegen noch unwissenschaftlich bleibt, wurde somit
nebenbei beantwortet: „Knowledge“ trete erst nach der Interpretation ein. Und deshalb
seinen die „Geisteswissenschaften“ den „Naturwissenschaften“ auch methodologisch
überlegen:
[...] the central method of the Geisteswissenschaften – interpretation – is becoming a leading method in
the natural sciences. [...] (HSOC: 50)
Und als führende Methode gehört sie auch zum Training eines guten CR-
Therapeuten für desorientierte Naturwissenschaftler, die sonst nicht wissen, was sie tun,
wenn sie ihre Wissenschaft betreiben, die also sonst keine Erkenntnis oder Einsicht
erlangen:
[...] interpretative ability expresses the superiority of a scientist or of a science. This gives the
Geisteswissenschaften a two-fold function: people practising Geisteswissenschaften must be regarded
as masters of interpretation and can become trainers for natural scientists. (ebd.)
In den β-operativ vorgehenden „Geistes-“ bzw. „Human- und
Verhaltenswissenschaften“ taucht aber noch ein weites wissenschaftsphilosophisches
Problem auf, das Gustavo Bueno in seiner Abhandlung Nosotros y ellos (Wir und sie; Abk.
N&E) besonders behandelt. Gemeint ist das Problem der Perspektive, die das
gnoseologische Subjekt, der Wissenschaftler, in Bezug auf die untersuchten operativen
Subjekte einnimmt. Beide sind nun ja im Wissenschaftsfeld, etwa der Kulturanthropologie,
präsent. Da dieser Punkt auch die Wissenschaftlichkeit der entsprechenden Disziplin
betrifft, möchte ich hier etwas genauer, besonders auf das 5. Kapitel von N&E eingehen,
das übersetzt „Das „Prisma“ von Pike aus der Sicht der Theorie des
Kategorienabschlusses“ heißt (N&E: 65-87).
Laut Kenneth Pike7, der die Unterscheidung 1954 in die Kulturanthropologie
eingeführt hat, ist die „Etic““-Perspektive das, was der Beobachter von seinen eigenen
Koordinaten aus wahrnehmen oder analysieren kann. Wie bereits gesagt, nennt Bueno
diesen Beobachter GS, „gnoseologisches Subjekt“; dieser steht außerhalb der
beschriebenen Kultur.
Dem wird nun von Pike die „Emic“-Perspektive gegenübergestellt, die vorliegt,
sobald der Beobachter GS versucht, sich in die Sichtweise des untersuchten Subjekts zu
versetzen, diesen bezeichnet dann Bueno als das „agierende Subjekt“ (AS). Bei seiner
7 In seinem Buch Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior
(1954) übernimmt Pike die von Phonemik/Phonetik abstammende Unterscheidung emic/etic in die
in die Sozialwissenschaften, besonders die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie.
Ablehnung, die Traditionelle Chinesische Medizin von den Koordinaten der westlichen
Medizin aus zu interpretieren, lässt sich vermuten, Wallner sympathisiert eher mit der
emic-Perspektive, denn mit der etic-Perspektive. Doch impliziert der Vorgang der
Verfremdung andererseits nicht immer auch eine Etik-Perspektive?. Das wäre in Zukunft
noch genauer zu untersuchen.
Legt man nun diese Unterscheidung aus einer rein epistemologischen Sicht
(erkenntnistheoretisch) aus, lässt sich das Emische zunächst als Innenperspektive in
apothetische (distanzierte) Propositionen auffassen und das Etische als die
Außenperspektive.
In Nosotros y ellos wird ein Gedankenexperiment in Oviedo beschrieben, das Bueno
zusammen mit Marvin Harris 1985 unternahm: Vor ihnen steht eine Flasche Wein auf dem
Tisch. Bueno zieht diese Weinflasche als Beispiel für einen apothetischen Gegenstand
heran, der von einem Forscher GS und einem „agierenden Subjekt“ AS wahrgenommen
wird. Bueno behauptet nun, es existiere weder seitens des Anthropologen, noch des
Eingeborenen ein Handlungssystem, das fähig wäre, operativ in das Innere des Kopfes des
anderen vorzudringen. Die Emic-Handlungen stellen keinen Mentalfluss dar, sondern
konstruieren apothetische Figuren: Erst wenn beide auf die apothetische Flasche zeigen,
wird eine Komunikation zwischen GS und AS ermöglicht.
Das Postulat eines Feldes, das aus apothetischen Objekten besteht, kann als unabdingbar aufgefasst
werden, um die Möglichkeit einer sprachlichen Komunikation zu erklären (NH-Ü von N&E: 72)
Dies gelte allgemein für die Übertragung von Kenntnissen. Das Problem der
Perspektive, nämlich dass, obwohl es sich um das gleiche apothetische Objekt handeln mag
(beispielsweise der Mond), wenn er von unterschiedlichen Observatorien aus angeschaut
wird, liege keine vollständige Übereinstimmung der Phänomene vor.
Um nun die gnoseologische Interpretation – und zwar von der
wissenschaftsphilosophischen Frage aus: wie wird der materielle Modus in den formellen
Modus übersetzt? – der Pikeschen Unterscheidung zu veranschaulichen, greift Bueno auf
eine weitere Anekdote zurück: Ein Boot nähert sich bei starkem Sturm der kantabrischen
Steilküste. Die Beobachter “Sa” stehen an der oberen Kante der Steilküste und die
Besatzung des Bootes “Sb” befindet sich mitten in einem heftigen Sturm (vgl. N&E: 73-4).
Die Beobachter „Sa” symbolisieren in der Parabel die GSe, die zunächst nicht die
Vorderseite der Felswand sehen, und die Bootbesatzung „Sb” stehen für die ASe. Die
Perspektive der Beobachter „Sa” ist etic, und von oberhalb der Steilküste stellen diese GSe
unter Umständen falsche Hypothesen auf (wie hier beispielsweise die Annahme, die
Bootsbesatzung sei im Inbegriff, Selbstmord zu begehen). Die Perspektive der
Bootbesatzung “Sb”, die für die AS stehen, zeichnet sich durch Emic-Handlungen aus;
diese Subjekte sehen die „Vorderseite“ der Steilküste und finden da eine Art Aushöhlung,
in die sie sicher hineinschiffen und aussteigen können, was wiederum die GSe oben nicht
sehen.
Noch eine Abstraktionsstufe höher, mag nun die „Vorderseite“ für das Materielle
stehen und die „Rückseite“ für das Formelle, in das gnoseologische Subjekte die
Materialien übersetzen. So ähnlich also, wie in dem Moment, in dem die Beobachter auch
das sehen, was zuvor die Bootsbesatzung sah (also die Vorderseite), korrigieren die GSe
ihre vorherige Wahrnehmung (der Rückseite), und übersetzen nun das gelernte Materielle
richtig in den formellen Modus. Dieser (gnoseologische) Vorgang wird so ähnlich
vollzogen, wenn Gse versuchen, fremde oder fremdartige Kulturinstitutionen in intelligible
Formen zu bringen. Zwar scheint dies dem CR in manchen Fällen unangebracht,
beispielsweise wenn er unterstreicht, die Meridiane (TCM) sollen nicht als Nervenstränge
(europäische Medizin) uminterpretiert werden, da die Aussagen des chinesischen
Satzsystems dann widersprüchlich erscheinen; doch in anderen Fällen führt die
Anwendung der CR-Methode der Verfremdung8 auch im neuen Kontext zu vernünftigen
Aussagen. Im PhM kommt es in solchen Fällen jedenfalls zu einer Dialektik:
Es geht jedenfalls darum zu ermöglichen, dass das Emische auf seine Rückseite reduziert wird und
umgekehrt das Etische in seine Vorderseite übersetzt – zumindest in den Situationen, in denen das
Emische als das Innere und das Etische als ein Äußeres erscheint.” (NH-Ü von N&E: 75)
Doch letztere sei immer noch eine epistemologische Interpretation, d.h. noch keine
gnoseologische. Eine solche werde erst dann voll erreicht, wenn ein gnoseologisches
System wie die Theorie des Katergorienabschlusses, im Besonderen dessen
Unterscheidung der beiden Situationen α-operativ und β-operativ, angewandt wird, mit all
ihren Differenzierungen, die wir oben gesehen haben.
Wenn also beispielsweise aus einer Situation, in welche sowohl operative Subjekte
des Typs „gnoseologisches Subjekt“ als auch des Typs „agierendes Subjekt“ involukriert
sind, all diese Subjekte nun neutralisiert werden – dies ist meines Erachtens der Fall,
nachdem die Bootsbesatzung (ASe) den Beobachtern (GSe) die rettende Ausbuchtung
gezeigt haben – , da hierbei eine Kenntnis bzw. Wahrheit zum Vorschein kommt und dabei
alle implizierten Subjekte unwichtig werden, so haben wir die Situation α1 erreicht. Die
reduzierte geologische Wahrheit (α1) lautet in etwa: An der kantabrischen Steilküste xx km
östlich von Llanes befindet sich eine natürliche Ausbuchtung, die kleinen Booten bei Sturm
eine Landemöglichkeit bietet.
Doch wollen wir nicht an ein solches Grenzstadium gelangen, sondern noch
innerhalb der „Humanwissenschaften“ bleiben, so käme dies in der Anekdote
beispielsweise folgender Situation nahe: Nach der stürmischen Landung würden die
Beobachter ein eigenes Boot nehmen und selbst die Steilküste nach der Ausbuchtung
absuchen, um dann selbst auch eine Landung an der gegebenen Stelle zu unternehmen. Das
bedeutete nun „gnoseologisch übersetzt“: die ursprünglichen Handlungen der ASe
(Bootsbesatzung) von neuen Handlungen umgeben und auf diese zurückgeführt zu haben;
verständlich werden sie dabei durch einen „Regressus auf andere Operationen“ (N&E: 76).
Damit wären wir bei der Situation β1 angelangt.
Anstatt weitere alternativ mögliche Verfahren zu veranschaulichen, möchte ich nun
kurz zur interkulturellen Anwendung kommen. Wenn nun die ASe einer Kultur K1
angehören und die GSe einer anderen Kultur K2, dann ist ein Regressus auf β1 nur dann
möglich, wenn in K2 komplexere Handlungen möglich sind, welche den Operationen der
K1 angehörigen ASe einen gewissen erklärenden Rahmen geben. Ähnliches gilt auch für
den o.g. Regressus auf α1. Daraus schließt Bueno, dass es durchaus komplexere Kulturen
gibt und weniger komplexe: Erstere gehen im Übrigen in der Regel eher auf die zweiten zu,
in einem Versuch, sie zu verstehen, als umgekehrt. Oft sei es nun nicht wirklich möglich,
eine dritte Perspektive zu erlangen, die die Emic- und die Etic-Perspektive überschreitet
8 Eine schöne Definition der Methode der „Verfremdung“ bietet beispielsweise Lukas Pawlik:
„Zurück in die Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Verfremdung“, in
Greiner/Wallner/Gostentschnik (Hrsg.): Verfremdung - Strangification. Multidisziplinäre Beispiele
der Anwendung und Fruchtbarkeit einer epistemologischen Methode. (2006) S. 27.
(N&E: 81), sondern die Etic-Perspektive weise eine Potentialität auf, die genügt, um in sich
die Emic-Perspektive der anderen Kultur aufzunehmen.9 (Vgl. N&E: 81ff).
Wir haben bereits erwähnt, wenn der Konstruktive Realismus auf die Traditionelle
Chinesische Medizin angewandt wird, weigert sich Waller dabei gegen jede Reduktion
chinesischer Konzeptionen auf westliche Medizin-Konzeptionen und unterstreicht, dass die
K1 eben nicht auf Konzeptionen der K2 reduziert werden soll (noch umgekehrt). Allerdings
muss Wallner dafür nicht nur die gegenseitige Inkompatibilität in Kauf nehmen, sondern
sogar das gegenseitige Unverständnis. Diese interkulturelle Thematik soll in meinem
nächsten Beitrag aufgegriffen werden.
Schlusswort
Philosophische Systeme sind keine Puzzles, man kann daher Teile verschiedener
Systeme nicht einfach miteinander austauschen. Was aber zu leisten ist, eine
Auseinandersetzung, kann für alle implizierten Seiten sehr fruchtbar sein, um sich
bestimmter Problemsituationen bewusst zu werden bzw. aus ihnen herauszukommen.
Ziel dieser Auseinandersetzung des Philosophischen Materialismus mit dem
Konstruktiven Realismus ist es, dass der eine dem anderen Fragen stellt und ja, neue
Probleme aufwirft, die dieser vielleicht nicht so sehr ins Zentrum seiner Betrachtungen
gestellt hat.
Bei dieser Debatte, die gerade erst begonnen hat, fühle ich mich als ein privilegierter
Zuschauer eines philosophischen Geschehens. Denn Dank des großen Vorteils, diese
beiden Philosophen persönlich zu kennen und mit ihnen in Kontakt zu stehen, kann ich nun
einfacher vergleichend schauen, wie zwei gegenwärtige Philosophen sich ähnlichen
Problemen gegenüberstellen. Manchmal arbeiten sie ähnlich, aber nie gleich, bauen auf
dieselbe Tradition auf, scheinen immer wieder zu einem ähnlicher Ansatz zu kommen und
doch schlagen sie plötzlich unterschiedliche Lösungen vor bzw. setzen ganz andere
Wertungen.
Konfrontationspunkte auszumachen ist in der Philosophie nie etwas Negatives,
sondern etwas Positives, Konstruktives: Denn die Kritik, die Unterscheidung lässt uns
deutlicher Strukturen erkennen, die ohne Kontrast womöglich undeutlich blieben.
Der vielleicht wichtigste gemeinsame Punkt beider Ansätze und gleichzeitig ihr
Erfolg liegt meines Erachtens darin, eine leider weitverbreitete Meinung – die Philosophie
habe keinen Sinn mehr – über Bord geworfen zu haben!
9 Laut Clifford Geertz habe Evans Pichard dies geschafft, so Gustavo Bueno N&E: 81-82.
Lektüreempfehlungen10
Alvargonzález, David: “El darwinismo visto desde el materialismo filosófico” (Der
Darwinismus aus der Sicht des Philosophischen Materialismus), in: El Basilisco
(Oviedo), Nr. 20, 1996, S. 3-46.
Bueno, Gustavo: Nosotros y ellos (Wir und sie). Oviedo: Pentalfa, 1990. (= N&E)
Bueno, Gustavo: Teoría del Cierre Categorial (Theorie des Kategorienabschlusses). 5
Bde. Oviedo: Pentalfa, 1992-93. (= TCC)
Bueno, Gustavo: ¿Qué es la ciencia? La respuesta de la teoría del cierre categorial. (Was
ist die Wissenschaft? Die Antwort der Theorie des Kategorienabschlusses). Oviedo:
Pentalfa, 1995. (= QC)
Kurt Greiner, Fritz Wallner, Martin Gostentschnik (Hrsg.): Verfremdung - Strangification.
Multidisziplinäre Beispiele der Anwendung und Fruchtbarkeit einer epistemologischen
Methode. Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter Lang, 2006.
Hidalgo, Alberto: „Bueno Martínez, Gustavo”. In Denis Huisman (Hrsg.): Dictionnaire des
philosophes. Paris: P.U.F., 1984. 419-421.
Hidalgo, Alberto: „Philosophical Materialism“ (englische Version), in: Eikasia (Oviedo)
Nr. 2, Januar 2006, S. 1-5.
Holzenthal, Nicole: „Bueno, Gustavo“ in Brockhaus-Enzyklopädie. Mannheim: Brockhaus,
2003.
Holzenthal, Nicole: „Berührungspunkte und Kontraste zwischen dem Konstruktiven
Realismus und dem Philosophischen Materialismus – Skizze einer Gegenüberstellung
zweier wissenschaftsphilosophischer Ansätze“; in Kurt Greiner und Fritz Wallner
(Hrsg.): Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus. Studien zur Wissenschaftskultur.
Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter Lang, 2010. 165-187.
Pike, Kenneth L.: Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human
Behavior. Glendale (Calif.): Summer Institute of Linguistics, 1954.
Rappaport, Roy: The pigs for the Ancestors. Ritual in the Ecology of a New Guinea People
(19671). New Haven/London: Yale University Press, 1984
2.
Wallner, Fritz: How To Deal With Science If You Care For Other Cultures. Wien:
Braumüller, 1997. (= HSOC)
Wallner, Fritz: Systemanalyse als Wissenschaftstheorie II: Kulturalismus als Perspektive
der Philosophie im 21. Jahrhundert. Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter
Lang, 2010.
10
Alle für diesen Artikel von mir angefertigten Übersetzungen sind mit „NH-Ü“ (Übersetzung von Nicole
Holzenthal) gekennzeichnet, gefolgt von den bibliographischen Angaben des Originals.
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