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Historischer Materialismus 1. Die Menschwerdung Wenn es in der Natur dialektisch zugeht, so müssen diese Gesetze auch auf die menschliche Gesellschaft anwendbar sein und für sie Gültigkeit haben. Denn die Gesellschaft ist ein Produkt der Natur. Im Folgenden werden wir uns das genauer ansehen, zuerst bei der Menschwerdung, dann bei der Entstehung der menschlichen Gesellschaft und schließlich bei der geschichtlichen Entwicklung ebendieser. 1.1. Der Menschwerdungsprozess Auch nachdem sich Darwins Lehre von der Entstehung der Arten schon durchgesetzt hatte, stieß noch ein Punkt auf heftigsten Widerstand: dass der Mensch aus dem Tierreich kommt, dass Menschen und Affen einen gemeinsamen Vorfahren haben (bzw. wie fälschlich immer behauptet wurde, dass der Mensch vom Affen abstammt). "der Mensch ist doch etwas Besonderes, etwas, das weit über das Tier hinausragt!", lautete das Gegenargument. Und doch: der Mensch hat sich aus dem Tierreich heraus entwickelt. Diese Entwicklung verlief dialektisch, nicht mechanisch; die neue Qualität dieser Entwicklung (d.h. das Umschlagen von Quantität in eine neue Qualität) hat zu einer Sonderstellung des Menschen in der Natur geführt, die oberflächlich betrachtet diese Entwicklung verschleiert. Gehen wir aber zurück zu den Anfängen der Menschheit und untersuchen wir die Menschwerdung materialistisch- dialektisch, so werden diese Zusammenhänge klar erhellt. Genau das wollen wir im folgenden tun. Die Stammesgeschichte des Menschen reicht etwa 30 Millionen Jahre zurück. In dieser Zeit teilte sich die Entwicklung der Primaten (= die höchst entwickelten Säugetiere) in zwei Linien: Die eine führte zu den heutigen Menschenaffen (Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan), die andere führte zum Menschen. Genau wie bei der Herausbildung aller anderen Tierarten, so bewirkten auch hier Mutation und Selektion diese Trennung. (1) In einem langen biologischen Evolutionsprozess entwickelten sich bei den tierischen Vorfahren des Menschen solche Fähigkeiten und Eigenschaften wie de aufrechte Gang, die größere Beweglichkeit der Hände (vor allem des Daumens) und ein ständig wachsendes Gehirn als Instrument zur Steuerung komplizierter Bewegungen. Damit entstanden wichtige biologische

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Historischer Materialismus

1. Die Menschwerdung

Wenn es in der Natur dialektisch zugeht, so müssen diese Gesetze auch auf die menschliche Gesellschaft anwendbar sein und für sie Gültigkeit haben. Denn die Gesellschaft ist ein Produkt der Natur. Im Folgenden werden wir uns das genauer ansehen, zuerst bei der Menschwerdung, dann bei der Entstehung der menschlichen Gesellschaft und schließlich bei der geschichtlichen Entwicklung ebendieser.

1.1. Der Menschwerdungsprozess

Auch nachdem sich Darwins Lehre von der Entstehung der Arten schon durchgesetzt hatte, stieß noch ein Punkt auf heftigsten Widerstand: dass der Mensch aus dem Tierreich kommt, dass Menschen und Affen einen gemeinsamen Vorfahren haben (bzw. wie fälschlich immer behauptet wurde, dass der Mensch vom Affen abstammt). "der Mensch ist doch etwas Besonderes, etwas, das weit über das Tier hinausragt!", lautete das Gegenargument. Und doch: der Mensch hat sich aus dem Tierreich heraus entwickelt. Diese Entwicklung verlief dialektisch, nicht mechanisch; die neue Qualität dieser Entwicklung (d.h. das Umschlagen von Quantität in eine neue Qualität) hat zu einer Sonderstellung des Menschen in der Natur geführt, die oberflächlich betrachtet diese Entwicklung verschleiert. Gehen wir aber zurück zu den Anfängen der Menschheit und untersuchen wir die Menschwerdung materialistisch- dialektisch, so werden diese Zusammenhänge klar erhellt. Genau das wollen wir im folgenden tun.

Die Stammesgeschichte des Menschen reicht etwa 30 Millionen Jahre zurück. In dieser Zeit teilte sich die Entwicklung der Primaten (= die höchst entwickelten Säugetiere) in zwei Linien: Die eine führte zu den heutigen Menschenaffen (Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan), die andere führte zum Menschen. Genau wie bei der Herausbildung aller anderen Tierarten, so bewirkten auch hier Mutation und Selektion diese Trennung. (1) In einem langen biologischen Evolutionsprozess entwickelten sich bei den tierischen Vorfahren des Menschen solche Fähigkeiten und Eigenschaften wie de aufrechte Gang, die größere Beweglichkeit der Hände (vor allem des Daumens) und ein ständig wachsendes Gehirn als Instrument zur Steuerung komplizierter Bewegungen. Damit entstanden wichtige biologische

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Voraussetzungen für die Menschwerdung.

Der späte Australopithecus, insbesondere der Homo habilis (so nennen Wissenschaftler diese "Urmenschen") wird als der unmittelbare Vorläufer des Menschen angesehen. Er lebte ca. 2 Millionen bis etwa 400.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung in Horden, benutzte bereits regelmäßig primitive Werkzeuge aus Holz, Knochen und Stein und kannte bereits Ansätze einer Arbeitsteilung sowie soziales Verhalten.

Aus ihm entwickelte sich der Homo erectus, der Urmensch, der sich in Teilen Afrikas, Europas und Asiens ausbreitete (ca. 800.000 bis 250.000 v. u. Z.). Die von ihm benutzten Werkzeuge weisen größere Vielfalt, bessere Herstellungstechnik und differenziertere Anwendungsmöglichkeiten auf. Seine größte Errungenschaft war, dass er bereits das Feuer benutzte, also eine Naturkraft in seinen Dienst stellte.

Etwa um 250.000 v. u. Z . taucht eine weitere, höhere Entwicklungsstufe auf, nach ihrem ersten Fundort benannt: der Neandertaler. Er weist schon viele gemeinsame Züge mit dem heutigen Menschen auf und wird als Altmensch bezeichnet. Aus ihm entstand in einem weiteren langen Entwicklungsprozess vor ca. 50.000 Jahren der heutige Mensch.

Die Menschwerdung ist also ein Prozess der allmählichen Umwandlung eines noch tierischen Lebewesens in ein qualitativ neues Lebewesen, den Menschen. Dessen neue Qualität entstand im Ergebnis zahlreicher quantitativer Veränderungen und führte schließlich zu einem qualitativen Umschlag: Zur Entstehung der Gesellschaft und der sozialen Bewegungsformen der Materie. Dieser entscheidende Qualitätsumschlag führte über die biologischen Bewegungsformen der Materie hinaus. Das Soziale kann nicht mehr aus biologischen Gesetzmäßigkeiten heraus erklärt werden, obwohl das viele bürgerliche Verhaltensforscher (z.B. der Nobelpreisträger Konrad Lorenz) tun. Hier werden qualitativ neue Triebkräfte wirksam, die es in der biologischen Evolution nicht gibt.

In dem hier nur flüchtig skizzierten Menschwerdungsprozess ist vor allem eine Frage entscheidend: Was war der bestimmende Faktor, der den Übergang vom noch tierischen Vorfahren zum Menschen, vom Biologischen zum Sozialen bewirkte?

1.2. Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen

Wir verfügen aus der Zeit der Menschwerdung über keine schriftlichen Dokumente, die Schrift wurde ja erst vor ca. 4000 Jahren entwickelt, erfunden. Wie können die Wissenschafter also sagen, dass es sich bei einem Knochenfund noch um einen Affen oder schon um einen Menschen handelt? Damit landen wir unweigerlich bei der Frage "Was unterscheidet den Menschen vom Tier?". Drei Merkmale können wir hier anführen:

1. die Herstellung von Werkzeugen (Arbeit)

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2. die Sprache und

3. das Denken

Nachdem sich Denken und Sprache bei Knochenfunden nun mal nicht nachweisen lassen, ist also der Fund von Werkzeugen eines der wichtigsten Bestimmungsmerkmale.

Ein Einwand: aber Affen gebrauchen doch auch "Werkzeuge". Viele von uns kennen das Beispiel vom Schimpansen, der vor einem Termitenhaufen hockt und nicht an seine Lieblingsspeise - die Termiten - herankommt. Es ist nun beobachtet worden, dass Schimpansen in solchen Situationen Grashalme oder Zweige entblättern, sorgfältig zurechtbeißen und damit in den Öffnungen der Bauten herumstochern. Termiten, die sich an den Pflanzenteilen festgebissen haben, können so herausgezogen und verspeist werden. Ist das nicht auch Werkzeuggebrauch?

Nein! Die Wissenschafter unterscheiden zwischen "tool-user" (Werkzeugbenutzer) und "tool-maker" (Werkzeugmacher). Ein zufällig aufgelesener Stock, ein Zweig, ein Grashalm ist kein Werkzeug. So bemerkenswert die Leistung unseres Schimpansen ist, so ist Werkzeugherstellung doch ein qualitativ neuer Vorgang. Die zunächst zufällige, dann zeitweilige, schließlich immer häufigere Benutzung von Naturgegenständen stellt nur quantitative Änderungen dar. Erst der Umschlag in eine neue Qualität führt zu einer neuen Form der Auseinandersetzung mit der Natur: zur Arbeit! Diese neue Qualität wird dadurch erreicht, dass nun gezielt (!) Werkzeuge zur Naturaneignung unter gesellschaftlichen Bedingungen hergestellt werden. Die Dialektik dieses Vorgangs liegt darin, dass durch die Werkzeugproduktion und die Arbeit der Mensch entsteht. Die Arbeit wiederum wirkt auf den Menschen zurück: durch die Arbeit entsteht die menschliche Gesellschaft, erst dadurch wird der Mensch zum Menschen. Dieser Prozess verlief in mehreren Etappen:

1. Zunächst entsteht durch Werkzeugherstellung und Arbeit der Homo habilis. Er ist kein Affe mehr, denn er ernährt sich auf eine neue Weise: durch die Ergebnisse seiner Arbeit. Aber er ist auch noch weitab vom fertigen Menschen, denn Sprache, Bewusstsein und Denken waren bestenfalls im Ansatz vorhanden.

2. Die weitere Entwicklung führt zur Herausbildung der menschlichen Gesellschaft. Die Arbeit wird zur Existenzgrundlage und macht zum Überleben das Zusammenwirken mehrerer zu einem gemeinsamen Ziel nötig. Sprache ist eine der Voraussetzungen dafür (Homo erectus).

3. Schließlich entwickelt sich die Urgesellschaft auf Basis dieser Produktionsverhältnisse. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten treten endgültig gegenüber den sozialen und historischen Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Menschheit zurück.

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Durch die Arbeit wurde also der Affe zum Menschen. Religiös-idealistische Philosophen haben dagegen einen Einwand: Sie erkenne zwar die entscheidende Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung an, behaupten aber: das Denken hat sich schon vor der Arbeit herausgebildet, denn Arbeit ist ja bewusste Tätigkeit, in der gedanklich vorweggenommene Ziele verwirklicht werden. Und das Denken kann nicht materiell erklärt werden. Es wurde durch ein höheres Wesen (Gott) dem Menschen verliehen. Was stimmt nun wirklich? Richtig ist, dass die zunächst noch instinktmäßige Tätigkeit sich in einem langen Entwicklungsprozess in bewusste menschliche Arbeit gewandelt hat. Dabei entstanden auf der Grundlage der sich entwickelnden Arbeit auch das menschliche Denken und die menschliche Sprache. Friedrich Engels war der erste, der diese Erkenntnis durch die Anwendung der materialistischen Dialektik formulierte. Zahllose wissenschaftliche Untersuchungen und Entdeckungen haben Jahrzehnte nach ihm diese Theorie bestätigt. Engels schreibt in seiner Schrift "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen":

"Wenn der aufrechte Gang bei unseren behaarten Vorfahren zuerst Regel und mit der Zeit Notwendigkeit werden sollte, so setzt dies voraus, dass den Händen inzwischen mehr und mehr anderweitige Tätigkeiten zufielen. (...) Die Verrichtungen, denen unsere Vorfahren im Übergang vom Affen zum Menschen im Lauf vieler Jahrtausende allmählich ihre Hand anpassen lernten, können daher anfangs nur sehr einfache gewesen sein. Die niedrigsten Wilden, selbst diejenigen, bei denen ein Rückfall in einen mehr tierähnlichen Zustand mit gleichzeitiger körperlicher Rückbildung anzunehmen ist, stehen immer noch weit höher als jene Übergangsgeschöpfe. Bis der erste Kiesel durch Menschenhand zum Messer verarbeitet wurde, darüber mögen Zeiträume verflossen sein, gegen die die uns bekannte geschichtliche Zeit unbedeutend erscheint. Aber der entscheidende Schritt war getan: Die Hand war frei geworden und konnte sich nun immer neue Geschicklichkeiten erwerben, und die damit erworbene größere Biegsamkeit vererbte und vermehrte sich von Geschlecht zu Geschlecht. So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt." (Friedrich Engels: Dialektik der Natur - Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. In: Marx/Engels-Werke, Bd.20, S.446 f.)

Die zunehmende Betätigung der Hand und ihre Umbildung zum wichtigsten Organ der Arbeit hatte also in doppelter Weise Auswirkungen auf den Gesamtorganismus: 1. bewirkte sie die weitere Ausbildung des Gehirns und 2. forderte sie auf zur Entwicklung der Sprache.

1.3. Die Sonderstellung des Menschen - Sprache und Denken

"Die mit der Ausbildung der Hand, mit der Arbeit beginnende Herrschaft über die Natur erweiterte bei jedem neuen Fortschritt den Gesichtskreis des Menschen. An den Naturgegenständen entdeckte er fortwährend neue, bisher unbekannte Eigenschaften. Andererseits trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsmitglieder näher aneinanderzuschließen , in dem sie die Fülle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und das Bewusstsein von der Nützlichkeit

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dieses Zusammenwirkens für jeden einzelnen erklärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, dass sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unterentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam, aber sicher um durch Modulation für stets gesteigerte Modulation, und die Organe des Munds lernten allmählich, einen artikulierten Buchstaben nach dem anderen auszusprechen. (...) Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache - das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn des Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommenere eines Menschen allmählich übergegangen ist. Mit der Fortbildung des Gehirns aber ging Hand in Hand die Fortbildung seiner nächsten Werkzeuge, der Sinnesorgane." So wie Engels die Ausbildung der Sprache hier materialistisch erklärt, so lässt sich ebenso die Auswirkung der Arbeit auf das Gehirn erklären. Die immer feiner abgestimmten Tätigkeiten und komplizierten Verrichtungen erfordern ein entsprechend verfeinertes Gehirn zur Steuerung. Dieses "verbesserte" Gehirn wiederum ist die Voraussetzung für noch feinere und kompliziertere Aktivitäten usw.

Folgende Untersuchung beweist Engels’ geniale und vorausblickende These. Die Medizin ist seit einigen Jahrzehnten in der Lage, durch am kopf angebrachte Elektroden ganz bestimmte Teile der Gehirnrinde zu reizen. Reizt man beispielsweise das für die Bewegung der Zehen zuständige Gebiet, so kommt es zu Zuckungen in den Zehen. Die Größen dieser Gehirnrindenbezirke entsprechen nun aber keineswegs den Größen der betreffenden Körperteile. Stellt man sich die Abbildung des ganzen menschlichen Körpers in der Großhirnrinde ebenfalls in Gestalt eines Menschen vor, dann hat dieser eine merkwürdig verfremdete Gestalt: an einem winzigen Körper sitzen riesige Arme, von denen die Hände am größten sind, ein sehr großer Kopf mit einer riesigen Zunge und einem unverhältnismäßig großen Kehlkopf. Daraus geht hervor, dass die Tätigkeiten der Hände und die Verrichtungen des Sprechapparates den größten Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns hatten. Ein Vergleich mit dem Affen zeigt bei diesem noch eine relativ proportionierte Abbildung (=Repräsentation) auf der Gehirnrinde. "So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt!" (Engels).

Der Übergang von der instinktiven Tätigkeit der werdenden Menschen zur kollektiven Arbeit war auch der entscheidende Schritt, der zur Herausbildung des bewussten Verhaltens und des Bewusstseins als einer neuen qualitativen Stufe der psychischen Tätigkeit führte. In der Wechselwirkung der kollektiven Arbeit mit dem Gehirn, dem entstehenden Denken und der damit verbundenen Sprache hat sich in einem langen Entwicklungsprozess das Bewusstsein der werdenden Menschen allmählich geformt. Die bestimmende Triebkraft in diesem Prozess war wiederum die Arbeit. Abschließend noch einige Bemerkungen zum Denken und zum Bewusstsein. Es würde den Rahmen dieser Einführungsschrift sprengen, auf die materialistisch- dialektische Entwicklung des Denkens und des Bewusstseins im Detail einzugehen. Hier daher nur einige Anmerkungen, die sich auf die Sonderstellung des Menschen beziehen:

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Durch die ständige Höherentwicklung des Gehirns (Veränderung der Quantität) entstand im Laufe der Entwicklung eine neue Qualität, das Bewusstsein. Die neue Qualität besteht darin, dass die Menschen fähig wurden, die objektive Realität (d.h. ihre Außenwelt) in ideellen, also gedanklichen Abbildern widerzuspiegeln. Diese Abbilder könnte man auch als die "Übersetzung" der materiellen Welt in gedankliche, also immaterielle Bilder bezeichnen. Das Bewusstsein umfasst also das Wissen des Menschen über die objektive Realität. Die Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen, d.h. die sinnlich konkreten (mit den Sinnen erfassbaren) Abbilder der objektiven Realität, gehören dazu ebenso wie das Denken und die gedanklich - abstrakten Abbilder und natürlich auch das Gedächtnis, sprich die Fähigkeit, sowohl sinnliche als auch abstrakte Bilder zu speichern. Das Bewusstsein ist nicht nur das Bewusstsein über die materielle Welt, sondern immer auch Selbstbewusstsein des Menschen. Er unterscheidet - wie die Psychologen sagen - das "Ich" vom "Nicht-ich", das Subjekt vom Objekt.

Das Bewusstsein ermöglicht zielorientierte Tätigkeiten des Menschen. Von Erkenntnissen über die Eigenschaften und Zusammenhänge der Gegenstände ausgehend, werden Ziele der Tätigkeiten bestimmt, werden Antriebe zum Handeln (Motivationen) ausgearbeitet und Willensentscheidungen getroffen. Zugleich werden die Resultate der Tätigkeiten kontrolliert und nötigenfalls korrigiert. Darüber hinaus ist das Bewusstsein ein sehr komplexes Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt, ein Verhältnis, das sich in Gefühlen, in Einstellungen und im Verhalten zu Gegenständen, Prozessen, Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen äußert.

Das Denken ist innerhalb aller Bewusstseinsprozesse die höchste und komplizierteste Form der psychischen Tätigkeit des Menschen. Das Denken kann sich durch das Operieren mit Begriffen von der durch die Sinnesorgane fassbaren Realität lösen und zur Erkenntnis allgemeiner, abstrakter, wesentlicher und notwendiger Zusammenhänge vordringen. Denken kann nur auf der Basis der Sprache funktionieren, Denken und Sprache bilden eine untrennbare Einheit und unterscheiden den Menschen vom Tier. Erst durch Denken und Sprache wurde es möglich, Gedanken und Erfahrungen von einer Generation an die andere weiterzugeben. Ein unschätzbarer Vorteil gegenüber dem Tier. Während jedes Tier nur aufgrund seiner angeborenen Instinkte und während seines Lebens gemachter Erfahrungen sein Leben bewältigen muss, kann der Mensch auf dem Wissen seiner Vorfahren aufbauen und dieses weiterentwickeln. Erst dadurch wurde die ständige Weiterentwicklung der Arbeitsweisen und damit der menschlichen Gesellschaft möglich.

1.4. Die Wechselwirkung von Natur und Gesellschaft

"Die Rückwirkung der Entwicklung des Gehirns und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewusstseins, Abstraktions- und Schlussvermögens auf Arbeit und Sprache gab beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung, einer Weiterbildung, die nicht etwa einen

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Abschluss fand, sondern die seitdem bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten verschieden nach Grad und Richtung, stellen weise selbst unterbrochen durch örtlichen und zeitlichen Rückgang, im ganzen und großen gewaltig vorangegangen ist; einerseits mächtig vorangetrieben, andererseits in bestimmte Richtungen gelenkt durch ein mit dem Auftreten des fertigen Menschen neu hinzutretendes Element - die Gesellschaft." (Alle Texte im Kapitel 1.4. aus: Friedrich Engels, "Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen", Dietz Verlag, Berlin, MEW, Bd.20, S.450 ff.)

Die menschliche Gesellschaft ist das höchste Produkt der Entwicklung der organischen Natur. Sie geht aus der Natur hervor, bleibt aber immer Teil dieses Naturzusammenhanges. Und doch ist sie der entscheidendste Sprung in der Entwicklung der Natur. Warum? Die menschliche Gesellschaft gewinnt die Fähigkeit, sich der Natur wie eine große Naturkraft gegenüberzustellen . Sie beginnt einen "Kampf" mit der Natur, von der sie selbst ein Teil ist, um ihr die Mittel zum Lebensunterhalt abzuringen. Sie verändert die Natur in zunehmendem Maße, sie versucht immer mehr Naturkräfte und -prozesse zu beherrschen und in ihren Dienst zu stellen.

"Die Tiere, wie schon angedeutet, verändern durch ihre Tätigkeit die äußere Natur ebenso gut, wenn auch nicht in dem Maße wie der Mensch, und diese durch sie vollzogenen Änderungen ihrer Umgebung wirken, wie wir sahen, wieder verändernd auf ihre Urheber zurück. Denn in der Natur geschieht nichts vereinzelt. Jedes wirkt aufs andere und umgekehrt, und es ist meist das Vergessen dieser allseitigen Bewegung und Wechselwirkung, das unsere Naturforscher hindert, in den einfachsten Dingen klar zu sehen. Wir sahen, wie die Ziegen die Wiederbewaldung von Griechenland verhindern; in Sankt Helena haben die von den ersten Anseglern ausgesetzten Ziegen und Schweine es fertiggebracht, die alte Vegetation der Insel fast ganz auszurotten, und so den Boden bereitet, auf dem die von späteren Schiffern und Kolonisten zugeführten Pflanzen sich ausbreiten konnten. Aber wenn Tiere eine dauernde Einwirkung auf ihre Umgebung ausüben, so geschieht dies unabsichtlich und ist, für diese Tiere selbst, etwas Zufälliges.

Je mehr die Menschen sich aber vom Tier entfernen, desto mehr nimmt ihre Einwirkung auf die Natur den Charakter vorbedachter, planmäßiger, auf bestimmte, vorher bekannte Ziele gerichteter Handlung an. Das Tier vernichtet die Vegetation eines Landstrichs, ohne zu wissen, was es tut. Der Mensch vernichtet sie, um in den freigewordenen Boden Feldfrüchte zu säen oder Bäume und Reben zu pflanzen, von denen er weiß, dass sie ihm ein Vielfaches der Aussaat einbringen werden. Er versetzt Nutzpflanzen und Haustiere von einem Land ins andere und verändert und ändert so die Vegetation und das Tierleben ganzer Weltteile. Noch mehr. Durch künstliche Züchtung werden Pflanzen wie Tiere unter der Hand des Menschen in einer Weise verändert, dass sie nicht wiederzuerkennen sind.(...) Kurz, das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen zu seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt."

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Natur und menschliche Gesellschaft bilden eine Einheit von Gegensätzen, die zugleich in einem ständigen Kampf miteinander liegen. Dieser dialektische Widerspruch ist eine der mächtigsten Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung. Er wird durch die gesellschaftliche Produktion ständig teilweise gelöst und zugleich auf einer höheren Stufe immer wieder neu gesetzt.

Wenn die Gesellschaft durch verbesserte Produktionsmethoden der Natur mehr Mittel zum Lebensunterhalt abringen kann, entwickelt sich die Gesellschaft weiter und es entstehen neue Bedürfnisse usw., so dass der Widerspruch zwischen dem erreichten Stand der Naturnutzung und -beherrschung einerseits und den gesellschaftlichen Bedürfnissen andererseits auf höherer Stufe wieder neu entsteht. Würde die Gesellschaft die Produktion einstellen, d.h. die ständige Auseinandersetzung mit der Natur aufgeben, dann müsste sie unweigerlich zugrunde gehen. Ihre besondere Qualität, die sie über die Natur erhebt, ginge verloren und die Menschen müssten in den rohen Naturzustand versinken.

Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung wurde diese Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Natur immer umfangreicher und intensiver. Immer mehr Naturkräfte, -prozesse und -bestandteile wurden in der Produktion genutzt. Die Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft nahm globalen Charakter an. Die Natur bleibt jedoch immer die Existenzgrundlage der menschlichen Gesellschaft. Solange die Produktionsmethoden noch primitiv waren, blieben die Auswirkungen auf die Natur gering, wenngleich auch schon damals tiefgreifende Zerstörungen vorgenommen wurden. Mittlerweile aber steht die Welt am Rande einer globalen ökologischen Katastrophe. Die Ursachen dafür liegen in einer Produktionsweise, deren oberstes Ziel die Profitmaximierung ist. Und so stehen die "Herren der Schöpfung" vor der Tatsache, dass die ökologische Krise zugleich die Krise unserer Produktionsverhältnisse ist. Friedrich Engels warnte schon vor über 100 Jahren vor vermeintlichen Siegen über die Natur:

"Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, dass sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dass sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein

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fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht. (...) Am vollständigsten ist dies in der jetzt in Westeuropa herrschenden kapitalistischen Produktionsweise durchgeführt. Die einzelnen, Produktion und Austausch beherrschenden Kapitalisten können sich nur um den unmittelbarsten Nutzeffekt ihrer Handlungen kümmern. Ja selbst dieser Nutzeffekt - soweit es sich um den Nutzen des erzeugten oder ausgetauschten Artikels handelt - tritt vollständig in den Hintergrund; der beim Verkauf zu erzielende Profit wird die einzige Triebfeder. Die Sozialwissenschaft der Bourgeoisie, die klassische politische Ökonomie, beschäftigt sich vorwiegend nur mit den unmittelbar beabsichtigten gesellschaftlichen Wirkungen der auf Produktion und Austausch gerichteten menschlichen Handlungen. Dies entspricht ganz der gesellschaftlichen Organisation, deren theoretischer Ausdruck sie ist. Wo einzelne Kapitalisten um des unmittelbaren Profits willen produzieren und austauschen, können in erster Linie nur die nächsten, unmittelbarsten Resultate in Betracht kommen. Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft, so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus der Ware und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkungen derselben Handlungen. Die spanischen Pflanzer in Kuba, die die Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der Asche Dünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäume vorfanden - was lag ihnen daran, dass nachher die tropischen Regengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nur nackten Fels hinterließen? Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der erste, handgreiflichste Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, dass die entfernteren Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind." (F. Engels: Dialektik der Natur - Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 20, S.450ff.)

2. Kurzer Einschub: Es gibt verschiedene Arten von Geschichtsschreibung.

"Geschichte ist, was ein Zeitalter an dem anderen interessiert", formulierte einmal der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Diese Aussage setzen wir nun in Verbindung mit einer weiteren, diesmal vom amerikanischen Philosophen George Santayana: "Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist verdammt, sie zu wiederholen." Santayana leitet daraus den Auftrag ab, die Geschichte zu studieren und aus ihr zu lernen.

Für uns ergeben sich daraus zwei wesentliche Konsequenzen: zum Einen müssen wir klären, was uns interessiert - oder anders ausgedrückt - was unsere Interessen sind. Zum Anderen müssen wir, um aus der Geschichte Lehren ziehen zu können, geschichtliche Vorgänge verstehen, begreifen, erklären.

Das, was wir hier einfach und logisch ausführen, gestaltet sich aber in der Praxis wesentlich schwieriger. Denn die Geschichtsschreibung, die wir kennen, z.B. aus dem Schulunterricht, hilft uns weder beim Einen noch beim Anderen. Und es wird auch schnell klar werden, warum:

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Geschichtsschreibung ist immer ein Monopol der Herrschenden gewesen, zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Deren überlieferte Geschichte berichtet uns daher aus deren Sicht und in deren Interesse. Wir erfahren von Königen, Kaisern und Päpsten, von Kriegen, die sie führten, gewannen oder verloren, wie sie lebten und wie sie "Geschichte machten". In diesem Fall ist eine solche Geschichtsschreibung (im Burckhardtschen Sinn) gar nicht mehr Geschichte, jedenfalls nicht unsere. Bernd Engelman hat das in seinem Deutschen Anti-Geschichtsbuch "Wir Untertanen" an einem Beispiel äußerst eindringlich dargestellt.

"Nehmen wir ein krasses Beispiel und versuchen wir uns einmal vorzustellen, wir seien keine Mitteleuropäer der Gegenwart, sondern Afrikaner eines späteren Jahrhunderts. Sagen wir: Bürger des westafrikanischen Freistaats Sierra Leone des Jahres 2074, und an den Schulen unseres Landes lehrte man uns oder unseren (schwarzhäutigen) Kindern die Geschichte Sierra Leones, wobei die Lage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwa so beschrieben würde: "Es war eine für unser Land überaus glückliche Zeit des wachsenden Wohlstandes und des dauerhaften Friedens. Es herrschten Gesetz und Ordnung, Gottesfurcht und Sittsamkeit. Die Wirtschaft blühte wie nie zuvor. Anbau und Ausfuhr von Kakao, Elfenbein, Erdnüssen und Ingwer nahmen gewaltig zu. Der Palmkern- Export erreichte eine Rekordhöhe. Man entdeckte Diamanten- und Chromerzvorkommen, und deren intensive Ausbeutung brachte soviel Reichtum ins Land, dass auch einfache Beamte, Geistliche, Techniker und Unteroffiziere ein sehr gutes Auskommen hatten. Sie konnten sich komfortable Wohnungen, Hausangestellte, beste ärztliche Versorgung und gute Schulen für ihre Kinder leisten. Man trieb viel Sport, vor allem Tennis, Golf, Cricket und Polo. In Clubs und Privathäusern pflegte man Geselligkeit und suchte Zerstreuung bei Musil, Tanz, Kartenspiel und Laientheateraufführungen. Dabei hielt man, auch bei größter Hitze, stets auf korrekte Kleidung: Die Herren trugen abends Smoking, Frack oder Ausgehuniform; die Damen zeigten sich in langen, hinten über den Boden schleppenden, in der Taille eng geschnürten Kleidern aus Seide oder Samt, geschmückt mit vielen Spitzen, Rüschen und Bändern. Und man gedachte, sobald das Zusammensein dem Ende zuging und der letzte Walzer verklungen war, stets mit dem stehend gesungenen Lied "Gott schütze unsere Königin!" der fernen Herrscherin, unserer seit 1837 regierenden Landesmutter Victoria, einer Enkelin Georgs III. aus dem Hause Hannover, die bis zu ihrem tief betrauerten Tode im Jahre 1901 unser von allen hoch verehrtes Staatsoberhaupt war. Der Königin zur Seite stand der stille und bescheidene, um die Londoner Weltausstellung 1851 hochverdiente Prinzgemahl Albert aus dem Hause Sachsen- Coburg und Gotha, geboren 1819, gestorben 1861.

In dieser glänzenden, nach der Königin "viktorianisch" genannten Epoche kostete in unserer Hauptstadt Freetown das Pfund Tee nur fünfeinhalb Pence, ein Pfund Orangenmarmelade vier Pence, die Flasche Gin zwei Schillinge, ein Stück guter Toilettenseife dreieinhalb Pence, eine seidene Smoking - Schleife einen Schilling und sechs Pence, das Abonnement einer (mit mindestens 14 tagen Verspätung eintreffenden) Londoner Tageszeitung, gleich ob konservativer oder gemäßigt - liberaler Richtung, monatlich zwei

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Schillinge. Obwohl niemand körperliche oder schmutzige Arbeit verrichtete, nahmen alle, arm oder reich, täglich mindestens ein Brause- oder Wannenbad. Man war hygienisch, aber auch fromm. Der Sonntag war dem Kirchgang, der Andacht, ernster Lektüre und der klassischen Musik gewidmet. Wohltätigkeit, Sitte und Anstand, zumindest deren äußerer Anschein, waren unerlässliche Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen Erfolg. Daneben legte man großen Wert auf standesgemäßes Auftreten und auf Bequemlichkeit. Man genoss alle Vorzüge der hochentwickelten Zivilisation und fortgeschrittenen Technik, hatte ausgeprägte Ehr- und Gerechtigkeitsbegriffe und erfreute sich höchsten Ansehens bei allen Nachbarn...".

Ein solcher Geschichtsunterricht müsste den Bewohnern von Sierra Leone des Jahres 2074 geradezu absurd erscheinen. Denn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, von dem die Rede war, lebten von den - damals noch nicht gezählten, nur grob geschätzten - rund zwei Millionen Einwohnern dieses westafrikanischen Landes höchstens 0,02 Prozent etwa so, wie beschrieben. Dagegen kannten 99,98 Prozent der Landeskinder weder Hygiene noch andere Vorteile der Zivilisation, sie spielten niemals Tennis oder gar Polo, waren an Tee, Orangenmarmelade und Smoking - Schleifen kaum interessiert und konnten, obwohl auch ihnen die körperliche Schwerarbeit in glühender Hitze verhasst war, sich dieser leider nicht entziehen. Und selbst ein kostenloser Bezug, der Londoner Times oder des Daily Telegraph hätte ihnen wenig genutzt; sie waren nämlich fast ausnahmslos Analphabeten, zudem der englischen Sprache gar nicht oder nur sehr beschränkt mächtig. Die Masse der Bevölkerung von Sierra Leone lebte damals in unbeschreiblicher Armut, litt unter Hunger und Seuchen, hatte eine durchschnittliche Lebenserwartung von unter 27 Jahren, wurde entsetzlich ausgebeutet und war nahezu rechtlos. Die kargen Mahlzeiten nahmen selbst die Häuptlinge nicht im Frack oder in Ausgehuniform ein, und auch deren Frauen trugen keine seidenen Schleppkleider mit enggeschnürten Taillen, sondern höchstens ein paar Lumpen. Die gerecht Ordnung, die damals in Sierra Leone herrschte, bestand im Wesentlichen darin, dass in sehr regelmäßigen Abständen ein weißer Kolonialoffizier mit sechs Haussa- Soldaten in den Dörfern erschien und im Schutz der Schnellfeuergeschütze eines am nahen Flussufer vor Anker liegenden Kanonenbootes die enorm hoch festgesetzten Steuern eintrieb. Säumigen Zahlern ließ der weiße Herr eine Hand oder einen Fuß abschlagen. Ihm unfähig dünkenden Häuptlingen drohte Absetzung und Verschickung in ein Bergwerk, wo sie als Kettensträflinge Zwangsarbeit zu verrichten hatten. Aufsässige wurden öffentlich ausgepeitscht, Aufrührer niedergeschossen und am nächsten Baum aufgeknüpft. Eine ärztliche Versorgung der eingeborenen Bevölkerung gab es so gut wie nicht; weniger als 0,1 Prozent der Kinder erhielten Elementarunterricht, vornehmlich aus der Bibel und dem Gesangsbuch - kurz, die gesamte Schilderung der Zustände in Sierra Leone Ende des vorigen Jahrhunderts, die hier als Beispiel für einen möglichen Geschichtsbuch- Text gegeben wurde, ist zwar insofern historisch richtig, als es tatsächlich unter den damals zwei Millionen Landbewohnern ein paar Leute gegeben hat, die so, wie beschrieben, gelebt haben. Aber die Darstellung bezog sich eben nur auf diese knapp vierhundert Weißen und ihre speziellen Interessen. Dergleichen im Jahr 2074 allen Bürgern des dann seit

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mehr als einem Jahrhundert vom Kolonialismus befreiten Landes Sierra Leone als deren geschichtliche Vergangenheit aufzutischen, wäre wahrlich unsinnig und eine dreiste Zumutung."

Deutlicher kann man die unterschiedlichen Arten der Geschichtsschreibung kaum mehr zum Ausdruck bringen: Hier die uns bekannte, die Geschichte der Herrschenden, also die Geschichtsschreibung von oben. Dort die Art der Geschichtsschreibung, die wir nicht in der Schule lernen; unsere eigene Geschichte, die Geschichte der 99,9% der Menschen, also Geschichtsschreibung von unten, aus Sicht der Beherrschten.

Als MarxistInnen müssen wir aber noch einen Schritt weiter gehen. Geschichtsschreibung von unten ist uns noch zu wenig, wenn auch schon bei weitem besser und informativer als die altbekannte Art. Für uns ist es vor allem wichtig - und nur so können wir aus der Geschichte lernen - die Ursachen, die Triebkräfte geschichtlicher Veränderungen herauszufinden. Warum gibt es lange Perioden scheinbarer Ruhe und plötzlich schlagen sie in gewaltigen Aufruhr, ja Umsturz um? Ist das eine Laune des Schicksals? Oder der Willen eines mächtigen Mannes, eines Herrschers? Wir wissen, selbst aus unserem Schulunterricht, dass die Menschen im Laufe der Geschichte ihr Zusammenleben unterschiedlich organisiert haben. Bleibt zu fragen, warum. Warum wurde etwas scheinbar Jahrhunderte lang bewährtes plötzlich über Bord geworfen und durch etwas neues, unbekanntes ersetzt? Wer bestimmt überhaupt den Lauf der Geschichte? Bzw. ist Geschichte überhaupt machbar? Wenn ja, wer macht sie? Ein Gott? Große Persönlichkeiten? Oder etwa die Verhältnisse, unter denen Menschen leben?

Neben der Geschichtsschreibung von oben und unten gibt es also noch zwei weitere Formen: einerseits eine Geschichtsschreibung, die Fakten und Daten chronologisch aneinander reiht, andererseits eine Geschichtsschreibung, die diese Fakten und Daten verknüpft, in eine Zusammenhang bringt, Triebkräfte und Ursachen aufklärt. Diese letztere Art der Geschichtsschreibung wird möglich durch die Anwendung der materialistischen Dialektik auf die Geschichte, durch den historischen Materialismus. Im folgenden wollen wir uns diese Methode erarbeiten. Zu betonen ist noch einmal, dass der historische Materialismus das Studium der Geschichte, die Kenntnis der Fakten und Tatsachen nicht ersetzen kann. Was er aber sehr wohl kann, ist diese zu verknüpfen, zu verallgemeinern, daraus Zusammenhänge abzuleiten. Erst damit wird Lernen aus der Geschichte möglich.

3. Produktionsweise und Gesellschaftsformationen

3.1. Die Arbeit

Es liegt nahe, mit der Arbeit als Ausgangspunkt der Gesellschaft zu beginnen. Die Arbeit - wir wissen es aus Kapitel 1 - war für die Menschwerdung ebenso ausschlaggebend wie für die Bildung der Gesellschaft. Auch Marx und Engels folgten bei der Entwicklung des historischen Materialismus dieser Überlegung. Wie auch bei der Erarbeitung des dialektischen Materialismus

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konnten sie dabei auf Arbeiten von Zeitgenossen oder vor ihnen lebenden Gelehrten aufbauen.

Die englischen Ökonomen William Petty (1623-1687), Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) machten vor allem auf die Bedeutung der Arbeit, der materiellen Produktion als der Quelle des Reichtums aufmerksam. Sie schufen die wissenschaftlichen Grundlage der Arbeitswerttheorie und entdeckten schließlich - namentlich Ricardo - im Gegensatz der Klassen und Klasseninteressen das Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn sie die Existenz von Klassen auch noch nicht wissenschaftlich erklären konnten (für sie waren sie ein unveränderliches Naturgesetz), so schufen sie dennoch mit ihren ökonomischen Lehren wichtige theoretische Voraussetzungen für die materialistische Geschichtsauffassung.

Auch die französischen Historiker Thierry, Mignet und Guizot erkannten zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Klassenkampf die Triebkraft zumindest der neueren Geschichte. Und nicht zuletzt die utopischen Sozialisten, die eine scharfe Kritik am Kapitalismus übten, entwarfen Pläne zur Neugestaltung der Gesellschaft in einer höheren, gerechteren Form, zur Entwicklung der Produktivkräfte, der Eigentumsformen, der Klassen- und Familienbeziehungen, Gedanken, die im historischen Materialismus wissenschaftliche begründet wurden.

Marx und Engels begnügten sich nicht mehr mit der bloßen Wiederholung der schon von früheren Denkern getroffenen Feststellungen, dass es in der Gesellschaft nun mal Arme und Reiche, Herrschende und Beherrschte gibt, dass der Klassenkampf die Triebkraft der Geschichte ist. Sie stellten und beantworteten die wissenschaftliche Frage, worin der Ursprung, die Ursachen und die Wurzeln der Ungleichheit der Menschen liegen, worin die der Existenz und des Kampfes der Klassen, warum also der Klassenkampf eine gesetzmäßige und notwendige Erscheinung ist, wie die Klassen historisch entstanden, in welcher Richtung der Klassenkampf sich entwickelt usw. Und sie begannen ihre Untersuchung bei - der Arbeit.

Marx und Engels haben menschliches Verhalten oder geschichtliche Prozesse nicht auf das alleinige Wirken von Naturkräften und -gesetzen zurückgeführt. Aber sie haben auch nicht die tatsächlichen Einflüsse der Natur auf den Menschen, die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Natur unberücksichtigt gelassen. Vielmehr legten sie besonderes Augenmerk auf die Wechselbeziehungen von Natur und Gesellschaft, auf die Veränderung der Natur durch den Menschen, oder anders ausgedrückt, auf die dialektische Wechselwirkung von Natur und Gesellschaft.

In der Arbeit äußert sich sowohl der Unterschied als auch der Zusammenhang zwischen Natur und Gesellschaft. Arbeit ist praktische, materielle Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. Einerseits ist der Mensch kein Naturwesen wie alle anderen; er vermag bewusst zu handeln. Andererseits ist der Mensch ein Naturwesen; er bedarf der Natur zur

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Aufrechterhaltung seiner Existenz, aus der Natur bezieht er seine Mittel zum Lebensunterhalt. Um zu leben, muss er sich also mit der Natur auseinandersetzen - durch Arbeit.

Karl Marx definiert Arbeit im ersten Band seines Werkes "Das Kapital" folgendermaßen:

"Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur." (Marx, Karl: Das Kapital. In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Bd. 23, S. 192)

Die Arbeit liefert uns also den Schlüssel zum Verständnis jener Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Prozesse, welche die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft beherrschen. Diese Erkenntnis entzog allen idealistischen Geschichtsauffassungen den Boden: nicht ein göttlicher Plan, eine bestimmte Idee oder der Wille eines Herrschers macht und bestimmt den Lauf der Geschichte, sondern innere Triebkräfte und Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsweisen. Bevor wir zu weit vorgreifen, noch einmal zurück zur Arbeit:

"Der Arbeitsprozess, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam." (Marx, Karl: Das Kapital. In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Bd. 23, S. 198)

Wir wissen doch, dass sich die menschliche Arbeit unter verschiedenen gesellschaftlichen Umständen sehr erheblich unterscheidet, so in den Mitteln und Methoden, mit denen gearbeitet wird, als auch hinsichtlich der Ergebnisse, die dabei erzielt werden. Ist das nicht ein logischer Widerspruch? Einerseits wird behauptet, die Arbeit liefere den Schlüssel zur Erklärung des gesellschaftlichen Lebens, andererseits zeigt sich, dass die Arbeit in verschiedenen Gesellschaften ganz unterschiedliche Inhalte hat. Resultieren diese Unterschiede nicht gerade aus der Beschaffenheit der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, die wir mit Hilfe der Arbeit erklären wollen. Ist es also möglich, mit unserem behaupteten Universalschlüssel "Arbeit" sowohl den faustkeilschwingenden Höhlenmenschen und seine Gesellschaftsverhältnisse als auch den Mann oder die Frau am Computer und unsere jetzige Gesellschaft zu erklären? Um diese Frage zu klären, müssen

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wir daher die Bedingungen in Augenschein nehmen, unter denen die menschliche Arbeit geleistet wird. Es gilt, den Zusammenhang und die Wechselwirkung von Arbeit und Gesellschaft zu analysieren.

3.2. Die Gesellschaft

Wir wiederholen hier ein Zitat von Karl Marx aus seinem Vorwort "Zur Kritik der Politischen Ökonomie", das wir schon im Zuge der Erklärung des dialektischen Materialismus kennen gelernt haben. Damals ging es um die Frage, ob auch die Gesellschaft materiell ist, wer das Bestimmende, wer das Bestimmte ist. Nun gehen wir ins Details, d.h. wir analysieren im folgenden die Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesellschaft. Diese Sätze Marx’ werden nicht zu Unrecht die geniale, prägnante Kurzformel des historischen Materialismus genannt. Sie sind der Schlüssel zur Lösung vieler weiterer Probleme. Marx schreibt:

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt." (Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Bd. 13, S. 8 f.)

Bevor wir zur Erklärung der einzelnen Begriffe übergehen, noch eine Anmerkung: Ist es überhaupt sinnvoll und zielführend, z.B. unter dem Begriff "Produktivkräfte" so unterschiedliche Dinge wie primitiven Faustkeil aus der Steinzeit und eine hochmoderne, mikroelektronisch gesteuerte Produktionsstraße zusammenzufassen? Ja, das ist es! Wir wissen ja bereits aus unserem Studium der Dialektik, dass der Begriff die allgemeinsten, wesentlichsten, charakteristische und zugleich gemeinsame, dass Menschen bestimmte Mittel benutzen, um auf die Natur derart einzuwirken und sie so zu verändern, dass sie ihre Bedürfnisse befriedigen können. Dass diese Mittel sich ebenfalls verändern, zeigt das obige Beispiel von Faustkeil und Mikrochip.

3.3. Produktivkräfte - Produktionsverhältnisse

Produktivkräfte sind alle jene Kräfte, die benötigt werden, um materielle Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse herzustellen. Produktivkräfte sind historischer Natur und werden daher von den Menschen im Laufe der Geschichte verändert, laufend verbessert und weiterentwickelt.

Zu den Produktivkräften gehören:

- Die Arbeitskraft des Menschen - also alle jenen körperlichen und geistigen

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Kräfte des Menschen, die er benützt, um Güter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse herzustellen.

- Arbeitsgegenstände: im Arbeitsprozess wirkt der Mensch auf Naturgegenstände und Naturprozesse ein und macht sie so zu seinen Arbeitsgegenständen. Das sind also teils in der Natur vorgefundene Rohstoffe wie zum Beispiel Holz, Kohle, Erze oder Steine, teils selbst schon Arbeitsprodukte wie zum Beispiel Stahl oder Kunstfaser. Naturgegenstände werden erst dadurch zu Produktivkräften, wenn der Mensch sie in den Arbeitsprozess einbezieht. So ist zum Beispiel Wasser in einem Fluss an und für sich noch keine Produktivkraft. Wenn dieses Wasser aber eine Turbine eines Kraftwerkes antreibt ist es eine solche.

- Arbeitsmittel: Arbeitsmittel sind Gegenstände, die der Mensch zwischen sich und den Arbeitsgegenstand zum Zwecke der Arbeit schiebt. Dazu gehören in erster Linie die Produktionsinstrumente, also Werkzeuge, Motoren, Ausrüstung, Geräte usw., aber auch die Produktionsanlagen, wie Fabriksanlagen, das Betriebsgebäude, Lagerräume, Strassen, Eisenbahnen, LKW, Transportmittel und alle anderen Mittel, die im weitesten Sinne der Produktion dienen.

Produktionsmittel sind Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel zusammen.

Die Produktionsverhältnisse sind die Gesamtheit der Beziehungen, welche die Menschen im Produktionsprozess entsprechend dem Entwicklungsstand und Charakter der Produktivkräfte eingehen. Dazu zählen vor allem die Eigentumsverhältnisse sowie die Verhältnisse, welche durch die Arbeitsteilung zwischen den Produzenten entstehen.

Die Produktionsweise ist die Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

3.4. Die Wechselwirkung von Produktivkräften und

Produktionsverhältnissen

Die Definitionen im vorigen Kapitel sollen nicht dazu dienen, vom Weiterlesen abzuschrecken. Vielmehr werden wir ab sofort mit diesen Begriffen arbeiten. Und da ist es dann gut, wenn wir wissen, wo wir eventuell nachlesen können, was damit eigentlich gemeint ist. Durch ihre Anwendung werden sie zudem auch verständlicher.

Karl Marx stellte diese Begriffe nicht einfach nebeneinander. Vielmehr setzte er sie in Beziehung zueinander. Damit wird die Sache gleich spannend, denn dadurch kommen wir langsam in die Lage, den Verlauf der Geschichte zu verstehen. So wird verständlich, warum beispielsweise vor mehr als 1.500 Jahren die Produktion mit Sklaven aufhörte, obwohl sie sich zuvor mehr als tausend Jahre lang bewährt hatte. Selbst nicht zu arbeiten und dafür die Sklaven werken zu lassen, ist doch ein verlockender Gedanke. Was hat also die RömerInnen dazu bewegt, davon abzugehen? Aber greifen wir nicht zu

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weit vor. Erarbeiten wir uns zunächst noch die Beziehungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen der realen (ökonomischen) Basis und dem politischen und sozialen Überbau. Im nächsten Kapitel wenden wir dann diese Kenntnisse auf die Geschichte der Menschheit an.

Die erste wesentliche Beziehung ist die Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie die Abhängigkeit der Produktionsverhältnisse von den gegebenen Produktivkräften innerhalb dieser Einheit.

Anders ausgedrückt heißt das, dass die Produktionsverhältnisse der gegebenen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte entsprechen. Aus unserem Geschichtsunterricht kennen wir die unterschiedlichen Gesellschaftsformationen und deren Produktionsweisen, auch wenn sie dort nicht als solche bezeichnet werden: Urgesellschaft, SklavenhalterInnengesellschaft, Feudalgesellschaft, Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus. An einem Beispiel wollen wie diese Abhängigkeit der Produktionsverhältnisse (also ob z.B. Gemein- oder Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht) vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte aufzeigen.

In der Urgesellschaft gab es noch keine weitgehende Arbeitsteilung. Die Produktionsinstrumente waren noch äußerst primitiv (z.B. Faustkeile). Um des Überlebens willen waren die Menschen gezwungen, in Horden zusammenzuleben. Größeres Wild konnte mit den primitiven Jagdwaffen nur durch das Zusammenwirken aller Hordenmitglieder erlegt werden. Daraus folgt, dass bei diesem Entwicklungsstand der Produktivkräfte sowohl die Produktionsmittel als auch die Produkte allen gemeinsam gehörten. Was gemeinsam zu Lebensunterhalt produziert wurde, wurde auch gemeinsam verzehrt (Gemeinbesitz an Produktionsmitteln, auch Urkommunismus genannt).

Doch die Produktivkräfte wurden laufend weiterentwickelt. Neue Werkzeuge entstanden durch die laufenden Verbesserungen der alten. Ackerbau und Viehzucht wurde entwickelt, dadurch neue Produkte (Milch und Milchprodukte, Leder, erste Stoffe usw.) produziert, metallhältige Erze abgebaut und verarbeitet usw. Zunächst erfolgte auch diese Produktivkräfteentwicklung im Gemeineigentum. Doch die Verbesserungen der Produktivkräfte führten auch zu zwei qualitativ neuen Ergebnissen.

1. zu einer immer größeren Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen den einzelnen Mitgliedern der Horde und

2. zur Fähigkeit, mehr zu produzieren, als zum eigenen Lebensunterhalt erforderlich war.

Zunächst nur dieses Mehrprodukt, dann auch die Produktionsmittel wurden zum Privateigentum der ProduzentInnen. Parallel dazu entstand der Handel, d.h. eigene Produkte wurden gegen benötigte, aber nicht selbst hergestellte,

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ausgetauscht. Um entsprechend "tauschfähig" zu sein, musste immer mehr produziert werden. Die Einschaltung neuer Arbeitskräfte, zusätzlich zu den eigenen Familien- bzw. Gruppenmitgliedern wurde wünschenswert. Der Krieg lieferte sie: die Kriegsgefangenen wurden nicht mehr einfach erschlagen, sondern in Arbeitssklaven verwandelt.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Entwicklung der Produktivkräfte führte zur Änderung der Produktionsverhältnisse. Die Produktivkräfteentwicklung erzwang neue gesellschaftliche Verhältnisse: die SklavenhalterInnengesellschaft, basierend auf Privateigentum an Produktionsmitteln. Immer und überall, wo bestimmte Produktivkräfte in Gang gesetzt werden, wird die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens früher oder später durch Produktionsverhältnisse gekennzeichnet, die diesen Produktivkräften entsprechen.

Zweitens ist wesentlich, dass Produktivkräfte keine unveränderlichen Größen sind. Allerdings verändern sich die einzelnen Elemente der Produktivkräfte nicht gleichmäßig und gleichzeitig. Dialektische Widersprüche zwischen den unterschiedlichen entwickelten verschiedenen Elementen der Produktivkräfte sind eine wichtige Triebkraft der Entwicklung der Produktivkräfte insgesamt.

Produktivkräfte sind - wir wissen es aus der Definition in Kapitel 3.3. - etwas Zusammengesetztes: Produktionsinstrumente und - anlagen, Rohstoffe (sei es als Naturprodukte oder auf künstlichem Weg erzeugte Arbeitsgegenstände), technologische Verfahren, wissenschaftliche Erkenntnisse, verschiedenste Arbeitsprozesse usw. Jedes dieser Elemente entwickelt sich laufend durch verschiedenste Einflüsse, also nicht nur ökonomische, weiter. Diese Entwicklung verläuft aber nicht bei allen Elementen gleichzeitig und gleichmäßig. Mal kann die Qualifikation bestimmter Gruppen von Werktätigen hinter der Weiterentwicklung neuer Produktionstechniken zurückbleiben, usw.

Letzteres kennen wir alle aus den derzeit hochaktuellen Problemen mit der Einführung neuer Technologien, Computern, Internet usw. Aber es gibt auch andere Beispiele für eine "ungleichmäßige" Entwicklung: PhysikerInnen haben schon vor Jahrzehnten bei der Suche nach neuen Energiequellen auf die Möglichkeit von Atomkernfusionen (wie sie auf der Sonne permanent stattfinden) zur Energiegewinnung hingewiesen. 1953 wurde diese Theorie in der Praxis der Welt vorgeführt: die Zündung der ersten Wasserstoffbombe. Bis heute ist die Technik jedoch noch nicht in der Lage, diese ungeheure Energiefreisetzung auf friedlichem, d.h. kontrolliertem Wege sinnvoll nutzbar zu machen. Die Kernfusion (im Gegensatz zur Kernspaltung) ist also schon lange bekannt, die technische Verwertung allerdings hinkt dieser Erkenntnis noch nach, ist aber zugleich ein enormer Anreiz, in diese Richtung weiterzuforschen.

Drittens: die allgemeine Richtung, die Reihenfolge in der Entwicklung der Produktivkräfte hängt jedoch niemals vom Willen, von irgendwelchen Ideen oder Wünschen der Menschen ab, sondern immer von den materiellen

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Voraussetzungen und Möglichkeiten, die sie vorfinden.

Warum verbessern die Menschen laufend die Produktivkräfte? "Arbeit", so hat es Karl Marx definiert, "ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse." Wird durch die Arbeit ein bestimmter Standard erreicht, entstehen auf höherer Stufe neue Bedürfnisse. Das ist eine Ursache für die laufende Produktivkräfteentwicklung. Eine weitere finden wird, wenn wir uns die simple Frage stellen, warum beispielsweise Menschen dazu kommen, alte Maschinen laufend zu verbessern bzw. Überhaupt neue Maschinen zu entwickeln. Das kann sein, weil die alte Maschine irgendwelche Unzulänglichkeiten aufweist, weil mehr produziert werden soll, weil ein Produkt auf Wunsch der Käufer verbessert werden soll, weil die Arbeit erleichtert werden soll, usw. Bei der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur treten als - allgemein gesprochen - laufend Widersprüche infolge der Wechselwirkung und der Bewegung einzelner Produktivkraftelemente auf, die zur Veränderung drängen. Menschliches Denken wird herausgefordert. Dabei gehen die Menschen von dem aus, was sie vorfinden. Jede neue Generation setzt ihre Tätigkeit mit den von den vorigen Generationen hinterlassenen Gegenständen und Wissen unter neuen Umständen, mit neuen Bedürfnissen, Ansprüchen und auch neuen Fähigkeiten fort. Sie bewirkt auf diese Weise eine geschichtliche Weiter- und Höherentwicklung.

Ein Beispiel: Die Dampfmaschine konnte (ganz vereinfacht und verkürzt) erst entwickelt werden, nachdem zuvor entdeckt worden war, wie Eisen gegossen wird, und nachdem sowohl die Pumpe als auch das Rad erfunden worden waren.

Hervorgehoben werden muss schließlich, dass die Produktivkräfteentwicklung nicht nur durch das "materielle Erbe" voriger Generationen (Maschinen, Gebäude, Produktionsverfahren) allein bedingt ist. Wie schon oben angedeutet, gibt es auch eine subjektive Seite der jeweiligen Neuentwicklung: der Gesichtskreis, die Wünsche und Bedürfnisse, die Erfindungsgabe, der gegebene Vorrat an wissenschaftlichen Erkenntnissen usw., mit denen die jeweilige Generation bzw. einzelne Personen an das überlieferte materielle Erbe herangehen, sind Voraussetzungen für die Produktivkräfteentwicklung.

"Man braucht nicht hinzufügen, dass die Menschen ihre Produktivkräfte - auf Basis ihrer ganzen Geschichte - nicht frei wählen: denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie des Menschen, doch diese Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generationen ist. Dank der einfachen Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte des Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je

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mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen." (Karl Marx: Brief an Annenkow, 28.12.1846. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 27, S. 452 f.)

Wir haben die Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen schon herausgearbeitet. Die Produktionsverhältnisse hängen vom Stand der Produktivkräfte ab, haben wir gesagt. Aber diese Beziehung ist keine einseitige. Zugleich beeinflussen nämlich auch die Produktionsverhältnisse die Entwicklung und Veränderung der Produktivkräfte außerordentlich wirksam.

Viertens: Die Produktionsverhältnisse sind jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die unmittelbar im Prozess der materiellen Produktion entstehen. Sie bilden die gesellschaftliche Form, den gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur. Deshalb sind sie ein entscheidender Faktor der Produktivkräfteentwicklung.

Wir haben es schon mehrmals betont: Jede Produktion dient der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. Ob nun diese Bedürfnisse tatsächlich zu Veränderungen in der Produktion und damit zur Produktivkräfteentwicklung führen oder nicht, hängt ab von den Produktionsverhältnissen. Bedürfnisse müssen sich den in einer Produktionsweise herrschenden Zielen der Produktion unterordnen, ihnen entsprechen, um zu einer wirklichen Triebkraft der Produktion zu werden.

Ein Beispiel: In unseren heutigen Produktionsverhältnissen - dem Kapitalismus - ist das oberste Ziel der Produktion der möglichst große Profit. Bedürfnisse können daher nur dann zur Produktivkräfteentwicklung beitragen, wenn sie diesem Ziel dienen. So erleben wir tagtäglich die krassesten Widersprüche. Auf der einen Seite werden durch unüberseh- und -hörbare Werbungen laufend vorhandene oder künstliche erzeugte Wünsche zu Bedürfnissen erweckt. Auf der anderen Seite bleiben persönliche und gesellschaftliche Bedürfnisse wie Arbeit, Bildung, Wohnung, Gesundheit auf der Strecke. Vorhandene Produktionsanlagen werden stillgelegt, nicht etwa weil sie keine Bedürfnisse für deren Produkte vorhanden sind, sondern weil die Produktion für den/die KapitalistIn zum finanziellen Risiko wird. Oder bereits produzierte Güter werden vernichtet, um die Preise künstliche hochzuhalten. Das geschieht etwa bei Obst und Gemüse in der EU, wo jährlich hunderttausende von Tonnen eingeackert oder auf die Müllhalde gekippt werden.

Die fördernde Rolle der Produktionsverhältnisse auf die Produktivkräfteentwicklung verläuft im Geschichtsverlauf nicht geradlinig. Vielmehr kommt es zu folgender Situation:

Fünftens: Die Produktionsverhältnisse bleiben in ihrer Entwicklung, in ihrem Charakter hinter der Entwicklung der Produktivkräfte zurück. Mehr noch: Aus der ursprünglich fördernden Funktion entsteht nun das Gegenteil. Die Produktionsverhältnisse hemmen die weitere Produktivkräfteentwicklung.

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Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte geraten in Konflikt. Die Produktivkräfteentwicklung drängt auf die Überwindung und Beseitigung der alten Produktionsverhältnisse.

Ein Beispiel: Das antike Römische Reich war eine SklavInnenhalterInnengesellschaft, d.h. die bestimmende Produktionsweise war die Arbeit durch SklavInnen. Diese SklavInnenwirtschaft hatte zuvor die bäuerlichen Kleinbetriebe in den Ruin getrieben. Dabei ergab sich die scheinbar widerspruchsvolle Situation, dass der mit SklavInnen arbeitende Großbetrieb auf Dauer weniger leistete als der bäuerliche Kleinbetrieb. Die Ursache dafür lag in den Produktionsverhältnissen: SklavInnen hatten geringes Interesse an der Arbeit, zeigten schlechte Arbeitsleistung. Die Peitsche des Aufsehers konnte sie wohl zwingen, entsetzlich lange zu arbeiten, unmenschliche Arbeiten auszuführen usw., aber mit Peitschenhieben lässt sich die Ergiebigkeit der Arbeit, die Produktivität, nicht endlos steigern. Dazu bedarf es einer laufenden Verbesserung der Werkzeuge, Produktionsverfahren usw., also einer Prodiktivkräfteentwicklung. SklavInnen hatten aber daran nicht das geringste Interesse. Sie behandelten auch das Material, die Werkzeuge, die Arbeitstiere schlecht. Werkzeuge wurden nicht weiterverbessert, sondern immer roher, immer plumper. Die Produktionsverhältnisse waren zu Fesseln der Produktivkräfte geworden. Das Resultat: die SklavInnenhalterInnengesellschaft musste weichen, sie wurde durch die Feudalgesellschaft abgelöst.

Karl Marx hat diese Situation im Vorwort seiner Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" so formuliert:

"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten." (Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 13, S. 9)

3.5. Basis und Überbau

"Basis" und "Überbau" gehören zu den grundlegenden Kategorien des Histomat. Mit ihnen können wir konkret-historisch an alle gesellschaftlichen Erscheinungen herangehen. Mit Hilfe dieser beiden Kategorien wird es möglich, in der Vielfalt der gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen

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"Ursachen" und "Auswirkungen" zu unterscheiden.

Die materiellen ökonomischen Verhältnisse sind die ursprünglichen und bestimmenden. Marx nannte sie "die reale Basis". Die ideologischen, gesellschaftlichen Verhältnisse sind von den ökonomischen Verhältnissen abgeleitet und bestimmt ("juristischer und politischer Überbau, gesellschaftliche Bewusstseinsformen").

Die ökonomische Basis der Gesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der jeweiligen materiellen ökonomischen Verhältnisse, die Gesamtheit der jeweiligen Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte entsprechen.

Der Überbau ist die Gesamtheit der für eine bestimmte Gesellschaft charakteristischen Ideen und der entsprechenden Institutionen.

Zur ökonomischen Basis zählen wir daher die Eigentumsverhältnisse, die Verteilungs- und Austauschverhältnisse sowie die Verhältnisse zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen bzw. Klassen. Zum Überbau gehört die Gesamtheit der politischen, juristischen, weltanschaulichen, moralischen Ideen und Vorstellungen wie Rechtsnormen, Moralauffassungen, Kunstrichtungen, Religionen und Ideologien usw. sowie die Gesamtheit der politischen, juristischen, kulturellen und sonstigen Institutionen (Staat, Parteien, Gerichte, kulturelle Einrichtungen, Bildungswesen, Polizei, Armee usw.).

Aber wie kann ein und dieselbe ökonomische Basis so gegensätzliche Ideologien wie die von sozialistischen und bürgerlichen Parteien hervorbringen? Wollen wir diese Frage ernsthaft klären, müssen wir uns die ökonomische Basis genauer ansehen. Produktionsverhältnisse sind immer gesellschaftliche Beziehungen zwischen Menschen. Die Menschen nehmen in diesen Verhältnissen ganz bestimmte Plätze ein. Sie sind entweder Sklave oder Sklavenhalter, Leibeigener oder Feudalherr, Lohnarbeiter oder Kapitalist. Dieser unterschiedliche Platz ist nicht nur im Arbeitsprozess maßgeblich, er bestimmt auch wesentlich die Lebensverhältnisse, die Existenzbedingungen, das Einkommen und die Rolle in der Gesellschaft. Diese unterschiedlichen, gegensätzlichen Positionen führen auch zu entsprechend gegensätzlichen Ideologien, Wertmaßstäben und Prinzipien. Die ökonomisch Herrschenden, die BesitzerInnen der Produktionsmittel, unternehmen daher alles, um das zu verschleiern und damit ihre Ordnung aufrechtzuerhalten.

Welche Ideen und Institutionen in einer Gesellschaft herrschen und welche unterdrückt, verfolgt und niedergehalten werden, hängt von den Klassenverhältnissen ab, davon, welche Klasse ökonomisch und damit politisch herrscht und welche unterdrückt wird.

Zum weiteren Verständnis noch eine Begriffserklärung: Der Zusammenhang sowie Unterschied zwischen Gesellschaftsformation und Produktionsweise. Die Produktionsweise beschreibt uns die Produktivkräfte auf einer bestimmten

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Entwicklungsstufe und dieser entsprechende Produktionsverhältnisse. Die Gesellschaftsformation bezieht zur Produktionsweise auch noch den gesellschaftlichen Überbau mit ein.

Wir haben einleitend bei diesem Kapitel von "Ursachen" und "Auswirkungen" geschrieben. Selbstverständlich wäre es undialektisch, das Verhältnis von Basis und Überbau als ein einseitiges zu betrachten. So wie die Basis den Überbau bestimmt, so wirkt der Überbau auf die ökonomische Basis zurück. Diese Tatsache wird oft übersehen und politische Gegner des Histomat übersehen das bewusst und werfen dann den MarxistInnen "ökonomischen Reduktionsnismus" (d.h. alles und jedes wird auf die ökonomische Basis zurückgeführt und durch sie erklärt) vor. Aber bereits Friedrich Engels hat die aktive Funktion des Überbaus gegenüber der Basis betont. Er schreibt:

"Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und die Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr haben weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate - Verfassungen nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt, usw. - Rechtsnormen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zum Dogmensystem, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich ... als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt." (Friedrich Engels: Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 37, S. 463)

Abschließend wollen wir Engels die ganze Sache noch einmal zusammenfassen lassen:

"Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, dass die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, dass Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, dass in den

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Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Missstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst - mehr oder minder entwickelt - vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopf zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken." (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 20, S. 248 f.)

Unschwer ist dabei zu erkennen, dass es sich bei diesen Geschichtsprozessen um dialektische Vorgänge handelt. Die Veränderung der Quantität (Produktivkräfte) führt bei einem bestimmten Punkt zum Umschlag in eine neue Qualität (neue Produktionsverhältnisse). Triebkraft dieser Entwicklung ist die Einheit und der "Kampf" von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von Basis und Überbau. Die alte Gesellschaftsformation wird von der neuen dialektisch negiert.

4. Die ökonomischen Gesellschaftsformationen

Wer sich nun ausführliche, detailreiche Darstellungen der Menschheitsgeschichte erwartet, den/die müssen wir gleich an dieser Stelle enttäuschen. Wir werden uns vielmehr einem anderen Schwerpunkt widmen: der Aufdeckung der dialektischen Abläufe der Geschichte. Allgemein haben wir das bereits im vorigen Kapitel geleistet. Nun werden wir konkret. Wir untersuchen die Wechselbeziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, das Wechselspiel zwischen ökonomischer Basis und gesellschaftlich-ideologischem Überbau im Laufe der Geschichte.

4.1. Die Urgesellschaft

Die erste Gesellschaftsformation der Menschheitsgeschichte ist die Urgesellschaft, die parallel zur Menschwerdung entstand (vgl. Kap. 1). Diese Gesellschaftsformation weist eine hohe Stabilität auf, sodass auch heute noch in einigen Teilen der Erde Überreste von ihr zu finden sind (Australien, Afrika, Südamerika), allerdings durch den Kontakt mit der sogenannten "modernen Zivilisation" entweder vom Aussterben oder Auflösung bedroht.

Die Urgesellschaft ist charakterisiert durch einen sehr niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Zunächst lebten die Menschenhorden noch in affenähnlicher Weise und ernähren sich vom Sammeln von Früchten, Wurzeln, Beeren usw. Damit beschränkte sich der Verbreitungsradius des Menschen naturgegeben auf subtropische und tropische Zonen. Die nächste Stufe der Entwicklung begann bei der Verwertung von Fischen und anderen Wassertieren sowie mit der Nutzung des Feuers. Gerade letzteres war von entscheidender Bedeutung. Zum Einen wurde durch das Feuer Fleischnahrung besser nutzbar, zum Anderen wurden die Menschen klimaunabhängiger. Der Mensch breitete sich den Flüssen und Küsten

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folgend in neue Erdteile aus. Neue klimatische Bedingungen stellten neue Anforderungen. Die Erfindung der ersten Waffen (Keule und Speer) ermöglichte die Jagd, damit kamen eine neue Nahrungsquelle und neue Arbeitsgegenstände (Sehnen, Felle, Leder usw.). Erst mit der Erfindung von Pfeil und Bogen wurde jagdbares Wild regelmäßiges Nahrungsmittel. Zu diesem Zeitpunkt allerdings begannen die ersten Gruppen bereits mit der sesshaften Lebensweise. Damit entstand eine neue Lebensweise, charakterisiert durch zwei entscheidende Produktivkraftelemente: Kultur von Pflanzen (Ackerbau) sowie Zähmung von Tieren und deren Zucht. Diese beiden leiteten auch den Auflösungsprozess ein.

Der gesellschaftliche-ideologische Überbau entspricht diesem niedrigen Stadium der Produktivkräfteentwicklung. Er erfordert gemeinsame Arbeit aller um des Überlebens willen und macht sowohl Privatbesitz an Produktionsmitteln bzw. Aneignung eines fremden Mehrprodukts (= jene Produkte, die eine Person über für sein Überleben notwendig hinaus produziert) unmöglich. Zum Einen konnte der einzelne mit seiner primitiven Waffe allein kein Tier erlegen, zum Anderen war die Produktivität ohnehin gerade an der Überlebensgrenze. Alles, was produziert wurde (d.h. gejagt, gefischt, gesammelt), wurde sofort verzehrt. Da war also nichts privat anzueignen. Diese Gesellschaftsformation wird daher auch Urkommunismus (d.h. Gemeinbesitz an Produktionsmittel und Konsum) bezeichnet. Aus dieser ökonomischen Basis ergibt sich auch der gesellschaftliche Überbau. Infolge des bestehenden Gemeineigentums an den Produktionsmitteln befanden sich alle Mitglieder der urgesellschaftlichen Gentilordnung (Gentil: Sippe, Clan) in der gleichen sozialen Stellung zueinander. Alle hatten die gleichen Rechte. Es gab weder Herrschende noch Beherrschte, weder Klassen noch einen Staat. Der Urkommunismus war eine klassenlose Gesellschaft.

Die Menschen der Urgesellschaft konnten sich nur wenige Naturzusammenhänge erklären. Aus diesem Grunde führten sie fast alles auf das Wirken von Göttinnen und Göttern, Geistern und Dämonen zurück, die es durch Opfer milde und bei Laune zu halten galt. Es sind also auch die Naturreligionen eine Folge der noch primitiven Produktionsweise.

Interessant ist auch die Stellung der Frau in der Urgesellschaft. Die Frauen genossen damals sehr hohes Ansehen. Da den Menschen der Urgesellschaft die Zusammenhänge zwischen Geschlechtsverkehr/Zeugung und Geburt aufgrund der dazwischenliegenden neun Monate nicht erkennbar waren, zudem auch nicht strenge Monogamie, sondern regelloser Geschlechtsverkehr vorherrschte, war es unmöglich, die Abstammung eines Kindes von seinem Vater zu bestimmen. Das einzige, was mit Sicherheit gesagt werden konnte, war, wer die Mutter ist. Daraus resultierte das hohe Ansehen der Frauen, die Abstammung und Verwandtschaftsbeziehungen wurden daher auch nach der Mutter bestimmt. Eine solche Ordnung wird Matriarchat (im Gegensatz zum später aufkommenden Patriarchat) genannt.

Nach unserem stichwortartigen Ausflug in den Überbau zurück zur Basis. Die Entwicklung der Produktivkräfte und damit die erste große gesellschaftliche

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Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Viehzucht begann den Rahmen der Urgesellschaft zu sprengen. Beschleunigt wurde dieser Umwälzungsprozess durch die Entdeckung, Gewinnung und Verarbeitung von Erzen zu Metallen. Durch diesen Produktivkräfteschub revolutionierte sich nicht nur die Produktionsweise, sondern mit ihr auch die gesamte Gesellschaft.

Durch die stärkere Arbeitsteilung entstand eine größere Spezialisierung der einzelnen ProduzentInnen. Damit und durch die Produktivkräfteentwicklung steigerte sich auch die Produktivität, es wurde mehr erzeugt als konsumiert werden konnte. Diese Mehrprodukt führte zur Warenproduktion und zum Warentausch. All das zusammen leitete die Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse ein. Mit dem Mehrprodukt wurde auch die Anhäufung von Reichtümern möglich. Zunächst wurde nur dieses Mehrprodukt, später dann auch Produktionsmittel Privateigentum. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde es "sinnvoll", andere für sich arbeiten zu lassen, d.h. ihre Arbeitskraft auszubeuten. Und diese anderen waren zunächst Angehörige und später mehr und mehr Kriegsgefangene, die zu ArbeitssklavInnen gemacht wurden.

Die Produktivkräfteentwicklung führte also zur Ablösung der Urgesellschaft durch die SklavInnenhalterInnengesellschaft, des Gemeineigentums durch den Privatbesitz. Diese Umwälzung der Produktionsweise hatte zwangsläufig nachhaltige Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Überbau. Diese Veränderungen vollzogen sich nicht schlagartig, sondern allmählich, nicht gleichmäßig, sondern regional und zeitlich verschieden und auch nicht in allen sozialen Beziehungen und Ideen. Reste der alten Gesellschaftsformationen finden sich immer auch noch in den nachfolgenden, so z.B. den Gemeinbesitz an Grund und Boden, dessen Rest in Form des Gemeindeackers (der allen zur Nutzung offen steht) auch bei uns bis vor wenigen Jahrzehnten trotz des rundum dominierenden Privateigentums noch vorhanden war.

Hier die einschneidendsten Veränderungen im Überbau:

1. die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische (unversöhnlich einander gegenüberstehende) Klassen,

2. das Patriarchat und die Einehe sowie

3. der Staat.

4.2. Klassen, Klassenbewusstsein, Klassenkamp f

Mir der Spaltung der Gesellschaft in Klassen wird die Geschichte zur Geschichte der Klassenkämpfe. Es ist daher an dieser Stelle sinnvoll, zu klären, was eine "Klasse" überhaupt ist. Dies deshalb, weil ein Unterschied zwischen Umgangssprache und marxistischer Ausdrucksweise besteht. In der Umgangssprache ist eine Klasse eine nicht konkret definierte Gemeinschaft von Menschen, z.B. eine Schulklasse, eine Klasse im Sport. Auch wird nicht von ArbeiterInnen- und KapitalistInnenklasse gesprchen, sondern von "Arbeitnehmern" und "Arbeitgebern". Gehören Angestellte zur

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ArbeiterInnenklasse oder nicht usw.?

Wichtig ist vor allem eines: Klassen hat es nicht immer gegeben. Sie sind ein geschichtliches Produkt, das entstand, als die Produktivität der menschlichen Arbeit groß genug war, um ein ständiges Mehrprodukt zu erzeugen. Gleichzeitig bildete sich das Privateigentum heraus und die BesitzerInnen der Produktionsmittel gingen dazu über, sich das von den unmittelbaren ProduzentInnen erzeugte Mehrprodukt anzueignen, sie auszubeuten. So entstand die Klassengesellschaft in Gestalt der SklavInnenhalterInnenordnung mit ihrem Gegensatz von SklavenhalterInnen und SklavInnen. So prägte der Gegensatz von Feudalherren und leibeigener bäuerlicher Bevölkerung den Feudalismus und der Gegensatz von KapitalistInnen und ProletarierInnen (Lohnabhängigen) den Kapitalismus.

Klassen sind daher große Menschegruppen, die sich hauptsächlich danach unterscheiden, ob sie Produktionsmittel besitzen oder nicht. Die eine ist EigentümerIn aller (oder der entscheidenden) Produktionsmittel, die andere dagegen nicht. Die eigentumslosen Klassen arbeiten für die EigentümerInnenklasse, welche sich fremde Arbeit (Mehrprodukt) unentgeltlich aneignet. Die EigentümerInnenklasse herrscht ökonomisch, die andere wird unterdrückt und ausgebeutet. Dieses gegensätzliche Verhältnis zu den Produktionsmitteln wird in juristischen Gesetzen fixiert, durch Herrschaftsideologie verschleiert und - wenn nötig - durch die Gewalt des Staates gesichert.

Neben diesen beiden (in der obigen Definition) festgelegten Klassen, den sogenannten Grundklassen (ausbeutende und ausgebeutete Klasse), gibt es auch noch Nebenklassen. Deren Existenz erklärt sich daraus, dass neben der herrschenden Produktionsweise noch Reste früherer oder Keime neuer Produktionsweisen vorhanden sind. Beispielsweise entstanden Bourgeoisie und Proletariat im untergehenden Feudalismus als Nebenklassen. Sie wurden nach der Überwindung des Feudalismus zu Grundklassen. Schließlich sind von den Klassen noch die sozialen Schichten zu unterscheiden. Das sind Menschengruppen, deren Existenz eine Folge der fortgeschrittenen Arbeitsteilung ist. Sie unterscheiden sich teilweise durch bestimmte Merkmale von den Klassen der gegebenen Gesellschaftsformation, teilweise stimmen sie in anderen Merkmalen mit verschiedenen Klassen überein. Sie sind jedoch niemals TrägerInnen einer geschichtlich bestimmenden Produktionsweise. Ein Beispiel dafür ist die Intelligenz, also WissenschafterInnen, ForscherInnen usw.

Wer gehört nun zur ArbeiterInnenklasse, zum Proletariat? Beim Arbeiter am Hochofen ist diese Frage leicht zu beantworten. Klar, er gehört dazu. Wie ist das nun mit einem kleinen Tischlermeister mit drei Arbeitern? Er ist der Chef, der Besitzer der Produktionsmittel und gehört damit nicht zur ArbeiterInnenklasse. Er wird als "Selbständiger" bezeichnet, weil er seine Arbeitskraft (und die seiner drei Arbeiter) für sich selbst, also nicht für eine/n KapitalistIn verwendet. Aber er gehört auch nicht zur KapitalistInnenklasse, sondern zum Kleinbürgertum. Die KleinbürgerInnen sind EigentümerInnen

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kleiner Unternehmen (Werkstätten, Geschäfte, Dienstleistungen), stehen aber selbst unter dem enormen Konkurrenzdruck des großen Kapitals. Sie schwanken oft zwischen den beiden Grundklassen des Kapitalismus.

Das Kleinbürgertum bietet also ebenfalls ein typisches Beispiel für eine soziale Schicht. Einerseits weist der/die KleinbürgerIn typische Merkmale eines/r ArbeiterIn auf (er/sie arbeitet ja meist selbst mit), andererseits aber auch KapitalistInnenmerkmale (BesitzerIn der Produktionsmittel, kauf die Arbeitskraft seiner ArbeiterInnen usw.).

Auch die Büroangestellten gehören zur ArbeiterInnenklasse. Arbeitsrechtlich gelten sie zwar als Angestellte, aber sie verkaufen ihre Arbeitskraft gegen Lohn (bzw. Gehalt) dem/der EigentümerIn des Büros, der Firma, des Unternehmens. Wir wissen aber, dass sich Angestellte sozial höher fühlen als ArbeiterInnen, dass sie z.T. glauben, etwas "Besseres" zu sein. Umgekehrt ist es vielen ArbeiterInnen ein Ziel, Angestellte zu werden. Wir kommen damit zum Problem des Klassenbewusstseins.

Objektiv haben beide, ArbeiterInnen und Angestellte - trotz unterschiedlicher Entlohnung und beruflicher Tätigkeit - gemeisame Klasseninteressen. Eine Reallohnsenkung trifft beide ebenso wie neue Sozialleistungen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Jedoch verhindern Vorurteile, kleinbürgerliches Denken und bürgerliche Ideologien, dass ArbeiterInnen und Angestellte ihre gemeinsames Klasseninteresse und die sich daraus ergebenden Konsequenzen erkennen. Und unser Tischlermeister aus obigem Beispiel wird sich trotz übermächtiger Konkurrenz der GroßunternehmerInnen als echter Unternehmer fühlen und selbst dann, wenn seine Werkstatt schließen muss, noch bürgerliche Parteien wählen. Dasselbe gilt für zahllose AkademikerInnen, die mit dem so modern gewordenen Schlagwort "neue Mittelschichten" bezeichnet werden. Die meisten von ihnen sind Lohnabhängige, wenn auch in gehobener Position. Trotzdem lehnen sie es ab, sich als Teil der ArbeiterInnenklasse zu erkennen.

Daraus ergibt sich folgendes: Es gibt objektive Kriterien zur Zuordnung zu den Grundklassen. Dies Zuordnung ist weder von Beruf, Einkommen, Herkunft, Hautfarbe oder sonst was abhängig, sondern einzig und allein von der Stellung zu den Produktionsmitteln. Dennoch haben viele Menschen ein "falsches Klassenbewusstsein". Diese "gesellschaftspolitische Fahrerflucht" (Josef Hindels) ist ein sehr ernstes Problem für sozialistische Parteien. Allerdings wäre es eine Illusion, zu glauben, dass es möglich ist, im Kapitalismus die große Mehrheit der ArbeiterInnenklasse auf das Niveau eines marxistischen Klassenbewusstseins zu heben. Das gelingt immer nur bei einer Minderheit. Aber es ist nicht gleichgültig, wie groß diese Minderheit ist und welchen Einfluss sie auf die Partei und die ArbeiterInnenklasse auszuüben vermag.

Was ist nun der Klassenkampf? Marx und Engels bezeichnen im "Gründungsdokument" der ArbeiterInnenbewegung, im "Manifest der Kommunistischen Partei", die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften

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(ausgenommen die Urgesellschaft) als die Geschichte der Klassenkämpfe. Sie schreiben:

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.

In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen.

Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.

Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat." (Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 4, S. 462 f.)

Klassen sind nicht von den MarxistInnen erfunden worden, um in der Gesellschaft Konflikte zu schüren und die gegebene Ordnung zu untergraben. Solange die Stellung der Menschen zur Produktion derart ist, dass sich eine Minderheit die Ergebnisse der arbeitenden Mehrheit unentgeltlich aneignen kann, ist die Gliederung der Gesellschaft in antagonistische Klassen unvermeidlich, gehören Menschen den für die gegebene Gesellschaft typischen Klassen an, sind sie AusbeuterInnen oder Ausgebeutete, ob sie dies wollen oder nicht. Der Klassenkampf ist daher eine unvermeidliche, gesetzmäßige Erscheinung, solange es Ausbeutung und antagonistische Klassen gibt.

Dieser Klassenkampf kann sehr unterschiedliche Formen annehmen: mal blutig, mal unblutig, friedlich oder gewalttätig, militärisch, wirtschaftlich, ideologisch. Mal ist es der Wahlkampf, mal die Auseinandersetzung um die Lohnpolitik, dann wieder ein Streik oder "nur" ein Streit zwischen den "Sozialpartnern". In gewissen Perioden lassen sich die Klassenauseinandersetzungen durch Zugeständnisse seitens der

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AusbeuterInnen in erträglichen Grenzen halten, damit können aber weder bestehende Klassengegensätze noch der Klassenkampf beseitigt werden. Unzählige Male haben bürgerliche IdeologInnen das Verschwinden der Klassengegensätze und damit das Ende der Theorie des Klassenkampfes schon proklamiert. Stets wurden sie in kurzer Zeit vom Streik oder ähnlichem "überrascht" und mussten kleinlaut nach fadenscheinigen Erklärungen ringen. Engels:

"Es war gerade Marx, der das große Bewegungsgesetz der Geschichte zuerst entdeckt hatte, das Gesetz, wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischem, religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehen, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und dass die Existenz und damit auch die Kollisionen dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Entwicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches." (Friedrich Engels: Vorwort zu Karl Marx’ "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 8, S. 562)

Und Marx machte eine weitere entscheidende Entdeckung: "Der Klassenkampf führt notwendig zur Diktatur des Proletariats", und diese Diktatur bildet "den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft." (Karl Marx: Brief an Josef Weydermeyer vom 5.3.1852. In: Marx/Engels-Werke, Bd. 28, S. 508)

4.3. Die SklavInnenhalterInnengesellschaft

Wie wir bereits beim Zerfall der Urgesellschaft gesehen haben, entstand die SklavInnenarbeit nicht zufällig, war also nicht die Idee oder das Werk eines besonders grausamen Herrschers. Vielmehr machte die Weiterentwicklung der Produktivkräfte den Einsatz von SklavInnen sinnvoll und notwendig. In der damaligen Zeit war die Sklaverei ein Fortschritt, erst durch sie wurde die weitere gesellschaftliche Höherentwicklung möglich.

Sklaverei ist erst ab einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte möglich, nämlich erst ab jenem Zeitpunkt, wo mehr produziert wird als konsumiert werden kann. Solange die Produktivkräfte noch so primitiv sind, dass jede(r) einzelne gerade soviel erzeugt, dass er/sie überleben kann, hat SklavInnenarbeit keinen Sinn. Würde den SklavInnen ihre Produkte nehmen, so müssten sie verhungern. Damit es also vorteilhaft ist, eine(n) Kriegsgefangene(n) zu versklaven, ist es notwendig, dass durch die Produkte ihrer Zwangsarbeit nicht nur sein eigener, sondern zumindest teilweise auch mein Unterhalt bestritten werden kann. So entstand bei den antiken ÄgypterInnen, GriechInnen und RömerInnen die Sklaverei.

Da ja die Produktivkräfteentwicklung auch das Privateigentum hervorbrachte, wurde der Einsatz von ArbeitssklavInnen zu der Möglichkeit schlechthin, Reichtum anzuhäufen. Mehr SklavInnen bedeuteten mehr Erträge, mehr Einkünfte und mehr Macht. Sehr bald wurde die Sklaverei zur führenden

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Produktionsweise.

Diese tiefgreifenden Veränderungen der Produktionsweise hatten ebenso weitreichende Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Überbau. Die Gesellschaft spaltete sich in zwei Klassen: die Klasse der SklavInnenhalterInnen, die ausbeutende Minderheit, und die Klasse der SklavInnen, die die ausgebeutete Mehrheit bildeten. Die herrschende Klasse der SklavInnenhalterInnen besaß nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch die unmittelbaren ProduzentInnen als Privateigentum. Sie konnten die SklavInnen kaufen, verkaufen oder wie ein Stück Vieh erschlagen. Während in der Urgesellschaft ohne Ausnahme alle um des Überlebens willen arbeiten mussten, konnte nun eine kleine Minderheit auf Kosten und durch die Arbeit der Mehrheit leben. Dadurch wurde der große Aufschwung der antiken Wissenschaft und Kunst erst möglich. Noch heute sind griechische und römische Tempel, Bauten, antike Philosophie und Literatur ein großartiges Zeugnis für die ungeheure Entwicklung dieser Gesellschaft, die allerdings auf dem Rücken der SklavInnen stattfand.

Die enorm gesteigerten Arbeitserträge verlangten nach neuen Absatzmärkten. Ein Fernhandel entstand, der alle damals bekannten Teile der Welt verband. Damit einher gingen große militärische Feldzüge, ständig auf der Jagd nach neuem Grund und Boden, Bodenschätzen, Rohstoffen und vor allem Kriegsgefangenen, die versklavt wurden. Mit dem Handel entstand auch die Geldwirtschaft.

Die Städte wurden zu geistigen und kulturellen Zentren, zugleich waren sie auch Sitz von Verwaltung, Handel und Handwerk. Die Staatsführung lag fest in den Händen der besitzenden Klasse, der SklavInnenhalter. Ihre Politik diente vor allem dazu, ihre Macht, Einkünfte und Privilegien abzusichern.

So wurden die am Lande lebenden Bauern dazu verpflichtet, Kriegsdienste zu leisten. Ununterbrochene Eroberungskriege führten das freie Bauerntum in den Ruin. Einerseits verkamen seine Felder durch die lange kriegsbedingte Abwesenheit, andererseits waren es genau diese Kriege, die ständig neue SklavInnen brachten und damit aber auch eine ungeheure wirtschaftliche Konkurrenz. Denn diese SklavInnen hatten riesige Großgrundbesitze (sogenannte Latifundien) zu bewirtschaften, die reichen Städtern gehörten. Von dieser Übermacht verdrängt, zogen die landlos gewordenen Bauern in die Städte, wo sie als arbeitslose Masse, als Lumpenproletariat, von Almosen und Politikergaben lebten, die sich damit Stimmen bei den Wahlen kauften.

Diese wirtschaftliche Entwicklung veränderte auch die soziale Stellung der SklavInnen. Zu Beginn der SklavInnenwirtschaft waren sie HaussklavInnen, d.h. sie lebten mit ihren BesitzerInnen und deren Familien zusammen. Wenn sie auch völlig rechtlos waren, so milderten doch diese persönlichen Beziehungen ihre Lebensbedingungen. Mit dem Anwachsen der SklavInnenarbeit änderte sich dies aber grundlegend. Größere Massen von SklavInnen wurden zuerst in Bergwerken, später dann auf den Latifundien eingesetzt. Sie wohnten nicht mehr in den Häusern ihrer BesitzerInnen,

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sondern in kasernenähnlichen Unterkünften. Nachdem nun nicht mehr bloß für die Familie, sondern für den Markt produziert wurde, waren die SklavInnenhalterInnen daran interessiert, möglichst viel aus den SklavInnen herauszuholen. Je weniger sie also für die SklavInnen für Essen, Kleidung, Unterkunft usw. ausgaben, je geringer die Unterhaltkosten, desto größer waren ihre Einkünfte. Die Lage der SklavInnen verschlechterte sich drastisch. Das hatte zweierlei Folgen.

Zum einen kam es zu einer Reihe von SklavInnenaufständen. Der größte von ihnen, der Spartakusaufstand, wurde nach seinem Anführer benannt. Der Name Spartakus ging in die Geschichte als Symbol des Kampfes der Unterdrückten ein. (Nicht zufällig nannte sich die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Organisation, aus der schließlich die Kommunistische Partei Deutschlands hervorging, Spartakusbund.) Aber alle Aufstände wurden stets niedergeschlagen und grausamst unterdrückt. Die SklavInnenaufstände waren jedoch im Bewusstsein der Aufständischen kein Kampf um die Beseitigung der Sklaverei. Die SklavInnen selbst konnten sich eine Welt ohne Sklaverei nicht vorstellen, ihnen kam es darauf an, bestimmte AusbeuterInnen, die besonders grausam waren, zu beseitigen. Viele SklavInnen träumten auch davon, den Spieß umzudrehen und die Reichen zu versklaven. Dass die SklavInnen bei ihren heldenhaften Aufständen nicht vermochten, eine neue soziale Ordnung zu erkämpfen, lag einerseits an ihrem intellektuellen Tiefstand, andererseits an der technischen Rückständigkeit der damaligen Gesellschaft.

Zum anderen führte die antike Produktion in eine Sackgasse. Eine scheinbar widerspruchsvolle Situation kennzeichnete die ökonomischen Verhältnisse: Zunächst hatten die mit SklavInnen produzierenden Großbetriebe die Kleinbetriebe weitgehend verdrängt. Doch später stellte sich heraus, dass die Großbetriebe auf Dauer keineswegs rentabler und produktiver produzierten. Diese merkwürdige Tatsache war im SklavInneneinsatz begründet. Sobald SklavInnen massenhaft in der Produktion verwendet wurden, kam deren dumpfer Hass in schlechter Arbeitsleistung, geringem Arbeitsinteresse, zum Teil auch bewusster Sabotage zum Ausdruck. Die SklavInnen behandelten das Material, die Werkzeuge und die Arbeitstiere schlecht. Die Peitschen der Aufseher konnten sie wohl dazu zwingen, entsetzlich lange zu arbeiten, schwerste Lasten zu schleppen und bestimmte mechanische Bewegungen auszuführen, aber mit Peitschenhieben lässt sich die Produktivität der Arbeit nicht heben. Unter allen arbeitenden Klassen, die es jemals in der menschlichen Gesellschaft gab, hatten die SklavInnen naturgemäß das feindseligste Verhältnis zur Arbeit. Die Folge war, dass die Produktivkräfte nicht mehr weiterentwickelt wurden, ja im Gegenteil, es setzte eine technische Rückentwicklung ein, die Werkzeuge wurden immer roher, immer plumper.

War die SklavInnenarbeit zunächst ein Fortschritt - ohne sie wäre die wirtschaftliche, geistige und kulturelle Blüte der Antike nie möglich gewesen - so schlugen nun die Produktionsverhältnisse in Fesseln der Produktivkräfteentwicklung um. Nur die radikale Beseitigung der SklavInnenwirtschaft konnte die Weiterentwicklung der menschlichen

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Zivilisation gewährleisten. Dieser Übergang von der SklavInnenhalterInnengesellschaft zur Feudalgesellschaft vollzog sich über Jahrhunderte; er begann zum Zeitpunkt der höchsten Macht des Römischen Reiches und endete mit dem Beginn der Völkerwanderung.

4.4. Die Feudalgesellschaft

Als Ursache des Endes der Produktion mit SklavInnen werden in unseren Schulbüchern immer die kriegerischen Bedrohungen des Römischen Weltreiches durch die germanischen Stämme angeführt. Anstelle von Eroberungskriegen hatte Rom nun Verteidigungskriege zu führen und diese brachten kaum SklavInnen ein. Diese Erklärung greift viel zu kurz. Tatsache ist, dass die SklavInnenwirtschaft zunächst das freie Bauerntum in den Ruin getrieben hatte, dann aber nicht mehr in der Lage war, die Produktion ständig auszuweiten. Durch den Stillstand de Produktivkräfteentwicklung, noch mehr durch die Rückentwicklung, war die römische Gesellschaft nicht mehr in der Lage, ihren hohen Standard durch einen entsprechende Produktivität zu sichern. Mit dem Niedergang der Wirtschaft setzte auch ein Verfall des geistigen, wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Lebens ein.

Die römische Bevölkerung verarmte zusehends, kurzfristige Versorgungsengpässe wurden zu Dauerkrisen, bislang unbekanntes Massenelend breitete sich aus. So gingen die Großgrundbesitzer dazu über, ihre riesigen Grundstücke in kleine Landstriche ("Kolonen") aufzuteilen und gegen bestimmte Abgaben und Leistungen an sogenannte Kolonenbauern zu verpachten. Diese Kolonenbauern wurden zum Keim der neuen Gesellschaftsformation, der Feudalgesellschaft.

Betrachten wir zunächst die Produktionsverhältnisse etwas näher: die Klassenverhältnisse differenzierten sich, der grundlegende Widerspruch aber blieb: die Grundbesitzer (die späteren Feudalherren) besaßen Grund und Boden sowie einen Großteil der übrigen Produktionsmittel. Zugleich hatten sie bestimmte Verfügungsrechte über die Kolonenbauern, die späteren Hörigen und leibeigenen Bauern. Waren der Sklave und die Sklavin selbst noch völlig rechtloses Eigentum der SklavenhalterInnen gewesen, stand er also auf der selben Stufe wie Werkzeuge, Arbeitstiere oder Ähnliches, so konnte nun der hörige und leibeigene Bauer (in verschiedenen historischen Formen und Abstufungen) bereits selbst Produktionsmittel besitzen. Das galt auch für die Handwerker. Dadurch waren sowohl Bauern als auch Handwerker bis zu einem gewissen Grad an der Entwicklung der Produktivkräfte interessiert.

An der Wende von der SklavInnenhalterInnengesellschaft zur Feudalgesellschaft war fast die gesamte Bevölkerung Bauern. Diese, zunächst freien Bauern mussten ihrem König Kriegsdienst leisten. Um dieser schweren Last zu entgehen, verpflichteten sich immer mehr Bauern, anstelle der Kriegsdienste Abgaben oder Arbeitsdienste zu leisten. Die Abhängigkeiten vom Grundbesitzer (König, Adel, Klerus) vergrößerten sich. Aus freien Bauern wurden Zinsleute, die zwar persönlich frei waren, aber

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Abgaben und Grundzins an ihren Gutsherren leisten mussten. Bewirtschaftete ein Bauer, der sein Unabhängigkeit verloren hatte, sein Zinsgut selbst, so wurde er als Höriger bezeichnet. Völlig unfrei waren die Leibeigenen. Sie hatten Besitz des Grundherren zu bearbeiten, waren völlig rechtlos, durften ohne Zustimmung ihres Grundherren weder die Grundherrschaft wechseln, noch heiraten oder als Zeugen vor Gericht aussagen.

Die feudale Gesellschaft zeigt so eine äußerst abgestufte soziale Pyramide. An ihrer Spitze steht der König, eine Stufe unterhalb folgen seine Kronvasallen, also Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte. Ein weitere Stufe darunter befanden sich die sogenannten Aftervasallen (Ritter, Ministerialen, Äbte). Ganz unten befanden sich die Bauern in Form von freien, hörigen und leibeigenen (in dieser Reihenfolge).

Die Geburt bestimmte die soziale Stellung, ein Wechsel zwischen den einzelnen Ständen war nicht möglich. Selbst innerhalb dieser Stände gab es weitere Differenzierungen und Abstufungen.

Etwa im Laufe des 10. Jahrhunderts war die alles dominierende Landwirtschaft soweit entwickelt, dass nun eine rasche Veränderung der scheinbar stabilen Feudalgesellschaft einsetzte. Mit der Produktivkräfteentwicklung (Verbesserung der Werkzeuge, Anbaumethoden, Dreifelderwirtschaft) begann eine Wandlung des Bauernstandes und gleichzeitig der langsame Verfall des Rittertums. Die unermesslichen Kosten der Kriegszüge, vor allem der Kreuzzüge, und ihr luxuriöser Lebensstil zwang die Adeligen, einen Teil ihrer Ländereien an freie Bauern zu verkaufen. Die gleichzeitig verstärkt aufkommende Geldwirtschaft verdrängte die Naturalabgaben. Zudem entwickelten sich die Städte sehr rasch zu Zentren des Handels und des Handwerks. Der allgemeine Wirtschaftsaufschwung in Kombination mit der Geldwirtschaft trieb Adel und Bauern am Land langsam in den Ruin.

Naturalabgaben konnten nicht beliebig hoch eingefordert werden. Mehr als der Boden hergibt (abzüglich des Lebensunterhaltes für den Bauern und sein Familie) kann vom Grundherrn zwar eingefordert werden, die Folge war aber nicht eine Mehreinnahme seitens des Lehensherrn, sondern eine immer höhere Verschuldung seitens der Bauern. Um diese Schulden abtragen zu können, war der Bauer gezwungen, einen Teil seiner Produkte am Markt zu verkaufen und zu versuchen, dabei einen möglichst hohen Preis zu bekommen. Doch auch diesem Lösungsversuch waren Grenzen gesetzt.

Bislang hatte der Bauer seine Ackerprodukte nur dazu an den Handwerker verkauft, um von diesem Produkte einzukaufen, die er benötigte, aber selbst nicht produzierte. Dabei spielte das Geld zunächst nur eine untergeordnete Rolle, vielmehr stand der Tauschhandel im Vordergrund. Nun aber wurden die Bauern gezwungen, möglichst viel Geld für ihre Produkte zu erringen, um die Schulden abtragen zu können. Mit ihren landwirtschaftlichen Produkten machten sie sich gegenseitig Konkurrenz und drückten so die Preise. Zudem betrieben viele Städter auch nebenbei Kleintiermast und Gartenbau. Mit

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handwerklichen Produkten unterlagen die Bauern wiederum dem weitaus besser, effektiver und damit billiger produzierenden, organisierten Handwerk in den Städten. Die Lage der Bauern wurde unerträglich.

Dies hatte zweierlei Folgen: zum Einen setzte ab dem 13. Jahrhundert eine Landflucht ein, die das Wachstum der Städte weiter förderte. "Stadtluft macht frei" lautete ein Rechtssatz, demzufolge jeder Unfreie, der seit Jahr und Tag ohne Einspruch seines Herrn in der Stadt gelebt hatte, frei wurde. So entstand in den Städten ein rasch anwachsender neuer Stand, die Handwerker, vereinigt in Gilden und Zünften, der Keim des späteren Bürgertums.

Zum anderen kam es immer häufiger zu Aufständen der Bauern gegen ihre Grundherren. Das gesamte ausgehende Mittelalter ist geprägt von den sogenannten Bauernkriegen. Die Thesen von Martin Luther gegen die katholische Kirche, dem damals größten, reichsten und mächtigsten Grundherrn, war der Funke, der das explosive Fass zündete. Obwohl Luther die Kirche auf urchristliche Ideale zurückführen wollte, wurde seine Anklage gegen die besitzende Kirche von den Bauern begeistert aufgenommen und auf alle Besitzenden ausgedehnt. Die Bauernkriege, zunächst im Gewand religiöser Erneuerungsbewegungen, nahmen den Charakter einer Agrarrevolution an.

Die bewaffneten Bauern enteigneten nicht nur die Kirche, sondern auch weltliche Feudalherren. Sie erklärten, dass Leibeigenschaft und Hörigkeit mit dem Evangelium unvereinbar sei. Unter christlichen Losungen zerschlugen sie mit Waffengewalt feudale Eigentumsverhältnisse, mal im Bündnis mit den Armen der Städte, dann wiederum gemeinsam mit dem abgewirtschafteten niedrigen Adel. Aber die Aufständischen waren militärisch unzulänglich ausgebildet und ausgerüstet. Sie bildeten lokale "Haufen", die zunächst nur der Hass gegen die Ausbeuter einte. Da sie aber nicht unter einer einheitlichen Leitung kämpften und zudem bestehende Unterschiede und Gegensätze zwischen den einzelnen Kampfgruppen bald unüberwindlich wurden, blieb es bei Anfangserfolgen. Hinzu kam, dass die kämpfenden Bauern, wollten sie nicht mit ihren Familien an Hunger sterben, gezwungen waren, nicht nur Krieg zu führen, sondern auch die Felder zu bestellen.

Nach großen Siegen der Aufständischen wurden diese schließlich von der gewaltigen gegnerischen Übermacht besiegt. Angesichts der ungeheuren Bedrohung legten die Herrschenden, hoher Adel und Geistlichkeit, ihre internen Streitigkeiten und Kämpfe kurz beiseite, um gemeinsam gegen die Bauern vorzugehen. Die Rache der Obrigkeit an den Bauern war furchtbar. Ganze Dörfer und mit den Bauern verbündete Städte gingen in Flammen auf, scharenweise schlugen die Landsknechte den aufständischen Bauern die Köpfe ab. Die große Revolution erstickte in einem Meer von Blut und Tränen. Doch immer wieder flackerten solche Aufstände auf. Trotz der Niederlage der Bauern im großen deutschen Bauernkrieg zeichnete sich der Untergang des Feudalismus ab. In der feudalen Gesellschaft keimte schon die nächsthöhere Gesellschaftsformation: der Kapitalismus.

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Abschließend noch kurz die Bedeutung des Feudalismus für die darauf folgende neue Gesellschaftsform:

"Welche Merkmale müssen dabei besonders genannt werden?

- Obwohl sich auch im Feudalismus die Produktivkräfte - ebenso wie in den anderen vorkapitalistischen Formationen - außerordentlich langsam entwickeln, zeigen sich hier qualitativ neue Merkmale, die dazu führen, dass an seinem Ende die kapitalistische Manufaktur und die moderne Naturwissenschaft entstehen.

- Obwohl gerade die feudale Produktionsweise durch die Zersplitterung der Warenproduktion gekennzeichnet ist, steht durch die Entwicklung der Warenproduktion und des mittelalterlichen Ständewesens an ihrem Ende die Bildung umfassender welthistorischer Zusammenhänge (das Zeitalter der Entdeckungen), die Bildung nationaler Märkte und des Weltmarktes, wodurch die weitere geschichtliche Entwicklung wesentlich beschleunigt wurde.

- Obwohl der feudale Staat nach der Auflösung der frühfeudalen Staaten durch die bis ins Extrem getriebene Entwicklung gekennzeichnet ist, steht an seinem Ende die Zentralisation der Staatsmacht, wie sie in der absoluten Monarchie ihren konzentrierten Ausdruck findet. Sie muss der Bourgeoisie bereits bestimmte Zugeständnisse machen; an sie knüpft die Entwicklung des bürgerlichen Staates nach dem Sieg der bürgerlichen Revolution an.

- Obwohl die ökonomische und politische Zersplitterung für den Feudalismus typisch ist, bilden sich zugleich noch in seinem Schoß die großen Nationalstaaten, die wesentliche Bedeutung für die folgende Entwicklung hatten.

- Obwohl die Entstehung der feudalen Gesellschaftsformation durch die Herrschaft des Landes über die Stadt gekennzeichnet ist, obwohl in ihr, wie in allen vorkapitalistischen Produktionsweisen, die Landwirtschaft der entscheidende Produktionszweig ist, steht an ihrem Ende die Herrschaft der Stadt über das Land, die die ökonomische und soziale Voraussetzung der Entstehung der modernen Industrie ist.

- Obwohl am Anfang der Entwicklung der feudalen Gesellschaftsformation die Umwandlung des freien Bauern in den leibeigenen und hörigen Bauern steht, ist die ganze feudale Gesellschaftsformation durch den Kampf der Bauernmassen und des aufsteigenden Bürgertums gegen die herrschende Klasse der Feudalherren gekennzeichnet. Die Kämpfe, die Bauernkriege und die Entwicklung des Bürgertums der mittelalterlichen Städte zur Bourgeoisie enden in den großen bürgerlichen Revolutionen." (aus: Einführung in den

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dialektischen und historischen Materialismus. Dietz-Verlag, Berlin 1972, S. 320)

4.5. Der Kapitalismus

Noch während die Hauptfront des Klassenkampfes zwischen Bauern und Feudalherren verlief, keimte im Schoß der Feudalgesellschaft bereits die neue Produktionsweise: In den Städten entwickelte sich aus dem Handwerk die kapitalistische Produktion. Auf der Grundlage eines beschleunigten ökonomischen Wachstums, einer forcierten Produktivkräfteentwicklung (Entdeckungen und Erfindungen) entstanden vom 13. bis zum 16. Jahrhundert in unterschiedlichem Tempo und Regionen neue Produktionsweisen. Voraussetzungen dafür waren das Wachstum landwirtschaftlicher Überschüsse infolge verbesserter Anbaumethoden sowie neue, spezialisierte Arbeitsgeräte, die überwiegend von städtischen Handwerkern geliefert wurden. Wenige Bauern konnten nun mehr produzieren, ein größeres Mehrprodukt anhäufen.

Gleichzeitig, aber wesentlich rascher entwickelte sich die nichtagrarische Produktion in den Städten. Im Zentrum des Fortschritts standen neben der weiteren Spezialisierung der handwerklichen Arbeitsmittel die Verbesserungen im Textilgewerbe (Entwicklung und Verbreitung des Spinnrades und des Webstuhls, Verwendung neuer Fasern wie z.B. der Baumwolle). Verbesserung der Seefahrt, die Erfindung des Schießpulvers und die Übernahme des Kompasses aus Asien schufen die Voraussetzungen für die Ausdehnung des Handels und Eroberung neuer Märkte und Rohstoffe.

Klassenmäßig gingen diese Impulse vom städtischen Bürgertum, der späteren Bourgeoisie, aus. Von ihm wurde in großen Auseinandersetzungen der dogmatische Aberglaube der Kirche schrittweise zurückgedrängt. Die Naturwissenschaften erlebten ihren Aufschwung. Mit dem 16. Jahrhundert begann eine neue Etappe in der Entwicklung. In der Feudalzeit dominierte die einfache Warenproduktion. Einfache Warenproduktion bedeutet, dass die WarenproduzentInnen (Handwerker, Bauern usw.) auch BesitzerInnen der Produktionsmittel sind. Sie produzieren durch eigene Arbeit (und die ihrer Familie) für den Markt und arbeiten für ihre eigene Tasche. Zum Schutze ihrer Interessen hatten sich in den Städten die Handwerker zu straff organisierten Zünften und die Kaufleute zu Gilden zusammengeschlossen. Jeder produzierte munter vor sich hin, ihr Einkommen bestimmte der Marktpreis. Mitten in die naturwüchsige planlose Teilung der Arbeit schob sich nun in mehreren Etappen die planmäßige Teilung der Arbeit bis zur Form der kapitalistischen Fabrik.

Die Übergangsform zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion war der Verlag. Verlage stellten einen Zusammenschluss von Handwerkern dar, die formell selbständig blieben und die ein übergeordneter Verleger, der zumeist die Rohstoffe bereitstellte, zusammenfasste. Die Verleger eignete sich einen Teil des Mehrproduktes fremder Arbeit an.

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Mit der Weiterentwicklung der Produktivkräfte wurde es zweckmäßig, eine oder mehrere Produktionsstufen in einer zentralen Werkstatt auszuführen. Verlage mit einer Zentralwerkstatt wurden als dezentralisierte Manufaktur bezeichnet.

Die kapitalistische Manufaktur schließlich bildete den Übergang zwischen der zersplitterten Kleinproduktion und der maschinellen Großproduktion. Die Handwerker wurden unter einem Dach zusammengefasst und arbeiteten unter einheitlicher Leitung und Aufsicht. Spezialisierung und Arbeitsteilung nahmen zu. Die weitere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise wurde jedoch durch die handwerkliche Basis der Manufaktur gehemmt. Wieder einmal waren die Produktionsverhältnisse zu Fesseln der Produktivkräfteentwicklung geworden. Engstirniges Zunftwesen, Zersplitterung der politischen Landschaft in unzählige Klein- und Kleinststaaten mit eigenen Steuern, Zöllen und Abgaben, eigenen Gesetzen und eigenen Währungen verhinderten die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Während die Arbeit zunehmend gesellschaftlichen Charakter annahm, herrschte politisch und gesellschaftlich immer noch die Zersplitterung. Der Widerspruch zwischen der neuen, werdenden kapitalistischen Basis und dem alten, feudalen Überbau verlangte nach einer radikalen Lösung. Die Revolutionen des Bürgertums, der neuen herrschenden Klasse, im 17. und 18. Jahrhundert fegten das feudale System beiseite. Und die industrielle Revolution, die die Maschinen und mit ihnen die großen Industrien hervorbrachte, leitete den Siegeszug des Kapitalismus ein. Große Nationalstaaten traten an die Stelle zahlloser Zwergstaaten. Die kapitalistische Industrialisierung erfasste ganz Europa und Amerika, der Welthandel erreicht bis dahin ungeahnte Ausmaße. Doch das Bürgertum hatte gegen den Feudalismus nur deswegen siegen können, weil es sich zunächst an die Spitze aller durch die Feudallasten Leidenden stellte. Mit der Industrie wuchs auch eine neue Klasse: das Proletariat, die ArbeiterInnenklasse, die Macht zur Überwindung des Kapitalismus. Gab es in der Feudalgesellschaft eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen, so spaltet sich nun die ganze Gesellschaft mehr und mehr in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. Die genauere Darstellung des Kapitalismus ist Gegenstand des Abschnitts "Politische Ökonomie".

5. Persönlichkeit und Gesellschaft

Wir haben nun, zunächst in der Theorie und dann in praktischer Anwendung auf die Menschheitsgeschichte die Grundzüge der historisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung erarbeitet. Den Schlüssel zum Verstehen lieferte uns dabei die Arbeit. Im Wechselspiel zwischen Produktivkräfteentwicklung und Produktionsverhältnissen, zwischen ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau entwickelt sich die menschliche Gesellschaft immer höher.

Bei der Anwendung dieser Methode zur Geschichtsbetrachtung mag dem einen oder der anderen aber folgende Überlegung gekommen sein: Sehr bedeutsam erscheinen die Entwicklungen der ökonomischen Basis. Werden

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beispielsweise die Produktionsverhältnisse zu Fesseln der weiteren Produktivkräfteentwicklung, so führt dies unweigerlich zu einer sozialen Revolution, zur Überwindung der alten und Schaffung neuer Produktionsverhältnisse. Schneller oder langsam wälzt sich dann auch der gesamte gesellschaftliche Überbau um. Aber welche Rolle spielt dabei die einzelne Persönlichkeit? Es gab und gibt doch zahlreiche berühmte, bedeutende Personen, die ihrer Zeit ihre Stempel aufdrückten. Hat nicht z.B. ein Luther mit seinen Thesen den Bauernkrieg ausgelöst, ein Lenin den Sturz der Zarenherrschaft und den Aufbau des ersten sozialistischen Staates herbeigeführt? Oder hat nicht Hitler den Faschismus in Deutschland an die Macht geführt und damit Millionen Menschen in den Tod am Schlachtfeld und in den Gaskammern der Konzentrationslager getrieben? Was ist also mit der Rolle der "großen Männer, die" - wie oft formuliert wird - "Geschichte machen"?

Diese Frage ist nicht etwa dumm oder zeigt, dass der-/diejenige den Histomat nicht kapiert hat. Im Gegenteil: Sie weist auf eine ganz bedeutende zentrale Problemstellung hin. Blättern wir in bürgerlichen Geschichtsbüchern, so finden wir die Geschichte als Geschichte der Persönlichkeiten. Dieser Kaiser war weise und gut, also ging es den Menschen unter seiner Regentschaft gut. Oder: Der Nationalsozialismus war das Werk Hitlers. Wäre Hitler nicht gewesen, so wäre der Menschheit namenloses Unheil und Krieg erspart geblieben. Es war also eine Einzelperson, die alles Unglück über Deutschland, Österreich und ganz Europa gebracht hat.

Dem völlig entgegengesetzt steht die marxistische Geschichtsbetrachtung. Sie erklärt die Geschichte aus dem dialektischen Wechselspiel zwischen ökonomischer Basis und Überbau, zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräfteentwicklung. Am Beispiel der Marxismus-GegnerInnen und ihrer Argumentation wollen wir nun die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte herausarbeiten.

Erstes Argument der notorischen Marxismus-WiderlegerInnen: In der marxistischen Sicht wird der Mensch zu einem anonymen Rädchen im großen Getriebe der Ökonomie. Nicht er, sondern "Produktivkräfte" und "Produktionsverhältnisse" entscheiden über das Schicksal von Staaten und Kontinenten. Und oftmals wird in scheinheiliger Entrüstung hinzugefügt: Nach Marx vollzieht sich in der Gesellschaft alles zwangsläufig, nach unumstößlichen Gesetzen. Nichts hängt daher vom Menschen ab. Die Persönlichkeit bleibt auf der Strecke.

Dem ist entgegenzuhalten: "Produktivkräfte", "Produktionsverhältnisse" usw. sind ja keine toten Dinge, völlig losgelöst vom Menschen. Wenn wir als MarxistInnen von "Produktivkräfteentwicklung" sprechen, so sind damit selbstredend auch die Menschen gemeint, die diese Entwicklung vorantreiben: der Jugendliche, der neue Ideen, Verbesserungen oder Ähnliches hervorbringt, ebenso wie die Arbeiterin, die ihre Maschine verbessert, die Forscherin, die im Labor an irgendeinem Projekt arbeitet, bis hin zu jenen Personen, die, wie es so schön heißt, als EntdeckerInnen,

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ErfinderInnen oder NobelpreisträgerInnen in die Geschichte eingehen.

Und wenn wir von Produktionsverhältnissen sprechen, so ist das nur der Begriff dafür, wie Menschen ihre Beziehung zueinander in der Produktion einnehmen; als SklavIn oder als SklavInnentreiberIn, als Leibegene oder als Feudalherren, als LohnarbeiterIn oder als KapitalistIn. Immer stehen die Menschen im Mittelpunkt. Allerdings nicht nur die winzige Minderheit von Menschen, die als KönigInnen, KaiserInnen, Päpste oder RegentInnen die Seiten bürgerlicher Geschichtsbücher füllen, sondern alle Menschen. Und dazu gehören auch jene namenlosen 99,9 Prozent der Menschen, die nicht "in die Geschichte eingehen".

Zweites Argument der GegnerInnen des Marxismus: Marx spricht doch immer von Gesetzmäßigkeiten im geschichtlichen Ablauf. Das heißt doch, dass es ganz egal ist, was die Menschen tun und wollen. Was vermag der menschliche Wille gegen solche Zwangsläufigkeiten auszurichten? Wo es Gesetze und zwingende Abläufe gibt, ist doch die Persönlichkeit bedeutungslos bzw. zum bloßen Vollzugsorgan degradiert.

Solche Argumente zeigen bloß, dass sich die Marxismus-GegnerInnen - wenn überhaupt - über den Marxismus nur schlecht informiert haben. Verstanden haben sie ihn jedenfalls nicht. Marx und Engels haben die Natur, die Gesellschaft und ihre Geschichte und das Denken sehr genau studiert und dabei Gesetzmäßigkeiten nachgewiesen (z.B. die drei Grundgesetze der Dialektik). Aber niemals behaupten sie, dass sich diese gesellschaftlichen Gesetze mechanisch, ohne das Zutun menschlichen Handelns und Wirkens, vollziehen. Im Gegenteil: Marx und Engels, aber auch ihre SchülerInnen wurden nicht müde, immer wieder zu betonen, wie riesengroß die Verantwortung der auf der geschichtlichen Bühne handelnden Menschen ist. Der Marxismus ist unter anderem auch eine Methode, eine Art Werkzeug zum Verstehen und Erklären menschlicher und gesellschaftlicher Vorgänge. Je besser die Menschen mit ihm vertraut sind, desto erfolgreicher werden ihre Taten sein. Handelnde Menschen können aber nur dann die Folgen ihrer Handlungen voraussehen und planen, wenn sie diese gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten begreifen und gemäß vorgehen.

Ein Beispiel: Che Guevara ist bis heute einer der bekanntesten und populärsten Revolutionäre auf der ganzen Welt. Neben Fidel Castro war er ein wichtiger Mitkämpfer in der kubanischen Revolution. Warum war in Kuba die Revolution siegreich? Weil Che und Fidel gerade Lust auf eine Revolution hatten? Weil ihnen fad war und sie Abwechslung wollten? Weil es im "Buch der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte" festgelegt war, dass 1959 in Kuba eine sozialistische Revolution stattfinden soll und Fidel und seine Mitkämpfer zu unbewussten Vollstreckern dieser Gesetzmäßigkeiten wurden? Rein zufällig? Natürlich nicht.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kuba unter der Diktatur von Batista hatten zu unerträglichen sozialen und politischen Konflikten geführt. Das kubanische Volk wollte in seiner Mehrheit nicht mehr länger Ausbeutung und

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Unterdrückung hinnehmen, es leistete Widerstand. Die bewusstesten Wortführer entwickelten Ideen und Pläne zum Umsturz und sammelten Erfahrungen im Kampf. Dass die Revolution dann nach jahrelangen Kämpfen siegreich war und in Kuba eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut wurde, hängt sehr stark von den Fähigkeiten von Personen wie Fidel und Che ab. Erfolgreich konnten sie deshalb sein, weil sie die nationalen und internationalen Erfordernisse der gesellschaftlichen Entwicklung besonders klar erkannten und daraus ihre Schlussfolgerungen für ihr Handeln zogen.

Fidel, Che und ihre Genossen hätten in Kämpfen getötet werden können. Das Batista-Regime hätte eine Politik machen können, die womöglich nicht zu einer derartigen Verschärfung und Zuspitzung der Konflikte geführt hätte. Die Konterrevolution, also die vom CIA organisierte Invasion in der Schweinebucht, hätte erfolgreich sein können. Dieses "Was wäre, wenn"-Spiel ließe sich beliebig fortsetzen. Alle obigen Spekulationen wären möglich gewesen. Das hätte jedoch die damals in Kuba bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche nicht gelöst. Die Revolution hätte einen anderen Verlauf genommen, vielleicht erst später gesiegt, unter anderen Führern, usw. So ist es beinahe eine Ironie des Schicksals (das es freilich nicht gibt), dass der in Kuba erfolgreiche Che Guevara bei seinem Versuch, die Revolution nach Bolivien zu exportieren, ums Leben kam. Aus der kubanischen Erfahrung sind Schlüsse zu ziehen, aber das Beispiel der kubanischen Revolution wie einen Universalschlüssel zum Reich des Sozialismus auf Bolivien mit anderen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zu übertragen, musste zwangsläufig scheitern.

Marx und Engels haben das genau erkannt. Aus den von ihnen abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten der Geschichte lässt sich nicht ableiten, wann, wo, unter welchen Umständen und unter Führung welcher Personen der Sozialismus kommt. Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: von selber kommt er nicht. Vielmehr wird er das Ergebnis eines langen, harten, mit Siegen und Niederlagen gespickten Kampfes der ArbeiterInnenklasse gegen die KapitalistInnen sein. Marx und Engels haben sogar damit gerechnet, dass die ausgebeutete Klasse gemeinsam mit der AusbeuterInnenklasse untergeht, wenn es ihr nicht gelingt, die von der Geschichte gestellte Aufgabe zu verwirklichen.

Die Vorstellung einer automatischen Entwicklung, die zur Realisierung des Sozialismus führt, ist zutiefst unmarxistisch. Der Sozialismus kommt nicht von selbst, auch dann nicht, wenn alle materiellen Vorbedingungen gegeben sind. Ob dann aber "der zündende Funke des bewussten Willens der großen Volksmasse aufspringt" (Rosa Luxemburg) - das hängt von der Politik, Aktivität, der Kühnheit und Opferbereitschaft der marxistischen ArbeiterInnenbewegung ab. Wichtig wird dabei sein, dass die ArbeiterInnenbewegung und ihre Organisationen bei ihrer tagtäglichen Kleinarbeit auf das große Ziel nicht vergessen.