Rezensionen "Es waren viele Pferde"

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Rezensionen "Es waren viele Pferde"

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Shortcuts

69 Shortcuts, Momentaufnahmen von Men-

schen, die im 20 (bis 22)-Millionen-Moloch

Säo Paulo leben, Brasilien - das Land der

Zukunftl Böse Zungen sagen, Brasilien wird

immer ein Land der Zukunft bleiben, nie

wirklich ankommen in dieser so oft be-

schworenen glorreichen fernen Zeit des Er-

folgs. Das teilt das Land mit vielen von Ruf-

fatos Protagonisten, auch sie scheinen keine

,,Zukunft" zu haben, nicht einmal eine er-

zählenswerte Gegenwart. Reich und arm,

oft bitterarm, stoßen in diesem atemlosen

Kaleidoskop aufeinander, ohne etwas mit-

einander zu tun zu haben, geschweige denn

einander zu verstehen. Fremde Welten,

durch die Ruffato sich wie mit einer wildge-

wordenen Fernbedienung hindurch zappt.

Viele der Shortcuts enden mit einem ,,und"mitten im Satz, Ruffato zappt weiter, wirfteinen Blick in die Sexangebots-Anzeigen der

Zeitung, in eine Liste der Berufe, für die Be-

werber gesucht werden, sieht nach dem

Baby, das von Ratten gebissen wird, wäh-

rend die Mutter auf einer anderen Matratze

anschafft, Stopp - der reiche Waffenschie-

ber, der seinen Sohn von der Schule abholt

und ihm nicht gestehen mag, womit er sein

Geld verdient - Stopp - das Mädchen, das

seine an AIDS verstorbene Freundin ein letz-

tes Mal schminkt, der Brief der Mutter aus

der Provinz an den Sohn in der Stadt, der

Nachtwächter, der sich nicht durchsetzen

kann, der Treff alter Revolutionäre, das Ehe-

paar, das erkennen muss, dass seine Ehe am

Ende ist, so viele, die bei einem Einbruch,

irgendeiner Gewalttat umkommen, sinnlose

Morde - Stopp. Ein normaler Tag im Mai

2000. Glanz und Elend, Gewalt, Hass, Angst,

Schmerz, Lüge, Sehnsucht - Gefühle derer,

die in der Megacity leben, gefangen sind in

dieser Stadt, die wie ihre Schwester im Nor-

den ,,never sleeps". Jede dieser Kurzge-

schichten hat eine eigene Färbung, einen ei-

genen Klang, bis hin zu einem eigenen Stil -jede Stimme in dieser Kakophonie hat ihren

eigenen Ton, zusammen ergeben sie den

Klang der urbanen Moderne. Dabei erhalten

besonders die Armen. Marqinalisierten bei

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Ruffato eine Stimme, Diese Moderne ist bei

Ruffato auch eine Hölle, ein ,,lnferno prövi-

sorio", wie der fünfbändige Romanzyklus

heißt, den der Autor nach diesem von der

Kritik so hochgelobten Buch von 2005 bis

201 1 schrieb. lnferno pr6visorio wird ab

2013 auch in deutscher Übersetzung bei As-

soziation A erscheinen. Luiz Ruffato wurde

196'1 im Bundesstaat Minas Gerais geboren

und wuchs in armen Verhältnissen auf . Er

jobbte u. a. als Verkäufer und Mechaniker,

studierte Komm u ni kationswissenschaften

und arbeitete als .Journalist. 1998 erschien

sein erster Kurzgeschichtenband, 2001 Es

waren viele Pferde. Dieses in Form und ln-

halt ungewöhnliche Buch begeisterte die Kri-

tik; eine Jury aus Literaturkritikern der Zeit-

schrift Globo bezeichnete das Buch als eines

der zehn besten Bücher Brasiliens der letzten

Dekade. Außerdem wurde es mit dem Kriti-

kerpreis der AssociaEäo Paulista de Criticos

de Arte und dem renommierten Prömio Ma-

chado de Assis, dem Preis der brasilianischen

Nationalbibliothek ausgezeichnet. Für seinen

Roman Vista parcial da noite erhielt er

2006 den wichtigsten Preis Brasiliens, den

Jabuti. Luiz Ruffato lebt bis heute in 5äo

Paulo Eva Massingue

Luiz Ruffato lBrasilien]Es waren viele Pferde. Roman

Eles eram muitas cavalos

Aus dem brasilianischen Portuqiesisch von

l\,lichael Kegler

Assoziation A, Berlin, Hamburg 2012

158 Seiten, EUR 18,00

Von Lippenblütlern, Zungen-pflänzchen und Stimmbandlilien

Der in Deutschland bislang noch wenig be-

achtete Schriftsteller Semier lnsayif ist ein

Kundschafter von Grenzräumen, zwischen

den Kulturen, zwischen den Künsten und

Medien, zwischen Sprache und Welt. In den

letzten Jahren erschienen bereits mehrere

Gedichtbände und ein Roman des Österrei-

chers mit irakischen Wurzeln, glänzende

Versuchsreihen über das Wesen der Sprache

und des Sprechens, die stets zur Frage nach

der eigenen ldentität führen, Die Texte sind

dabei von der Lautdichtung und der konkre-

ten Poesie ebenso inspiriert wie von der

mündlichen arabischen Erzähltradition sei-

nes Vaters und werden regelmäßig bei Auf-

tritten und Ausstellungen in der Zusammen-

arbeit mit Musikern, Tänzern oder bildenden

Künstlern zu multimedialen Erfahrungsräu-

men erweitert. Untersuchungsgegenstand

und poetisches Kraftfeld von boden los ist

der Garten als gesellschaftlich herausgeho-

bener, symbolisch verdichteter Ort, als

Schnittstelle und ideale Symbiose zwischen

Natur und Kunst, als lllusions- und Kompen-

sationsraum des Menschen, Spiegel und Ab-

bild der Welt und göttlicher Universen, ln-

sayifs Gärten sind immer eigen und fremd

zugleich, innere wie äußere Gärten. Schon

im ,,vor garten" werden zwischen ,,lippen-

blütlern",,,kehlkopf-rosen" und,,stimm-

bandlilien" die Grenzen von Sprache, Kör-

per und Natur kunstvoll aufgelöst. ,,ist

sprache selbst ein stück natur / ist natur

selbst ein stück sprache" heißt es am Ende

im ,,hinter garten". Verhält sich das Gedicht

also zur Sprache, wie der Garten zur Natur?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf folgt der

Leser der poetischen Gartenkunde lnsayifs

durch die Kulturen. Die Gärten im alten Per-

sien spiegelten in ihrer Grundform die Har-

monie des Kosmos und den Lauf der vier

Ströme des Paradieses wieder. Auch im

lslam wurde der Garten zum wichtigsten

Symbol für das Paradies, dessen Aussehen

im Koran mehrfach ausf ührlich beschrieLren

wird, und steht auch für das geistige Erwa-

chen des Menschen, die Entdeckung des

LiteraturNachrichten Nr. 1 1 5 Winter 20'1 2

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