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# 03/18 Magie und Ritual ¬ + Benedikt Hipp 04 / 11 / 18 10 / 02 / 19

# 03 Magie und Ritual Benedikt Hipp - villa-rot.de 18 Magie.pdf · Magie und Ritual 04 Robert Fludd Der britische Mediziner, Philosoph und Esoteriker Robert Fludd (1574 – 1637)

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Magie und Ritual ¬ + Benedikt Hipp04/11/18 — 10/02/19

Einleitung

Der deutsche Historiker Johannes Dillinger definiert Magie wie folgt: „Unter Magie wird jedes System von Vorstellungen und Verhaltensweisen verstan-den, das darauf abzielt, die sichtbare, im Alltag erlebbare Welt mit einem Raum außerhalb dieser Welt in Beziehung zu setzen. Dieses System wird von Einzelnen oder informellen Kleingruppen getragen, die jeweiligen Vor-stellungen und Verhaltensweisen sind weder institutionalisiert noch unter-liegen sie allgemeinen fixen Regeln oder Dogmen.“ 1

Wie Dillinger beschreibt, sehnt sich der Mensch danach, einen Blick in eine andere, nicht sichtbare Realität zu werfen. Meist ist dieser Wunsch mit der Hoffnung verbunden, die jenseitigen Kräfte für sich nutzbar zu machen. Die Heilung von Krankheiten, ein Blick in die Zukunft, ein größeres Leistungsver-mögen, die Verbesserung der eigenen Situation oder die Schädigung eines Feindes; die Vorstellungen von den Möglichkeiten übernatürlicher Kräfte ge-ben gleichsam Auskunft über die Sorgen, Ängste, Hoffnungen und Sehn-süchte einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Kulturkreises. Anders als die institutionalisierte, nach festen Regelwerken organisierte Religion ist Magie ein flexibles Konstrukt, das sich schnell an Bedingungen der Gegen-wart anpasst. Dennoch versucht der Mensch seit jeher, Gesetzmäßigkeiten des Magi- schen festzuschreiben. So entwickelten sich immer wieder magische Hilfs-mittel, festgelegte Rituale oder Zaubersprüche, die einen Kontakt zu einer geheimnisvollen, anderen Macht garantieren sollen. Manche dieser Theo-rien und Formeln lassen sich über Jahrhunderte hinweg verfolgen, etwa die Astrologie mit ihren Tierkreiszeichen, andere sind nur kurzweilige Phäno-mene einer bestimmten Region oder Zeit.Im Hoenes-Saal können Sie in kurzen Texten mehr über die geschichtliche

Entwicklung der Magie erfahren: von der neupla-tonischen magia naturalis über die Hexenverfol-gungen im Mittelalter bis zum heutigen, eher ek-lektischen Esoterikkult.

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1 Johannes Dillinger: Hexen und Magie – Eine historische Einführung, Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York, 2007, S. 13

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Robert Fludd

Der britische Mediziner, Philosoph und Esoteriker Robert Fludd (1574 – 1637) beschäftigte sich intensiv mit einer mythisch geprägten Naturphilosophie. Sein Denken wurde wesentlich durch antike Magietheorien beeinflusst. Den Ideen des Neuplatonismus folgend verstand Fludd den Kosmos als hierar-chisch geordnet. Zuoberst der kosmischen Ordnung stehen die Götter be-ziehungsweise eine zeitlose, unendliche Ausstrahlung (Emanation) 2. Diese strahlt über das Planetarsystem hin zu den Elementen bis in die kleinsten Strukturen der Welt. Alles ist miteinander verbunden, weshalb sich in jedem Gegenstand ein bestimmtes Maß an magischem Potenzial verbirgt. Kombi-niert man diese Gegenstände richtig, dann wird die Wirkung verstärkt. Der Magier erkennt diese Zusammenhänge und kann sie für den Menschen nutz-bar machen.Robert Fludd verwies in seinen Texten auf diese Vorstellungen und ließ sie durch den Kupferstecher Matthäus Merian d. Ä. bildlich umsetzen. Auf der ausgestellten Reproduktion ist der kreisförmig angeordnete Kosmos zu se-hen. In den äußersten Ringen erscheinen die Cherubim, Seraphim und Erz-engel, darunter die Sterne und Planeten. Im Zentrum stehen die irdischen Elemente in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen. Über allem befin-det sich eine Wolke mit der Hand Gottes, von der eine (Sympathie-) Kette zu einer weiblichen Figur führt. Sie steht für die Gesamtheit der Natur und ist durch eine weitere Kette mit dem Menschen und der Kunst verbunden. Für Fludd ist also jedes Seiende in seiner Essenz göttlicher Geist. Durch die Natur ist der Mensch mit dem Makrokosmos verbunden.Solche Modelle sind bis heute prägend für westliche Ideologien und bilden die Grundlage für ein westliches Magieverständnis. Da die Realisierung von Magie diesen Theorien nach wesentlich von der Kenntnis der Natur ab-hängt, wurde die sogenannte magia naturalis bis zum Mittelalter meist nicht als Aberglaube, sondern als Wissenschaft verstanden. Magie ist somit im-mer auch Ausdruck menschlichen Fortschrittswillen.—

Nikolai Nekh

Mit seiner Installation The Invisible Hand (dt.: Die unsichtbare Hand) zeigt der portugiesische Künstler Nikolai Nekh ein metaphorisches Bild des oben erwähnten magischen Fortschrittglau-bens. Am unteren Ende einer glitzernden Wand, die an einen Blick in den unendlichen Kosmos denken lässt, befindet sich ein Wasserhahn. Ein darunter befindlicher Fleck lässt den Eindruck entstehen, hier würde die Essenz des Himmels destilliert. Die Installation visualisiert das mensch-liche Bedürfnis, das Unbekannte zu begreifen. Die tschechisch-portugiesische Kuratorin Markéta

Nikolai Nekh Invisible Hand (Detail),

2015, Video, schwarze Wand mit Glitzer, Wasserhahn,

schwarzer Acrylfleck, © Nikolai Nekh

Foto: João Neves

Matthäus Merian d. Ä. Integra Natura speculum

Artisque imago, Kupferstich zu Robert Fludd Utriusque cosmi maioris

scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica

Historia, Oppenheim 1617

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Stará Condeixa beschreibt es wie folgt: „Im Zentrum jedes technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts steht das menschliche Verlangen nach Nähe und Verständnis. Je größer die Distanz zwischen Mensch und seinem Subjekt, desto stärker ist der Wunsch, es zu fassen.” 3

Die dazugehörige Videoarbeit scheint auf den ersten Blick ebenfalls glit-zernde Sterne zu zeigen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch eine Hand und ein eckiger Flakon mit einer goldenen Weltkarte darauf er-kennen. Die Flasche ist eine Referenz an Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorstellung des absoluten Geistes, die „unsichtbare Hand“ ein Verweis auf den schottischen Philosophen und Ökonomen Adam Smith. Dessen Idee der unsichtbaren Hand beschreibt die unbewusste Förderung des Gemeinwohls nach ökonomischen Prinzipien. Hier findet ein Wechsel statt, der stellvertre-tend für eine geistesgeschichtliche Entwicklung steht: Der Glaube an einen produktiven Erkenntnisgewinn durch jenseitige Kräfte wird ins Diesseits, in den Menschen, verlagert. Mit seiner Installation und den an der gegenüberliegenden Wand hängenden Fotografien möchte Nekh den einfachen Dingen wieder ihre Komplexität und ihren magischen Charakter zurückgeben. Inspiriert wurde er hierzu durch ein Zitat des französischen Philosophen Roland Barthes zum Stillleben: „Was kann die Rechtfertigung für solch eine Zusammenstellung sein, wenn nicht die Schärfung des menschlichen Blicks auf sein Umfeld, seinen täg-lichen Umgang mit Objekten zu erleichtern, deren Rästel sich aufgelöst ha-ben und die nichts mehr sind als Oberfläche?“ 4 In den weiteren Räumen ha-ben Sie die Möglichkeit, die Magie hinter den Dingen zu entdecken.—

Helga Schmidhuber

Helga Schmidhubers Arbeitsweise zeichnet sich durch eine hohe Sensibili-tät und ein feines Gespür für die Magie der Dinge aus. Wie eine Alchimistin

kombiniert sie in ihren Werken gefundes Material aus der Natur, der Alltagswelt sowie aus okkul-ten, magischen oder volkstümlichen Quellen. Ein Beispiel ist das unbetitelte Gemälde an der zen-tralen Wand des Raumes. Im Zentrum des auf Kü-chentüchern gemalten Bildes stehen zwei Fi-guren mit ungewöhnlicher, rituell wirkender Kostümierung. Die extrem hohe Kopfbedeckung erinnert an die Kostümierung der bulgarischen Kukeri (кукери), einer Tradition, bei der Men-schen in Tiergestalt kostümiert und maskiert böse Geister vertreiben. Schmidhuber ist faszi-niert von den seit Jahrhunderten von Menschen aufwendig gestalteten Tierkostümen in verschie-denen Kulturkreisen, da sie von einem tiefen Re-spekt gegenüber der Natur und dem Glauben an das Übernatürliche zeugen.

Helga Schmidhuber o.T. 2015, aus der Serie

Endemisches Kollegium Präpariertes Lamm, Knöpfe,

Patches, Textil, Wolle, getrocknete Steinpilze, diverse Materialien

© Sammlung Teunen & Helga Schmidhuber

& VG Bild-Kunst, Bonn 2018

2 Die Vorstellung der Emana-tion findet sich vor allem bei Plotin (205 – 270), dem zufolge die Emanation an oberster Stelle steht. Aus ihr entsteht das Noëtische, was so viel wie Geist oder Intellekt bedeutet. Aus die-sem entwächst das Psy-chische, welches wiede-rum das Physische bedingt. Demnach steckt in jedem Objekt, jedem Ding auch ein Funken gött-licher Ausstrahlung Vgl. Johannes Dillinger: Hexen und Magie – Eine hi-storische Einführung, Cam-pus Verlag, Frankfurt am Main und New York, 2007, S. 11

3 At the core of any technological or scientific advancement lies the inherent notion of human desire for proximity and understanding. The greater the distance between the human and its subject, the greater is our longing to capture it. http://www.nikolainekh.com/invisible-hand (Stand: 10.10.2018)

4 quelle peut être la justification d'un tel assemblage, sinon de lubrifier le regard de l'homme au milieu de son domaine, et de faire glisser sa course quotidienne le long d'objets dont l'énigme est dissoute et qui ne sont plus rien que des surfaces faciles? In: Roland Barthes. Essais critiques (1964), Paris 1991, S. 21

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Die Malerin kombinierte diese Darstellung mit einer überdimensionalen Fliege, einer Wurzel und zwei weiteren Figuren, die aus einem mittelalterlichen Holz-stich stammen. Diese verdeutlichen, dass es Schmidhuber nicht um die Aus-einandersetzung mit dem Brauchtum einer spezifischen Region geht, son-dern vielmehr um den allgemeinen, menschlichen Wunsch nach Magie.Die beiden Gemälde stammen aus der Reihe Petrichor. Im Fachjargon wird das Auftreffen des Regens auf warmen Stein, ein typischer Sommerduft, als Petrichor bezeichnet. Diesen Geruch versucht Schmidhuber malerisch einzufangen. Der subjektiv-künstlerische Ansatz in ihrem Werk zeigt sich auch in den Altären, bei denen die Künstlerin intuitiv Objekte kombiniert. Diese Assemblagen wirken wie persönliche Mythologien oder Totems, bei denen einzelne Gegenstände miteinander in Beziehung treten und Geschich-ten zu erzählen beginnen.—

Hartmut Landauer

Hartmut Landauer ist ein künstlerischer Sammler. Auf Reisen und in seiner unmittelbaren Umgebung findet er kuriose oder geheimnisvolle Objekte. Doch auch in scheinbar alltäglichen, unspektakulär wirkenden Gegenstän-den entdeckt der Kunstschaffende ein ästhetisches, vielleicht sogar ma-gisches Potenzial. Seine Begeisterung für das Aufspüren dieser Dinge be-schreibt er wie folgt: „Manche Gegenstände werden zu Lebensbegleitern mit erheblicher Symbolkraft: Sie stehen stellvertretend für Personen und Gedanken, für Erlebtes, für Geschichte und Zeit. Dinge werden zu Mythen in einem eigenen Kosmos. Der Mensch will die Dinge beseelt wissen und be-greift sie als ausgelagerte Erweiterungen seines Geistes.“ Während seiner Arbeitsaufenthalte in Mittel- und Lateinamerika sowie Japan hat Landauer Fundstücke zusammengetragen, die eine beeindruckende eth-nografische Sammlung zeitgenössischer Alltagsgegenstände ergeben. Dazu gehören amüsante Zauberpülverchen oder Voodoopuppen, von denen eine Auswahl in den Vitrinen ausgestellt ist.Diese wird kombiniert mit der Arbeit Kumade II und einem japanischen Re-chen. Kumade (熊手)bezeichnet einen traditionellen japanischen Glücksbrin-ger in Form reich geschmückter Rechen, die das Glück und Geld „zusam-menkehren“ sollen. —

Böhler & Orendt + Felix Burger

Das Nürnberger Künstlerduo Matthias Böhler und Christian Orendt lässt in ihrer Kooperation mit Felix Burger die Besucherinnen und Besucher an einer Geisterbeschwörung teilhaben. Eine geheimnisvolle Maschine, die bei Reno-vierungsarbeiten in dem Luxushotel Bühlerhöhe bei Baden-Baden gefunden wurde, projiziert auf einen Tisch mit mystischen Zeichen nacheinander drei Geister. Der Geist der Vergangenheit verweist auf die Anfänge der Welt. Der

Hartmut Landauer kumade II und japanischer

Rechen (Ensemble) 2017 Metall, Plastik, Gummi,

Lack, Bambusholz © Hartmut Landauer

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Geist der Gegenwart schildert die aktuelle Verdrossenheit, während der Geist der Zukunft die Schrecken der kommenden Zeit prophezeit. In einem scheinbar moralisch überheblichen Rezitativ klagen die Betrachterinnen und Betrachter seine Vor- sowie Nachkommen für das Schlamassel (im engl. „mess“) der Welt an. Dabei zielen sie nicht auf eine Verbesserung der Ge-sellschaft ab, sondern weisen humorvoll den Menschen in seine Schranken. Denn alle Bemühungen der Menschen die Welt zu verbessern schlagen ins Gegenteil um.—

Andriy Hir

Der Ukrainer Andriy Hir beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Mythen und Legenden des Karpatengebiets in der Westukraine. In multimedialen Wer-ken hält er seine Erkenntnisse in einer eigenen künstlerischen Handschrift fest. Für seine Serie Bethlehem nutzte er vorgefertigte Kostüme und Mas-ken, die im Zusammenhang mit der Tradition der sogenannten Koliada (коляда) stehen. Hierbei handelt es sich um ein Winterfest, dessen Wur-zeln in vorchristlicher Zeit liegen. In manchen Teilen der Ukraine ist dieser Brauch mit Tier- oder Dämonenkostümen verbunden. Die Verkleideten ge-hen von Haus zu Haus, oft werden dabei Lieder, sogenannte „Bethlehem“ gesungen. Der Ursprung des Rituals ist umstritten, doch der Reiz, der von ihm ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Andriy Hir interessiert sich für die Symbolik und die spezielle Art der Kommunikation, die solchen Ritualen zu Grunde liegen. Indem er sie aus dem Zusammenhang nimmt, erhalten sie eine skulpturale Präsenz und werden zu eigentümlichen, magisch aufgela-denen Wesen.—

Maria José Arjona

Die Videoperformance En donde estás Maria? (dt.: Wo bist du, Maria?) ist Teil der Serie „The frequencies I am made of“ (dt.: Die Frequenzen, aus de-nen ich bestehe). Darin zu sehen sind die Hände der Künstlerin, die ver-schiedene zeichenhafte Bewegungen vollführen. Dazu ist eine flüsternde Stimme zu hören, welche die immer gleiche beschwörende Formel wieder-holt: Auf die Frage: „Wo bist du, Maria?“ folgt eine Aufzählung, etwa: „in den Höhlen, in den Felsen, in den Wäldern. Wo, wo bist du, Maria?“. Die sich wiederholenden Elemente, die ungewöhnlichen Hintergrundgeräusche und die Art des Vortrages lassen an magische (Beschwörungs-)Rituale denken. Es werden jedoch keine fremden Geister beschworen, vielmehr wird das ei-gene Ich angerufen, das sich nicht nur körperlich ausdrückt und verstän-digt, sondern sich auch stetig in seiner Umgebung sucht.—

Gabriela Oberkofler Votivfiguren 2016

21 Zeichnungen Aquarell auf Papier

© Gabriela Oberkofler

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Gabriela Oberkofler

Die Künstlerin Gabriela Oberkofler stammt ursprünglich aus Südtirol. Die Riten, Gebräuche und Lebensumstände ihrer Heimat inspirieren die Künstle-rin zu vielgestaltigen Werken. Die ausgestellten Zeichnungen aus der Werk-gruppe Prekäre Leben basieren auf südtiroler Votivfiguren. Der vom la-teinischen Wort votum (Gelübde) abgeleitete Begriff bezeichnet Objekte, die im Zusammenhang mit einer erfolgten oder ersehnten Heilung stehen. Da-durch erhalten Tiere, Dinge oder Objekte aus der unmittelbaren Lebenser-fahrung der ländlichen Bevölkerung eine neue erzählerische, spirituell auf-geladene Konnotation. Ein Beispiel hierfür ist die echsenförmige Figur, die auf einem der Blätter Oberkoflers zu sehen ist. Sie stellt eine Gebärmutter-kröte dar. Das bis ins Mittelalter zurückreichende Sujet wurde bis ins 20. Jahrhundert in Teilen Bayerns und Österreichs genutzt und sollte gegen (weibliche) Unfruchtbarkeit helfen. Der sich aus 20 Blättern zusammenset-zende Zyklus ist filigran und in gepunkteter Zeichenweise gestaltet. Dabei stehen die hellen und heiter wirkenden Zeichnungen der Künstlerin im Kon-trast zum Titel Prekäre Leben. Dieser verweist auf die damaligen Sorgen und Nöte der Menschen in Südtirol, die durch solche Votivfiguren gelindert werden sollten und an deren Wirkung viele glaubten.Die Tradition, Figuren aus Wachs oder anderen Materialien zu fertigen, um damit Wunder oder Zauberei zu vollbringen, lässt sich bis in mesopota-mische Zeiten zurückverfolgen. Im „Buch aller verbotenen Künste“ schrieb Johannes Hartlieb bereits von „Zauberinnen“, die aus Wachs Bildnisse und Atzmannen fertigen und diese im Freien aufhängen.—

Mathilde ter Heijne

Die Werkreihe Experimental Archeology (dt.: experimentelle Archäolo-gie) thematisiert magische Rituale und Praktiken, die bei der Herstellung von kultischen Gegenständen ausgeführt werden. Mathilde ter Heijne unter-sucht in diesem Projekt die Bedeutung und Auswirkung des Matriarchats auf Urvölker und ihre Riten. Sie versucht zu verdeutlichen, dass alternativ zu den gängigen prähistorischen patriarchalischen Erzählungen divergie-rende Erfahrungen und Szenarien existieren. Die ausgestellten Keramiken entstanden während der experimentellen Ar-chäologie-Performance Moon Rituals, bei der Frauen während eines Voll-mondheilungsrituals Keramiken brannten. Die Figuren basieren auf realen archäologischen Artefakten, welche die Künstlerin dem Buch „Die Sprache der Göttin, die Ausgrabung der verborgenen Symbole der westlichen Zivili-sation“ von Marija Gimbuta (1989) entnahm. In diesem Buch untersucht die Autorin Muster und Symbole auf prähistorischen Objekten und gleicht sie mit den modernen Forschungsansätzen der Mythologie, Archäologie und lin-guistischer Ethnographie ab. Über den Objekten befinden sich schwarze Spiegel für Wahrsagungen.—

Mathilde ter Heijne Goddess Worship

aus der Reihe Experimental

Archeology 2006 Objektinstallation

© Mathilde ter Heijne

Böhler & Orendt & Felix Burger A mess carol 2013, Rauminstallation

© Böhler & Orendt & Felix Burger

Andriy Hir Reihe Bethlehem 2018 Fotografie, © Andriy Hir

Maria José Arjona En donde estás Maria? 2016,

Videoinstallation © Maria José Arjona

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Marjolijn Dijkman

Ein wichtiges Instrument im Zusammenhang mit magischen Handlungen sind unsere Hände. Mit ihnen kommunizieren und handeln wir; doch können sie mit der richtigen, rituellen Choreografie auch unsere Welt beeinflussen? Für ihr Projekt In our hands (dt. In unseren Händen) recherchierte die nie-derländische Künstlerin Marjolijn Dijkman verschiedene Handgesten, die im Zusammenhang mit Heilungen, Zukunftsprognosen oder psychischer Beein-flussung stehen. Die Bewegungen, die aus unterschiedlichen Quellen stam-men, setzte Dijkman zu einer neuen Choreografie zusammen. Die digital konstruierten Hände werden auf beiden Seiten der Leinwand projiziert: Auf der einen Seite sind sie auf den Betrachtenden ausgerichtet, auf der ande-ren Seite weisen sie von ihm weg. Je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet, wird man zum Objekt oder zum Subjekt der ausführenden Gesten. Die dazugehörige Musik ist eine Komposition aus 18 computergenerierten, binauralen Beats. Dabei handelt es sich um Töne, die im Gehirn entstehen, wenn zwei leicht unterschiedliche Frequenzen gleichzeitig abgespielt wer-den. Bedingt durch die Differenz der Töne entsteht eine sogenannte Schwe-bung. Entdeckt wurde der Effekt durch den Physiker Heinrich Wilhelm Dove. Binaurale Töne erlangten im Zusammenhang mit alternativmedizinischen Ansätzen am Ende des 20. Jahrhunderts eine breitere öffentliche Aufmerk-samkeit. In dieser Zeit entwickelte sich die Vorstellung, durch spezielle bi-naurale Töne könnte der menschliche Geist manipuliert oder wünschens-werte mentale Zustände hergestellt werden.—

Roger Aupperle: Lumenophoren am Heuberg

Der in Rottenburg tätige Künstler Roger Aupperle setzt sich seit 2004 künstlerisch mit dem Thema Licht auseinander. In diesem Kontext hat er die Kunstfigur des „Lumenophorus“ (lumen=licht, phoros=tragen) erschaffen. Die Videoinstallation Lumenophoren auf dem Heuberg zeigt eine Gruppe dieser Lichthüte tragenden Wesen, die eine Schneewanderung über den Heuberg bei Rottenburg unternehmen. Der rituell erscheinende Prozessions- zug ist gleichermaßen faszinierend wie irritierend. Wie können diese Hüte ohne Strom leuchten? Wer sind die Trägerinnen und Träger und welchem Zweck dient dieses Ritual? Tatsächlich wurden in der Geschichte häufig ma-gische oder okkulte Handlungen institutionalisiert oder entwickelten sich zu regionalen Brauchtümern, die auf Außenstehende befremdlich wirken kön-nen. Der Zug der Lumenophoren in Aupperles Videos erinnert an unter-schiedliche nationale und regionale Traditionen in den dunklen Jahreszeiten, die auf christlichen oder heidnischen Brauchtümern basieren. Übrigens be-deutet auch der Name „Lucifer“ Lichtträger und verweist auf dessen ur-sprüngliche Mittlerfunktion in höheren Sphären. —

Maria Volokhova Jejunum Teapot V 2009

Keramik © Maria Volokhova

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Maria Volokhova & Bianca Patricia Isensee: Jejunum Teapots und Tokyotea

Während eines längeren Japanaufenthalts schuf die Designerin Maria Volok-hova eine Serie ungewöhnlicher Teegefäße aus Porzellan. Durch mehrere schlauchähnliche Röhren kann Flüssigkeit in den Bauch der Kanne gegossen und danach im unteren Bereich durch ein kleines Loch ausgeschenkt wer-den. Volokhova nennt ihre Gefäße Jejunum Teapots (dt.: Jejunum Teekan-nen). Der Begriff Jejunum, auch Leerdarm genannt, bezeichnet einen Teil des menschlichen Dünndarms. Tatsächlich erinnern die verschlungenen For-men der Porzellanarbeiten an Eingeweide. Damit spielt die gebürtige Ukrai-nerin zum einen auf das traditionelle Selbstmordritual der Samurai „Sep-puku“ an, bei dem diese sich ihre Gedärme herausschneiden. Zum anderen versinnbildlicht ihr Werk das Motiv der Transformation. Denn der lange Weg des Tees durch das Gefäß steht analog zum Weg des Tees durch den Körper, der im Zusammenhang mit japanischen Teeritualen zur inneren Verwandlung beitragen soll.Auch Bianca Patricia Isensee beschäftigte sich in ihrer Fotoserie Tokyo- tea mit der Wirkkraft der japanischen Teezeremonie. Diese stand ursprüng-lich dem Zen-Buddhismus nahe und diente als eine Form des Selbstreini-gungsprozesses. Während ihrer Teilnahme an solchen Ritualen beobachtete die Künstlerin, dass sich die Konnotation des Rituals über die letzten Jahr-hunderte sehr verändert hat. Die ursprünglich befreiende Tradition scheint heute durch ihre festgefahrenen Werte und Abläufe die Ausführenden zu er-drücken. Die Münchnerin versucht in ihren Fotografien, in denen sie eine Teezeremonie mit den Gefäßen Volokhovas authentisch nachstellt, gleicher-maßen Kritik an der Gesellschaft zu üben als auch ihre Faszination für diese magisch wirkende Zeremonie auszudrücken.—

Antonio Paucar

Der in Peru geborene Künstler Antonio Paucar thematisiert in seiner Arbeit La Purga con las Madres de las Plantas (dt.: Reinigung mit den Müttern der Pflanzen) das Gleichgewicht von Natur und Kultur bei der indigenen Be-völkerung des Amazonasgebiets. Den Künstler fasziniert die Wertschät-zung, die der Pflanzenwelt dort entgegengebracht wird. Mit Bädern, Tink-

turen, Rauch und Salben soll deren Heilkraft für den Menschen nutzbar gemacht werden. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist das Ritual der Säube-rung, bei dem der Körper von negativer Energie und Giften gereinigt werden soll. Dieses sei, so Paucar: „einerseits ein Weg zur Heilung, zur Be-freiung, andererseits eine tiefgreifende Versöh-nung mit der Natur: mit Tieren, mit Wasser, mit dem jungfräulichen Dschungel“.5 Die Säuberung erfolgt in Form von Erbrechen. Dieses körperliche

Antonio Paucar La Purga con las

Madres de las Plantas, 2016, Videoarbeit, © Antonio Paucar

Galerie Barbara Thumm

Marjolijn Dijkman In Our Hands 2015

Videoinstallation © Marjolijn Dijkman

Roger Aupperle Lumenophoren am Heuberg

2013, Fotodokument einer Aktion vom 17. Februar 2013

© Roger Aupperle

5 Pressetext zur Ausstellung In/Tangible (11. Juni – 30. Juli 2016) in der Galerie Barbara Thumm. “The purge is on the one hand the path to healing, to liberation, and on the other hand, a profound reconciliation with nature: with animals, with water, with the virgin jungle”. Vgl. http://bthumm.de/artists/antonio-paucar/gallery-exhibiti-ons/2016-intangible/ (Stand: 21.09.2018)

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Phänomen wird in der westlichen Welt, genauso wie das Essen von Insekten und Tieren, eher als abstoßend empfunden. Die Videoarbeit schlägt alterna-tive Lesarten zum westlichen Naturverständnis vor und kann als Kritik an der westlichen Konsum- und Wegwerfgesellschaft gesehen werden. Eher einem antiken Verständnis von magia naturalis entsprechend, sind die Pflan-zen und Insekten nicht abstoßend, sondern können dem Menschen helfen.—

Johanna Mangold & Jan-Hendrik Pelz mit Jonathan Meese

Für ihr Projekt Zaubertrank machten sich Johanna Mangold und Jan-Hen-drik Pelz auf die Suche nach magischen Ritualen und Gegenständen. Nach intensiver Recherche erstellten sie eine Liste mit notwendigen Zutaten für einen ultimativen Zaubertrank, für den sie über 20 verschiedene Zauberzu-taten und Herstellungsweisen kombinierten. Die Beschaffung der Materi-alien und die Durchführung der Rituale dokumentierten sie mit einer Video-kamera. Zu den Inhaltsstoffen des Tranks gehörten beispielsweise Beifuß, der vor Sonnenaufgang und während des Aufsagens eines Zauberspruch geerntet werden musste, eine Handvoll Erde vom Grab eines berühmten Künstlers, die Asche eines getrockneten und verbrannten Feuersalaman-ders oder Haar vom Kopf eines berühmten Künstlers. Für Letzteres baten sie den Künstler Jonathan Meese um eines seiner langen Haare. Dieser war so begeistert von der Idee, dass er im Zusammenhang mit dem Projekt der jungen Kunstschaffenden aus dem Abschneiden des Haars eine eigene Ar-beit schuf. Endpunkt der Arbeit ist die gemeinsame Einnahme des Zauber-tranks. Hiervon erhofften sich Mangold und Pelz, dass die magische Wir-kung des Getränks sie zum besten Künstler und zur besten Künstlerin der Welt machen würde. Der ironische Gehalt der Arbeit ist ein gutes Beispiel für heutige Annäherung an das Thema Magie und gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kunstmarkt.—

Brad Downey

Jährlich pilgern tausende Pilgerinnen und Pilger nach Lourdes zur Grotte der Bernadette. Sie erhoffen sich von ihrem Besuch Wunderheilungen oder Hilfe bei einem schwerwiegenden Problem. Neben Lourdes existieren welt-weit zahlreiche andere, angeblich wundertätige Orte, an denen sich ma-gische Dinge zugetragen haben sollen. Für ein Kunst-am-Bau-Projekt für ein Krankenhaus in Schweden besuchte der Künstler Brad Downey mehrere dieser Orte. Im Vorfeld hatte er einzelne Objekte aus dem Gebäude, etwa einen Türgriff, ein Stück Boden oder eine Heizung, ausgebaut, um sie auf seine Reisen mitzunehmen. Vor Ort wurden sie magisch aufgeladen und später wieder ins Gebäude integriert. Dort sol-len die nun heilenden Alltagsobjekte den schwedischen Patientinnen und Pa-

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tienten bei ihrer Genesung helfen. Downey spielt mit dieser Aktion darauf an, dass Wunder nicht immer sichtbar sind und wie wichtig der Glaube für die Existenz von Magie ist. —

Jürgen Klauke

Jürgen Klauke ist ein Pionier der inszenierten Fotografie. Bereits seit 1970 untersucht er anhand der szenischen Darstellung seines eigenen Körpers die Ausdrucksmöglichkeiten des Mediums und schafft es dabei, mentale Grenzzustände zu visualisieren. Depression, Paranoia, Langeweile oder die geschlechtliche Identität sind Themen, welche er durch die Linse der Ka-mera abbildet und auf bedrückende, manchmal provokante Weise verständ-lich macht. In der Arbeit Entrückungserlebnis sieht man den Künstler in Sitzposition auf einem Tisch. Doch befindet sich unter seinem Körper kein Stuhl. Dieser ist an die Stelle seines Kopfes gewandert. Die Verschiebung und Manipulation der Realität gibt der Fotografie gleichzeitig etwas Ko-misches wie Unangenehmes.—

Jeremy Shaw

Der gebürtige Kanadier Jeremy Shaw beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit transzendentalen Erfahrungen sowie Formen von Bewusstseinserweite-rungen in verschiedenen religiösen, kulturellen oder wissenschaftlichen Zu-sammenhängen. Er untersucht beispielsweise Rauschzustände durch Dro-gen oder die Ekstase in spirituellen Zeremonien. Ob im religiösen oder im Partykontext, der Mensch sucht stets nach Mit-teln, sein Bewusstsein zu erweitern oder auszuschalten. Organisierte Reli-gion, so Shaw, scheine im Westen zu verschwinden, stattdessen würde „aber zunehmend nach anderen Wegen gesucht, ekstatische Zustände zu erreichen – oft in einer Kombination aus östlicher Spiritualität und verschie-denen esoterischen, geistigen und körperlichen Techniken. […] Vielleicht werden wir einmal eine universelle Technik dafür entwickeln – eine alchemi-stische Kombination aus den Tausenden unterschiedlichen Praktiken, die uns alle zur absoluten, endlosen, totalen ekstatischen Transzendenz führt.“ 6 Für die Arbeit aus der Reihe Illustrated Rapture Catalogue (dt. etwa: Il-lustrierter Katalog des Rauschs) greift der Künstler auf bestehendes Mate-rial zurück, in dem Menschen in entrückten Zuständen zu sehen sind. Die gefundenen Fotografien werden von Shaw in Prismen aufgegliedert, sodass

ein kaleidoskopartiger, vielleicht psychedelischer Eindruck entsteht. Dieses Verfahren erlaubt es dem Künstler, einzelne Teile des Bildes zu fokus-sieren. Der kaleidoskopartige Eindruck entsteht durch die verschwommene Vervielfältigung der Arme der Menschen, die dem Mann ihre Hände

Jürgen Klauke Entrückungserlebnis

1990/1992, (Auflage 3), Fotografie © Jürgen Klauke

& VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Jeremy Shaw Illustrated Rapture Catalogue

(Laying of the Hands 1991/Toysmith Optics Spiral) 2014, Siedruck © Jeremy

Shaw / König Galerie Berlin

6 Vgl.: Rausch und Regel – Ekstase als künstle-risches Verfahren: Fragen an Jeremy Shaw; In: Kultustiftung des Bundes (Hrsg.): Andere Zustände, Kultustiftung des Bundes, Das Magazin #30, Früh- ling/Sommer, 2018 S.6

Johanna Mangold & Jan-Hendrik Pelz Magic Potion

Videoarbeit und Fotografie © Johanna Mangold &

Jan Hendrik Pelz

Brad Downey Türklingen im Dragon Cave

Temple Phang Nga Fotodokumentation zum Kunst-am-

Bau-Projekt für das Södertälje Krankenhaus in Schweden, 2017

© Brad Downey

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auf die Stirn legen wollen. So wirkt es, als wäre der vorgelehnte Mann auf der Fotografie von einem übernatürlichen Kraftfeld umgeben.—

Anna und Bernhard Blume

In der Romantik wurde der Wald zum deutschen Nationalmythos stilisiert. Bis heute prägt er unsere kulturelle Identität sowie unsere Märchen- und Sagenwelt. In Anspielung auf den deutschen Wald schuf das Künstlerehe-paar Anna und Bernhard Blume den Zyklus Im Wald (1982 – 1991). Mit An-spielungen auf Motiven in Anlehnung an kunsthistorische Ikonografie, kultu-relle Eigenarten und religiöse Naturkulte versuchen die beiden Wahlkölner unser Verständnis von Natur und unser Verhalten ihr gegenüber zu hinterfra-gen. Dabei wählt das Duo einen humorvollen Ton zur Kritik an der Überhö-hung des Menschen gegenüber der Natur. Im Zentrum der vier ausgestell-ten großformatigen Schwarzweißfotografien steht das erneute Eins-Werden des Menschen mit der Natur. Die Darstellungen auf den vier Fotografien ru-fen unweigerlich andere, innere Bilder und Assoziationen hervor. So erin-nern einige der Abbildungen an Naturkulte, die mit verschiedenen Übungen und Ritualen den erneuten Einklang mit der Natur erreichen wollen. Durch die scheinbar schwebenden Personen, die leicht verwackelt und ver-schwommen wirkenden Aufnahmen und die Wahl von Schwarzweißfotogra-fie verleihen den Abbildungen etwas Magisches.—

Lili Fischer

In der Ethnologie ist der Begriff „Animismus“ als religiös-weltanschaulich ge-prägter Seelenglaube konnotiert, der eng mit dem Naturverständnis ver-schiedener Natur- und Urvölkern einhergeht. Der Glaube an die Beseelung aller Dinge sowie das Anstreben einer neuen Einheit von Natur und Mensch spielte auch in der Vorstellung der Romantik eine große Rolle. Mit diesen Vorstellungen und Auffassungen hat sich die Hamburgerin Lili Fischer seit ih-rem Studium befasst. Sie bilden den Kern ihrer performativen und bild- nerischen Arbeit. Als Vorarbeit, methodisch dem Prinzip der Feldforschung folgend, sammelt und katalogisiert sie akribisch alles zu dem zu bearbeiten-den Thema. Ihre Performances, die zwischen wissenschaftlichen Naturstu- dien und spiritueller Heilkunde zu verorten sind, schaffen es, Magie und Ri-tual kritisch zu hinterfragen und zugleich ernst zu nehmen. Durch ihre Aktionen versucht sie ihr Publikum sensibilisieren. Die ausgestellten Künst-lerbücher sind Zeugnisse ihres Schaffensprozesse und eröffnen neue Blick-winkel auf alltägliche und unbedeutende Dinge.—

Anna und Bernhard Blume Auszüge aus der Reihe Im Wald

1982 – 1991, Fotografie © Anna und Bernhard Blume & VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Die Künstlerin Lili Fischer © Lili Fischer

boesner GmbHIm Starkfeld 1 · 89231 Neu-Ulm

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+ Benedikt Hipp Die Gemälde und Skulpturen des Künstlers Benedikt Hipp (*1977, lebt und arbeitet in München und Amsterdam) besitzen eine eigentümliche, mythi-sche Ausstrahlung, von der eine besondere Faszination ausgeht. Der Ver-such, die eindringliche Wirkung seiner Arbeiten in Worte zu fassen, erweist sich indes als schwierig. Es scheint, als wollten sich die Arbeiten jedweder Kategorisierung entziehen: Sie sind weder abstrakt noch gegenständlich. Sie deuten Erzählungen an, bleiben gleichzeitig aber stumm. Glaubt man etwas zu erkennen, löst es sich im nächsten Moment wieder auf. Es ist, als würde man einen schwarzen Ölspiegel betrachten, in dessen Oberfläche sich die Wirklichkeit verzerrt spiegelt und dessen Grund im Verborgenen bleibt.

Zum besseren Verständnis der komplexen Gesamtwirkung des Hippschen Bildkosmos hilft es, sich anzuschauen, wie der Künstler unterschiedliche technische sowie inhaltliche Komponenten miteinander zu einem kohären-ten Ganzen verschmilzt und dabei eine eigenständige Ästhetik entwickelt, welche die Betrachterinnen und Betrachter in der Schwebe hält.

Ein gutes Beispiel für die technische Herangehensweise des Künstlers sind die Werke der Serie Neonatal Refractions. Ebene monochrome oder mit Farbverlauf angelegte Flächen bilden den Hintergrund für vorwiegend orga-nisch gehaltene Formen. Hipp arbeitet sowohl mit sich überlappenden Farb-feldern in schnellem, kurvigem Duktus als auch mit zart lasierend aufgetra-genen Farbverläufen. Dynamisch wirkende, kleinteilige Bereiche treffen auf große ruhige Flächen, harte auf weiche Elemente. Durch dieses Zusammen-spiel unterschiedlicher Texturen, Techniken und Formen dynamisiert der Maler den Bildträger und schafft eine spannungsvolle Komposition. Mitunter bricht Hipp die Ordnung zusätzlich durch die Verwendung anderer Materi-alien, etwa beim Werk Neonatal Refractions IX, bei dem er hologra-fischen Glitzer einsetzt.

Die Skulpturen funktionieren nach einem ähnlichen, kombinatorischen Prin-zip. Bei ihnen spielt, stärker noch als in der Malerei, die Zusammenstellung unterschiedlicher Materialien eine tragende Rolle. Die Werkangaben zu Converted system with lung and spiracle ( : offering : ), (pneumo-pathologic studies) (dt. etwa: Umgewandeltes System mit Lunge und Atemloch ( : Opfer : ), (pneumopathologische Studien) lesen sich beispiels-weise eindrucksvoll: Eisen, Steckverbinder, Beton, Kupfer, Kunstleder, Neo-pren, Edelstahl, Holz, Isolationsmatte, Epoxy, Gips, Farbe, Seil. Jedes Ele-ment trägt seinen Teil zum Gesamten bei und bleibt dennoch eigenständig. Auffällig ist, dass mit Ausnahme des Holzes alle hier angewandten Materi-alien anorganischen Ursprungs sind, während der Titel mit Begriffen aus der menschlichen Anatomie spielt.

Tatsächlich zieht sich die Andeutung von Körperformen wie ein roter Faden durch Hipps Œuvre. Im Falle von Converted system with lung and spi-racle ( : offering : ), (pneumopathologic studies) erinnern die weißen Gipsformen an die im Titel angedeuteten Lungenflügel. Doch der umge-

Benedikt Hipp: Converted system with lung and spiracle ( : offering : ),

(pneumopathologic studies) 2015 Eisen, Steckverbinder, Beton, Kupfer, Kunstleder, Neopren, Edelstahl, Holz,

Isolationsmatte, Epoxy, Gips, Farbe, Seil, Foto: Max Reitmeier, © Galerie Kadel

Willborn, Düsseldorf; MONITOR, Rom/Lissabon; Galerie Nicolas Krupp,

Basel; Benedikt Hipp

Benedikt Hipp Neonatal Refractions N°9 2016,

Öl und holografischer Glitzer auf Holz, Foto: Ramona Cyann Antonides, © Sammlung Dohmes, Aachen

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Benedikt Hipp: Kolk, 2012, Öl auf MDF,

Foto: Max Reitmeier, © Sammlung Dohmes,

Aachen

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bende Metallkasten hat nichts mit einem menschlichen Körper gemein. Der trapezförmig nach hinten erhöhte Quader erinnert eher an ein Werk der Mi-nimal Art oder an ein geometrisches Gehäuse, das die Arbeit rahmt. Trotz der vornehmlichen Ungegenständlichkeit erinnert die Komposition entfernt an einen Altar, auf dem die zwei gipsernen Lungenflügel wie eine Opfergabe präsentiert werden. Die lebensnotwendigen Organe erscheinen in diesem Kontext daher wie ein Sinnbild für das Leben als auch für die Vergänglich-keit des Menschen. Ähnlich funktioniert auch The individual (pneumopa-thologic studies), bei dem ein rippenähnliches Gebilde aus Neonröhren auf einem Betonsockel ruht. Knochen lassen schnell an Überreste ver-gangenen Lebens denken, während das Aufscheinen und Erlöschen des Lichts menschliches Ein- und Ausatmen impliziert.

Auch in den Gemälden sind immer wieder Verweise auf Versatzstücke der menschlichen Anatomie zu erkennen. Anders als bei der neueren Serie Ne-onatal Refractions, die nur entfernt an die Kontur eines Menschen denken lassen, ist die Präsenz des Leiblichen in früheren Werken stärker zu spüren.

Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Kolk aus dem Jahr 2012. Die Figur im Zen-trum erinnert stark an einen schwebenden menschlichen Körper. Details, Extremitäten oder ein Gesicht fehlen allerdings. Stattdessen ist der Korpus mit einer schuppigen Oberfläche bedeckt, die an die Struktur eines Tannen-zapfens oder an Baumrinde erinnert. Das Wort Kolk bezeichnet eine was-sergefüllte Vertiefung, etwa in Mooren, in Flussbetten oder an der Küste. Die schwarzen Bereiche auf der geschuppten Fläche können an solche Lö-cher erinnern. Die Ungewissheit bezüglich der Herkunft, der Bedeutung und der Identität der Figur gibt ihr eine unheimliche Atmosphäre. Auch die Verortung des Mo-tivs bleibt unbestimmt. Der bühnenhaft wirkende Hintergrund erhält durch den Schatten am Boden und die an eine Bretterwand erinnernden Querstrei-fen eine Räumlichkeit, die jedoch so stark vereinfacht ist, dass ihr eher eine verweisende Funktion zukommt. Dieses konzentrierte Verhältnis von Figur und Hintergrund erinnert an Bildaufbauten frühmittelalterlicher Ikonen. Da bei diesen die Vermittlung eines geistigen Gehalts wichtiger ist als die prä-zise Wiedergabe der Realität, werden weltliche Motive stark vereinfacht wie-dergegeben. Dadurch findet, genau wie bei Hipp, eine Konzentration auf das zentrale Motiv statt.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht wenig verwunderlich, dass Hipp den Meister der Frührenaissance Fra Angelico zu seinen künstlerischen Vorbil-dern zählt. Im gleichen Atemzug nennt er jedoch auch abstrakte Malerinnen und Maler, etwa Agnes Martin oder Sean Scully, deren Einfluss sich viel-leicht in den Werken I am abstract when I get up early (dt. etwa: Wenn ich früh aufstehe, bin ich abstrakt) und Cricked Modernitey (with hand) (dt. etwa: Verrenkte Moderne (mit Hand)) ablesen lässt.

Auf den ersten Blick haben diese kunsthistorischen Größen wenig miteinan-der zu tun. Tatsächlich aber haben alle gemein, dass sie mit ihrer Kunst auf

der Suche nach einer besonderen Aura im Bild waren. Ob ein Mensch nun anatomisch korrekt dargestellt ist oder nicht, spielt für keinen der Genann-ten eine Rolle. Der Wahrheitsgehalt eines Bildes definiert sich für sie nicht durch sein Verhältnis zur sichtbaren Realität. Oft ermöglicht das Abstrakte, Unbestimmte einen neuen, vielleicht besseren Blick auf unsere Welt.

Inspiration findet Hipp nicht nur in der Kunstgeschichte. An der Pinnwand in seinem Atelier hängen Abbildungen hydrothermaler Tiefseequellen, mittelal-terlicher Holzschnitzerei oder archäologischer Funde, die auf unterschied-liche Weise Eingang in die Bildwelt des Künstlers erhalten. Eine wichtige Bildquelle für seine Kunst findet er zudem in Votivfiguren. Votivfiguren sind aus Blech, Holz, Wachs oder Eisen hergestellte Objekte, Tiere oder Körper-teile, die einem Heiligen gewidmet werden und einer Bitte oder einem Dank plastischen Ausdruck verleihen. In Bayern wurde häufig Wachs für die Ob-jekte benutzt. Benedikt Hipps Heimat in Pfaffenhofen a.d. Ilm kann bei-spielsweise das Lebzelter- und Wachszieherei-Museum besucht werden, in dem eine Vielzahl solcher wächserner Votivfiguren zu bewundern ist. Dank der Familiengeschichte und der umfangreichen Sammlung des Vaters wurde Hipp früh mit der Bildwelt und den Vorstellungen der Votivgaben vertraut. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass die faszinierenden Objekte, an die so viele menschliche Wünsche, Hoffnungen und Sorgen gekoppelt wurden, ei-nen starken Eindruck hinterlassen haben.

Eine mögliche Referenz an die Herstellung solcher Wachsfiguren ist die Ar-beit Treatment of 15 – 18 grams, (pneumopathologic studies) (dt.: Behandlung von 15 – 18 Gramm (pneumopathologische Studien). Auf einem dreibeinigen Metallgestell befindet sich ein Korpus aus Lehm, Gras, Ästen und Leinölkitt, der sowohl an eine Höhle als auch an einen geöffneten menschlichen Leib erinnern kann. Im Zentrum dieses Gehäuses läuft ein Vi-deo. Es zeigt die Hände des Künstlers, die ein totes Rotkehlchen durch heißes, flüssiges Wachs ziehen. Die im Titel erwähnten 15 – 18 Gramm sind zum einen das Durchschnittsgewicht eines Rotkehlchens, zum anderen ist die Angabe eine Anspielung auf die berühmte Messung des „Gewichts der Seele“.7

7 Der US-amerikanische Arzt Duncan MacDougall hatte Anfang des 20. Jahrhunderts mit Hilfe einer Präzisionswaage die Gewichtsänderung beim Eintritt des Todes gemessen. Diese betrage, je nach Körpergröße des Verstorbenen, ca. 21 Gramm. Für den Arzt war damit klar, dass dieser Gewichtsverlust mit dem Austreten der Seele aus dem Körper zu begründen sei, weswegen er das Gewicht der Seele mit dieser Zahl bezifferte.

Benedikt Hipp Treatment of 15 – 18 grams,

(pneumopathologic studies) 2015 Videoloop auf digitalem Bilderrahmen,

Lehm, Gras, Äste, Leinölkitt, Epoxy, Aluminiumguss

Foto: Max Reitmeier, © Galerie Kadel Willborn, Düsseldorf;

MONITOR, Rom/Lissabon; Galerie Nicolas Krupp, Basel; Benedikt Hipp

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Dieses Textheft erscheint anlässlich der Ausstellung

Magie und Ritual ¬ + Benedikt Hipp

vom 04. November 2018 bis 10. Februar 2019 im Museum Villa Rot in Burgrieden-Rot

Herausgeber

Hoenes-Stiftung und Marco Hompes M.A., Museum Villa Rot

Titelbild

Bianca Patricia Isensee Aus der Serie Tokyotea 2009 Fotografie, © Bianca Patricia Isensee & VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Texte

Marco Hompes Elisa Ludwig

Lektorat

Ulrika Barthold Anette Fetscher

Gestaltung

MüllerHocke, Eva Hocke

© 2018 der Publikation beim Herausgeber, der Texte bei den Autoren und der Abbildungen, soweit nicht anders vermerkt, bei den Künstlerinnen und Künstlern sowie den Fotografinnen und Fotografen

Die Museumspädagogik

wird gefördert von

Danksagung

Mein Dank geht an alle Künstlerinnen und Künstler, die ihre Werke für die Ausstel-lungen zur Verfügung gestellt haben. Danke auch an die Galerie Barbara Thumm Berlin, die König Galerie in Berlin, die Galerie Kadel Willborn in Düsseldorf, die Galerie Klaus Gerrit Friese, die Galerie MONITOR, Rom/Lissabon und die Galerie Nicolas Krupp, Basel für die gute Zusammenarbeit. Leihgaben erhielten wir von privaten Sammlerinnen und Sammler, die uns großzügig ihre Werke von Benedikt Hipp und Helga Schmidhuber ausgeliehen haben.

Als privat getragenen Haus sind wir auf die Unterstützung von Förderinnen und Fördern angewiesen, die uns mit großen, kleinen und Sachspenden unterstützen. Ganz herzlichen Dank, dass Sie unsere Arbeit erst möglich machen!

Ebenfalls essenziell für das Gelingen der Ausstellung war das gesamte Team. Danke an Ulrika Barthold und Anette Fetscher für ihren Einsatz, Thomas Halder für seine handwerklichen und fachmännischen Leistungen, Silvia und Gebhard Link für die kulinarische Versorgung, Cornelia Rotthoff, die den Überblick über die Finanzen behält, Eva Hocke für die gute Zusammenarbeit beim Layout, der Familie Ruess, Karl Blohorn, den Kassenkräften und dem Vermitt-lungsteam.

Im Rahmen ihres Praktikums hat Elisa Ludwig uns tatkräftig unterstützt und sich mit guten Ideen eingebracht. Vielen lieben Dank für die Zusammenarbeit! Ich hoffe, die Zeit war lehrreich für dich.

Ein letzter Dank geht an den Stiftungsvor-stand für sein Vertrauen in unsere Arbeit.

Marco Hompes

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83 Burgrieden – Rot

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i – Sa 14 – 17 Uhr So u Ft 11 – 17 Uhr