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Das Yin-Yang-Zeichen als komplementäres Symbol - eine Strukturanalyse des semantischen Bestandes und Interpretation im Rahmen der Geschichte der Philosophie von Platon bis zu Niels Bohr „Philosophie, das heißt: suchend auf dem Wege sein“, sagt Karl Jaspers mit einer wunderbaren Formel 1 . Es ist eine endgültige Formel, wenn wir ins Auge fassen, wohin der Weg führen soll. Man sucht als Freund der Weisheit –das ist der Wortsinn vom griechischen ‚philosophos‘- einen Weg, der zu einem persönlichen inneren Frieden führen könnte und auch zum äußeren Frieden in jedem Lebenskreis, wie weit oder eng wir ihn auch ziehen. Dabei geht es um Fragen, die sich fast jeder Mensch heute stellt, die sich Menschen wohl immer schon gestellt haben: Warum ist nicht nichts? Woher kommt das Leben? Woher kommt der Mensch? Woher komme ich selbst ? Und wohin geht das alles? Was ist der Sinn der menschlichen Existenz? Was ist der Sinn meines persönlichen Lebens? Das sind die schwierigsten Fragen überhaupt und immer schon hat der Mensch Bilder und Symbole gesucht, um sich seine Antworten anschaulich zu machen. Das anschaulichste und schönste und auch genialste Symbol für dieses Auf-dem-Wege-Sein des Menschen überhaupt ist in meinen Augen das Yin-Yang-Symbol. Jeder kennt es. Es soll hier aus seinem Zeichenbestand heraus aufgebaut und je in dem Auf-dem Wege-Sein des philosophierenden Menschen ausgedeutet werden. Der tragende Grund des Yin-Yang-Symbols ist der umfassende Kreis : Angeschaut in der Sonne gilt er oder sie den Menschen schon immer als Symbol der Vollkommenheit und des Göttlichen. So galt der Sonnengott Re oder Aton schon den Ägyptern des Alten Reiches, also vor rund 5000 Jahren als Instanz der Schöpfung. Aber es gab daneben im alten Ägypten noch zahllose andere Gottheiten, Tiergottheiten wie der Horusfalke, menschengestaltige Gottheiten mit Krokodil-oder Schakalkopf, zuständig für bestimmte Lebensbereiche und die Todesmythen neben ungezählten Gottheiten mit bloß regionaler Bedeutung. __________________ 1 Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie.Tübingen 1957.S.14 -1-

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Das Yin-Yang-Zeichen als komplementäres Symbol - eineStrukturanalyse des semantischen Bestandes und Interpretation imRahmen der Geschichte der Philosophie von Platon bis zu Niels Bohr

„Philosophie, das heißt: suchend auf dem Wege sein“, sagt Karl Jaspersmit einer wunderbaren Formel1. Es ist eine endgültige Formel, wenn wir insAuge fassen, wohin der Weg führen soll. Man sucht als Freund der Weisheit–das ist der Wortsinn vom griechischen ‚philosophos‘- einen Weg, der zueinem persönlichen inneren Frieden führen könnte und auch zum äußerenFrieden in jedem Lebenskreis, wie weit oder eng wir ihn auch ziehen.

Dabei geht es um Fragen, die sich fast jeder Mensch heute stellt, die sichMenschen wohl immer schon gestellt haben: Warum ist nicht nichts?Woher kommt das Leben? Woher kommt der Mensch? Woher kommeich selbst ? Und wohin geht das alles? Was ist der Sinn dermenschlichen Existenz? Was ist der Sinn meines persönlichenLebens?

Das sind die schwierigsten Fragen überhaupt und immer schon hat derMensch Bilder und Symbole gesucht, um sich seine Antworten anschaulichzu machen.

Das anschaulichste und schönste und auchgenialste Symbol für dieses Auf-dem-Wege-Seindes Menschen überhaupt ist in meinen Augen dasYin-Yang-Symbol. Jeder kennt es. Es soll hier ausseinem Zeichenbestand heraus aufgebaut und jein dem Auf-dem Wege-Sein desphilosophierenden Menschen ausgedeutetwerden.

Der tragende Grund des Yin-Yang-Symbols ist derumfassende Kreis : Angeschaut in der Sonne gilt er oder sie denMenschen schon immer als Symbol derVollkommenheit und des Göttlichen.

So galt der Sonnengott Re oder Aton schon den Ägyptern des AltenReiches, also vor rund 5000 Jahren als Instanz der Schöpfung. Aber es gabdaneben im alten Ägypten noch zahllose andere Gottheiten, Tiergottheitenwie der Horusfalke, menschengestaltige Gottheiten mit Krokodil-oderSchakalkopf, zuständig für bestimmte Lebensbereiche und dieTodesmythen neben ungezählten Gottheiten mit bloß regionaler Bedeutung.__________________

1 Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie.Tübingen 1957.S.14

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Erstmalig hat der Pharao Echnaton aus der 18. Dynastie aus dem Neuen Reich,etwa 1350 v.Chr. die Vielfalt der Tier- und sonstigen Gottheiten aufgegeben. Erhat erkannt, dass letztlich die Sonne die Ursache allen Lebens auf der Erde istund daher hat er sie selbst als einzige Gottheit anerkannt. Es gibt noch einSteinfragment aus der neuen Hauptstadt Amarna mit einem sehr schönen Relief,das dies dokumentiert2:

Das Relief zeigt den Pharao Echnaton und Nofretete (links) nicht als Gottheitenneben anderen, sondern als Menschen unter der Sonne, ihr also untergeordnet.Die Strahlen der Sonne schenken ihnen mit Flammenhänden Kraft undErleuchtung. Das Relief erinnert an die Pfingstgeschichte von der Ausgießungdes Heiligen Geistes. Daraus freilich leiten der Pharao und seine Gattin ihreGottesstellvertreterschaft auf Erden ab, also ihren papstgleichen Hohepriester-Status. Dieses ist der erste in der Geschichte der Menschheit nachweisbareVersuch einer monotheistischen Religion. Dieser Versuch hat Echnaton kaumüberlebt. Nach seinem Tode war in Ägypten alles wie vorher, alle Erinnerungenan Echnaton wurden systematisch ausgelöscht. Von hier aber hatmöglicherweise Moses die Vorstellung von einem einzigen Gott mitgenommen.

_________________2 eigenes Photo: Pergamonmuseum, Berlin

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Gott allerdings wurde von Moses nicht mit der Sonne gleichgesetzt,sondern war ein nicht-materielles Wesen über der Sonne, dem selbstsie ihren Ursprung verdankt, wie die Schöpfungsgeschichte des AltenTestaments bezeugt.In der griechischen Welt finden erst Platon und sein LehrerSokrates (um 400 v.Chr.) zu dieser Überzeugung. Für Platon ist dieSonne in seinem wunderschönen und berühmten Höhlengleichnis inder materiellen Welt nur Symbol einer letzten Ursache in einer nicht-materiellen Welt. Wegen dieser Vorstellungen wurde Sokrates derGottlosigkeit angeklagt und mit dem Tod durch den Schierlingsbecherbestraft. Zurück zum Kreis als Symbol des Göttlichen!

Die Betrachtung des Kreises stiftet Ruhe.Aber genau deswegen ist er –dynamischbetrachtet, im Kreisen mit den Blickenseinem Verlauf folgend- das eigentlicheSymbol zeitlosen und geschichtslosenSeins: Alles wiederholt sich in ewiger Folge,nichts ist einmalig; jeder Anfang istwillkürliche Setzung und er findet keinanderes als das willkürlich gesetzte Ende. Eigentlich gibt es in diesem Bild keinenRaum für Leben mit einer gesetzten Fristzwischen Geburt und Tod; es gibt keineDauer und es gibt in diesem Sinne keineZeit, sondern es gibt nur zeitloses,platonisch gesprochen: ideales Sein.

LaoTse hat hierfür vor 2500 Jahren den angemessenen Ausdruckgefunden:„Es gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet. Bevor die Erdeund der Himmel waren, ist es schon da, so still, so einsam. Alleinsteht es und es ändert sich nicht. Im Kreis steht es und gefährdet sichnicht. Man kann es nennen die Mutter der Welt" 3. Das ist wunderschön gesagt.Die Zeilen deuten aber an, dass dem Denker in dem Symbol des wuji,des leer gedachten Kreises etwas fehlt: Der Geist ruht hier

sozusagen in sich selbst und es geschieht nichts. Bunte Vielheit,Lärm, Gefährdung und Endlichkeit, spannungserzeugendePolaritäten, die Bedingungen menschlicher Existenz und des Lebens,des In-der-Welt-Seins und des Weltseins überhaupt fehlen in diesemBild des wuji vollständig.

Es fehlt noch etwas im leer gedachten Kreis.Das Bild verschweigt, dass es in seinem Innersten einen Punktenthält, der ihm nicht selbst zugehört, nämlich den Mittelpunkt. Ihmverdankt der Kreis dennoch seine Existenz, und im Umlauf außenauf dem Kreis ist grundsätzlich keine Annäherung an den Mittelpunktmöglich. An jedem Punkt des Kreises ist man gleich weit von ihm entfernt. Dabei läge in ihm, dem Mittelpunkt –symbolisch gesprochen-die transzendente Kraft, das Innere des Kreises selbst mit Welt zubeleben4.____________________3 Mayer-Tasch, Peter Cornelius (Hrsg.):Die Zeichen der Natur. Frankfurt/M.

2001. S. 299. Hier findet sich der Hinweis, dass sich die sumerischeEinteilung des Kreises in 360° aus der täglichen Bewegung der Sonne aufder Ekliptik im Verlauf des Jahres ableitet, also wohl auch aus einemSonnenkult.

4 Saur, Karl: Transzendenz als Wirklichkeit - Beiträge zu einem modernenWeltbild. Bd.I. Hamburg 1965

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In den Überzeugungen des tibetischen Buddhismus gebenBewegungen im Kreis allen rituellen Bemühungen ein spirituellesZentrum, von hier erhalten sie auch ihren rituellen Sinn. So wird derwunderschön geformte und imposante Berg Kailash in Tibet als heiligerMittelpunkt des äußeren und inneren Universums gedacht, den man niebetreten darf und nie betritt, sondern nur unter größter körperlicher undgeistiger Anstrengung umrundet. Ziel des Umrundens ist nicht dasMeistern der alltäglichen Existenz, sondern die Annäherung der Seelean das Nirwana, in dem alle irdischen, alle materiellen Widersprücheaufgehoben sind5.

So „für sich allein“ aber ist im wuji-Symbol ist kein Raum für Leben inder Welt, für die Dinge der Welt, für ihre Unvollkommenheiten, für ihreWidersprüche und Brüche, die die Entwicklung von Leben vorantreiben.Es ist keinen Ort für die Dissonanzen des Lebens, die auf Auflösung hindrängen. Es gibt hier keinerlei Dialektik. Der dialektische Denkerkann beim wuji nicht stehenbleiben.

Nach Platon hat Gott die Dinge der materiellen Welt als Abbilder seinergeistigen Ideen geschaffen. Diese Ideen sind ewig und sie sindvollkommen. Die materiellen Abbilder der Ideen hingegen sind nurunvollkommene Realisierungen. Daher haben alle Dinge der Welt ihrenAnfang und ihr Ende in der Zeit und sind endlich.Die höchste Idee Gottes ist die Idee des Einen, des Guten, des Wahrenund des Schönen. Sie sieht Platon in seinen berühmten Gleichnissendurch die Sonne symbolisiert.

Um die der Aussagekraft des wuji-Symbolszu erhöhen liegt es nahe, einen Kreis miteinem ihn berührenden Innenkreis zuwählen, der durch den Mittelpunkt des erstenverläuft. Immerhin stellt dies als Symbol schonMehrzahl dar. Die Geometrie des Berührensermöglicht ein fließendes Heraustreten aus

dem ewigen Umlauf in die innere Kreisbahn.Wenn wir das Umlaufen symbolisch einerunsterblichen Seele zuordnen, geschieht dasHeraustreten aus dem Umlauf sozusagenohne Aufwand spiritueller Energie. Der innereKreis vermag die Zeitlichkeit undGeschichtlichkeit des Lebens mit einemAnfang und einem Ende zu symbolisieren. Das Innere des Kreises ist nicht mehr Bilddes Nichts, sondern von Welt und Dingen.Was entsteht, entsteht nicht aus dem Nichts,sondern verdankt seine Existenz dem immerschon Seienden. Die von Platon geforderteTeilhabe an der Vollkommenheit der Idee istebenfalls gesichert, denn der Innenkreis istdas Abbild des Umkreises. Außerdem führtein Durchlaufen auch durch dessentranszendenten Mittelpunkt.

Dieses Bild ist als Symbol zweifellos schonsehr stark in der Aussage. Aber es hat immernoch zwei Mängel:

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5 Ganz entsprechend können die konzentrischen Kreiswälle um den berühmtenSteinkreis von Stonehenge gedeutet werden, der vermutlich ein Allerheiligstesmarkierte, das möglicherweise nur von Priestern betreten werden durfte undoffenbar auf einen bestimmten Stand der Sonne ausgerichtet war. JochenWinter spekuliert in diesem Zusammenhang über einen etymologischenZusammenhang der lateinischen Wörter 'templum' und 'tempus'. Winter,Jochen: Die Transparenz des Kreises. In: Mayer-Tasch, a.a.O. S.301

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18.05.13 00:03Erstens kann in ihm nicht die Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit der Existenz begriffen werde… ohne die andere existieren. Die beiden Seiten sind in einem ganz strengen Sinne komplementär.

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Erstens kann in ihm nicht die Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit der Existenz begriffenwerden, denn der innere und auch der äußere Kreis können immer wieder durchlaufenwerden. Somit ist ein strenger Begriff von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, nämlich alsbefristete und unwiderrufliche Dauer nicht dargestellt.

Zweitens ist für Platon ein Abbild notwendig schlechter als das Urbild. Dieses Bild abervermag dennoch nicht die Unvollkommenheit in der Welt, nicht ihre Brüche, nicht dieWidersprüche, in denen wir leben, zu symbolisieren.Das Yin-Yang-Symbol bewahrt die gedanklichen Stärken des vorigen Zeichens, dennes bleibt bei genau diesem inneren Kreis. Aber es löst die denkerischen Defizite desKreises im Kreis auf genial einfache Weise:Es bricht den inneren Kreis auf in zwei Halbkreise und setzt diese auf einergemeinsamen Achse aneinander. So ist der alte Innenkreis noch da, aber seineVollkommenheit ist gebrochen und es entsteht etwas einmalig Neues und zugleichUnvollkommenheit bei Teilhabe an der Vollkommenheit.

Es ist aufschlussreich , vielleicht sogar verblüffend und beglückend, zu verfolgen, wiedie Gesamtfigur entsteht. Dieses Entstehen der Symbolgeometrie kann man sich nurschwer im Kopf allein vorstellen. Es wird daher hier in ein paar Schritte auseinandergelegt.

Man achte bitte einmal auf Folgendes: Die Grundstruktur des Yin-Yang-Symbols entsteht dabeikeineswegs so wie die zwei Seiten einer Münze. Diesekönnten prinzipiell nacheinander auf den Rohling aufgeprägtwerden und unabhängig voneinander existieren. Bei derBetrachtung der einen fertigen Seite einer Münze in der Handkann man nicht wissen, welches Prägungsjahr die andereSeite zeigt. Man kann sich hier ohne Weiteres vorstellen,dass die andere Seite der Münze fehlerhaft geprägt odersogar ganz leer ist. Bei der Yin-Yang-Struktur ist das grundsätzlich anders:Man zerschneide den inneren Kreis in zwei Hälften. Erst indem Augenblick, wenn man die zweite Kreishälfte imMittelpunkt des umgebenden Kreises wieder fließend undohne Knick eingefügt hat, dann entstehen gleichzeitig, nichtetwa nacheinander die beiden vollständigen „Hälften“ desYin-Yang-Symbols. Sie setzen sich in einem strengen Sinnewechselseitig ihre Grenzen (das ist der Wortsinn von

„definieren“) . Die eine Hälfte kann nicht ohne die andereexistieren. Die beiden Seiten sind in einem ganz strengenSinne komplementär.

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Der dynamisch-spirituellen Betrachtung desSymbols erschließt sich jetzt, wie Sein und -in der aus den Halbkreisen gewonnenenInnenlinie- das Sein in der Zeit oder auch dasLeben in der Zeit entstehen und sichvollenden: Im Umlaufen des äußeren Kreises (vonunten)kann der Geist ohne Aufwand anspiritueller Energie in das materielleKreisinnere eintreten, dieses durchlaufen unddabei die Lebensmitte, den geometrischenMittelpunkt des Ganzen berühren. Ebenso fließt der Geist auch unvermeidlichund ohne Energieaufwand in den Kreiszurück. Es ist wunderbar, wie hier der Tod nicht nurals böser und negativer Gegenpol desLebens sinnfällig wird: Nach dem möglichenHeraustreten aus dem Außenkreis und mitdem Eintreten in die Lebenslinie -wenn manso will: mit der Geburt- ist das Heraustretenaus der Lebenslinie, nennen wir es denmateriellen Tod, und das Zurückfließen in denKreis die notwendige Folge. Das Symbolweist auf, wie mit der Gebürtigkeitunvermeidlich das Sterbenmüssen verknüpftist.Zugleich zeigt das Symbol aber auch denTrost, dass der Geist oder die Seele damitnicht erlischt, sondern zurückgeht und wiedereintaucht in die Zeitlosigkeit des Seins. Es istschön im Yin-Yang-Symbol zu beobachten ,wie es jetzt im Durchlaufen des äußerenKreises kein fließendes und bruchlosesZurück auf die Lebenslinie mehr gibt: Dasindividuelle Leben in Raum und Zeit (das

Innere des Kreises) ist einmalig und nichtwiederholbar.

In der Geschichte des Symbols hat man dieMittelpunkte der beiden Halbkreiseverschieden markiert in schwarz und weißund ihr Umfeld jeweils entgegengesetztgezeichnet. So begegnet uns das Symbol inder heutigen Zeit. Und so entfaltet es seineganze Schönheit und Genialität und seinedas Denken bewegende Kraft.

Vor etwa 2500 Jahren entstanden vieletausend Kilometer voneinander entfernt,gleichzeitig und unabhängig voneinanderzwei Denkgebäude , denen beiden diesesYin-Yang-Zeichen sicher noch nicht bekanntwar. Beide gelten mir –durchaus mitgewissen Akzentverschiebungen- als gültigeDeutungen:

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LaoTse spricht:

Das Tao gebar das Eine das Eine gebar die Zweizahl die Zweizahl gebar die Dreizahl aus der Dreizahl wurden die zehntausend Dinge getragen vom Yin, umfangen vom Yang,

geeint werden sie vom allumfassenden Krafthauch.6Das Wort Tao zur Bezeichnung dieses allumfassendenKrafthauchs ist fast unübersetzbar. Es bedeutet etwaWeg und Ziel oder Ursprung und Ende oder auch –mit dem ersten und dem letzten Buchstaben desgriechischen Alphabets- A und O.

Aus der gleichen Zeit, etwa 500 v.Chr. sind von dem Vorsokratiker Heraklit vonEphesos die folgenden Fragmente überliefert7 :

Ein und dasselbe offenbart sich in den Dingen als Lebendes und Totes,Waches und Schlafendes, Junges und Altes. Denn dieses ist nach seinerUmwandlung jenes, und jenes, wieder verwandelt, dieses.Alles Geschehen erfolge in Form eines Gegensatzes, und alle Dingeseien in stetigem Wechsel begriffen...und die Welt entstehe aus demFeuer und löse sich wieder in das Feuer auf, in bestimmten Perioden, instetigem Wechsel, in alle Ewigkeit...Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden,Sättigung und Hunger...den Seelen ist es Tod, Wasser zu werden, dem Wasser Tod, Erde zuwerden; aus Erde wird Wasser, aus Wasser Seele....das Weltgesetz (logos) ist ewig; alles geschieht nach diesem Gesetz.

Beides sind Rufe, die die Menschen verschiedener Weltteile über zweieinhalb Jahrtausende hinweg bewegt haben. Der dialektische Denker schlechthin, G. W.F. Hegel sagt in seinen ‘Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie‘: „Es istkein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen habe“8 . Der

niederländische Graphiker M.C. Escher hat 1942 in seiner Graphik „Verbum“eine freilich hochkomplexe, aber ebenfalls geniale Interpretation der Sätze vonLaoTse und Heraklit gegeben9.

____________________________6 Ich habe mir diese Übersetzung aus dem Tao-te-king vor vielen Jahren ohne

Quellenangabe aufgeschrieben und verwende sie hier wegen ihrer sprachlichen Prägnanzund Aussagekraft. Es gibt viele andere, nach meiner Auffassung weniger schöneÜbersetzungen derselben Stelle, etwa in: Lao-Tse, Hrsg. Lin Yutang. Frankfurt/M.,Olten,Wien. S.161

7 Zitiert nach Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968. Nr. 18,52,45,73. Das 5.Fragment (Nr.31) ist umgestellt, es stammt aus einem längeren Satz.

8 Hegel, G.W.F.: Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie.Sämtliche Werke.Bd.XVII.S.344.

9 Locher, J.L. u.a. (Hrsg.): Die Welten des M.C. Escher. S.116. Den gedanklichenZusammenhang des Bildes mit den Fragmenten von Heraklit thematisiert derUnterrichtsbericht von Saur, Reinhard: Mit Bildern denken- Eschers „Verbum“ und diepantheistische Kosmologie des Heraklit von Ephesos. In: ZDPE. Heft 4/92. S.230f.; einNachdruck ist auch für diese Homepage geplant.

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Die Rufe reichen bis in unsere, vom Glauben an dieNaturwissenschaften geprägte Zeit hinein:Höchst bewusst hat der Physiker Niels Bohr anlässlichseiner Auszeichnung mit dem höchsten dänischen Orden imJahre 1947 das Yin-Yang-Symbol zu seinem Wappenschildgemacht9. Er hatte das Innere der vorgegebenen Wappen-struktur auszufüllen, wählte dazu dieses Symbol undinterpretierte es im Spruchband durch das von ihm selbstgewählte Motto:contraria sunt complementa, also: die (vermeintlichen)Unvereinbarkeiten sind nur Ergänzungen. Es ist wichtig, dasrichtig zu verstehen. Der Begriff der Komplementarität wardie Leitidee seiner Physik, seiner Kosmologie. Ihn hat er zurInterpretation der Quantentheorie in die naturphilosophischeDebatte eingeführt und zum Zentralbegriff der sogenannten„Kopenhagener Deutung“ der Quantentheorie gemacht, diesich mit dem Doppelcharakter des Lichts befasst.

Dieser Doppelcharakter des Lichts (und nach Einstein der Materie überhaupt) alsWelle und zugleich als Korpuskel galt für den naiven Realismus der Physiker des 19.Jahrhunderts als ein fast schizophrener Widerspruch verschiedener und sichausschließender Seinsweisen. Es gab zwei physikalische Lager, die sich einJahrhundert lang heftig bekämpften. Für Bohr ist das überhaupt kein Widerspruch.Niels Bohr knüpft an an die von Immanuel Kant geprägte Unterscheidung zwischendem Ding an sich, also dem Ding wie es für sich allein genommen ist und dem einemSubjekt erscheinendem Ding. Wellenvorstellung von Licht oder Materie überhauptund Teilchenvorstellung von Licht oder Materie sind nicht etwa Dingeigenschaften ansich und damit unvereinbare Gegensätze. Diese beiden Vorstellungen sind vielmehrbegreiflich als ein komplementäres Verhältnis verschiedener Erscheinungsweisen vonLicht und Materie, die nicht von einander trennbar sind. Licht oder Materie sind nichtabsolute Dinge an und für sich, vielmehr ist das so zu sehen: Je nachdem wie ich dieNatur befrage, je nachdem wie meine Versuchsappparatur angelegt ist, zeigen sichmir die Dinge einmal als Teilchen, z.B. als Atom oder einmal als Wellenerscheinung.Die heutige Kernphysik beruht auf der Quantentheorie, die von Max Plancks

Entdeckungen ihren Anfang nahm. Diese fügt das Wellenbild und das Teilchenbild zueiner komplementären Einheit zusammen. Sogar dies wird im Yin-Yang-Symbol ingenial einfacher Weise analog verstehbar, Niels Bohr hat es offenbar soverstanden10.

Ich möchte hier in genau diesem Zusammenhang ein weiteres Paar vonvermeintlichen Gegensätzen anfügen, die sich für die moderne Physik alskomplementäre Begriffe darstellen. Auch das wird im Yin-Yang-Symbol anschaulichgemacht. Dieses ist das Paar Freiheit-Unfreiheit. Wenn wir die Frage so wenden: istder Mensch frei oder unfrei?, dann sieht man, dass hier die wichtigste moralischeFrage überhaupt berührt ist. Wenn der Mensch völlig unfrei oder –wie der Physikersagt- wenn er völlig determiniert ist, festgelegt ist durch seine Gene,

_________________________________10 vgl. Fiedeler, Frank:Yin-Yang oder die absolute Polarität. Fiedeler analysiert den Sinn von

Komplementarität anhand der frappierenden geometrischen Eigenschaften des sog.'Möbiusschen Bandes'. In: Mayer-Tasch.a.a.O.S. 239.

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festgelegt durch seine Umwelt, festgelegt durch die Gesellschaft, determiniertletztlich durch unausweichliche Naturgesetze, dann kann er auch nicht zurRechenschaft gezogen werden. Dann ist er ebenso unschuldig wie ein Tieroder wie ein Stein. Die Physik der Neuzeit, endgültig als Teilchentheorie, als Atomtheorie hat dieNatur als völlig determinierten Mechanismus angesehen. Als der berühmtePhysiker Laplace dem Kaiser Napoleon seine Lehre vortrug, sagte dieser:„...ja, und wo ist Gott in dieser Lehre?“ Daraufhin sagte Laplace: „Sire, einesolche Hypothese habe ich nicht nötig“. Alles Geschehen müsse schließlichaus Druck und Stoß von Atomen erklärbar sein. Eine Intelligenz, die denAnfangszustand aller Materieteilchen kenne, müsste -bei hinreichendenRechenfähigkeiten- jeden vorangegangenen und auch jeden künftigenZustand exakt errechnen können.Der Philosoph Lamettrie schrieb ein Buchmit dem Titel „L‘homme machine“, „der Mensch - eine Maschine“. So denkensehr viele Naturwissenschaftler bis heute. Sigmund Freud fasste sogar diemenschliche Seele auf als einen Apparat, der nach nicht weniger strengenGesetzen funktioniere als die Natur, weil der Mensch nichts als Teil dermateriellen Natur sei und nur so begriffen werden könne.Nicht nur Saddam Hussein oder Adolf Hitler oder Stalin wären dann ohneSchuld und ohne Verantwortung für ihre Verbrechen, jeder Mensch wäre es.Für die Vorstellungen der alten, der sogenannten klassischen Physik ist derBegriff ‘Verbrechen‘ sinnlos, weil der Mensch wie jedes andere Tier nur tunkann, was er tun muss. Er ist in diesem Denken –wie Friedrich Nietzschesagt „jenseits von gut und böse“. Er ist dies aber nicht, weil der Menschgöttlich wäre, sondern im Gegenteil: Er ist dies, weil er nichts anderes ist alsein Tier, wenn auch das am höchsten entwickelte.Die Quantentheorie hat in diesem Denken eine Wende gebracht. WernerHeisenberg hat 1927 anknüpfend an die Bohrsche Physik die berühmteUnschärferelation entdeckt. Von daher weiß man heute, dass dasNaturgeschehen letztlich nicht determiniert ist. Es ist nicht schon heutefestgeschrieben, was morgen geschehen wird oder was ich morgen tunwerde, so als ob mein Leben auf einer von Gott oder der Natur determiniertenSchiene verliefe. Festgeschrieben ist nur je ein Spektrum von Möglichkeiten,die alle nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten können, keine mitabsoluter und vorausrechenbarer Sicherheit.

Hier eröffnet die Physik einen Raum für die menschlicheEntscheidungsfreiheit, für Verantwortung und auch für persönliche Schuld.Der Mensch im Yin-Yang-Symbol ist ein Wanderer zwischen den Welten,zwischen Schatten und Licht, zwischen der schwarz gezeichneten materiellenWelt einerseits, der er auch angehört, die ihn auf seinem Weg auch trägt und

ihm festen Boden unter den Füßen gibt und -auf der anderen Seite- der lichtengeistigen Welt, der er mit seinem Geist angehört. Der Weg des Menschengeht keineswegs nur geradeaus, sondern zeigt das Auf und Ab des Lebens,einmal mehr dem schwarzen Bereich, dann wieder mehr dem weißenzugewandt. Das harmonischste Verhältnis zwischen schwarz und weiß hat derMensch im Auf und Ab der Lebenslinie exakt im geometrischen Mittelpunktdes umfassenden Kreises.

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Das Tao gebar das Eine

das Eine gebar die Zweizahl

die Zweizahl gebar die Dreizahl

aus der Dreizahl wurden die zehntausend Dinge

getragen vom Yin, umfangen vom Yang,

geeint werden sie vom allumfassenden

Krafthauch.

Das Yin-Yang-Zeichen und die vor 2500 Jahren gesprochenen Worte Lao Tseserläutern sich in meinen Augen wechselseitig in vollkommener Weise. Mir stellt sich hier eine Verbindung zu einer mathematischen Formel her, diemir -seit ich sie kenne- in der Einfachheit ihrer Struktur immer Ausdruck vonSchönheit, Klarheit, Vollendung und gleichzeitig von Geheimnis gewesen ist. Eshandelt sich um die Gleichung

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11 Hier klingt nicht nur die Heideggersche Unterscheidung von Stein, Tier und Menschaus „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ an , sondern auch (wieder) der berühmteBuchtitel von Heidegger : Sein und Zeit. Der Titel formuliert nach meiner Auffassung diezentrale, noch immer ungelöste Zentralfrage einer wirklich modernen Philosophie,jenseits des von der eindimensionalen Analytischen Philosophie erklärten vermeintlichen'Todes der Philosophie'.

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13 Eco, Umberto: Die Geschichte der Schönheit. München, Wien 2004. S.72

14 Ich denke hier an das wunderbare Buch von Marcus du Sautoy: Die Musik der Primzahlen, München 2006

15 Ich denke hier an das von Kurt Gödel bewiesene Unvollständigkeitstheorem, dass die Mathematik aus logischen Gründen nie vollständig sein kann und dass es dem menschlichen Verstand sogar grundsätzlich verschlossen ist, die Widerspruchsfreiheit der Grundannahmen (Axiome) der Mathematik zu beweisen. Immanuel Kant wäre davon keineswegs überrascht gewesen.