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5.2.3 Das Spezifikum,Identität'
Gemeinsame Suchprozesse nach einer existentiell bedeutsamen Wahrheit, wiewir sie im vorangehenden Abschnitt angedeutet haben, lösen nicht selten die
Befürchtung aus, dass sich darin stabile Ich-Identitäten in die Beliebigkeit auf-
lösen könnten und es — wie es Erik Erikson bereits moniert hat — zu einer
,Identitätsdiffusion' kommt. Eine solche sei, so Erikson, speziell für Jugendli-che eine große psychische Überforderung, weil sie nicht mehr wüssten, wer sie
sind und wem sie angehörten. Immer wieder hat man in religionspädagogi-
schen Zusammenhängen vor der Heranbildung einer Patchworkreligion ge-
warnt, indem sich speziell Jugendliche ihre Religion wie einen,Fleckerltep-pich' zusammenbastelten und sich auf diese Weise die stabile Ich-Identität
auflöse. Erst nachdem bedeutende Theologen wie R. Panikar'" im Hinblick
auf ihre eigene Religiosität von einer „multiplen Identität" sprachen, begann
ein Umdenkprozess.
Dabei hatte bereits in den 1990er Jahren der Theologe H. Luther kritisiert,dass das Bemühen um eine stabile Ich-Identität, wie sie Erikson verstanden
hatte, schon aus theologischen Gründen problematisch sei. Eine solche religi-
onspädagogische Absicht würde das Fragmentarische verschleiern, das zum
Leben eines jeden Menschen gehört und das ihn bis in den Tod hinein beglei-tet."' Als Folge von postmodernen psychoanalytischen und sozialphilosophi-
schen sowie soziologischen Überlegungen wurde einerseits die Rolle der Zu-
schreibungen und Zugehörigkeiten für die Bildung der Identität entdeckt, an-dererseits aber die Mechanismen und das inhärente Gewaltpotenzial eines ho-
mogenen Identitätsverständnisses deutlich gemacht. I m Alltag erleben wir im-mer wieder, dass in der Politik, aber auch in der Religion, der Identitätsbegriff
als Mittel zur Abgrenzung bzw. Ausgrenzung der Anderen bzw. Fremden ver-wendet wird.
In den letzten Jahrzehnten trugen plurale Lebensformen und neue gesell-schaftliche Entwicklungen wie Mobilitäts- und Migrationsbewegungen das
Ihre zu einer Problematisierung des Identitätsbegriffs und zu einer Reflexiondes Verhältnisses von Pluralität und Identität in diesem Kontext bei. Wer Plu-
ralität wertschätzt, hat ein anderes Identitätsverständnis als jemand, fiir denPluralität eine Bedrohung darstellt. Naturgemäß brachte die Pluralität in d«
2U' Vgl. Nitsche / punikkur, Multiple Identität als gelebte inter-intra-religiöse 1'ransversaü-tat. 59-77.
"'" Vgl. Luther, Religion und Alltag, 6Z-H7.
126
Gesellschaft und innerhalb bzw. außerhalb der Religionen zunächst Unsicher-
heit und Unübersichtlichkeit mit sich. Es mussten adäquate Formen des Um-
gangs gefunden werden.Ein theoretisches Konzept, das auf einen angemessenen Umgang mit Plu-
ralität hin ausgerichtet ist, ist das Konzept der Perspektivität. Mit der An-
nahme der Perspektivität war eine Umorientierung in der bisherigen Paradig-
menlandschaft verbunden: Die Blickrichtung ging weg vom Statischen undUnveränderlichen hin zur Bewegung und Veränderung mit den Metaphern
der Grenze, des Transitorischen etc. Nicht mehr fixe Standorte, sondern stär-ker Beziehungen und Verhältnisse, nicht mehr ein übergreifender oder objek-
tivistischer Gesichtspunkt, sondern die Perspektivität ist ein geeignetes Mittel,
um sich in der Pluralität theoretisch wie praktisch adäquat bewegen zu kön-nen. So schreibt K. Röttgers:
„Vermittlung, d. h. eine zuordnendc Mitte ist allein schon wegen der unausräum-
baren Perspektivität geboten, denn: keiner sieht alles zugleich, befindet sich im
Diesseits und Jenseits zugleich. Denn, wie gesagt, Fremdheit ist kein phänomena-
ler Bclund, sondern eine Zuordnungskategorie~~
Um sich den gesellschaftlichen Bedingungen der Pluralität und ihren Heraus-
forderungen stellen zu können, wurden eine Fülle von philosophischen, theo-logischen, pädagogischen und anderen Konzepten entwickelt. Interessant ist
in diesem Zusammenhang das Konzept der „transitorischen Identität" ', in
dem der „Prozcsscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse"" im
Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Straub und Renn zufolge sind Selbstver-ltältnisse keine stabilen Bezüge, sondern der Kontingenz und damit der Bewe-
gung unterworfen. Somit muss sich die Selbstbeziehung im Sinne der Identität
im Übergang einstellen und bewähren."' Weitere Vorstellungen von Identität,die sich herausbildeten, sind die von „religiöser Mehrsprachigkeit""' und von
i,multiplcn religiösen Identitäten""', bei denen es, wenn sie authentisch gelebt
werden, zu Transitionen und Transversalischem kommt, zur Begegnung in
"" Röttgers, Kurt, IdentiNt als Ereignis. Zur Neuüindung eines Begriffs. Bielefeld 2016, 333f."" Renn, /oachim/ Strrtub, Jiirgen, Der Prozcsscharakter moderner personalcr Selbstver-
hältnisse. In: Straub, Jürgen / Renn, Joachim (Hg.), Transitorische Identität. Dcr Prozes-schamkter des modenicn Selbst. Frankfurt a. Main 2002, 10-3I, hier 10.
i i i Fl,d"' Renn / Struub, Der Prozcsscharakter inoderncr pcrsonalcr Selbstvcrhältnisse, 23-29."' Bern/mnlt, Reinhold, ,Synkretismus' als Deutekatcgorie fur multireligiöse Identitätsbil-
dungen. In: Bernhardt, Reinhold/ Schmidt-Leukel, Perry (Hg.), Multiple religiöse Iden-tität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. Zürich 2008. 267-290, hier 27 •h' 278.
"' Bern/iuntt,,Synkretismus' als Deutekategorie für multircligiösc ldentitätsbildungen,290.
127
Grenzräumen. ' Manuela Kalsky entwickelt den Gedanken der „religiösenFlexibilität""' und meint:
„Dic Grcnzcn dessen, was wir Identität nennen, wcrdcn sowohl im personalen als
auch im gesellschaftlichen Bereich stets durchlässigcr und fli eßende. Dic damiteinhergehenden Veränderungen geschehen nicht ohne innere und äußere Kon-
flikte. IVährend die einen den Verlust an fcstumrisscnen Identitäten als bedroh-
lieh erfahren und bei ihrer Suche nach Halt zurückgreifen auf althergebrachte
Traditionen, ist fur die anderen die Auflösung feststehender Identitäten und der
damit auferlegten kulturellen und religiösen Rollen eine Befreiung aus unterdrü-
ckenden Strukturen.~"
Karl Baier unterscheidet vier Momente als Quellen des Identitätsverständnis-ses: I) die kognitive Selbstwahrnehmung als das, was jemand über sich denkt,
2) die emotionale Selbstwahrnehmung als das, was jemand tuhlt, 3) dieFremdwahrnehmung als Wahrnehmung, was andere über die eigene Person
denken, 4) die Selbstwahrnehmung als Wahrnehmung des eigenen Han-delns."'
Ein wichtiger Aspekt im Kontext des Identitätsbegriffs ist das Thema derAngst bzw. der Panik, wenn man diese als Angst in gesteigerter Form versteht.
Es gibt eine Reihe von Phänomenen, die den bisher genannten anthropologi-
schen Aspekten wie Menschenwürde, Freiheit, Vernunft und Verantwortungentgegemvirken bzw. die angezielten Verhältnisbestimmungen stören oder er-
schweren. Eines davon ist die Angst. Martha Nussbaum charakterisiert dte
Zeit, in der wir leben, als eine Zeit der Angst und der Verdächtigungen. '
Diese Merkmale sind nicht nur diesem Zeitalter eigen. Über alle Jahrhundertehinweg tauchten subjektive und kollektive Angst und Verdächtigungen auf
Angst ist ein anthropologisches Grundphänomen mit vielen Facetten.
Ein weiteres wichtiges Thema im Kontext von Identität und Identitätsbil-
dung stellen Übertragungen und Projektionen dar. Beides prägt die verbaleund nonverbale Kommunikation mit anderen grundlegend. Übertragungen
helfen uns, uns in der Welt zurechtzufinden und zu kommunizieren.),Wir
"' Nitsche, I Raimon, Multiple Identität als gelebte inter-intra-religiöse 'l'ransversallt)ät) 77y, Maaaela, Rcltgiöse l lexil)ilttät. L)inc Antwort aufkulturellc und reltg
In: Iiernhardt I Schntidt-Lcukcl (l-lg.), Multiple rcligiiisc Identität, 219-242.' l) Kalsky, hlaaacla, Religiiise I:lexibilität. I:.ine Antwort aufkulturelle und religflise Vielfalt
In: Itcrnhardt I Schmidt-l~ukcl (Hg.), Multiple religiöse Identität. 219-242, ltler 2>"f"" Vgl. Baier, Karl, Spiritualität und identität. I
n: Iiernhardt I Schmidt-Leukel (Hg.) Muttiple religiöse Identität. 187-21tt, hier 201.
) I ))
stadt '2014, 12-26.
"'usshaaa), Alarfha, Die neue Intoleranz. I'.in Ausweg der Politik aus der Angst, Darn>-
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