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Grundkurs Literaturwissenschaft

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GrundkursLiteraturwissenschaft

Von Sabina Becker,Christine Hummel und

Gabriele Sander

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 176622006 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2018

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-017662-7

www.reclam.de

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I Grundbegriffe der Edition(Gabriele Sander) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1 Ausgabentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151.1 Leseausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.2 Studienausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . 181.3 Historisch-kritische Ausgaben . . . . . . . . 191.4 Faksimile-Ausgaben . . . . . . . . . . . . . 201.5 Regestausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2 Aufbau und Funktionsweise historisch-kritischer Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . 232.1 Überlieferung und Entstehung von Texten . 232.2 Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.3 Textkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . 292.4 Variantenapparat . . . . . . . . . . . . . . . 322.5 Erläuterungen und Kommentare. . . . . . . 34

II Die Gestaltung literarischer Texte(Christine Hummel) . . . . . . . . . . . . . . . . 37

1 Vom Wesen der Kunst: Ästhetik . . . . . . . . 372 Was ist und will Literatur: Poetik . . . . . . . . 413 Die Kunst der Rede: Rhetorik . . . . . . . . . . 48

3.1 Systematische Übersicht: Rhetorik . . . . . 534 Die Schönheit der Rede: Stilistik . . . . . . . . 55

4.1 Rhetorische Stilmittel im Überblick:Figuren (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . 58

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6 Inhalt

5 Bildliches Sprechen: Tropik bzw. Metaphorik . 625.1 Metapher, Allegorie, Symbol. . . . . . . . . 635.2 Rhetorische Stilmittel im Überblick:

Tropen (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . 69

III Übersicht über die Gattungen . . . . . . . . . . . 75

1 Gattungstheorie und Gattungsgrenzen(Christine Hummel) . . . . . . . . . . . . . . 75

2 Lyrik (Christine Hummel) . . . . . . . . . . . 822.1 Zur Geschichte der deutschsprachigen

Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.2 Strukturelemente lyrischer Texte . . . . . . 93

3 Epik (Erzähltexte) (Gabriele Sander) . . . . . 1093.1 Erzählen im Alltag, Erzählen in der

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093.2 Geschichte und Formen der Epik . . . . . 1113.3 Strukturelemente von Erzähltexten . . . . 129

4 Dramatik (Szenisch-dramatische Texte)(Gabriele Sander) . . . . . . . . . . . . . . . 148

4.1 Zur Geschichte und Theorie des Dramas 1504.2 Strukturelemente des Dramas. . . . . . . . 172

5 Hörspiel (Christine Hummel) . . . . . . . . . 1935.1 Zur Geschichte des Hörspiels . . . . . . . 1935.2 Technische Möglichkeiten des Hörspiels . 198

6 Faktuale Literatur (Christine Hummel) . . . . 2016.1 Aphorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2026.2 Autobiographie / Biographie . . . . . . . . 2046.3 Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2086.4 Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2116.5 Reiseliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2136.6 Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Inhalt 7

IV Literaturwissenschaftliche Methoden undTheorien (Sabina Becker) . . . . . . . . . . . . . 219

1 Einleitung: Was sind Methoden? . . . . . . . 2192 Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2213 Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2274 Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2295 Werkimmanente Interpretation . . . . . . . . 2346 Sozialgeschichte der Literatur . . . . . . . . . 2387 Systemtheorie / Literatursoziologie . . . . . . 2418 Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . 2439 Literaturpsychologie / Psychoanalytische

Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . 24610 Feministische Literaturtheorie . . . . . . . . . 25011 Gender Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . 25512 Poststrukturalismus/Dekonstruktion . . . . . 25913 Intertextualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . 26614 Diskursanalytische Zugänge . . . . . . . . . . 27215 New Historicism . . . . . . . . . . . . . . . . 27716 Kultursoziologische und mentalitäts-

geschichtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . 281

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . 291

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Einleitung

Literatur bietet Bilder an, in denen sich, was wirin Begriffen abgelegt haben, wieder konkretisiertund in die neue, noch diffuse Empfindungen ein-münden können, Formen, in die wir uns, im bes-ten Fall mit Körper, Herz, Verstand wenigstensvorübergehend hineinbegeben, die sich in uns her-einbegeben, beides zur erheblichen Lebenssteige-rung und also Lebenserhellung.

Brigitte Kronauer1

Das Studium der Literaturwissenschaft vermittelt Kennt-nisse darüber, wie literarische Texte gestaltet sind, welchebesonderen sprachlichen Qualitäten sie aufweisen, in wel-chem geschichtlichen Kontext sie zu verorten sind undworauf ihre ›lebenssteigernde‹ und ›lebenserhellende‹ Wir-kung (im Sinne Brigitte Kronauers) beruht.

Der vorliegende Band richtet sich in erster Linie anStudierende der Germanistik, aber auch an Lehrende undliterarisch Interessierte, die philologisches Basiswissen er-werben wollen. Ziel ist die Vermittlung literaturwissen-schaftlicher Grundlagen auf aktuellem Forschungsstand inallgemein verständlicher, kompakter und übersichtlicherForm. Der Band stellt das für die Textanalyse notwendigeBeschreibungsvokabular bzw. ›Handwerkszeug‹ bereit,das den literaturwissenschaftlichen Zugang zu Texten er-leichtert und erschließt. Die einzelnen Kapitel stützen sichauf Materialien, die sich in der Lehrpraxis bewährt haben.2Bei ihrer Abfassung ging es den Autorinnen weniger um

1 Brigitte Kronauer, »Macht was ihr wollt!: Wie modern muß Literatursein?«, in: B. K., Zweideutigkeit. Essays und Skizzen, Stuttgart 2002,S. 275–291, hier S. 287.

2 Am Schluss eines jeden Kapitels werden Hinweise auf weiterführende Lite-ratur gegeben; sie beruhen auf einer gezielten Auswahl und verstehen sichsämtlich als Empfehlungen.

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wissenschaftliche Originalität, sondern um die Anwend-barkeit im Studienalltag. Der Band soll aber nicht nurOrientierungshilfe in einer – zumal für Anfänger und An-fängerinnen – unübersichtlichen Forschungslandschaft ge-ben, sondern auch das Interesse und Verständnis für lite-rarische Texte fördern und die Leselust steigern.3

Zum Gegenstand und Ursprung des Faches

Gegenstand der Neueren Deutschen Literaturwissenschaftist die seit der frühen Neuzeit entstandene neuhochdeut-sche Literatur ab etwa 1500. Dieses Zeitalter war geprägtvon einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissen-schaften und der Literatur infolge der Einführung desBuchdrucks um 1450, die die Verbreitung und Rezeptionvon Büchern auch jenseits der Klöster und Universitätenermöglichte.4 Eine Etappe in der Vorgeschichte der heuti-gen Germanistik markiert der Humanist Conrad Celtis,der die Germania des Tacitus (im Jahre 1500) edierte undals Quelle der Frühgeschichte zugänglich machte. WeitereAnstöße zur Beschäftigung mit der deutschen Spracheund Literatur gab Luthers Übersetzung und Verbreitungder Bibel (1545)5. Zu den frühen Bemühungen um diedeutsche Sprache und Literatur zählen außerdem die poe-

3 Zur Leselust und ihrem Zusammenhang mit der Literaturwissenschaft vgl.Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, Mün-chen 1998.

4 Über die Bedeutung der Schriftlichkeit und des Lesens geben die beidennachstehenden Bände Auskunft: Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Alsdas Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos »Didasca-lion«, Frankfurt a. M. 1991, sowie Alberto Manguel, Eine Geschichte desLesens, Reinbek 1999.

5 Der Übersichtlichkeit halber wird auf die Angabe von Lebensdaten derAutoren und Autorinnen zugunsten der Datierung der zitierten und er-wähnten Werke verzichtet.

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tologischen Schriften von Martin Opitz und JohannChristoph Gottsched (� Kap. II.2).

Als Gründungsväter der Hochschulgermanistik geltendie Brüder Grimm, die zu den Initiatoren der erstendeutschen Germanistenversammlung in Frankfurt amMain im Jahre 1846 zählten. Jacob und Wilhelm Grimmhaben durch ihre Bemühungen um die Volkspoesie, diesich in den Sammlungen und Publikationen der Kinder-und Hausmärchen (1812–15) und der Deutschen Sagen(1816–19) dokumentierte, und mit dem Deutschen Wör-terbuch (1852ff.) Pionierarbeit für die Germanistik geleis-tet.

Zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft und somitzum Studium dieses Faches zählen

(1) die Literaturgeschichtsschreibung, also die Beschäfti-gung mit Produktion, Distribution und Rezeptionliterarischer Texte,

(2) die Archivierung, Erschließung und Herausgabe (Edi-tion) von Texten (� I),

(3) die Beschäftigung mit der ästhetischen Gestaltung lite-rarischer Texte (� II),

(4) die Gattungstheorie als Systematisierung literarischerTexte nach formalen Kennzeichen (Übersicht über dieGattungen � III) und

(5) die Strukturanalyse und Interpretation von Textennach bestimmten theoretischen und methodischenVorgaben (Literaturtheorie � IV).

Diese Teilbereiche werden im vorliegenden Band abge-deckt, wobei auf einen literaturgeschichtlichen Abriss be-wusst verzichtet wurde, um den Umfang überschaubar zuhalten. Eine literarhistorische Darstellung der Epochenbraucht einen angemessenen Raum; hier sei auf die amSchluss des Bandes empfohlenen Literaturgeschichten ver-wiesen (� Literaturhinweise). In die Kapitel zu den ein-zelnen Gattungen (� III.2–6) sind literaturgeschichtliche

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Exkurse eingelegt, um die spezifisch deutschsprachigenEntwicklungen der einzelnen Gattungen exemplarisch zuveranschaulichen.

Welche Texte sind Gegenstandder Literaturwissenschaft?

Mit dieser Frage ist das Problem des Kanons angespro-chen (griech. kanon ›Richtschnur, Maßstab‹). Ein Kanonumfasst die Menge der Texte, die in einer Kulturgemein-schaft präsent sind. Die Kenntnis eines bestimmten Ka-nons von Texten ermöglicht dieser Gruppe das Gesprächüber Literatur. Der Kanon hat also gemeinschaftsbildendeFunktion. Die Kenntnis eines Kanons ist aber auchGrundlage für das Verständnis von Texten, da Autoren,als zumeist begeisterte Leser, in ihren Werken Bezüge zuanderen Texten herstellen (Intertextualität � IV.13). In ei-nen Kanon werden Texte aufgenommen, die eine Gruppevon Rezipienten für wertvoll hält.

Jeder Kanon ist ein Resultat von Deutungs- und Inter-pretationsprozessen. In einer modernen, offenen Gesell-schaft ist es schwierig, von einem Kanon zu sprechen; esherrscht Kanonpluralität. Dennoch gibt es einen Kernbe-stand von Texten, deren Kenntnis Voraussetzung für einerfolgreiches Studium ist und auf die immer wieder zu-rückgegriffen wird – neben der griechischen bzw. römi-schen Mythologie und der Bibel sind dies zum Beispieldas Nibelungenlied oder Goethes Faust.6 Neben dem Ka-non ›klassischer‹ Texte gibt es einen Deutungskanon bzw.ein sich ständig erweiterndes und veränderndes Korpus

6 Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen, zusgest. von Sabine Griese[u. a.], Stuttgart 1994 (Reclams Universal-Bibliothek, 8900) sowie Wulf Se-gebrecht, Was sollen Germanisten lesen? Ein Vorschlag, 2. überarb. und

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von Interpretationen. Auch dieser Band greift auf kanoni-sierte Texte zurück, er will jedoch darüber hinaus auf we-niger rezipierte oder zu Unrecht vergessene Texte auf-merksam machen und vor allem zum Weiterlesen anregen.

Zum Aufbau des vorliegenden Bandes

Der Band öffnet sich kulturwissenschaftlichen Perspekti-ven, indem er neben fiktionalen auch nicht-fiktionale Tex-te (die sog. Gebrauchsliteratur) zum Gegenstand macht.Zugleich unternimmt er eine Rückbesinnung auf die phi-lologische (von griech. philólogos ›Freund von Worten,Reden‹) Basis des Faches, indem ausführlich die Editions-wissenschaft vorgestellt wird. Vor jeder vertiefenden Be-schäftigung mit einem literarischen Text steht die Aus-wahl eines soliden, wissenschaftlichen Ansprüchen genü-genden Primärtextes. Das erste Kapitel »Grundbegriffeder Edition« stellt die verschiedenen Ausgabentypen vorund beschreibt den Aufbau und die Funktionsweise histo-risch-kritischer Ausgaben. Kapitel II »Die Gestaltung lite-rarischer Texte« erläutert knapp die Geschichte und dieGrundzüge der Ästhetik als der Lehre vom Schönen, derPoetik als der Lehre vom Wesen der Dichtkunst sowie derRhetorik als der Lehre von der Redekunst. Daraus abge-leitet sind die Teilkapitel über literarische Stilistik undMetaphorik, die sich mit der ästhetischen Codierung lite-rarischer Texte befassen.

Die unter Kapitel III zusammengefassten Abschnittebeschäftigen sich mit den drei Großgattungen Lyrik, Epikund Dramatik einschließlich des Hörspiels sowie mit der

erw. Aufl. Berlin 2000. – Zur Kanondebatte in der Germanistik vgl. Kanon,Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischerKanonbildungen, hrsg. von Renate Heydebrand, Stuttgart [u. a.] 1998 (Ger-manistische Symposien-Berichtsbände, 19).

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vierten Gattung der nicht-fiktionalen, faktualen Texte.Das vierte Kapitel stellt die wichtigen literaturtheoreti-schen und methodischen Ansätze der Literaturwissen-schaft des 19. und 20. Jahrhunderts vor. Es wird dabeiversucht, die methodischen Ansätze in eine historisierendePerspektive einzuordnen, denn dadurch ergibt sich auchein Blick auf die Geschichte des Fachs Germanistik.7

Wuppertal / Freiburg i. Br., Sabina Becker,im Juli 2006 Christine Hummel,

Gabriele Sander

7 Auf eine Einführung in Arbeitstechniken wird ausdrücklich verzichtet.Hier sei auf die beiden Einführungsbände von Benedikt Jeßing verwiesen(� Literaturverzeichnis S. 287).

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I Grundbegriffe der EditionVon Gabriele Sander

1 Ausgabentypen

Am Anfang jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit ei-nem literarischen Text stellt sich die Frage nach der Aus-gabe, die zugrunde gelegt werden soll. Während bei derBeschaffung eines belletristischen Werkes der Gegen-wartsliteratur oft nur zwischen gebundener und Taschen-buch-Ausgabe zu entscheiden ist, so ist das Angebot anWerkausgaben der älteren Literatur in der Regel breit ge-fächert und auf den ersten Blick verwirrend. InsbesondereTexte, die zum literaturgeschichtlichen Kanon gehören,liegen in verschiedensten Ausgaben bzw. Editionen vor,meist sowohl in Einzeldrucken als auch innerhalb vonGesamtausgaben.

In welchem Maße sich Texte je nach Ausgabe unter-scheiden können, lässt sich an einem zuerst von MaxBrod edierten Prosastück demonstrieren, das er aus demNachlass seines Freundes Franz Kafka unter dem Titel»Die Brücke« herausgab; Anfangs- und Schlussteil lautenin Brods Version:

»Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einemAbgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jen-seits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habeich mich festgebissen. […]Einmal gegen Abend war es – war es der erste, war esder tausendste, ich weiß nicht, – meine Gedanken gin-gen immer in einem Wirrwarr und immer in der Runde.Gegen Abend im Sommer, dunkler rauschte der Bach,da hörte ich einen Mannesschritt! […] Wer war es? Ein

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Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer? Ein Selbstmörder?Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich drehte michum, ihn zu sehen. – Brücke dreht sich um! Ich war nochnicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich stürzte, undschon war ich zerrissen und aufgespießt von den zuge-spitzten Kieseln, die mich immer so friedlich aus demrasenden Wasser angestarrt hatten.«1

In der Kritischen Kafka-Ausgabe ist zu lesen:

»Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einemAbgrund lag ich, diesseits waren die Fußspitzen, jen-seits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatteich mich festgebissen. […] Einmal gegen Abend, war esder erste war es der tausendste, ich weiß nicht, meineGedanken giengen immer in einem Wirrwarr, und im-mer immer in der Runde – gegen Abend im Sommer,dunkler rauschte der Bach, hörte ich einen Mannes-schritt. […] Wer war es? Ein Kind? Ein Turner? EinWaghalsiger? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? EinVernichter? Und ich drehte mich um, ihn zu sehn.Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht,da stürzte ich schon, ich stürzte und schon war ich zer-rissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln,die mich so friedlich immer angestarrt hatten aus demrasenden Wasser.«2

Neben Eingriffen in die Orthographie, Interpunktion,Absatzgliederung, Wort- und Satzstellung hat Brod eini-ge Wörter hinzugedichtet und andere falsch gelesen(»habe« statt »hatte«, »Ein Traum?« statt »Ein Turner?«

1 Franz Kafka, Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod: Beschreibung einesKampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen. Aus dem Nachlaß, Frankfurta. M. [1954], S. 111f.

2 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. von MalcolmPasley, Frankfurt a. M. 1993, S. 304 f.

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Ausgabentypen 17

usw.). Wenngleich seine Verdienste um die weltweite Ver-breitung der Werke Kafkas unbestritten sind, so ließ erdoch vielfach eine editorische Willkür walten, die über je-des tolerierbare Maß hinausgeht. Demgegenüber bietet dievon Malcolm Pasley edierte Version einen dem hand-schriftlichen Original exakt entsprechenden Text. DasBeispiel zeigt, wie stark sich die Editionspraxis in denletzten Jahrzehnten verändert hat, und es lehrt gleichzei-tig, dass man sich vor der Anschaffung einer zitierfähigenTextgrundlage einen Überblick über das Spektrum derBuchausgaben verschaffen sollte. Hilfreich für die Orien-tierung ist die Unterscheidung zwischen folgenden Editi-onstypen:

1.1 Leseausgaben

Dabei handelt es sich um Ausgaben, die für einen großenLeserkreis produziert werden und kaum mehr als denblanken Text bieten.3 Insbesondere bei den auf Unter-richtslektüren spezialisierten Verlagen finden sich im An-hang des Textes einige Wort- und Sacherklärungen sowieein Nachwort mit knappen Informationen über den Autorund sein Werk.4 Der Benutzer solcher Leseausgaben solltesich darüber im Klaren sein, dass ältere Texte in aller Re-gel nicht in ihrer originalen historischen Gestalt abge-druckt sind, sondern in der Orthographie normalisiert

3 Seit einigen Jahren besteht die Möglichkeit, sich komplette Texte aus demInternet herunterzuladen und zu durchsuchen (gutenberg.spiegel.de). Al-lerdings finden sich aus urheberrechtlichen Gründen unter dieser Adressenur Texte von Autoren, die seit mindestens 70 Jahren verstorben sind. Zueinzelnen Autoren liegen auch CD-ROM-Ausgaben vor. Die Texte selbstsind von äußerst schwankender Qualität, da sie von editorischen Laien er-fasst (›abgetippt‹) oder bei großer Fehleranfälligkeit gescannt wurden.

4 Für die intensivere Beschäftigung empfiehlt sich die zusätzliche Anschaf-fung von parallel konzipierten Kommentarbänden, etwa aus der Reclam-Reihe Erläuterungen und Dokumente.

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bzw. modernisiert wurden, um die Lesehürden zu verrin-gern. Ausgaben, die in den letzten Jahren auf den Marktgekommen sind, folgen größtenteils bereits den neuenRechtschreibregeln.

1.2 Studienausgaben

Diese kommen fachspezifischen Bedürfnissen in weit hö-herem Maße entgegen, da sie einen Anhang mit Informa-tionen zur Druck-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichtedes Textes sowie zum Autor und seiner Zeit enthalten.Wenngleich die Übergänge zwischen Lese- und Studien-ausgaben mitunter fließend und beide Ausgabentypen nursehr selten als solche deklariert sind, zeichnen sich Letzte-re vor allem durch die Präsentation eines kritisch über-prüften Textes aus, dem ein Kommentarteil beigegebenist. Studienausgaben bereiten Forschungsergebnisse inverständlicher Form auf und verweisen auf weiterführen-de Literatur. Längst nicht bei allen Autoren können Her-ausgeber jedoch auf Vorarbeiten zurückgreifen, sondernmüssen sich der schwierigen Aufgabe der erstmaligen Er-schließung eines Gesamtwerks stellen. So sind in den letz-ten Jahrzehnten Studienausgaben entstanden, die als Pio-nierleistungen anzusehen sind und eine Zwischenlösungauf dem Weg zu einer historisch-kritischen Ausgabe (s. u.)darstellen. Existieren solche wissenschaftlichen Editionenbereits, bilden sie im Idealfall die Basis von Studienausga-ben. Diese eignen sich für ein Lesepublikum, das fundier-te, handliche und erschwingliche Werkausgaben wünscht.Beispielhaft seien hier die Hamburger Goethe-Ausgabesowie Ausgaben der Verlage Hanser, Reclam und Winklersowie des Deutschen Klassiker Verlags genannt. Studien-ausgaben dieser Art sind – insbesondere bei ›puristischen‹Philologen – insofern umstritten, als die Herausgeber dievor 1900 entstandenen Texte in unterschiedlichem Aus-

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maß orthographisch modernisiert haben. Auch wenn siezusichern können, den historischen Lautstand bewahrt zuhaben, führen die Eingriffe, so behutsam sie vorgenom-men sein mögen, doch dazu, dass die dargebotenen Text-versionen nicht der historischen Überlieferung entspre-chen und somit nicht authentisch sind.

1.3 Historisch-kritische Ausgaben

Diese stellen den anspruchsvollsten Editionstypus dar, derhöchsten philologischen Standards verpflichtet ist. His-torisch-kritische Werkausgaben sind wissenschaftlicheGroßprojekte, an denen eine Forschergruppe über mehrereJahre oder sogar Jahrzehnte arbeitet. Aufgrund des extremhohen personellen und finanziellen Aufwandes konntensolche auf absolute Vollständigkeit angelegten Ausgabenbislang nur für einen überschaubaren Kreis kanonisierterAutoren realisiert werden (u. a. für Klopstock, Schiller,Hölderlin, Kleist, Brentano, Büchner, Heine, Mö-rike, Droste, Stifter, Meyer, Hofmannsthal, Trakl,Kafka, Lasker-Schüler, Celan). Je nach Anlage undMethodik weisen die genannten Editionen, die teilweisenoch nicht abgeschlossen sind, beträchtliche Unterschiedeauf. Diese lassen sich auf die von den jeweiligen Herausge-bern angewendeten Editionsprinzipien zurückführen, diewissenschaftsgeschichtlichen Wandlungen unterliegen.

Ihre erste Blütezeit erlebte die Editionsphilologie gegenEnde des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Positi-vismus (� IV.3). Neben Großeditionen klassischer Auto-ren wie Goethe (Weimarer Sophien-Ausgabe, 1887–1919)und Schiller (hrsg. von Karl Goedeke, 1867–76) erschie-nen bedeutende Editionsreihen, die auch heute noch Be-stand haben, auch wenn sich die Editionsprinzipien imLaufe der Zeit verändert haben, so die von Hermann Paulbegründete Altdeutsche Textbibliothek (1882ff.).

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Heute hat sich die Editionsphilologie als eigenständigeDisziplin etabliert5 und sowohl theoretische als auchpraktische Richtlinien entwickelt, die sich durch die inten-sive wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnteherauskristallisiert haben. Trotz aller methodischen Diffe-renzen und äußerlichen Unterschiede haben historisch-kritische Ausgaben gemeinsame Merkmale und Zielset-zungen: Sie bieten authentische, kritisch geprüfte Textesowie einen dazugehörigen (kritischen) Apparat, der dieÜberlieferungs-, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichteumfassend dokumentiert, ferner sämtliche Eingriffe desHerausgebers und die Abweichungen zwischen den Über-lieferungsträgern verzeichnet und texterschließende Erläu-terungen in Form eines Einzelstellenkommentars enthält.6Bevor die Grundsätze und formalen Bestandteile histo-risch-kritischer Editionen im Einzelnen erläutert werden,sei noch ein vierter Ausgabentypus vorgestellt.

1.4 Faksimile-Ausgaben

Solche bislang nur für wenige Autoren vorliegenden Aus-gaben (z. B. die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 1975ff.oder die Innsbrucker Trakl-Ausgabe 1995ff.) wendensich an einen Interessentenkreis, der sich einen Text überdas Manuskript selbst erschließen und dessen Entstehungvor Augen führen möchte. Dies setzt eine intensive Be-schäftigung mit den handschriftlichen Eigenheiten des je-weiligen Autors voraus. Faksimile-Ausgaben haben in ers-

5 Parallel zur Institutionalisierung entstanden eigene Periodika wie die Zeit-schrift editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft.

6 Vgl. Norbert Oellers, »Edition«, in: Einführung in die neuere deutsche Li-teraturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch von Dieter Gutzen, N. Oe., Jürgen H.Petersen unter Mitarb. von Eckart Strohmaier, 6., neugef. Aufl. Berlin1989, S. 107 f., und Bodo Plachta, Editionswissenschaft. Eine Einführung inMethode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart 1997 (ReclamsUniversal-Bibliothek, 17603), S. 15.

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ter Linie dokumentarischen Charakter und schließen edi-torische Willkür weitgehend aus. Sie bieten neben derphotomechanischen Reproduktion des Textes auf der ge-genüberliegenden Seite eine zeichen- und zeilengetreueTranskription, d. h. eine diplomatische (›urkundliche‹)Umschrift, die vollständig auf Eingriffe und Verbesserun-gen verzichtet. Wiedergegeben werden sämtliche Text-schichten einschließlich der getilgten, korrigierten oderüberschriebenen Passagen. Dies geschieht zumeist unterZuhilfenahme diakritischer Zeichen, die Korrekturen,Einblendungen, Umstellungen usw. graphisch kennzeich-nen. Der Benutzer wird also nicht mit einem linearen Le-setext konfrontiert,7 sondern er kann das Werk – gegebe-nenfalls mit Seitenblick auf die Transkription – selbst ausdem Manuskript entziffern und damit Schreibprozessund -duktus des Autors nachvollziehen. Der Wert solcherFaksimile-Ausgaben ist in höchstem Maße abhängig vonder Qualität der Reproduktionen bzw. deren Lesbarkeit.Trotz deutlich verbesserter phototechnischer Standards inden letzten Jahren und der vereinzelten Beigabe von CD-ROMs stoßen aber auch diese Ausgaben an ihre Grenzen,sodass der Benutzer im Einzelfall auf das Original zu-rückverwiesen wird. Neuerdings gehen manche Archivedazu über, ihre Bestände zu digitalisieren und ins Internetzu stellen. Auch dadurch eröffnen sich neue Perspektivender Textarbeit und -interpretation.

Im Hinblick auf die editorische Präsentation vonDrucktexten wird in jüngster Zeit verstärkt diskutiert, in-wieweit die typographische Gestalt (Druckbild, Schrifttypusw.) semantisch relevant ist und die Rezeption beein-flusst. Zwar gibt es schon seit einigen Jahrzehnten Re-print-Ausgaben insbesondere von seltenen Werken derfrühen Neuzeit oder von graphisch aufwändig gestalteten,

7 In der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe bieten die Herausgeber zusätzlich»konstituierte« Textversionen an, die durchgängig lesbar sind.

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mit Illustrationen versehenen Drucken, doch handelt essich dabei zumeist um Reproduktionen, die bibliophileBedürfnisse befriedigen und ohne textkritisches Beiwerkauskommen. Wird nun die typographische Struktur einesTextes als bedeutungstragendes Element eingestuft,8 leitetsich daraus beinahe zwangsläufig die editionsphilologischeForderung nach der Faksimilierung von Drucken im Rah-men historisch-kritischer Ausgaben ab. Neuere Editions-projekte wie die Marburger Büchner-Ausgabe oder dievom Institut für Textkritik in Heidelberg herausgegebeneHistorisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften,Drucke und Typoskripte Franz Kafkas (1995ff.) erfüllensolche Ansprüche, indem sie die Erstdrucke bzw. Erstaus-gaben vollständig reproduzieren.

1.5 Regestausgaben

Schließlich sei noch eine editorische Sonderform erwähnt,die bei Autoren Anwendung findet, die eine solche Mengevon Briefen und anderen Schriftdokumenten hinterlassenhaben, dass deren vollständige Edition jeden Rahmensprengen würde. Eine sinnvolle Kompromisslösung stel-len hier die Regestausgaben (mlat. regesta ›Verzeichnis‹)dar, die sämtliche Schriftstücke systematisch verzeichnenund über deren Form und Inhalt einschließlich der ge-nannten Namen knapp informieren. Ein Beispiel dafür istdie von Karl-Heinz Hahn verantwortete Gesamtausga-be der rund 20 000 an Goethe gerichteten Briefe (Anbrie-fe), die seit 1980 in Weimar erscheint.

8 Vgl. zu dieser Problematik generell den Beitrag von Rüdiger Nutt-Kofoth,»Text lesen – Text sehen: Edition und Typographie«, in: Deutsche Viertel-jahrsschrift 78 (2004) H. 1 (März) S. 3–19, hier S. 4.

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2 Aufbau und Funktionsweisehistorisch-kritischer Ausgaben

2.1 Überlieferung und Entstehung von Texten

Der Herausgeber eines Textes muss zu Beginn seiner Ar-beit klären, wo die nachgelassenen Schriften des Autorsarchiviert und welche Textträger bzw. Textzeugen über-liefert sind. Dazu zählen nicht nur die Autographen, alsodie vom Autor angefertigten hand- oder maschinenschrift-lichen Fassungen (Manuskripte, Typoskripte), sondernauch Abschriften von fremder Hand, Korrekturfahnen,Erst- und Nachdrucke, Drucke in Zeitschriften oder Sam-melbänden, unter Umständen sogar Tonaufzeichnungendes Textes (z. B. Diktate oder Radiosendungen). Zu sich-ten und auszuwerten sind ferner sämtliche Vorstudien,Entwürfe, Exzerpte sowie Zeugnisse, die über die Textge-nese (den Prozess der Werkentstehung) Aufschluss geben,etwa Briefe und Tagebuchnotizen, und andere zugehörigeMaterialien.

Der nächste Arbeitsschritt besteht darin, die vorhande-nen Textträger einer kritischen Prüfung (recensio) zu un-terziehen und sie chronologisch zu ordnen. Dies geschiehtdurch den Vergleich der Fassungen, sowohl der vollstän-digen wie der fragmentarischen. Bei Letzteren ist zu un-terscheiden zwischen Entstehungsfragmenten (währendder Niederschrift abgebrochenen Texten) und Überliefe-rungsfragmenten (unvollständig überlieferten Texten).Dem als Kollation bezeichneten Vorgang des Vergleichsgeht bei handschriftlichen Texten die Transkription vor-aus. Bei der Kollationierung werden die Unterschiede derFassungen festgehalten, d. h. sämtliche Abweichungenbzw. Varianten notiert; diese erscheinen im Variantenap-parat (s. u.).

Aus der chronologischen Sortierung der Textträger, de-

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ren Datierung nicht selten allein aufgrund von Indizienerfolgen muss, ergibt sich ein Stemma. Damit ist die sche-matische Darstellung der textgenetischen Abhängigkeitenin Form eines Stammbaums gemeint, in dem sich das›Wachstum‹ eines Werkes von der frühesten Niederschriftbis zum Druck widerspiegelt. Bei Texten der Antike oderdes Mittelalters, die größtenteils nur in Abschriften bzw.Abschriften von Abschriften vorliegen (wie z. B. das Ni-belungenlied), kann das Original, wenn überhaupt, nur er-schlossen werden. Dieses bildet dann die Spitze des Stem-mas. An zweiter Stelle folgt der – nicht mit dem Originalidentische – Archetyp, der den auf der Basis sämtlicherÜberlieferungsträger rekonstruierten ältesten Textzustandrepräsentiert. Er kommt durch die Kontamination zustan-de, d. h. durch die Verschmelzung mehrerer Abschriftenzu einem neuen Text.

Diese Problematik spielt für Texte der neueren deut-schen Literaturgeschichte nur selten eine Rolle. Statt einesStemmas findet sich in den meisten historisch-kritischenAusgaben eine genaue Beschreibung sämtlicher relevanterTextzeugen in chronologischer Reihenfolge (jeweils mitpräzisen Angaben über Aufbewahrungsort, Umfang, Pa-pierart und -format, Art der Beschriftung, Datierung, Sei-tenzählung usw.). Die Textträger werden in der Regel mitsogenannten Siglen gekennzeichnet. Eingebürgert habensich folgende Abkürzungen: H = Handschrift von eigenerHand; h = Abschrift von fremder Hand; T = Typoskript;D = Druck in Buchform; d = nichtautorisierter Druck;Z = Zeitschriftendruck usw. Liegen mehrere handschriftli-che Versionen und Drucke vor, werden diese entspre-chend ihrer Entstehungschronologie beziffert (H1, H2

usw.). Enthält das Manuskript auch Einträge anderer Per-sonen, wird dies durch kombinierte Siglen (z. B. H1h)wiedergegeben.

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Historisch-kritische Ausgaben 25

2.2 Textgrundlage

Die Bestimmung der Textgrundlage ist für jeden Heraus-geber die wohl schwerwiegendste und folgenreichste Ent-scheidung, die er zu treffen hat. In einer historisch-kriti-schen Ausgabe wird die Textgrundlage nicht nur explizitbenannt, sondern der Editor legt auch seine Editionsprin-zipien und Entscheidungskriterien offen. Ein wichtigerFaktor in der diesbezüglichen Argumentation ist die Auto-risation. Nicht jeder Text, der in Buchform oder in einemZeitschriftendruck an die Öffentlichkeit gelangt, entsprichtden Vorstellungen seines Urhebers, ist also von ihm zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt aktiv oder passiv autorisiertworden. Insbesondere von erfolgreichen Büchern werdengelegentlich ohne Wissen und Erlaubnis des Verfassers undseines Verlegers Raubdrucke auf den Markt gebracht. Sokursierte etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der zweitenAuflage von Goethes Briefroman Die Leiden des jungenWerthers ein Raubdruck des Berliner Verlegers Himburg.Dieser illegitime bzw. unautorisierte Nachdruck aus demJahre 1775 zeigt gegenüber dem Erstdruck (1774) mehrereEingriffe, die nicht auf Goethe zurückgehen.

Dass Texte nicht in einer der Autorintention entspre-chenden Version verbreitet werden, sondern mitunter so-gar in verstümmelter Form, kann auch an Eingriffen lie-gen, die vom Verlag oder von der Redaktion aus politisch-ideologischen Gründen, aus Rücksichtnahme auf religiöseoder ethisch-moralische Normen oder anderen Motivenvorgenommen wurden. Insbesondere in totalitären Staats-formen hatten und haben Schriftsteller mit der Zensur zukämpfen. So musste Heinrich Heine in seinem satiri-schen Versepos Deutschland. Ein Wintermährchen (1844)auf Druck der Zensurbehörden eine Reihe von Entschär-fungen vornehmen, um das Werk als Einzeldruck veröf-fentlichen zu können.9 Nicht immer lässt sich rekonstruie-

9 Vgl. Plachta (s. Anm. 6) S. 83–86.