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Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 1 Armin Nassehi Institut für Soziologie Vorlesung Soziologische Theorie SoSe 2019 Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax 1. Juli 2019 Niklas Luhmann: Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/ Soziologie als Theorie autopoietischer Systeme Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 2 Armin Nassehi Institut für Soziologie Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen 2. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2011. Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen Aktualisierte Auflage Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

09 Luhmann TheorieI SoSe19 - ls1.soziologie.uni-muenchen.de · Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 11 Armin Nassehi Institut für Soziologie schen Kontroversen: Statik versus Dynamik, Struktur

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VorlesungSoziologische Theorie

SoSe 2019Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax

1. Juli 2019

Niklas Luhmann:Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/

Soziologie als Theorie autopoietischer Systeme

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Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen2. Aufl.Wiesbaden: VS-Verlag 2011.

Hans Joas/Wolfgang Knöbl:Sozialtheorie. Zwanzig einführende VorlesungenAktualisierte AuflageFrankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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Programm

29.04.Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und MarxDie Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre KritikGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, �� 182-188, S. 339-346;

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, Berlin (DDR) 1969, S. 378-391.

06.05. (Julian Müller)Emile Durkheim: Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als MoralwissenschaftEmile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim: Regeln der

soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.

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13.05.Max Weber:Soziologie ohne GesellschaftMax Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler, Stuttgart

2002, S. 275-313.

20.05. (Julian Müller)George Herbert Mead:Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als VerhaltenswissenschaftGeorge Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und 230-265.

27.05.Talcott Parsons:Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer SystemeTalcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.

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03.06.Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann:Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und AnthropologieAlfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der Lebenswelt. Band

1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.

10.06. Pfingstmontag

17.06.Gary S. Becker/James ColemanGesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler WahlGary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.

24.06.Jürgen Habermas:Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als AufklärungsprojektJürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen,

Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.

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01.07.Niklas Luhmann:Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als AufklärungNiklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49.

08.07.Pierre Bourdieu:Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)AufklärungPierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S.

49-81.

15.07.Bruno Latour:Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider AkteureBruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der

Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.

22.07.Klausur

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Weitere Informationen:

Die Texte werden in den Tutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung mitgelesen werden.

Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der Vorlesung erläutert.

Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage des Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de).

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Niklas Luhmann (1927-1998)

Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984

S. 30: Die folgenden Überlegungen gehen davonaus, dass es Systeme gibt.______________________________________________________Niklas Luhmann: Archimedes und wir. Interviews, hg. v. D. Baecker u. G. Stanitzeck, Berlin 1987

S. 127: Ich weiss nicht, ob ich es auf eine Formel bringen kann. Aber wenn, dann ist es jedenfalls eine sehr viel begrifflichere und

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theoretischere Option. Ich halte es zum Beispiel für fruchtbarer, Theorien nicht mit Einheit anzufangen, sondern mit Differenz, und auch nicht bei Einheit (im Sinne von Versöhnung) enden zu lassen, sondern bei einer, wie soll ich sagen, besseren Differenz. Deswe-gen ist zum Beispiel das Verhältnis von Systemen und Umwelt für mich wichtig, und auch der Funktionalismus, weil er immer bedeu-tet, dass man Verschiedenes miteinander vergleichen kann. Wenn ich also eine grundlegende Intuition angeben kann, würde ich nicht notwendigerweise gerade auf die eben geschilderte, aber auf etwas in der Art abstellen.

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Soziale Systeme, a.a.O.

S. 33f.: Für die Theorie sozialer Systeme werden ihrerseits, und deshalb sprechen wir von ‚allgemein’, Universalitätsansprüche er-hoben. Das heißt: Jeder soziale Kontakt wird als System begriffen bis hin zur Gesellschaft als Gesamtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme er-hebt, mit anderen Worten, den Anspruch, den gesamten Gegen-standsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem Sinne uni-verselle soziologische Theorie zu sein. Ein solcher Universalitäts-anspruch ist ein Selektionsprinzip. Er bedeutet, dass man Gedan-kengut, Anregungen und Kritik nur akzeptiert, wenn und so weit sie sich ihrerseits dieses Prinzip zu eigen machen. Hieraus ergibt sich eine eigentümliche Querlage zu den klassischen soziologi-

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schen Kontroversen: Statik versus Dynamik, Struktur versus Pro-zeß, System versus Konflikt, Monolog versus Dialog oder, proji-ziert auf den Gegenstand selbst, Gesellschaft versus Gemeinschaft, Arbeit versus Interaktion. Solche Kontrastierungen zwingen jede Seite zum Verzicht auf Universalitätsansprüche und zur Selbst-bewertung ihrer eigenen Option; bestenfalls zu Behelfskonstruktionen mit Einbau des Gegenteils in die eigene Option. Solche Theorieansätze sind nicht nur undialektisch gedacht, sie verzichten auch vorschnell auf eine Ausnutzung der Reichweite systemtheoretischer Analyse. Seit Hegel und seit Parsons kann man dies wissen.

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Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt 36 (1985)

S. 403: Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Alles, was sol-che Systeme als Einheit verwenden, ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder Input von Einheit in das System, noch Output von Einheit aus dem Sy-stem. Das heißt nicht, dass keine Beziehungen zur Umwelt beste-hen, aber diese Beziehungen liegen auf anderen Realitätsebenen als die Autopoiesis selbst.

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Soziale Systeme, a.a.O

S. 25: Die (inzwischen klassische) Unterscheidung von ‚geschlos-senen’ und ‚offenen’ Systemen wird ersetzt durch die Frage, wie selbstreferentielle Geschlossenheit Offenheit erzeugen könne._____________________________________________________S. 166: Wir müssen uns jetzt die Frage stellen, wieso das Problem der doppelten Kontingenz ‚sich selbst löst’; oder weniger zuge-spitzt formuliert: wie es dazu kommt, dass das Auftreten des Pro-blems einen Prozeß der Problemlösung in Gang setzt.Entscheidend dafür ist der selbstreferentielle Zirkel selbst: Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will. Dieser Zirkel ist, in rudi-mentärer Form, eine neue Einheit, die auf keines der beteiligten Sy-

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steme zurückgeführt werden kann....Es handelt sich, wie man sieht, um eine extrem instabile Kernstruk-tur, die sofort zerfällt, wenn nichts weiter geschieht. Aber diese Ausgangslage genügt, um eine Situation zu definieren, die die Möglichkeit in sich birgt, ein soziales System zu bilden. Diese Si-tuation verdankt ihre Einheit dem Problem der doppelten Kontin-genz: auch sie ist daher nicht auf eines der beteiligten Systeme zu-rückzuführen. Sie ist für jedes der beteiligten Systeme Moment des eigenen Umweltverhältnisses, zugleich aber Kristallisationskern für ein emergentes System/Umwelt-Verhältnis. Dies soziale System gründet sich mithin auf Instabilität. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer zir-

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kulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn dem nicht entgegengewirkt wird. Dies geschieht for-mal durch Enttautologisierung und, was Energie und Information angeht, durch Inanspruchnahme von Umwelt. ______________________________________________________S. 196: ... diese Überlegung lehrt, dass es bei Kommunikation nie um ein Geschehen mit zwei Selektionspunkten geht – weder im Sinne von Geben und Annehmen, noch im Sinne der Differenz von Information und Mitteilungsverhalten. Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese zuletzt genannte Differenz beobachtet, zuge-mutet, verstanden und der Wahl des Anschlussverhaltens zu Grun-de gelegt wird. Dabei schließt Verstehen mehr oder weniger weit-gehende Missverständnisse als normal ein.

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Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990

S. 31: Da Bewußtseinssysteme ebenso wie Kommunikationssyste-me nur unter ... Bedingungen ihrer eigenen Autopoiesis operieren können, gibt es keinerlei Überschneidung ihrer Operationen. Die Einheit eines Einzelereignisses, eines einzelnen Gedankens oder einer einzelnen Kommunikation kann immer nur im System unter rekursiver Vernetzung mit anderen Elementen desselben Systems erzeugt werden. ... Es gibt also keine ‘bewußten Kommunikatio-nen’, so wenig wie es ‘kommunikatives Denken’ ... gibt. Oder an-ders gesagt: Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kom-munikation kann kommunizieren.

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S. 22f.: So ist denn auch nicht zu erwarten, dass durch Kommuni-kation die Integration von Individuen oder ihre wechselseitige Transparenz oder auch nur die Koordination ihres Verhaltens ver-bessert werden könnte. ... Im Gegenteil: es ist nicht mehr unwahr-scheinlich, dass durch Auswirkungen von Kommunikation Leben und Bewusstsein von Menschen gänzlich ausgelöscht wird. Unter solchen Umständen ist es ebenso verständlich wie hoffnungslos, Idealbedingungen eines Konsenses aller wohlmeinenden Indivi-duen zu normieren. Sich so weit von Realbedingungen zu entfer-nen, kann nicht gut als rational postuliert werden.

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Soziale Systeme, a.a.O.

S. 228f.: Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstitu-iert. Sie kommen dadurch zustande, dass Selektionen, aus welchen Gründen, in welchen Kontexten und mit Hilfe welcher Semantiken (‚Absicht’, ‚Motiv’, ‚Interesse’) immer, auf Systeme zugerechnet werden. ... Was eine Einzelhandlung ist, lässt sich deshalb nur auf Grund einer sozialen Beschreibung ermitteln.______________________________________________________S. 193: Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituie-rende Prozess ist ein Kommunikationsprozess. Dieser Prozess muss aber, um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungen dekomponiert werden. Soziale Systeme werden demnach nicht aus Handlungen aufgebaut, so als ob diese Hand-

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lungen auf Grund der organisch-psychischen Konstitution des Menschen produziert werden und für sich bestehen könnten; sie werden in Handlungen zerlegt und gewinnen durch diese Reduk-tion Anschlussgrundlagen für weitere Kommunikationsverläufe.______________________________________________________S. 59: Selbstreferenz hat in der Form des Paradoxes unbestimmbare Komplexität. Selbstreferentiell operierende Systeme können mithin nur komplex werden, wenn es ihnen gelingt, dieses Problem zu lösen, sich also zu entparadoxieren.

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S. 63: Beobachtung heißt in diesem Zusammenhang, d.h. auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie, nichts weiter als: Handha-bung von Unterscheidungen. Nur im Falle psychischer Systeme setzt der Begriff Bewusstsein voraus (man könnte auch sagen: ent-steht aus Anlaß von Beobachtungen das systemeigene Medium Be-wusstsein). Andere Systeme müssen ihre eigenen Möglichkeiten des Beobachtens gewinnen.

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Sthenographie, in: Niklas Luhmann u.a.: Beobachter. Konver-genz der Erkenntnistheorien?, München 1990

S. 123: Ein Paradox ist ja immer ein Problem eines Beobachters. Wollte man behaupten, das Sein selbst wäre paradox, wäre eben diese Behauptung paradox. Paradoxien können deshalb nur behan-delt werden, wenn man Beobachter beobachtet, und zwar aus einer Perspektive, die man heute Kybernetik zweiter Ordnung nennt. Je-de Absicht auf vollständige Beschreibung, die nur Vollständigkeit erreichen kann, wenn sie sich selbst einbezieht, läuft auf dieses Problem auf. ... Vielleicht lässt sich also das Problem auf eine Mehrheit von vernetzten Beobachtern verteilen. Jeder Beobachter beobachtet, was er beobachten kann, aufgrund seiner für ihn un-

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sichtbaren Paradoxie, aufgrund einer Unterscheidung, deren Einheit sich seiner Beobachtung entzieht. Man hat die Wahl, ob man von wahr/unwahr, Krieg/Frieden, Frau/Mann, gut/böse, Heil/Verdamm-nis etc. ausgeht, aber wenn man für die eine oder die andere Unter-scheidung optiert, hat man nicht mehr die Möglichkeit, die Unter-scheidung als Einheit, als Form zu sehen – es sei denn mit Hilfe einer anderen Unterscheidung, also als ein anderer Beobachter. Auch die Anwendung einer solchen Unterscheidung auf sich selbst hilft nicht weiter. Im Gegenteil: sie endet im Paradox.

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S. 132: Und nun kann man sehen: alles Begründen verwickelt sich

in eine Paradoxie. Wenn man die Suche nach Gründen als Tätigkeit

beobachtet, erscheint sie als eine paradoxe Operation. Jedes Be-

gründen setzt sich durch den bloßen Vollzug (und auch durch den

Vollzug einer Frage oder einer unendlichen Suche) dem Vergleich

mit anderen Möglichkeiten und damit dem Selbstzweifel aus. Die

Begründung produziert auf der Suche nach Notwendigem Kontin-

genzen. Sie operiert kontraintuitiv. Sie entfernt sich von dem Ziel,

das sie anstrebt. Sie sabotiert sich laufend selbst, indem sie einen

Zugang zu anderen Möglichkeiten eröffnet, wo sie ihn verschließen

möchte. Geschlossenheit ist nur mit Hilfe einer Differenz erreich-

bar, nur als Eingeschlossensein in den Zusammenhang der eigenen

Rekursivität, nur als Systembildung. Die Erzeugung von Geschlos-

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senheit ist der operative Vollzug der Erzeugung von Geschlossen-heit, und nicht etwas, was man als Grund vorfinden könnte, von dem man ausgehen oder den man entdecken kann. Der Grund kann nur in der Tätigkeit des Begründens liegen, in den künstlichen Re-dundanzen, die sie aufbaut, also in der funktionierenden Rekursi-vität des Begründens, also in dem System, das sie bildet. _____________________________________________________Ökologische Kommunikation. Kann sich die moderne Gesell-schaft auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986

S. 204f.: Jedes Funktionssystem rekonstruiert mithin, zusammen mit seiner Umwelt, die Gesellschaft. Jedes Funktionssystem kann daher, wenn und soweit es für die eigene Umwelt offen ist, für sich selbst plausibel annehmen, die Gesellschaft zu sein. Mit der Ge-

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schlossenheit der eigenen Autopoiesis bedient es eine Funktion des Gesellschaftssystems. ... Alles kann zum Beispiel wahr oder un-wahr sein, aber eben nur wahr oder unwahr nach Maßgabe der spe-zifischen Theorieprogramme des Wissenschaftssystems. Das heißt vor allem: Kein Funktionssystem kann für ein anderes einspringen; keines kann ein anderes ersetzen oder auch nur entlasten. Politik kann nicht für Wirtschaft substituiert werden, Wirtschaft nicht für Wissenschaft, Wissenschaft nicht für Recht oder für Religion, Reli-gion nicht für Politik, usw. in allen denkbaren Intersystemrelatio-nen.

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Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997

S. 1128f.: Die Soziologie hat sicher nicht die reichen Möglichkei-ten literarischer Gestaltung, mit denen die Philosophie aufwarten kann. Sie muß auf ‘Wissenschaftlichkeit’ achten, was nicht zuletzt eine Stilfrage ist. Man kann heute vielleicht davon ausgehen, daß der dürre veri-/falsifikationistische Stil des logischen Positivisums, der alle anderen Ausdrucksformen als Poesie oder Metaphysik de-klassiert, sich nicht eignet. Abgesehen davon, daß er philosophisch und erkenntnistheoretisch nicht länger gedeckt ist, bringt er gerade zum Ausdruck, daß er sein Objekt vor sich, also außer sich sieht.

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S. 1123f.: Was die Soziologie zusätzlich tun kann, ist: die struktu-rellen Bedingungen für ihre Position als Beobachter zweiter Ord-nung zu reflektieren. Sie liegen, wie leicht zu sehen ist, in der funk-tionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems. Durch funktio-nale Differenzierung des Gesellschaftssystems wird jedem Funk-tionssystem die Einrichtung einer eigenen Autopoiesis ermöglicht. Zugleich wird die Position eliminiert, die als die ‘herrschende’ für alle sprechen könnte [...] Unter diesen Rahmenbedingungen ope-riert auch die Wissenschaft und speziell die Soziologie. Soziologie kann in ihrer Gesellschaftsbeschreibung miterfassen, daß sie ihrer-seits in der Gesellschaft durch die Gesellschaft ermöglicht wird.

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S. 1135: Die europäische Tradition des (rationalen) Erkennens und

Handelns hatte nach letzten Gründen, nach Prinzipien, nach unbe-

streitbaren Maximen gefragt. Würde man sie fortsetzen, müßte man

eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft abliefern mit der Erklä-

rung: dies sei die richtige. Man müßte Autorität in Anspruch nah-

men, und sei es nur die Unterstellung, man könne weitere Gründe

anführen und so lange argumentieren, bis ein jeder überzeugt sei.

Aber wenn eine solche Prätention beobachtet (und das heißt immer:

in der Gesellschaft beobachtet) wird, ist sie schon nicht mehr, was

sie zu sein meinte. Sie hatte im Bereich ihres Beobachtens unter-

schieden und bezeichnet; aber nun wird sie selber unterschieden

und bezeichnet. Die Welt, die Gesellschaft ist als Bedingung der

Möglichkeit des Unterscheidens für die Beobachter dieselbe - und

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nicht dieselbe insofern, als sie je nach der Unterscheidung, von der man ausgeht, anders gespalten und daher in anderer Weise zum Paradox wird. Wenn man Selbstbeschreibung der Gesellschaft als eine ihrerseits in der Gesellschaft beobachtbare und beschreibbare Operation auffaßt, kommt man nicht umhin, alles Beobachten und Beschreiben als Verdecken und Entfalten des Einheitsparadoxes aufzufassen; und dann versteht es sich von selbst, daß dies auf verschiedene Weisen geschehen kann. ______________________________________________________S. 1135f.: In der heutigen Wissenschaftslandschaft liegt es nahe, diese paradoxe Ausgangslage als Einheit von Konstruktivismus und Dekonstruktivismus zu formulieren. Das schließt ein, daß die Konstruktionen der Soziologie ihre eigene Dekonstruierbarkeit mit-reflektieren müssen. Wie immer das dann verstanden wird [...], die

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Soziologie wird in allen Texten, die sie produziert, nicht nur Falsi-fizierbarkeit, sondern auch Dekonstruierbarkeit aller Identitäten und Unterscheidungen im Auge behalten müssen. Darin, daß sie sich überhaupt äußert, liegt schon eine Information über die Art und Weise, in der sie ihr Sich-sichtbar-Machen versteht - als Be-lehrung oder als Kritik, als Disposition über Wahrheiten, die von anderen hinzunehmen sind, oder als sinngebende Instanz. Darin, daß sie überhaupt kommuniziert und, anders als der Autor einer Erzählung, sich nicht als Autor verstecken kann, liegt schon das Paradox einer Dekonstruktion der Behauptungen durch die bloße Operation ihrer Mitteilung. Eine Möglichkeit, auf diese Heraus-forderung angemessen zu reagieren, ist die bereits genannte, näm-lich die theoretischen Strukturen so klar wie irgend möglich darzu-

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stellen, so daß die weiterlaufende Kommunikation wenigstens fest-stellen kann, was zur Beobachtung und zur Annahme bzw. Ableh-nung vorgelegt wird.