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PRAXIS Mini-Review Praxis 2008; 97: 549557 549 Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin Inselspital, Universität Bern 1 , Psychosomatische Fachklinik Kinzigtal, Gengenbach, Deutschland 2 1 N. Egloff, 2 U.T. Egle, 1 R. von Känel Weder Descartes noch Freud? Aktuelle Schmerzmodelle in der Psychosomatik Neither Descartes nor Freud? Current Pain Models in Psychosomatic Medicine © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern DOI 10.1024/1661-8157.97.10.549 Zusammenfassung In der Betreuung von chronischen Schmerzpatienten greifen Erklärungs- modelle, welche auf der Nachweisbar- keit von peripheren organischen Be- funden beharren oder – bei deren Nichtnachweisbarkeit – direkt auf eine Psychologisierung der Schmerzen um- schwenken, oftmals zu kurz. Der heu- tige Wissensstand verlangt nach einer differenzierteren Betrachtungsweise, welche neurobiologische und neuro- psychische Aspekte des Schmerzerle- bens integriert Schlüsselwörter: Schmerzen, chroni- sche – Schmerzmodelle – Descartes – Freud Einleitung Schmerz ist das am häufigsten geklagte Symptom in der Allgemeinpraxis. V.a. bei chronischen Schmerzen ist es aber oft nicht einfach, die in der Anam- nese kommunizierten Beschwerden mit einem erklärenden, objektivierbaren Be- fund in Verbindung zu bringen. Unsere Vorstellungen (wie auch die der Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV) sind immer noch stark von einem dualis- tischen Schmerzverständnis geprägt: wir versuchen «somatische» und «psycho- gene» Schmerzen auseinander zu halten. Dieses dichotome Verständnis fusst auf der Interpretation von Erkenntnissen grosser Denker wie Descartes und Freud. Deren Modellbeiträge sollen im Kontext heutiger Erkenntnisse durch ein aktuel- les Schmerzverständnis ergänzt werden. Insbesondere ist eine sorgfältige Diffe- renzierung des Aspektes der «Psycho- genizität» notwendig. Jedes nachfolgend erläuterte Schmerzkonzept hat seine logischen Anwendungen aber auch seine Unzulänglichkeiten. Als behandelnder Arzt ist es wichtig, sich im Klaren zu sein, nach welchem Verständnismodell man den Schmerz eines Patienten beurteilt. Ebenfalls ist es lohnend, das Schmerz- modell des Patienten in Erfahrung zu bringen. Das vorkartesianische Modell Schmerz = Schaden und Strafe höherer Macht Jeder von uns trifft bis heute immer wie- der auf Patienten mit einem vorwiegend vorkartesianischen Schmerzverständnis. Körper und Körperwahrnehmung sind eine (noch) undifferenzierte Einheit. Schmerzerleben wird direkt gleichgesetzt mit Bedrohung der persönlichen Integri- tät. Naturwissenschaftlich-anatomische und/oder psychologische Abstraktionen sind nur rudimentär vorhanden, indes- sen sind vielfach philosophisch-religiöse oder magische Vorstellungen von «Ver- schuldung» oder «Strafe» von Be- deutung. Dem «wissenden» Arzt kommt im vorkartesianischen Kontext ein hoher Machtstatus zu; der «unwissende» Pa- tient ist ihm gewissermassen ausgelie- fert, es muss dem Arzt geglaubt werden. Der Fall Eine 48-jährige Migrantin mit chro- nischen Kopf-, Nacken- und Rücken- schmerzen meldet sich in der Sprech- stunde. Sie stammt aus einer abge- legenen südosteuropäischen Provinz, wo sie nur 5 Jahre die Grundschule besuchen konnte. Sie befürchtet, ihre nun seit 4 Jahren bestehenden Schmer- zen seien Ausdruck von Alterung und biologischem Zerfall. Im Laufe des Gespräches äussert sie nebenbei, dass sie sich immer wieder frage, woher diese heftigen Schmerzen kommen könnten, es sei ihr nicht bewusst, dass sie oder jemand ihrer Familie «etwas getan» hätte. Sie bittet den Arzt, die Schmerzen «weg zu machen». Im Artikel verwendete Abkürzungen: CGRP Calcium Gene related Peptide CRH Corticotropin Releasing Hormon fMRI functional Magnetic Resonance Imaging HWS Halswirbelsäule PAG periaquäduktale Grau PET Positronenemissions- tomographie

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PRAXIS Mini-Review Praxis 2008; 97: 549–557 549

Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin Inselspital, UniversitätBern1, Psychosomatische Fachklinik Kinzigtal, Gengenbach, Deutschland2

1N. Egloff, 2U.T. Egle, 1R. von Känel

Weder Descartes noch Freud?Aktuelle Schmerzmodelle in derPsychosomatikNeither Descartes nor Freud? Current Pain Models in Psychosomatic Medicine

© 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern DOI 10.1024/1661-8157.97.10.549

Zusammenfassung In der Betreuung von chronischenSchmerzpatienten greifen Erklärungs-modelle, welche auf der Nachweisbar-keit von peripheren organischen Be-funden beharren oder – bei derenNichtnachweisbarkeit – direkt auf einePsychologisierung der Schmerzen um-schwenken, oftmals zu kurz. Der heu-tige Wissensstand verlangt nach einerdifferenzierteren Betrachtungsweise,welche neurobiologische und neuro-psychische Aspekte des Schmerzerle-bens integriertSchlüsselwörter: Schmerzen, chroni-sche – Schmerzmodelle – Descartes –Freud

EinleitungSchmerz ist das am häufigsten geklagteSymptom in der Allgemeinpraxis. V.a.bei chronischen Schmerzen ist es aberoft nicht einfach, die in der Anam-nese kommunizierten Beschwerden miteinem erklärenden, objektivierbaren Be-fund in Verbindung zu bringen.

Unsere Vorstellungen (wie auch die derDiagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV)sind immer noch stark von einem dualis-tischen Schmerzverständnis geprägt: wirversuchen «somatische» und «psycho-gene» Schmerzen auseinander zu halten.

Dieses dichotome Verständnis fusst aufder Interpretation von Erkenntnissengrosser Denker wie Descartes und Freud.Deren Modellbeiträge sollen im Kontextheutiger Erkenntnisse durch ein aktuel-les Schmerzverständnis ergänzt werden.Insbesondere ist eine sorgfältige Diffe-renzierung des Aspektes der «Psycho-genizität» notwendig. Jedes nachfolgenderläuterte Schmerzkonzept hat seinelogischen Anwendungen aber auch seineUnzulänglichkeiten. Als behandelnderArzt ist es wichtig, sich im Klaren zu sein,nach welchem Verständnismodell manden Schmerz eines Patienten beurteilt.Ebenfalls ist es lohnend, das Schmerz-modell des Patienten in Erfahrung zubringen.

Das vorkartesianischeModellSchmerz = Schaden und Strafehöherer MachtJeder von uns trifft bis heute immer wie-der auf Patienten mit einem vorwiegendvorkartesianischen Schmerzverständnis.Körper und Körperwahrnehmung sindeine (noch) undifferenzierte Einheit.Schmerzerleben wird direkt gleichgesetztmit Bedrohung der persönlichen Integri-tät. Naturwissenschaftlich-anatomischeund/oder psychologische Abstraktionensind nur rudimentär vorhanden, indes-sen sind vielfach philosophisch-religiöse

oder magische Vorstellungen von «Ver-schuldung» oder «Strafe» von Be-deutung. Dem «wissenden» Arzt kommtim vorkartesianischen Kontext ein hoherMachtstatus zu; der «unwissende» Pa-tient ist ihm gewissermassen ausgelie-fert, es muss dem Arzt geglaubt werden.

Der FallEine 48-jährige Migrantin mit chro-nischen Kopf-, Nacken- und Rücken-schmerzen meldet sich in der Sprech-stunde. Sie stammt aus einer abge-legenen südosteuropäischen Provinz,wo sie nur 5 Jahre die Grundschule besuchen konnte. Sie befürchtet, ihrenun seit 4 Jahren bestehenden Schmer-zen seien Ausdruck von Alterung undbiologischem Zerfall. Im Laufe desGespräches äussert sie nebenbei, dasssie sich immer wieder frage, woher diese heftigen Schmerzen kommenkönnten, es sei ihr nicht bewusst, dasssie oder jemand ihrer Familie «etwasgetan» hätte. Sie bittet den Arzt, dieSchmerzen «weg zu machen».

Im Artikel verwendete Abkürzungen:CGRP Calcium Gene related PeptideCRH Corticotropin Releasing HormonfMRI functional Magnetic Resonance

ImagingHWS HalswirbelsäulePAG periaquäduktale GrauPET Positronenemissions-

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Descartes’ InnovationDas biologische Ursachen-Wirkungs-PrinzipAls ein Vorreiter der Aufklärung propa-gierte das Universalgenie René Descar-tes (1596–1650) naturwissenschaftlicheDenkmuster. Sein Mitte des 17. Jahrhun-derts aufgezeichnetes Prinzip des «Glo-ckenstrang-Schmerzmodells» (Abb. 1)gilt bis heute für viele Laien und Medizi-nalpersonen als selbstverständliche Tat-sache: Damit Schmerz entstehen kann,ist eine körperliche Schädigung notwen-dig. Diese Schädigung löst eine nervlicheReizung aus, welche wie über einen«Glockenstrang» (Abb. 2) zum Bewusst-sein geleitet wird. Damit hat Descartesden klassischen «bottom-up»-Weg derakuten somatischen Schmerzgenesebeschrieben. Sein Schmerzmodell im-pliziert ein logisches, proportionalesKausalverhältnis zwischen dem Ausmassder Köperschädigung und der empfun-denen Schmerzwahrnehmung. Descar-tes’ grosser Verdienst ist eine Differenzie-rung zwischen peripherer somatischerSchmerzursache, nervlicher Schmerzüber-mittlung und subjektiver Schmerzwahr-nehmung.Descartes gilt indessen als klassischerVertreter eines dualistischen Körperver-ständnisses. Diese Zweiteilung domi-niert bis heute im westlichen Medizin-verständnis, indem bei «Soma» und

«Psyche» von zwei Dingen unterschied-licher Natur ausgegangen wird.Das Glockenstrang-Modell stösst sofortan seine Grenzen, wenn Schmerzen ge-klagt werden, bei welchen keine ge-nügend erklärende periphere Ursachegefunden wird. Der kartesianische Arztbleibt dann dem kartesianischen Patien-ten eine «naturwissenschaftliche» Erklä-rung schuldig. Schnell kommt es dabeizur unausgesprochenen Abkühlung desVertrauens in der Arzt-Patienten-Be-ziehung: Liegt eine psychische Über-lagerung oder Aggravation vor? fragt sichder Arzt. Schaut der Arzt überhaupt amrichtigen Ort? fragt sich der aufgeklärtekartesianische Patient.

Der FallDer Ehemann derselben 48-jährigenPatientin denkt kartesianisch. Es kanndoch nicht sein, dass seine Frau «ohneGrund» derartige Schmerzen im HWS-Bereich hat. Bei ihm hat man schliess-lich auch erst nach längerem Warteneine Diskushernie festgestellt. SeineFrau hat über Jahre hinweg am Fliess-band hart gearbeitet; wahrscheinlichliegt eine Art «Abnutzung» vor, denkter. Die Patientin wird nun rheumato-logisch abgeklärt. Der Rheumatologebeschreibt leichte degenerative Verän-derungen im Bereich der HWS- undSchultergelenke. Im Bericht steht aber:«aus somatischer Sicht können die

Beschwerden nicht mit diesen Befun-den erklärt werden.» Wenn es nichtkörperlich ist, ist espsychisch: Leidet die Patientin an psychischen Proble-men? Den psychiatrischen Kollegenbeiziehen?

Freuds VerdienstDer mächtige Faktor PsycheDescartes’ Differenzierung zwischen«objektivem Körper» und «subjektiverSeele/Psyche» führte im Zuge einer zu-nehmend materialistisch orientiertenWissenschaft leider zu einer Ignoranzdes Subjektiven. Möglicherweise wurdediese Abspaltung und Degradierung desSubjektiven noch dadurch unterstützt,dass traditionellerweise die Kirche ge-wissermassen das «Hoheitsgebiet» fürseelische Belange für sich beanspruchteund sich gegenüber wissenschaftlichenErkenntnissen zurückhaltend gab.Sigmund Freuds geistiger Autonomieund Neugierde ist es zu verdanken, dassdie «Psyche als erforschbares Alltags-phänomen» im 20. Jahrhundert einkollektives Thema wurde. Freud unter-suchte nun quasi «die Glocke» von Des-cartes’ Modell. Ihr Klang ist äusserstvielschichtig. Und sie hat, wenn sie ent-sprechend in Schwingung versetzt ist,eine derartige Wucht, dass Descartes’Kausalitätsprinzip geradezu auf den

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Abb. 1: Weg desSchmerzes nachR. Descartes

Abb. 2: Kartesianisches Glockenstrang-modell

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Kopf gestellt werden kann (Abb. 3). Wirsprechen von «psychogenen» Schmerz-störungen oder allgemeiner: vom «top-down»-Prinzip.

Obwohl Freud selber wohl eher ein mo-nistisches Körperverständnis hatte, hatsich mit der Beschreibung von «psycho-genen Körperstörungen» das dualisti-sche Schmerzverständnis im medizini-schen Alltag noch mehr gefestigt: Manunterscheidet zwischen «organischen»und «nicht-organischen» Schmerzen.Der «nicht-materielle» oder «psychoge-ne» Schmerz ist in den Augen kartesiani-scher Ärzte und Patienten etwas äusserstSuspektes: Viele Laien assoziieren denpsychogenen Schmerz mit etwas Virtuel-lem, Eingebildetem, Ersponnenem odergar Vorgetäuschtem. Echter Schmerz hateine dafür hinreichende periphere Ge-webeschädigung als Ursache zu haben!

Der FallUnsere Patientin leidet unter andereman muskulären Verspannungen im Tra-peziusbereich. Woher kommen dieseVerspannungen? Die Patientin wirktunter Druck, gestresst. Sie hat stets kalte Hände, sie klagt zuweilen überVerdauungsprobleme und einen ge-störten Schlaf. Wir diagnostizierennach ICD eine sog. somatoforme auto-nome Funktionsstörung. Oder geht esnoch weiter? Wir vermuten eine psy-

chosoziale Hintergrundsproblematik,ein nicht aussprechbares psychischesProblem. Eine Somatisierungsstörungoder im Extremfall gar eine Konver-sionsstörung? Da dann nach Theoriev.a. abgewehrte, d.h. verdrängte bzw.dem Bewusstsein nicht zugänglichepsychische Probleme zu solchen Stö-rungen führen können, ist es nicht ver-wunderlich, dass die Patientin keineKrankheitseinsicht bezüglich «Psycho-genizität» aufbringen kann. Wie kom-muniziere ich etwas, was die Patien-tin wohl hat, gerade weil sie meint, esnicht zu haben?Nach Abschluss der Sprechstunde ge-wahre ich, dass inzwischen auch meineigener Nacken schmerzt. Diese ständi-gen Anspannungen erzeugen Schmerz,der Schmerz wiederum begünstigt dieVerspannung. Ist das ein psychischesProblem? Oder einfach zu lange am PCgesessen? Zu lange am Fliessband ge-arbeitet?

Modifizierung deskartesianischen ModellsDer Nervenstrang mixt mitZwischen peripherem Korrelat und zen-traler Schmerzregistrierung herrscht keinstarr-proportionales Ursache-Wirkungs-Prinzip. Bereits in den 1960er Jahrenwurde vermutet, dass die Schmerzüber-tragung im Rückenmark entscheidendmodifiziert wird (sog. Gate-Control-Theorie von Melzack und Wall). DieSchmerzübertragung durchläuft offen-sichtlich unterwegs neuronale Strukturen,welche wie «mechanische Übersetzun-gen» funktionieren und den Schmerz-input verstärken können (Abb. 4).Das Beispiel der neurogenen Schmerz-störung (z.B. Trigeminusneuralgie) illus-triert zusätzlich, dass Schmerz auchinnerhalb des «Glockenstrangs» selberentstehen kann.Aber auch bei vielen primär somato-genen Schmerzstörungen, z.B. demchronischen Arthroseschmerz, spielenneuromodulative Veränderungen eine

Rolle: Auf der ganzen Länge desSchmerzübermittlungssystems (von derPeripherie bis zum Thalamus) kann esdabei zu schmerzverstärkenden Ver-änderungen kommen (Tab. 1). Dieseeingebauten Schmerzverstärkermecha-nismen haben evolutionsbiologisch ver-mutlich die Funktion, das Subjekt zuentlastendenden, körperprotektiven Ver-haltensänderungen zu motivieren. WennEntlastung möglich ist, macht diesebiologische Zusatzwarnung durchwegsSinn, andernfalls gerät der Patient in dieZwickmühle seines eigenen Schmerz-warnsystems: Es entsteht eine somato-gene (häufig verwechselt mit somatofor-mer) Schmerzstörung, welche eigenenKrankheitswert annimmt.

Der FallDer Ehemann der 48-jährigen Patien-tin, welcher wegen eines Diabetesbetreut wird, kommt diesmal viel zuspät in die Praxis. Er wurde vonDescartes zurückgehalten. An seinem«Diabetikerfuss» hat sich ein schmerz-loses Ulkus gebildet. Da er weder vomDiabetes noch vom Fuss her Warn-symptome hatte, kann es nicht soschlimm sein, dachte der Patient inseiner kartesianischen Logik.Vielleicht hat ihn aber auch Freuddavor zurückschrecken lassen, soschnell wieder in die Praxis zu kom-men: Er möchte nicht etwa als «weh-

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Abb. 3: Psychoanalytisches Modell Abb. 4: Modifiziertes kartesianischesModell

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leidig» gelten. Er fühlte sich gekränkt,dass in der letzten gemeinsamen Kon-sultation bei seiner Frau psychischeGründe erwogen worden sind. Wenndas so weiter gehe, werde sie sichernoch depressiv. Er denke eher an das,was der Rheumatologe am Schlussnoch gesagt habe, seine Frau leidewohl an einer Fibromyalgie.

Das postkartesianischeSchmerzmodellModifizierung des dichotomenSchmerzverständnisses durch Ein-blick in die Neurofunktionalitätdes ZNSSchmerzprozesse sind stets eine Formvon Wahrnehmung und damit per se einsomatopsychisches Phänomen!Durch funktionelle Bildgebung (fMRI,PET, EEG etc.) ist es inzwischen approxi-mativ möglich, objektive Korrelate der

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Schmerzweg indirekt in limbische Be-arbeitungssysteme. Die Aktivität derbeteiligten zerebralen Strukturen modu-liert mittels pro- und antinozizeptiverInteraktion das subjektiv empfundeneSchmerzmass. Selbst für den Placeboef-fekt gibt es inzwischen neurofunktionel-le Korrelate [8].Es ist möglich, dass sich in den nächstenJahren die Daten verdichten, sodasssich Standardisierungsrichtlinien zur«Schmerzobjektivierung» bilden könnten.Damit, dass organische Funktionsdar-stellungen subjektiver Vorgänge erhält-lich sind, wird das dualistische Leib-Seele-Konzept um eine Stufe relativiert.Oder präziser: es formuliert sich neu als«brain-mind-Dilemma».Bemerkenswert ist, dass sich die Metho-dik der funktionellen Bildgebung auchbei psychosomatischen Schmerzkrank-heiten anwenden lässt. Bei diesen Pa-tienten kann man eindrücklich verän-derte zerebrale Schmerzreaktionsmusternachweisen, auch wenn keine erklären-den peripheren Korrelate vorhanden sind[9]. Die kartesianische Schmerzlogik wirddamit gründlich relativiert. Es gibt alsoauch Rauch, wo kein Feuer (mehr) ist.

Der FallFür unsere «vorkartesianische» Patientinist es einerlei, «woher» ihre Schmerzenkommen. Sie weiss, dass sie leidet. Die

subjektiven Schmerzwahrnehmung zugewinnen. Die heute bekannte Schmerz-matrix des ZNS umfasst diverse Arealevom Hirnstamm bis zum frontalen Kor-tex [6,7] (Abb. 5). Der mediale Schmerz-weg führt dabei direkt, der laterale

Niveau der Diskutierte MechanismenSchmerzverstärkung

Periphere Nozizeption, Die periphere Nozizeption kann durch Gewebezerfallsstoffe undfreie Nervenendigungen Entzündungsmediatoren markant verstärkt werden, wobei neuro-

gene (!) Substanzen (Substanz P und Calcium Gene related Peptide)diesen Prozess zusätzlich noch ankurbeln können! Der Nerv als«Feuermelder» wird damit quasi zum «Brandstifter». Ein weitererAspekt der peripheren Allodynie und Hyperalgesie beruht darin,dass üblicherweise auf Druckempfindung spezialisierte Nerven-fasern (A�) bei entsprechender Stimulation auch zu «Schmerzüber-leitern» werden können [1].

Synaptische Umschaltung Im Rahmen von Schmerzexposition kann die synaptische Ver-im Hinterhorn schaltung im Hinterhorn «ausgebaut» werden, indem zusätzlichedes Rückenmarks Rezeptorsysteme (z.B. NMDA-, mGluR-, NK1-Rezeptoren) zum Zug

kommen. Der postsynaptische Na-Einstrom verschiebt sich dabeizu Gunsten eines verstärkten Ca-Einstroms. Phosphorylierungspro-zesse führen schliesslich zu einer nachhaltig gesteigerten spinalenReizübertragung [2,3].

Thalamus Bei chronischen Schmerzen kann es zu einer verminderten hämo-dynamischen Aktivität des kontralateralen Thalamus kommen [4].Elektrophysiologische Messungen zeigen im Rahmen chronischerSchmerzen v.a. in zentrolateralen Kernarealen des Thalamuscharakteristische bioelektrische Frequenzveränderungen. DieDysfunktion dieser schmerzmodulierenden Thalamuskernanteilekann zu einer gesteigerten Schmerzperzeption führen [5].

Neokortex, limbisches Siehe Abschnitt «Zentralisierte Schmerzstörungen»System

Tab. 1: Physiologische Prozesse der Hyperalgesie

Abb. 5: Schema vonbei Schmerz invol-vierten Hirnarealen

1 Somatosensorischer Kortex 5 Präfrontaler Kortex2 Thalamus 6 Amygdala und Hippokampus3 Insula 7 Periaquäduktales Grau4 Vorderer Gyrus cinguli 8 Raphé-Kerne

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Unterscheidung zwischen «echten» kör-perlichen Beschwerden oder «unechten»psychosomatischen Beschwerden ist ausihrer Sicht allenfalls irritierend undkränkend. Körper und Psyche sind un-getrennt und sie spürt ja genau, dass ihrdabei der ganze Rücken schmerzt! Die kartesianische Differenzierung istv.a. von ärztlich-therapeutischem Inte-resse; denn die Schmerzursache hatFolgen für den Therapieansatz: Parace-tamol oder Amitriptylin?Dem vorderen Gyrus cinguli, einem der«höchsten zerebralen Befindlichkeits-zentren», ist es übrigens wie für unserePatientin auch ziemlich einerlei, woherdie Schmerzen kommen. Er «alarmiert»sowohl bei «somatogenem» Schmerz wieauch bei «seelischem» Schmerz! Für denvorderen Gyrus cinguli ist unangenehm,was unangenehm ist, sei dies eine kör-perliche oder eine psychosoziale Ver-letzung [10]!Der Ehemann der Patientin möchtenun spitzfindig wissen, weshalb eineArbeitsunfähigkeit bei einem rheuma-tologisch-orthopädisch begründetenSchmerz versicherungstechnisch ganzanders abgegolten wird als eine Arbeits-unfähigkeit wegen eines psychosoma-tischen Schmerzes. – Wahrscheinlichzählt das Rückgrat mehr als das Hirn,gibt sich der Ehemann gerade selbst dieAntwort.

Zentralisierte Schmerz-störungenZerebrale Disposition führt zu ver-stärktem SchmerzerlebenDas Hirn ist kein unbeschriebenes BlattPapier. Die Schmerzmatrix des ZNSreagiert aufgrund individueller Disposi-tion und Vorerfahrungen unterschied-lich stark und vermittelt selbst beimpsychisch Gesunden kontextabhängigvariable Schmerzantworten [11].Verschiedene Umstände können zu einerSensibilisierung und Konservierung derzerebralen Schmerzreaktionen führen.Abbildung 6 zeigt einen Algorithmus,

welcher je nach Genese der zentralenSensibilisierung den praktischen Arzt imdiagnostischen und therapeutischenVerhalten anleiten kann.Bei den meisten zentralisierten Schmerz-störungen liegt der massgebliche Aspektin einer Perzeptionssteigerung. Stress-und Emotionsphysiologie haben dabeimodifizierenden Einfluss. Im Gegensatzzu Simulation und Aggravation unterlie-gen diese perzeptiven Schmerzstörungennicht dem Willen.In Abgrenzung zu der gesteigertenperipheren Schmerzübermittlung (= pri-märe Hyperalgesie) oder der gesteigertenspinalen Schmerzübermittlung (= sekun-däre Hyperalgesie) kann hier von einerzerebralen (resp. tertiären) Hyperalgesiegesprochen werden. Aufgrund zerebralerSensitivierung wird der nozizeptiveInput verstärkt erlebt [12]. In der Fach-sprache wird auch von einer Reizampli-fizierung gesprochen. Oft wird bereitsschon die Spannung des eigenen Mus-kelhaltetonus als Schmerz wahrgenom-men. Klassisch ist hierfür die Aussage derBetroffenen, dass sie häufig die Positionwechseln müssen und sowohl das Ste-hen, Sitzen wie auch Liegen nach einergewissen Zeit schmerzhaft wird.Das Phänomen der zerebralen Hyperalge-sie impliziert ein «bio-psycho-soziales»Schmerzverständnis, welches periphereAuslöser, somatische Vorgeschichte (Pri-ming) wie auch die zerebrale Stress-physiologie (psychosoziale Anamnese!)mitberücksichtigt (Abb. 6).

Das Wissen um die Bedeutung derzentralen Schmerzsensibilisierung magauch eine Verständnisgrundlage liefernfür jene nicht seltenen Fälle, wo eineSchmerzstörung durch ein somatischesTriggerereignis in Gang gekommen ist,durch welches es später kartesianischnicht mehr erklärt werden kann. Vieleunfallinduzierte Schmerzstörungen fal-len in diese Kategorie.Im Folgenden – aus didaktischen Grün-den entflochten – einige Effekte, welchezu einer zerebralen Sensitivierung bei-tragen können:

Der «Pain-prone-Effekt»Wer impft, weiss, wie unterschiedlichbereits bei kleinen Kindern der «Picks»ankommt. Dass bei Impfkindern nebender angeborenen Konstitution auchbereits die eigene Schmerzerfahrung(«Schmerzgedächtnis») eine Rolle spielt,wurde in eindrücklichen Impfstudienbelegt [13]. Dass aber auch die all-gemeine «kindliche Stresserfahrung»(Trennung, Milieustress etc.) ein ent-scheidender Prägungsfaktor ist, welchermoduliert, wie später Schmerz erlebtwird, hat G. Engel mit seinem Katalogder so genannten Pain-prone-Faktorenbereits 1959 empirisch erfasst. Offen-sichtlich wird ein wesentlicher Teil derzerebralen Stress- und Schmerzvulne-rabiltät in der extrem neuroplastischenZeit der Kindheit geprägt. Neurophysio-logische Belege für diese (früh-)kind-liche Modulierbarkeit sind Gegenstand

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Abb. 6: Wege der Schmerz-sensibilisierung

pain prone action prone

zentrale Sensibilisierung

Spinale Sensibilisierung

Periphere Sensibilisierung

Periphere GewebeschädigungFunktionelle Veränderungafferenter Nerven

Strukturelle Schädigungafferenter Nerven

Neuropathischer SchmerzBsp. Postzosterneuralgie

Spinale Sensibilisierung

Akuter nozizeptiverSchmerzBsp. Schnittwunde

Chronischer nozizeptiverSchmerzBsp. Tumorschmerz

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aktueller Schmerz-, Stress- und Emo-tionsforschung.

Der «Geiger-Effekt»Wer viel Geige spielt, dessen sensorischerund motorischer Kortex wird strukturellgemäss den Anforderungen des Geigen-spiels neuroplastisch ausgebaut [14].Analog weitet sich im Kortex bei Patien-ten mit viel Rückenschmerzen die soma-tosensorische Repräsentanz des Rückensaus [15]. Es ist also so, dass sich sensibi-lisierende Schmerzerfahrung nicht nurin Rückenmark und Thalamus, sondernauch im Neokortex niederschlägt.Neben diesen neuroplastischen Verände-

rungen zeigen sich bei Patienten mitchronischen Schmerzen auch eindrück-liche neurofunktionelle Veränderungen.Bei chronischen somatogenen Schmer-zen wird in den involvierten thala-mokortikalen Neuronenbündeln diebioelektrische Frequenzaktivität verän-dert. Diese schmerzinduzierten «Dys-rhythmien» haben die Tendenz be-nachbarte Areale zu involvieren undkönnen sich wie «Störungsfelder» weiterausbreiten [5].

DDeerr ««lliimmbbiisscchhee EEffffeekktt»»Neben dem somatosensorischen Gehalthat Schmerz immer auch eine emotiona-le Qualität. Man nimmt an, dass limbi-sche Areale (Amygdala, Hippokampus,Insula und Gyrus cinguli) den haupt-sächlichen Beitrag zur dieser emotiona-len Konnotation vermitteln. Liegt eineemotionale Belastung vor, ist es plau-sibel, dass auf limbischem Weg dieSchmerzerfahrung entscheidend ver-stärkt werden kann. Aus der täglichenPraxis ist gut bekannt, dass insbesondereAngst und Depression die Schmerz-wahrnehmung verstärken. Auch psycho-soziale Belastungen (z.B.Verlusterlebnis-se) wirken sich auf limbischem Wegeschmerzverstärkend aus.

Bei der Gewichtung dieses limbisch-psychosozialen Aspektes muss abersorgfältig zwischen Bedeutungsursache,Dispositionsfaktor, schmerzunterhaltenderFunktion und sekundärem Folgeeffektunterschieden werden!Es ist ein grosses Verdienst der Psycho-analyse, diesen psychobiographischenAspekten Gehör geschenkt zu haben.Jede Gesprächstherapie soll zu eineremotional-limbischen Entlastung vonSchmerzpatienten beitragen.

Der «Action-prone-Effekt»Analog zur kindlichen Stresserfahrung(pain prone) disponiert Stresserfahrungauch im Erwachsenenalter zu Schmerz.Als Extremstress gelten v.a. Traumati-sierungen. Es scheint, je stärker undverzweifelter die subjektive Lage der Be-troffenen zum Zeitpunkt des Traumaswar, umso nachhaltiger werden die mitdem Trauma assoziierten Schmerzer-fahrungen zerebral abgespeichert und«offline-artig» konserviert.Die zerebrale Stressphysiologie scheintper se ein (Transmitter-?)Millieu zuschaffen, welches zur «Langzeitpotenzie-rung» und damit Chronifizierung vonSchmerzerleben beiträgt.In neurophysiologischer Hinsicht schei-nen unter Stress v.a. antinozizeptiveSysteme, funktionell vermittelt z.B.durch das periaquäduktale Grau (PAG),den Locus coeruleus, die Raphé-Kerneetc, beeinträchtigt zu werden [16,17].So ist beispielsweise bekannt, dass dasStresshormon CRH (CorticotropinReleasing Hormon) durch Rezeptorbin-dung in den Raphé-Kernen direkt dieschmerzhemmenden, deszendierendenserotonergen Bahnen blockiert [18,19].Die Praxis zeigt, dass auch berufliche Ver-ausgabung, so genanntes «Überleister-tum», zu Schmerzstörung disponiert [20].Hat sich einmal eine somatoformeSchmerzstörung etabliert, klagen dieBetroffenen häufig gleichzeitig auch übereine erhöhte Stressempfindlichkeit. Beiexperimenteller Stress-Exposition findetman bei den Betroffenen ein übermässiggesteigertes zerebrales Aktivierungsmus-

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Abb. 7: Multikausales Modell

Abb. 8: Zerebrale Überaktivierung im fMRI bei zentralisierter Schmerzstörung

Während einem vierminütigen kognitiven Stresstest zeigen Patienten mit einersomatoformen Schmerzstörung gegenüber gesunden Kontrollen übermässigeStoffwechselaktivierungen im parietalen und parieto-okziptalen Kortex linksbe-tont, im linken parahippokampalen Gyrus, im posterioren insulären Kortex sowiein beiden Thalami. Diese fMRI-Befunde illustrieren die auch klinisch beobachtbareveränderte Stressphysiologie bei Patienten mit somatoformer Schmerzstörung [9].

Schmerzpatienten währendStresstest

Kontrollprobanden währendStresstest

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ter, welches die Schmerzen unterhaltenoder sogar generieren kann (Abb. 8) [9].

Der «Aromat-Effekt»Metaphorisch beschreibt der «Aromat-effekt» reizverstärkende Aspekte aufbiochemischem Niveau. «Aromat» (= Glutamat) gilt landläufig als gustato-rischer «Geschmacksverstärker». Gluta-mat wird u.a. durch die Amygdala beiAngst und Schrecken in hohen Mengenausgeschüttet. Die Transmitter Glutamatund Substanz P gelten auch in der nozi-zeptiven Impulsübertragung im Hin-terhorn als wichtigste präsynaptischeSchmerzverstärker.Bei verschiedenen Schmerzstörungenwurden erhöhte Liquorwerte für Sub-stanz P nachgewiesen [21–23]. SubstanzP wirkt zusammen mit CGRP (CalciumGene related Peptide) sowohl in derPeripherie wie auch zentral schmerz-verstärkend. Interessanterweise scheintCGRP auch eine entscheidende Rolle beider Migräneentstehung zu spielen [24].Die Migräne verdeutlicht «als Akutva-riante» den bei vielen zentralisiertenSchmerzstörungen analog beobacht-baren «Reizamplifizierungseffekt» imSinne der Hyperalgesie, Phonophobieund Photophobie. Sowohl Migräne wiedie hier diskutierten zentralisiertenSchmerzkrankheiten werden in Zusam-menhang mit Stresserfahrung und An-spannung gestellt. Chronischer Stress istdaselbst assoziiert mit einem Ansteigenvon Substanz P im Liquor [25].

DDeerr ««SScchheeiinnwweerrffeerreeffffeekktt»»Schmerz als physiologisches Alarm-symptom soll das Subjekt zur entlas-tenden Handlung motivieren. Entspre-chend hartnäckig drängt sich Schmerzständig ins Bewusstsein der Betroffenenund lenkt den Scheinwerfer der prä-frontalen Aufmerksamkeit auf sich.Diese gerichtete Aufmerksamkeit wirktdabei automatisch wahrnehmungsver-schärfend. Angstvolle Interpretation derSymptome begünstigt die Symptom-observanz zusätzlich. Selbst dieserschmerzmodulierende Effekt der Auf-

merksamkeitsausrichtung lässt sich mit-tels funktioneller Bildgebung darstellen[26]. Eine Strategie des kognitiv-ver-haltenstherapeutischen Ansatzes in der

Therapie von Schmerzpatienten zieltdahin, durch Entfokussierungs- und Ab-lenkungsübungen diesen Scheinwerfer-effekt abzumildern.

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Key messages● Schmerz hat primär den Zweck, das Subjekt vor Integritätsschädigungen zu

warnen.● Schmerz ist eine Perzeptionsleistung des peripheren und zentralen Nerven-

systems.● Die dichotome Einteilung in «organische» und «nichtorganische» Schmerzen

ist obsolet. Schmerzpatienten weisen häufig eine Mischung von peripher undzentral begründeten Schmerzanteilen auf.

● Stresserfahrung (Traumatisierung, pain prone, action prone) ist der wichtigsteBedingungsfaktor, damit sich eine zentrale Hyperalgesie entwickelt.

● Funktionelle Bildgebungsverfahren bestätigen die Hyperperzeption derBetroffenen.

● Das Konzept vom «psychogenen Schmerz» bedarf dringend einer Differen-zierung.

LernfragenWelches der folgenden Fallbeispiele (A–E) passt am ehesten zu welcher schmerz-physiologischen Überlegung (1–5)?A) Eine junge Mutter berichtet, dass ihr das Zuschauen bei der Impfung ihres

Säuglings selber auch «weh tut».B) Eine Patientin berichtet, dass ihre chronischen Rückenschmerzen seit Abklin-

gen der depressiven Krise wieder besser geworden sind.C)Ein Asylbewerber mit Folteranamnese berichtet über nächtlich exazerbieren-

de stromschlagartige Schmerzen im Lendenbereich. Eine Radikulopathie liegtnicht vor. Alle konventionellen Analgetika waren ohne Effekt.

D)Ein Jugendlicher mit Borderline-Profil sucht wiederholt die Sprechstunde aufwegen unklaren stressinduzierten, generalisierten Schmerzen.

E) Eine Patientin mit fibromyalgieformer Schmerzstörung klagt über zuneh-mende Schlafprobleme und Lebensüberdruss.1. Der fordere Gyrus cinguli reagiert sowohl bei somatischem Schmerz wie

bei psychosozialem (Mit-)Leiden.2. Das serotonerge System projiziert aus den Raphé-Kernen als antinozizepti-

ve deszendierende Bahn in das Rückenmark wie auch in limbische Bereicheund Frontalhirnareale.

3. Bei einer schweren Traumatisierung werden sowohl umgebungspezifischewie psycho-physische Impressionen mit einer enormen Schärfe abge-speichert und können später «offline-artige» Beschwerden verursachen.

4. Sowohl abnorme Persönlichkeitsentwicklung wie Dysregulation der stress-und schmerzverabeitenden Systeme gehen im konkreten Fall auf eine früh-kindliche Vernachlässigung zurück.

5. Cave «Psychogenezität»: Depression kann ätiopathogenetisch mitbegüns-tigende Ursache, Modulationsfaktor, aber auch nur Folge von chronischenSchmerzen sein.

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DDeerr FFaallllIn der Muttersprache der Patientin gibtes ein Sprichwort, das heisst: «Die Zungegeht zum Zahn, der schmerzt.» Analogist die Aufmerksamkeit der Patientinstets auf den Schmerz gerichtet. IhreVorstellung, eines Tages wegen den un-geklärten Schmerzen noch im Rollstuhlzu enden, und die Angst um den Verlustihrer körperlichen Leistungsfähigkeitverstärken den Schmerz limbisch. Unddie Anamnese der Patientin zeigt ein ge-rüttelt Mass an Stress: Als der Ehemannnach Westeuropa vorausging, war siezunächst als Alleinerziehende mit dendrei Kindern zurückgeblieben. Mit demNachzug in die Schweiz reichte dasBudget für die Familie nicht mehr,sodass die Patientin eine Stelle alsFabrikarbeiterin annahm und abendsnoch Büros reinigte. Die schlimmste Zeitindessen war während der Balkankriegeder 1990er Jahre, worüber die Patientinnur schwer sprechen kann. Sie habe ge-sehen, wie ihr Bruder schwer verletztworden ist. – Der Ehemann greift nunein und lenkt das Gespräch zurück zuDescartes: «Wie ist es zu verstehen, dassder Bruder während der akuten Verlet-zung praktisch keinen Schmerz gespürthat, jetzt aber über Schmerzen im ampu-tierten Unterschenkel klagt?» Ich versu-che unbeholfen etwas zu erklären vonEndorphinen im Hirn und Phantom-schmerz im Bein... Die Patientin stehtauf, sie kann vor Schmerzen nicht mehrzuhören.

SchlussfolgerungWir haben in diesem Artikel verschiede-ne Modelle und Aspekte zur Entstehungvon chronischen Schmerzkrankheitenvorgestellt (Tab. 2). Mit dem heutigenStand des Wissens sind wir in der Lage,ehemals unklare Schmerzphänomeneunter Einbezug von neurobiologischenund psychobiologischen Erkenntnissenbesser zu verstehen. Eine Differenzie-rung und Integration des Descartschenund Freudschen Ansatzes ist dafürnotwendig. Die oftmals unheilvolle

Dichotomie von körperlichen versuspsychischen Schmerzursachen kanndamit überwunden werden. Aber nichtnur für das ärztliche Verständnis, son-dern auch für den Umgang mit Schmerz-patienten erweisen sich diese differen-zierten Modelle durchaus als dienlich.Unsere klinische Erfahrung zeigt, dass sieals erklärender Ansatz und Fundamentfür hiervon logisch abgeleitete Thera-pien geschätzt werden und die Arzt-Patienten-Beziehung davon profitiert.Wir werden diese Therapieansätze ananderer Stelle vorstellen.

SummaryModels explaining chronic pain basedon the mere presence or absence ofperipheral somatic findings or whichview pain of psychological originwhen there is no somatic explanation,have their shortcomings. Currentscientific knowledge calls for distinctpain concepts, which integrate neuro-biological and neuropsychologicalaspects of pain processing.Key words: chronic pain – pain mod-els – Descartes – Freud

RésuméLors de la prise en charge de patientssouffrant de douleurs chroniques, lesmodèles explicatifs ayant recours soit àla mise en évidence de toubles orga-niques périphériques, soit – en leurabsence – à une somatisation destroubles, s’avèrent souvent insatisfai-sants. L’état actuel des connaissancesréclame une approche plus différen-ciée, intégrant à la fois des aspectsneurobiologiques et neuropsychiquesdu vécu douloureux.Mots-clés: douleurs chroniques – mo-dèles de douleur – Descartes – Freud

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KorrespondenzadresseDr. med. Niklaus EgloffLehrbeauftragter Psychosoziale MedizinUniversität BernKlinik für Allgemeine Innere MedizinKompetenzbereich für PsychosomatischeMedizinC. L. Lory-HausInselspital3010 Bern

[email protected]

Schmerzmodell Hauptmerkmal Bsp. sinnvolle Anwendungen

Kartesianisch Mechanistisch und dualistisch akutes Schmerzgeschehen

Modifiziertes Biologische Schmerzverstärkung von Chronischer somatogenerkartesianisches peripherer Nervenendigung bis zum Schmerz und Neuralgien,Modell Thalamus. (neuro-)inflammatorische

Schmerzverstärkung z.B.«bottom-up»-Prinzip bei Polyarthritis

Freudsches Modell Psychogene Störungen Stressinduzierte Myogelosen,Somatisierungsstörung,

«top-down»-Prinzip Konversion

Postkartesianisches Psychobiologische ZNS-Disposition Viele Fälle, welche als soModell aufgrund Stresserfahrung und genannte anhaltende

Schmerzpriming somatoforme Schmerz-störungen taxiert werden.

Zentrale HyperalgesieFunktionelle somatische

Stets multifaktorielle Schmerzgenese Syndrome wie Fibromyalgie,Reizdarm, Chronic Pelvic Painetc.

Einige unfallgetriggerte Schmerzstörungen

Tab. 2: Wo ist welches Modell passend?

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Antworten zu den Lernfragen

A – 1,B – 2,C – 3,D – 4,E – 5

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