11
1 1. Einleitung 1.1 Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen Die Aufgabe dieser Studie besteht darin, Lebensweg und Wirken Ruhi Sus zu beschreiben, seine Lieder und seine Gedichte innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur und politischen Situation der Türkei zu positionieren und seine besondere Bedeutumg innerhalb der Musikgeschichte zu erklären. Auch seine pädagogische Wirkungskraft und seine Stellung in der politischen Situation sollen Beachtung finden. Die Bekanntschaft des Verfassers mit Ruhi Su, die von Wertschätzung seiner menschlichen Aufrichtigkeit, Integrität und Liebenswürdigkeit geprägt ist, hat sicher an manchen Stellen seine Sichtweise positiv beeinflusst, wie auch seine politische Überzeugung hin und wieder ein entsprechendes Licht auf die Ereignisse geworfen hat. So seine Sichtweise beruht vor allem auf der glücklichen Mitarbeit über vier Jahre in Ruhi Sus Chor der Freunde” (Dostlar Korosu). Sein Vorgehen benötigt, wenn auch noch so knapp, eine methodische Begründung. Zwei Fragen drängen sich besonders auf. (1) Wie geht man vor, wenn man das Leben eines Individuums erzählen möchte? (2) Wie geht man vor, wenn man die politischen und moralischen Anschauungen dieses Individuums richtig und angemessen findet und anderseits eine angemessene wissenschaftliche Objektivität nicht aufgeben darf? 1 Die erzählende Geschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten erneut an Prestige gewonnen. Dennoch bleibt die Frage offen, welchen Raum soll die Erzählung eines Lebens und welchen die Analyse und Wertung des gesellschaftlichen und politischen Umfelds einnehmen? Die Hauptstoßrichtung der Studie geht nicht auf die politische Analyse aus, sie liegt eher in der biographischen Richtung und in dem Aufzeigen des kulturellen Einflusses Ruhi Sus auf das Musikleben der Türkei. Objektivität in der Darstellung eines geschichtlichen Sachverhalts ist leichter gefordert als erreicht. Es gibt zwar eine relative, möglichst weitgehende Objektivität. Wie aber verhält sich Objektivität zu einem moralischen Urteil über Personen, Parteien, 1 Anweisungen der verschiedensten und gelegentlich polarisierten, theoretischen wie praktischen Art bietet der Sammelband Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (Theorie der Geschichte Bd. 1) herausgegeben von Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen. (1977). Die von der Studiengruppe Theorie der Geschichte herausgegebenen Bände setzen bis heute methodologische Maßstäbe. Hilfreich waren dem Verfasser insbesondere die Ausführungen von Christian Meyer, Von der Schwierigkeit ein Leben zu erzählen. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie und Geschichte, Bd. 3). herausgegeben von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey. (1979): 231.

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1

1.

Einleitung

1.1

Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen

Die Aufgabe dieser Studie besteht darin, Lebensweg und Wirken Ruhi Sus zu

beschreiben, seine Lieder und seine Gedichte innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur

und politischen Situation der Türkei zu positionieren und seine besondere Bedeutumg

innerhalb der Musikgeschichte zu erklären. Auch seine pädagogische Wirkungskraft und

seine Stellung in der politischen Situation sollen Beachtung finden.

Die Bekanntschaft des Verfassers mit Ruhi Su, die von Wertschätzung seiner

menschlichen Aufrichtigkeit, Integrität und Liebenswürdigkeit geprägt ist, hat sicher an

manchen Stellen seine Sichtweise positiv beeinflusst, wie auch seine politische

Überzeugung hin und wieder ein entsprechendes Licht auf die Ereignisse geworfen hat.

So seine Sichtweise beruht vor allem auf der glücklichen Mitarbeit über vier Jahre in

Ruhi Sus „Chor der Freunde” (Dostlar Korosu). Sein Vorgehen benötigt, wenn auch

noch so knapp, eine methodische Begründung. Zwei Fragen drängen sich besonders auf.

(1) Wie geht man vor, wenn man das Leben eines Individuums erzählen möchte?

(2) Wie geht man vor, wenn man die politischen und moralischen Anschauungen dieses

Individuums richtig und angemessen findet und anderseits eine angemessene

wissenschaftliche Objektivität nicht aufgeben darf?1

Die erzählende Geschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten erneut an

Prestige gewonnen. Dennoch bleibt die Frage offen, welchen Raum soll die Erzählung

eines Lebens und welchen die Analyse und Wertung des gesellschaftlichen und

politischen Umfelds einnehmen? Die Hauptstoßrichtung der Studie geht nicht auf die

politische Analyse aus, sie liegt eher in der biographischen Richtung und in dem

Aufzeigen des kulturellen Einflusses Ruhi Sus auf das Musikleben der Türkei.

Objektivität in der Darstellung eines geschichtlichen Sachverhalts ist leichter

gefordert als erreicht. Es gibt zwar eine relative, möglichst weitgehende Objektivität. Wie

aber verhält sich Objektivität zu einem moralischen Urteil über Personen, Parteien,

1 Anweisungen der verschiedensten und gelegentlich polarisierten, theoretischen wie praktischen Art bietet der Sammelband Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (Theorie der Geschichte Bd. 1) herausgegeben von Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen. (1977). Die von der Studiengruppe Theorie der Geschichte herausgegebenen Bände setzen bis heute methodologische Maßstäbe. Hilfreich waren dem Verfasser insbesondere die Ausführungen von Christian Meyer, Von der Schwierigkeit ein Leben zu erzählen. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte (Theorie und Geschichte, Bd. 3). herausgegeben von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey. (1979): 231.

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2

politische Handlungen? Die Mehrzahl der Historiker wird der Objektivität den Vorrang

einräumen, dennoch gilt es auch auf diesem umstrittenen Gebiet Skepsis zu bewahren.2

Ein moralisch begründeter Standpunkt muss erlaubt und darf nicht von Anfang an

verbannt sein. Entscheidend ist wohl die Radikalität der Parteinahme; unzulässig ist

sicherlich eine Radikalität, welche jede andere als die eigene Beurteilung ausschließt. Ein

Beispiel mag das deutlich machen: die Darstellung eines Genozids kann um möglichste

Sachlichkeit und die Abwesenheit von Parteinahme bemüht sein. Es muss aber auch eine

Parteilichkeit für die Opfer, gestattet sein. Parteilichkeit kann ebensoweit definiert

werden wie Objektivität. Diese Studie bedient sich eines eingefassten Begriffs der

Parteilichkeit.3 Die Freiheit besteht, Taten unmoralisch oder moralisch nennen zu dürfen,

unabhängig davon, dass der Erzähler existentiell von solchen Handlungen betroffen

worden ist oder nicht.4

2 Vgl. RUMPLER, Helmut: Beust im Schatten Bismarcks. Grenzen und Bedingungen einer Persönlichkeitsbeurteilung. In: Reinhart Kosellek, Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit (1977): 226-227. Sehen wir auf ein der Geschichtsschreibung benachbartes Feld, die Kunstgeschichtsschreibung, und auf das nämliche Problem. Wilhelm Pinder nimmt 1932 eindeutig Stellung: „Wir wollen der Wissenschaft den Charakter neutraler Neugier nehmen und schließlich lieber moralisch irren als in Objektivität erfrieren.“ Die Jahre nach 1932 geben manchen Anlaß, in Deutschland den Mangel von Wissenschaftlern an „neutraler Neugier“ zu dokumentieren. Werner Hofmann weist 1971 die Forderung Pinders zurück: „Die Alternative ist falsch gestellt. Wissenschaftliche Objektivität und weltanschauliches Engagement können nicht zur Wahl stehen, da sie keine unvereinbaren Gegensätze darstellen. Beide Positionen schließen den Irrtum so lange nicht aus, als sie sich des Anspruchs dogmatischer Unfehlbarkeit enthalten. Das unterscheidet sie von den geschlossenen Systemen, die ihre Wahrheit absolut setzen. Das geschlossene, einsinnige Denksystem ist das Gefängnis, in dem die Wissenschaft dem Freiraum ihrer Urteile freiwillig entsagt.“ Werner Hofmann, Kunst jenseits der geschlossenen Systeme. In: Gegenstimmen. Aufsätze zur Kunst des 20. Jahrhunderts (1980): 301.

3 Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael, Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von Parteilichkeit. Ebd. 426. 4 Vgl. BAUMGARTNER, Hans Michael Die subjektiven Voraussetzungen der Historie und der Sinn von Parteilichkeit. Ebd. 437.

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3

1.2

Ruhi Sus Stellung in der Politik und Kultur der Türkei

Die Entwicklung des Menschen Ruhi Su und seines künstlerischen Schaffens

versteht man besser, wenn man ihn als Kind der Republik Türkei betrachtet. Wie Ruhi Su

selbst sagte, wuchs er in den 30er und 40er Jahren auf, also in einer Zeit, in der die

offizielle Kulturpolitik die Volksmusik in der Vordergrund stellte.5 Ruhi Su lebte unter

einem Populismus, der auf der Grundlage des neuen Volksstaates das Osmanische Reich

und seine Kultur ablehnte und sich einer Volkskultur, eines Volksgedichtes und einer

Volksmusik zu bedienen suchte.6 Teil dieser zeitweilig volksnahen Politik waren auch

die Eröffnung von vierzehn Volkshäusern in verschiedenen Städten im Februar 1932 und

die Gründung von Dorfinstituten im Jahr 1940. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die

allein regierende Partei, die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi,

CHP), einen Stellungswechsel vor. Die Aufnahme von Beziehungen zu den USA ließ

Bildungspolitik als gefährlich erscheinen, denn den Großgrundbesitzern, die in den

Regierungen das Sagen hatten, konnte an einer Aufklärung der einfachen Landbewohner

nicht gelegen sein.7

5 Vgl. SU, Ruhi in einem Gespräch mit ERDEN, Sadika Dikna: Yöresellikten Ulusallığa, Ulusallıktan Evrenselliğe, Bilim ve Sanat 96 (Dez. 1983). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985): 166.

Solange das Klima populistisch war, konnte Ruhi Su mit seiner

Stimme und mit seinem Instrument, der Saz (Langhalslaute), öffentlich arbeiten.

Zwischen 1943 und 1945 gastierte er in Gesangssendungen im staatlichen Radio Ankara.

Schon damals konnte er großes Interesse wecken. Er hatte sich bereits vorher von dem

offiziellen Kulturprogramm entfernt, mit der Folge, dass die Verantwortlichen für das

6 Bereits früher, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte es ein Interesse an der türkischen Folklore gegeben, das lediglich kurz dauerte. Ahmet Vefik Paşa, Şinasi und Ebuzziya Tevfik Bey erforschten Sprichwörter und Redewendungen. Später veröffentlichten Ahmet Rasim „Feierlichkeiten zum Schulanfang“ (Mektebe Başlama Merasimi), Peyam (1336 / 1920) und Rauf Yekta „Musikethnographien“ (Musiki Etnografyası), Şehbal Dergisi; „Hochzeitsbräuche in Makedonien“ (Rumeli’nin Makedonya Kısmında Düğün Adetleri), Büyük Mecmua; „Lokales Leben in Bursa“ (Bursa’da Mahalli Hayat); „Vorzeigen der Aussteuer“ (Cihaz Teşhiri); „Polterabend“ (Kına Gecesi), Yeni Mecmua 9-75 (1923). Obwohl in der Zeit der Konstitution (1908-1920) Veröffentlichungen von Fuat Köprülü, İkdam (24. Januar 1913), Glossen des Philosophen Rıza Tevfik, Peyam-i Edebi (20. Feb. 1913) und das Buch „Die Grundlagen des Türkentums“ (Türkçülüğün Esasları) von Ziya Gökalp über Folklore und Kultur erschienen, war es unmöglich, eine wirkliche Folklorebewegung in Gang zu setzen. Folkloreforschung auf wissenschaftlicher Basis wurde erst in der Zeit der Republik realisiert. Diese Angaben folgen ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 5-12. 7 ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 5-12.

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4

Radioprogramm ihn, trotz seiner hohen Anerkennung im Volk, ziemlich schnell beiseite

schoben.8

Ich habe die Lieder (Türküs) genommen, die mit ihrenTexten und Melodien das Volk am besten verkörpern. Eben deswegen trafen mich die ersten Blitze im Radio. Beim Vortragen dieser Türküs habe ich von der Vortragsweise des Volkes Gebrauch gemacht, jedoch habe ich zu vermeiden gesucht, den Volksmund nachzuahmen.

9

Ruhi Sus sowohl besonnene wie kritische Worte zeigen, dass er in einem echten

Sinne volksnahe sein wollte und nicht eine Pseudoposition wie die Regierenden vertrat.

So spricht er davon, die praktische Arbeit müsse einerseits die Sehnsucht des Volkes

verwirklichen und andererseits sie weiterführen.10

In den 60er Jahren erleichterten sich seine Lebensverhältnisse mit der Legalität

von linken Gedankengut und der verhältnismäßig liberalen Verfassung von 1961. Gerade

die Generation von 1968 konnte sich eine Kundgebung ohne Ruhi Sus Mitwirkung kaum

vorstellen. Der Militärputsch vom 12. März 1971 brachte erneut eine Verschlechterung

der politischen Lage: Rechte wie Meinungsfreiheit wurden zurückgenommen sowie die

Gründung von Gewerkschaften und Parteien; linke Vorkämpfer fanden sich im Gefängnis

wieder. Jedoch dort wie auch an den Universitäten verstummten Ruhi Sus Lieder nicht;

im Gegenteil sie spendeten Mut und Zuversicht.

In den Dienst des Volkes zu treten,

war für ihn nicht nur eine musikalische, sondern auch eine eminent politische Aufgabe.

Man muss daher den Sänger der Türküs stets zusammensehen mit dem idealistischen

Kommunisten. Sein Kommunismus, dem er mit seinem ganzen Herzen anhing, brachte

ihn in Konflikt mit dem Staat, der ihm fünf Jahre Gefängnis von 1952 bis 1957 und

anschließend zwanzig Monate Polizeiaufsicht auferlegte und ihm so Jahre der vollen

Schaffenskraft stahl.

11

8 Nach AKSOY, Bülent: Kültürel Değişimin Ortasında Bir Sanatçı: Ruhi Su, Yeni Gündem (18.Okt.-1.Nov. 1985). In: MEKİN Dinçer (Hrsg.) Ruhi Su’ya Saygı (1986): 227.

Ruhi Su wurde ständigen Befragungen

nach seinem Kommunismus unterworfen. Seine künstlerische Arbeit setzte er jedoch fort,

in dem er Schallplatten zu Texten von Yunus Emre, Karacaoğlan, Köroğlu, Pir Sultan

Abdal herausbrachte. Der Militärputsch vom 12. September 1980 brachte schließlich ein

Verbot in der Türkei für Ruhi Su, das bis zu seinem Tode im Jahr 1985 bestand, mit der

9 SU, Ruhi in einem Gespräch mit ORAL, Zeynep: Van’dan Yarınlara Engebeli Bir Yolda, Milliyet Sanat, (1. Mai 1984). In: SU, Ruhi: Ezgili Yürek (1985):183. 10 Ebd. 183. 11 Vgl. SAY, Ahmet: Ruhi Su’nun Müziğimizdeki Yeri Üzerine Bir Çözümleme, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009):13-14.

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5

einen Ausnahme des letzten, vorher nicht bekannt gegebenen Konzerts im Februar

1983.12

Trotz aller künstlerischen Bekanntheit, vor allem unter Intellektuellen und

Studenten, blieb Ruhi Su seit 1952 die Anerkennung des Staates bis auf eine weitere

Ausnahme versagt. Der fortlebenden Anerkennung Ruhi Sus als eines künstlerischen

Vorbilds steht die grundlegende Missachtung entgegen, die sich im nach wie vor gültigen

Verbot seiner Musik durch den staatlichen Apparat der Türkei niederschlägt. Ruhi Su

musste aus eigener Kraft und Anstrengung sowie mit der Hilfe seiner Freunde überleben.

Unter dem Intendanten der staatlichen Radio- und Fernsehanstalt (Türkiye Radyo ve

Televizyon Kurumu, TRT), İsmail Cem İpekçi, hatte Ruhi Su 1975 zum ersten Mal die

Möglichkeit, im staatlichen Fernsehen aufzutreten. Dies war auch sein letzter Auftritt. Er

trat mit großer Freude auf. Die Zuschauer, die zum ersten Mal Ruhi Su im Fernsehen

sahen, waren begeistert. Die Stimmen, die sich anfänglich gegen ihn erhoben hatten,

gingen im Meer des Beifalls unter

13

Der Staat hat dennoch nicht verziehen, dass ein Mensch sich gegen seine

Institutionen wandte, die ihn aufgenommen, erzogen und ausgebildet hatten. Ruhi Su

wurde von staatlicher Seite stets behandelt, als sei er ein Niemand. Man warf ihm vor, als

Kommunist gegen das Land zu arbeiten. Der Vorwurf der Undankbarkeit machte die

Folter in den Zellen des berüchtigten Sansaryan Han umso bitterer.

.

14 Spätere

Rechtfertigungsversuche seitens Vertreter der Regierung kann man nur mit Misstrauen

betrachten.15

12 Im Ausland gab Ruhi Su Konzerte am 16. Juni 1980 in der Stadthalle Köln und 1981 in Sydney.

13 Vgl. İPEKÇİ, Cem İsmail: Ruhi Su ve Bir Anı, Milliyet (22. Sept. 1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 159. Vorausgegangen war eine Diskussion im TRT-Vorstand, ob man eine Sendung mit Ruhi Su ausstrahlen solle oder nicht. Den Bedenken einiger Mitglieder, dass er als ehemaliger politischer Häftling dem Ansehen des Senders schaden würde, stellte sich İpekçi entgegen. Ob links oder rechts, es entspreche nicht einer zeitgenössischen und demokratischen Vorstellung, einen Künstler nach seiner politischen Gesinnung zu beurteilen. İpekçi setzte seine Meinung durch, und die Sendung wurde ausgestrahlt. Diese Sendung mit Ruhi Su zeigt, dass eine einzige Person im gesellschaftlichen Leben trotz gegenteiliger gesetzlicher Vorgaben oder ungeschriebener Gesetze etwas bewegen kann. Man sollte die Leistung İsmail Cem İpekçis, des späteren Außenministers der Türkei unter der Regierung Ecevit in den Jahren 1998-2002, anerkennen. Sein Demokratieverständnis basierte auf der Maxime, Andersdenkende zu ihrem Recht kommen zu lassen, wobei İpekçi mögliche Schwierigkeiten in Kauf nahm. Hinzu zufügen ist, dass İsmail Cems Vater Ruhi Su Türküs in einigen Produktionen seiner Filmfirma İpek Film singen ließ. Ruhi Su erlebte einen seltenen Augenblick der Freude und Anerkennung. Während der Amtszeit des Staatspräsidenten Fahri Korutürk (1973 - 1980), erhielten bekannte Personen aus Kunst und Kultur eine Einladung zu einem Essen. Unter ihnen war auch Ruhi Su. Die Einladung lag eher an der ganz persönlichen Liebe zur Kunst und Kultur, die das Ehepaar Korutürk veranlasste, diesen Abend zu veranstalten. 14 Aus dem Interview mit Balkar Yekebaş vom 25. Mai. 2006 in Köln. 15 Am 20. Sept. 2009 nahm der Kulturminister Ertuğrul Günay von der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), an der jährlich wiederkehrenden Gedenkfeier am Grab Ruhi Sus teil und führte aus, dass auch er wie viele andere mit den Liedern Ruhi Sus groß geworden sei. Er beteuerte, dass wer mit den Türküs Ruhi Sus groß geworden sei, die Suche nach Demokratie nicht

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6

Ruhi Sus Ideen von der Musik entsprachen zwar eine Zeit lang mit den

Vorstellungen Mustafa Kemal Atatürks von einer westlich inspirierten Musik, doch ihre

politischen Vorstellungen gingen bald auseinander.16 Spätere Regierungen sahen in Ruhi

Su eine ständige Gefahr. Was die Führung der Linken angeht, so hat sie seine

künstlerische Größe kaum verstanden. Für sie war Ruhi Su ein Sänger, dem man von

oben herab Anordnungen zur Agitation zukommen lassen wollte.17

Im Gegensatz dazu wurde Ruhi Su vom Volk geliebt. Er gewann geradezu den

Rang eines Symbols für den humanitären Fortschritt. Diese tiefe Liebe des Volkes zeigte

sich in bewegender Weise bei seinem Besuch Australiens im Jahre 1981, als türkische

Arbeiter ihn am Flughafen auf die Schultern hoben,

18

In der positiven Sicht auf die Menschen zeigt sich die soziale Einstellung Ruhi

Sus. Das Besondere ist weiterhin, dass Ruhi Su eine Brücke zwischen Volk und

Intellektuellen geschlagen hat. In diesem Zusammenhang ist die Erklärung der Sängerin

und Schriftstellerin Erendiz Atasü sehr bedeutsam: Ruhi Su war ein wichtiger Künstler

für die Entwicklung der türkischen Intellektuellen. Seit der Tanzimatzeit (1839-1876) war

das Schicksal der Intellektuellen durch ein „halbes Fremdsein“ im eigenen Land

und bei seinem Begräbnis 1985, als

zum ersten Mal nach dem Putsch von 1980 trotz des Verbotes von Massenansammlungen

Tausende von Menschen sich an den Grabfeierlichkeiten beteiligten. Ruhi Su selbst hat

jede Ideologisierung abgelehnt. Im Mittelpunkt seiner Weltanschauung standen die

Freiheit des Individuums und die Bewahrung seiner Würde.

aus seinem Herzen entfernen könne. Er könne nicht mit Toleranz und Liebe auf die Gegner der Demokratie und die Befürworter der Putschisten schauen. (http://www.tumgazeteler.com/?a=2253922.) Abgerufen am 12. März. 2010. Man wird den Worten des Ministers nicht allzuviel Glauben schenken, denn Ruhi Sus Lieder dürfen in den staatlichen Medien bis heute nicht gespielt werden. Indirekt stilisierte der Minister sich so zu einer Art Ruhi Su. Diese Stilisierung traf auf Widerspruch. Ali Sirmen, ein Kolumnist bei Cumhuriyet, wendet ein, dass es die Gegner einer demokratischen Aufklärung waren, die Ruhi Su angeklagt hätten. Das Volk habe Ruhi Su nicht nur wegen seiner Kunst, seiner Stimme und seiner Art des Singens in sein Herz geschlossen, sondern auch wegen seiner unerschütterlichen Persönlichkeit. Vgl. SİRMEN, Ali: Ertuğrul Günay biraz ayıp etmiş, Cumhuriyet (27. Sept. 2009). Ein weiteres Beispiel für die Doppelzüngigkeit der heutigen AKP- Regierung ist die Rede des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç. Im Jahre 2005, bei der 90. Jahresfeier der Dardanellenschlacht, klagte er in einer Anwandlung von scheinheiligem Populismus: “Ach, wenn doch Ruhi Su jetzt hier wäre und uns das Klagelied ‚Çanakkale‘ singen würde!” Im Munde Ruhi Sus wäre die Wirkung des Liedes noch stärker gewesen. Man hätte Ruhi Su als Gast ins Parlament geladen, wo er mit der Saz in der Hand und mit seiner Baritonstimme dieses Lied gesungen hätte. Der Minister dürfte nicht an seine eigenen Worte geglaubt haben. Türkiye Büyük Millet Meclisi Basın Açıklamaları, TBMM Başkanı Bülent Arınç: Çanakkale Bir Destan, Hepimiz Bu Destanın Çocuklarıyız (22 Feb. 2005). Aus: http://www.tbmm.gov.tr. develop/owa/haber_portal.aciklama?p1=17964. Abgerufen am 5. Apr. 2009. Folgende Frage stellt sich ganz offensichtlich. Warum haben er und der Kulturminister nicht veranlasst, dass damals das Lied Çanakkale von Ruhi Su in den Medien ertönen durfte? 16 Siehe unten Kap. 4.2. 17 Siehe unten Kap. 2.6.2. 18 Siehe Television Program: The Musik of Ruhi Su, Cinetel Productions Sydney (28. - 29. Mai 1981).

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bestimmt. Ein Intellektueller, der sich von seinem Volk und seiner Heimat getrennt hatte,

nahm übermäßige Anstrengungen auf sich, um wieder an seine Wurzeln anzuknüpfen.

Ruhi Su bereitete den Gedanken einer Vereinigung mit dem Volk mit vor. Er zeigte

ihnen, dass sie die Kinder und ein Stück des historischen Erbes dieses Landes sind; er

lehrte sie das wahre Nationalbewusstsein frei von Chauvinismus und Militarismus.19

Die Legitimation der Linken durch die neue Verfassung von 1961 änderte die Einstellung

der Intellektuellen gegenüber der Volkskultur. Ruhi Su spielte eine wichtige Rolle bei

diesem Wandel. Er machte die als feudales Kulturerbe mißachteten anonymen Lieder und

Lieder von Yunus Emre, Köroğlu, Pir Sultan Abdal, Karacaoğlan und Dadaloğlu, zu

einem Element im Kampf für Demokratie und Freiheit. Erst durch ihn, begann man diese

Volksdichter in einem neuen Licht zu sehen. Wenn man Ruhi Sus Perspektive genauer

betrachtet, stellt man fest, dass bei ihm das Weltliche in der Volkskultur einen eher noch

prägenderen Ort besitzt als das Mystische,

20

Für Ruhi Su war eine Vereinigung mit dem Volke nicht denkbar und praktizierbar

ohne das Konzept des İmece. Dieses Konzept beinhaltet gegenseitige Hilfe in der

Dorfgemeinschaft, jeder unterstützt nach seinen Fähigkeiten den Nachbarn, der diese

nicht hat oder nicht anwenden kann. Man erntete gemeinsam die Felder ab oder baute

gemeinsam einen Brunnen.

21

19 Nach ATASÜ, Erendiz: Ruhi Su için, Bilim ve Sanat (Nov.1985). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı (1986): 244.

Es ist eine alte Tradition, welche durch die Gründung von

Dorfinstituten neues Leben gewann, indem der Staat zwar die Gründung anregte, das

Dorf jedoch beim Bau Hand anlegte. Ruhi Su hätte ohne İmece seitens seiner Freunde

kaum arbeiten können. Diese legten Geld zusammen, damit er die ersten kleinen

Schallplatten produzieren konnte. So wurde es zu einer charakteristischen lebenslangen

Geste der Dankbarkeit, dass Ruhi Su allen seinen Schallplatten die Bezeichnung İmece

gab. Außerdem praktizierte er İmece auf vielerlei Weise: dadurch dass er an

Dorfinstituten lehrte, Chöre bildete, musikalische Talente unterstützte und Auftritte für

sie organisierte.

20 Vgl. ERGÜN, Mehmet: Sanık Sandalyesi’ne Oturtulan Halk Kültürü ve Ruhi Su’nun Yazgısı, Berfin Bahar 139 (Sept. 2009): 11-12. Für diese Perspektive Ruhi Sus siehe auch unten Kap. 2.5.1, 6.7.5 und 6.7.6. 21 Zum Prinzip des İmece zwischen Dorfbewohnern und Dorfinstituten siehe unten Kap.4.5.

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8

1.3

Die Bedeutung Ruhi Sus für andere Musikkünstler

Als Musikkünstler hatte und hat Ruhi Su noch heute eine prägende Kraft. In den

60er Jahren entwickelte er sich zu einem Vorbild für viele Künstler, weit über sein

unmittelbares Umfeld und seine Zeit hinaus. Man kann in der Tat von einer Schule Ruhi

Sus sprechen. Bis in die 80er Jahre ist diese in vielen Gruppen, speziell in den der linken

Szene nahestehenden, zu erkennen. Fortschrittlich denkende Liedersänger achteten seinen

Vortrag und seine Vertonung der Texte.22 Für Sümeyra, Rahmi Saltuk, Zülfü Livaneli,

Sadık Gürbüz, Tülay German und Esin Afşar war das Werk Ruhi Sus eine wichtige

Orientierung. Rahmi Saltuk berichtet, dass er als junger Mann Türküs gesungen habe,

ohne die eigene künstlerische Linie gefunden zu haben. Eines Tages sah er einen Film, in

dem ein Häftling Saz spielte und dazu Türküs sang. Dieser bewegte ihn sehr und brachte

ihn zu der Überzeugung, dass Türküs genau so gesungen werden müssten. Später erfuhr

er, dass dieser Häftling Ruhi Su war. Seine Bekanntschaft mit Ruhi Su habe viel zu

seinem künstlerischen Können beigetragen.23 Esin Afşar ist eine Künstlerin, die sich

zunächst der westlichen Musik verschrieben hatte. Sie sang ausschließlich englische,

französische und italienische Chansons. Auf Anraten Ruhi Sus, sie solle ihr Repertoire

durch Türküs erweitern, setzte sie sich mit Türküs auseinander und sang sie gelegentlich.

Sie entwickelte mehr und mehr Begeisterung, bis sie schließlich nur noch Türküs auf ihre

eigene Art sang.24 Der Verfasser von vielen Türküs, Märschen und Klageliedern, Mehmet

Koç, betont, dass ihm die Bekanntschaft mit Ruhi Su als Sprungbrett seiner

musikalischen Karriere diente.25 Es gibt heute noch Opernsänger, die Türküs singen, eine

Tradition, welche Ruhi Su begann. Solche Sänger nahmen auch an den Konzerten der

Ruhi Su-Kultur- und Kunststiftung in İstanbul26

Unter den vielen Künstlern war Sümeyra Çakır Ruhi Su allein kongenial. Sie

vermochte es, seine Vortragskunst fortzuführen. Ihren Kritikern, die sie der Nachahmung

beschuldigten, entgegnete sie, es sei für sie eine große Ehre, wie Ruhi Su zu singen,

und anderen Städten teil. Zu nennen sind

Tuncer Tezcan, Ömer Yılmaz und Ufuk Karakoç. Auch Hasan Yükselir, Mehmet Çapan

und Karabey Aydoğan, die keine Opernausbildung haben, singen Türküs auf die gleiche

Art wie Ruhi Su.

22 Nach GÜNDOĞAR, Sinan: Muhalif Müzik (2005): 109. 23 Vgl. SALTUK, Rahmi: Cumhuriyet (23 Nov.1982). In: DİNÇER, Mekin (Hrsg.): Ruhi Su’ya Saygı: 101. 24 Vgl. AFŞAR, Esin: Ruhi Su Ölmedi, Hey (26. Sept.1985). Ebd. 183. 25 Vgl. KIVANÇ Hüseyin: Interview mit Mehmet Koç (Juli 2003) Acılarını türküleriyle yoğuran ozan: Mehmet Koç. In: http://my.opera.com/Kalender/blog/show.dml/4305593. Abgerufen am 28. März 2010. 26 Siehe unten Kap. 3.1.

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seinen Interpretationen zu folgen und seine Ideen weiterzutragen.27 Ein wichtiger Grund

der Kongenialität lag sicherlich darin, dass Sümeyra im Gegensatz zu anderen

Liedersängern eine westliche Ausbildung in Praxis und Theorie erhalten hatte. Später bat

sie Ruhi Su um Unterricht.28 Im „Chor der Freunde“ (Dostlar Korosu) war sie die einzige

Solistin und außerdem hatte sie nach Ruhi Su die zweite Lehrerstelle.29 Ruhi Su sagte

von ihr, es gebe nur eine Person, die seine Schule fortführe: Sümeyra. Andere hätten ihn

gemocht und nachgeahmt, auch heute noch.30

Sänger ohne musikalische Ausbildung waren für Ruhi Su lediglich Nachahmer

ohne Können und Originalität. Er setzte sich sehr dezidiert von ihnen durch vier

Forderungen ab. (1) Der Sänger des Türkü braucht eine Stimmausbildung und muss die

Regeln der Musik kennen. (2) Das Volk, in dem man lebt, soll man kennen und lieben.

(3) Die Umstände, unter denen Türküs entstanden sind und ihre Entstehungsweise sollen

ebenfalls dem Sänger bekannt sein. (4) Die Sprache der Türküs muss schließlich dem

Sänger bestens vertraut sein. Wenn diese Forderungen nicht erfüllt sind, wird einen zwar

niemand vom Singen abhalten, aber das Singen führt nicht weiter zu einem Fortschritt der

Kultur, sondern bleibt der Tradition verhaftet.

31

Ruhi Su nimmt eine Sonderstellung unter den Intellektuellen und Künstlern in der

Türkei ein.

32 Er wurde geschätzt, weil er seine Türküs, die im Volk entstanden waren, in

die städtische Kultur der Intellektuellen getragen hat. Er legte Wert auf die Nähe zum

einfachen Volk ohne sich ihm anzubiedern, sondern er war bestrebt, wie erwähnt, die

ursprüngliche Musikkultur zu suchen und weiterzuentwickeln. Auf keinen Fall

beabsichtigte er eine Geringschätzung der Volkssänger.33

27 Vgl. ÇAKIR, Sümeyra im Gespräch mit CANPOLAT, Mehmet: Milliyet Sanat (Jan. 1988).

Seine demokratische

Gesinnung, aus der seine Lieder flossen, zeigte sich darin, dass er sich nicht vor die

Menschen stellte, um ihnen ihre Verhaltensweisen und ihr Tun vorzuschreiben.

28 Hüseyin Erdem, der Schriftsteller und freier Redakteur beim WDR Köln ist, machte in İstanbul in den 60er Jahren Sümeyra mit Ruhi Su bekannt. 29 Sümeyra Çakır musste nach dem Militärputsch 1980 in Deutschland Zuflucht suchen, woraufhin sie ausgebürgert wurde. Sie starb 1990 im Exil. 30 WDR 4, Vom Bosporus bis Gibraltar : Ruhi Su singt und erzählt (l. Juli 1985). Redakteur: Hüseyin Erdem. 31SU, Ruhi im Gespräch: Ruhi Su ile Söyleşi, Robert College, The Bosphoros Chronicle XXIII, 5. (Apr.-Mai 1978). In: Ezgili Yürek (1985): 124. 32 Diese Sonderstellung Ruhi Sus betont auch Ali Haydar Timisi in seiner im Internet, http://www.timisi. com/ruhisu.asp, veröffentlichten Abschlussarbeit „Ruhi Su, Hayatı-Eserleri-Sanatçı Kişiliği”, İstanbul Teknik Üniversitesi Türk Musikisi Devlet Konservatuvarı, Temel Bilimler Bölümü, Türk Halk Müziği Ana Sanat Dalı, Bitirme Çalışması, İstanbul (2003). 33 SU, Ruhi im Gespräch mit SÜMER, Seçkin: Ruhi Su ile Söyleşi, Politika (4. Nov. 1976). In: Ezgili Yürek (1985): 118.

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10

1.4

Die türkische Geschichte zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Thema bei Ruhi Su

Zunächst geht es um die letzten Jahre des Osmanischen Reiches und den

Befreiungskampf, freilich nur insofern sie Themen von Ruhi Sus eigenen Liedern,

Volksliedern und von ihm vertonten Gedichten Nâzım Hikmets sind.

Der Jemen war seit Jahrhunderten ein Symbol dafür, dass Soldaten in Kriege

zogen und nicht wieder kamen. Dies hatte zu tun mit der osmanischen Politik der

Expansion und Ausbeutung in dieser Region, welche immer wieder zu Erhebungen der

einheimischen Bevölkerung führte, die mit militärischer Gewalt niedergeschlagen

wurden.34 Ruhi Su hat die volkstümlichen Klagelieder über den Jemen (Yemen Türküleri

I-II-III) bearbeitet. 35

Bei Sarıkamış gingen die Soldaten unter der rücksichtlosen Führung Enver Paşas

in eine logistische Katastrophe. Das Volk klagte Enver Paşa in dem Lied Sarıkamış

(Sarıkamış) an, und Ruhi Su thematisierte und teilte diese Anklage.

Am Ende des Ersten Balkankrieges (1912), den Serbien, Bulgarien

und Griechenland den Osmanen erklärt hatten, musste das Osmanische Reich wichtige

Metropolen wie Thessaloniki und Edirne aufgeben. Das Reich ging zu geschwächt aus

den Balkankriegen hervor, als dass es weitere Kriege führen konnte. Dennoch trat 1914

das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg

ein.

36 Unter den

militärischen Befehlshabern gilt Mustafa Kemal als ein anfänglich entschiedener

Kriegsgegner. Es war jedoch die Schlacht an der strategisch wichtigen Meerenge der

Dardanellen (1915), welche Mustafa Kemal militärischen Ruhm bringen sollte. Er führte

seine Truppen zu einem ebenso blutigen wie siegreichen Kampf gegen eine englisch-

französische Invasionsarmee.37 Dieses Ereignis bewegte Ruhi Su dazu, dem äußerst

populär gewordenen „Klagelied Çanakkale“ (Çanakkale Ağıdı)38

Drei große Katastrophen führten zum Zerfall des osmanischen Reiches: Die erste

war der Krieg gegen die Russen im Jahre 1877. Nach der Niederlage verlor das

Osmanische Reich von Plevne (Bulgarien) bis zur Donau den Großteil der Gebiete in

einen neuen und

tieferen Sinn des Soldatentodes und eine angemessen ernste Vortragsweise zu geben.

34 Vgl. SIRMA, İhsan Süreyya im Gespräch mit Aynur ERDOĞAN über die Geschichte des Jemens. In: http://www.nurcenneti.com/forum/roportajlar/prof-dr-ihsan-sureyya-sirma-ile-yemen-tarihi-t2225.html. Abgerufen 3.2.2012 sowie OTYAM, Fikret: Adı Yemendir (1981). 35 Vgl. unten Kap. 9.7.4; 9.7.5 und 9.7.6. 36 Vgl. unten Kap. 9.1.2. 37 STEINBACH, Udo: Geschichte der Türkei (2000): 23. 38 Vgl. unten Kap. 9.1.1.

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Thrakien. Millionen flohen vom Balkan und Kaukasus hungrig und ohne jede Habe nach

İstanbul und Umgebung. Die zweite Katastrophe war der Balkan-Krieg von 1912, in der

das Reich nunmehr alle Gebiete in Balkan verlor und die Menschen erneut flüchten

mussten. Die dritte und schwerste war der Erste Weltkrieg,39 in dem weite Teile des

osmanischen Territoriums von den Siegermächten besetzt wurden. Es folgte der

Befreiungskampf von 1919 bis 1922 gegen Griechenland. Ihren poetischen Niederschlag

fand die Befreiuung in mehreren bedeutenden Gedichten Nâzım Hikmets, die Ruhi Su

vertonte, und die an anderer Stelle dieser Studie ausführlicher behandelt werden. Dem

Titel nach seien angeführt: „Unsere Frauen” (Kadınlarımız),40 „Die schwarze Schlange”

(Karayılan),41 „Die große Offensive” (Büyük Taarruz),42 „Das Lied des Reiters”

(Süvarinin Türküsü).43 Das Gedicht Ruhi Sus „Die Mobilmachung” (Seferberlik)44

39 Vgl. KURAT, Akdes Nimet: Türkiye ve Rusya (1990): 576-577. In: AKYOL,Taha: Ama Hangi Atatürk (2008): 13.

gehört

ebenfalls in diesen thematischen Kontext.

40 Vgl. unten Kap. 9.1.3. 41 Vgl. unten Kap. 9.1.4. 42 Vgl. unten Kap. 9.1.5. 43 Vgl. unten Kap. 6.7.1. 44 Vgl. unten Kap. 10.1.1