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1
1. Einleitung
Insbesondere in Deutschland, aber auch im Rest der Welt, ist der Name Walter Moers
inzwischen ein Begriff. Er gilt nicht nur als erfolgreicher Comiczeichner sondern auch
als kreativer und produktiver Autor, als „Deutschlands größte[r] Merchandiser“1
.
Während seine (gewagten) Comics, wie zum Beispiel „Das kleine Arschloch“ und
„Adolf, die Nazisau“, mit ihrem pejorativen Sprachgebrauch vor allem für erwachsene
Leser gemeint sind, kann man seine Prosa nicht immer eindeutig kategorisieren. Seine
Romane werden vor allem der Phantastik zugeordnet2, können in Büchergeschäften aber
oftmals auch in den Regalen der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) gefunden werden.
Moers scheint zudem auch von einigen Literaturwissenschaftlern als Kinder- und
Jugendbuch-Literator perzipiert zu werden. Ihn selber interessiert es allerdings nicht
wirklich, wie seine Werke aufgefasst werden3. Er ist sehr öffentlichkeitsscheu, und wird
mitunter sogar als der Deutsche Thomas Pynchon4
beschrieben. Trotz seiner
zurückgezogenen Art kann der Mönchengladbacher sich aber dennoch, oder gerade
deswegen, eines großen Anhangs erfreuen. Auf der Frankfurter Buchmesse in 2011
erschienen große und kleine Leser, alte wie auch junge Interessierte, an dem Stand des
Knaus-Verlages, um endlich den mutmaßlichen Übersetzer der Werke des zamonischen
Nationalautors Hildegunst von Mythenmetz zu sehen. Den Grund für die breite Leser-
Zielgruppe, kann man in der Konstruktion der Romane selbst sehen5. Auf inhaltlicher
und formaler, bzw. paratextueller, Ebene weisen viele der Moersschen Romane auf
mehrere Zielgruppen hin. Bezüglich DSdTB konnte ich z.B. in meiner Bachelor-Arbeit
bereits feststellen, dass „[d]urch die Symbiose von formalen Aspekten, die eher ältere
Leser anziehen (wie Schriftgröße, Fußnoten und Fremdwörter) mit Aspekten, die uns an
Jugend- oder Kinderbücher erinnern (z.B. Illustrationen, farbenfrohe[r] Umschlag) […]
ein Stück Gesamtkunst [entsteht], dass ein Publikum aller Alters- und
1 Weidermann, Folker: „Walter Moers: „Im Jenseits werde ich streng bestraft““. FAZ Nr.16 2003, S.22
2 Bei Amazon.de finden wir Seine Romane unter folgenden Kategorien: „Fantasy-Romane“, „Populäre
Belletristik“, „Zeitgenössische Fantasy-Romane“ und „Romane für Kinder und Jugendliche“ Verfügbar:
http://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss_1?__mk_de_DE=%C5M%C5Z%D5%D1&url=search-
alias%3Daps&field-keywords=walter+moers&x=0&y=0 (besucht 01.04.2012) 3 Beispiel!
4 Philipp, Claus: „Interview mit einem Unsichtbaren: Walter Moers“. Der Standard.at Verfügbar:
http://derstandard.at/1785787 (besucht 01.04.2012) 5 Siehe dazu auch: Blondeel, Kim: „Multiple Adressiertheit in Walter Moers’ Die Stadt der Träumenden
Bücher“. Bachelorpaper 2011. Gent: Universität Gent
2
Interessengruppen verführen kann.“6 Auch inhaltlich vereinen die Moers-Romane viele
verschiedene Eigenschaften die jeweils für erwachsene, erfahrene, junge oder
unerfahrene Leser interessant, bzw. anziehend sein können.
Im Anschluss an meine Bachelor-Arbeit, „Multiple Adressiertheit in Walter
Moers‘ Die Stadt der Träumenden Bücher“ in 2011, wende ich mich nun den weiteren
Moers-Romanen zu. In diesen sieben Romanen Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär (ab
jetzt abgekürzt mit Käpt’n Blaubär), Ensel und Krete. Ein Zamonisches Märchen
(E&K), Wilde Reise durch die Nacht (WR), Rumo & Die Wunder im Dunkeln (Rumo),
Die Stadt der Träumenden Bücher (DSdTB), Der Schrecksenmeister (DS) und Das
Labyrinth der Träumenden Bücher (DLdTB) werde ich zunächst auf die Phantastik
eingehen um einen literarischen und gattungsspezifischeren Kontext zu kreieren. In dem
nächsten Kapitel bezüglich der Metafiktion bespreche ich zunächst die Theorie dieses
Konzeptes. Danach gehe ich auf die language of fiction und die Typographie ein. Des
weiteren werde ein großes und ausführliches Kapitel der Autorschaft in den Moersschen
Romanen widmen. Danach werden ich zusätzlich noch weitere metafiktionale Aspekte,
wie die Parodie und das Konzept vom Buch im Buch, auf ihre Anwesenheit hin
untersuchen. Außerdem perzipiere ich auch den Bildungs- und Entwicklungsromans in
DSdTB und DLdTB als ein metafiktionales Element.
Der Zweck dieser Magisterarbeit ist nun also, um festzustellen, ob die
Moersschen Werke tatsächlich metafiktionale Komponente enthalten und wenn ja, wie
diese sich äußern. Metafiktion wird grundsätzlich als ein Fiktionalitätssignal aufgefasst.
Eine meiner Untersuchungsfragen wird demnach sein, ob das auch in Moers‘ Werken
der Fall ist. Die Frage nach dem Titel meiner Magisterarbeit ‚Holzzeit‘ habe ich an
dieser Stelle bewusst unbeantwortet gelassen. Sie wird jedoch zu Ende meiner
Magisterarbeit eine Antwort erhalten.
6 Blondeel, Kim: “Multiple Adressiertheit in Walter Moers’ Die Stadt der Träumenden Bücher“, S.13
3
2. Die Phantastik
Wie ich in der Einführung bereits erwähnt habe, weisen die Moersschen Romane einen
starken Zusammenhang mit der Phantastik auf. Das Feststellen vereinzelter
phantastischer Elemente in den sieben Romanen von Walter Moers ist deswegen
nützlich, weil Literaturwissenschaftler die Phantastik und die Metafiktion oftmals
miteinander in Verbindung7 bringen. In meiner Magisterarbeit werden daher häufig
Brunnen genutzt, die mit beiden Phänomenen zu tun haben. Zu allererst muss jedoch
eine Beziehung zwischen der Phantastik und den Moersschen Romanen hergestellt
werden. In seinem Werk The Fantastic. A Structural Approach to a Literary Genre
beschreibt Tzvetan Todorov die Merkmale der Phantastik. Hierin heißt es:
In a world which is indeed our world, the one we know [Hervorhebungen von
K.B.], a world without devils, sylphides, or vampires, there occurs an event which
cannot be explained by the laws of this same familiar world. The person who
experiences the event must opt for one of two possible solutions: either he is a
victim of an illusion of the senses, of a product of the imagination – and the laws
of the world then remain what they are; or else the event has indeed taken place, it
is an integral part of reality – but then this reality is controlled by laws unknown
to us.8
Wichtig ist, meiner Meinung nach und im Anschluss an dieses Zitat, dass das
phantastische Element vom Leser auch als ein solches perzipiert werden muss, um
überhaupt eine Wirkung zu haben. Der Leser vergleicht das Gelesene schließlich mit
der eigenen Welt und den eigenen Erfahrungen. Die meisten Leser werden zwar davon
ausgehen, dass Tote nicht auferstehen können und dass es Greife oder andere
mythologische Figuren nicht gibt. Es erscheint mir an dieser Stelle jedoch wichtig zu
erwähnen, dass dieser phantastische Effekt mit der Perzeption des Lesers
zusammenhängt. In Todorovs Zitat wird außerdem deutlich, dass die phantastischen
Elemente einer Erzählung in einem glaubwürdigen, realistischen Kontext, also unserer
eigenen Welt, auftreten müssen. Und genau dies sehen wir auch in den Moersschen
Romanen. In Käpt’n Blaubär z.B. treffen wir zwar zuerst auf phantastische Aspekte,
7 Vgl. u.a. Johnson, Carroll B.: „Phantom Pre-texts and Fictional Authors: Sidi Hamid Benengeli, Don
Quijote and the Metafictional Conventions of Chilvaric Romances”. In: Cervantes: Bulletin of the
Cervantes Society of America, 27 (Frühling 2007), S.179-199; Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die
Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn: mentis Verlag 2010; Parker, Allene M.: “Drawing
Borges: A Two-Part Invention on the Labyrinths of Jorge Luis Borges and M.C. Escher”. In: Rocky
Mountain Review of Language and Literature, Vol.55, Nr.2 (2001), S.11-23 8 Todorov, Tzvetan: The Fantastic. A Structural Approach to a Literary Genre. Ithaca, New York:
Cornell University Press 1975, S.25
4
wie Tratschwellen9, Klabautergeister
10, Zwergpiraten
11, die Gourmetica Insularis
12 und
den Tyrannowalfisch Rex13
. Diese werden doch mit realistischen Elementen verbunden,
wie Ozeanen, Schiffen und Wellen, Sand, Bergen und bekannten Kontinenten. Auf
Seite 108 des Romans lesen wir:
So setzte sich Planquadrat um Planquadrat mein Weltbild zusammen. Wir
überflogen Afrika und die Antarktis, das Erzgebirge und Borneo, Tasmanien und
den Himalaya, Sibirien und Katmandu, Helgoland und das Tal des Todes, den
Grand Canyon und die Osterinseln und schließlich auch die Kontinente Nafklathu,
Urien und Yhôll, die es heute nicht mehr gibt. Ja, die Erde setzte sich für mich
zusammen wie ein riesiges Mosaik, in dem bald nur noch ein großer Stein fehlte:
Zamonien.14
In diesem Zitat erzählt Blaubär uns davon, wie er seine Welt, die Erde erkundet. Diese
enthält gewisse Übereinstimmungen mit unserer, z.B. Afrika, die Antarktis und den
Grand Canyon. Außerdem erklärt Blaubär, dass es vereinzelte der genannten
Kontinente, die dem Leser unbekannt sein dürften, wie Urien und Yhôll, heutzutage
allerdings nicht mehr gibt. Dies kann in gewissem Sinne als eine realistische
Rechtfertigung und Eingliederung eines phantastischen Elements gesehen werden.
Etwas allgemeiner aber dennoch zutreffend scheint auch Frank Zipfels Aussage
bezüglich fiktiver Welten zu sein. Er meint nämlich, dass
[f]iktive Geschichten […] nie ganz und gar unwirklich [sind]. Die Welt einer
fiktiven Geschichte, die so genannte fiktive Welt, basiert immer (wenn auch in
unterschiedlichem Maße) auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption. Der
Zusammenhang von fiktiver und realer Welt kann durch das so genannte
›Realitätsprinzip‹ erläutert werden. Das Realitätsprinzip besagt, kurz gefasst, dass
seine fiktive Welt so nah wie möglich an der realen Welt konstruiert wird.15
Etwas Ähnliches sehen wir auch in Käpt’n Blaubär und den anderen sechs Romanen.
Moers gliedert den Kontinent Zamonien in unsere Welt ein und kreiert somit einen
realistischen Bezugspunkt für die phantastischen Ereignisse. Fast alle Moersschen
9 Käpt’n Blaubär, S.54
10 Käpt’n Blaubär, S.35
11 Käpt’n Blaubär, S.14
12 Käpt’n Blaubär, S.89
13 Käpt’n Blaubär, S.65
14 Käpt’n Blaubär, S.108
15 Zipfel: „ Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In: Winko,
Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New
York: Walter de Gruyter 2009, S.290
5
Erzählungen16
spielen sich übrigens auf Zamonien ab, wodurch sich diese letzte
Aussage auch auf die anderen Romane übertragen lässt. Bezüglich des Zitats von Zipfel
soll an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass ich die Aussage bezüglich der ‚fiktiven
Welt‘ wörtlich genommen habe, obwohl Zipfel selbst damit womöglich die nicht-
topographische fiktive Welt innerhalb des Romans gemeint haben könnte. Andere
Beispiele für ‚konkrete‘ fiktive Welten wären z.B. J.J.R. Tolkiens ‚Middle Earth‘ in The
Lord of the Rings und auch Jonathan Swifts ‚Lilliput‘ in Gulliver’s Travels. Mit der
fiktiven Welt als nicht-materialistisches, mentales Konstrukt meint Zipfel, meiner
Meinung nach, also die Figuren und die Konstruktion einer Erzählung. Die fiktive Welt
von Franz Kafkas Die Verwandlung wäre in diesem Fall eine Zusammenstellung von
Gregor Samsa, seiner Familie, den Gesprächen zwischen den unterschiedlichen Figuren,
seinem Zimmer und der Wohnung, dem Zug, den er verpasst und sogar auch, was vom
Fokalisator zwar nicht genannt wird, was aber dennoch im Schatten der Erzählung für
den impliziten Leser anwesend ist, z.B. andere, unbekannte Straßen und Menschen.
Eines der wichtigsten Merkmale des phantastischen Romans ist also, dass es einen
Bezug zu unserer eigenen Realität geben muss. Schließlich kann dem Leser etwas nur
als ‚eigenartig‘ bzw. anders erscheinen, wenn er auch Vergleichsmaterial hat.
Todorov zufolge handelt es sich bei der Phantastik zusätzlich um ein Gefühl der
Unsicherheit bezüglich der vereinzelten, unerklärlichen Ereignisse und Elemente in der
Erzählung. „Either the devil is an illusion, an imaginary being; or else he really exists,
precisely like other living beings – with this reservation, that we encounter him
infrequently.”17
Der Leser soll, Todorov zufolge, in einem Zustand des Zweifels
gehalten werden, da der Roman sonst entweder in das Genre des Übernatürlichen (the
uncanny18
) oder in das Genre des Wunderbaren (the marvelous19
) abgleitet. „The
fantastic is that hesitation experienced by a person who knows only the laws of nature,
confronting an apparently supernatural event.”20
Eine der Bedingungen der Phantastik
ist demnach auch “the reader’s hesitation“21
. Es handelt sich hierbei also nicht
unbedingt um das Zögern des Protagonisten selbst, der die Ereignisse erleiden muss,
16
Eine Ausnahme ist hierbei WR. Auch hier wird jedoch eine eigene Welt kreiert, die unserer sogar noch
ähnlicher ist, als die, die in den Zamonien-Romanen beschrieben wird. 17
Todorov: The Fantastic, S.25 18
Todorov: The Fantastic, S.41 19
Todorov: The Fantastic, S.41 20
Todorov: The Fantastic, S.25 21
Todorov: The Fantastic, S.31
6
sondern um das Zögern des Rezipienten in unserer Welt, das Zögern des Lesers. Dieses
Zögern kann zwar auch durch den Protagonisten im Erzähltext repräsentiert werden22
,
das ist jedoch keine Voraussetzung für das phantastische Genre. In diesem Sinne
erinnert Todorovs Bedingung sicherlich auch an die willing suspension of disbelief, die
eine wichtige Voraussetzung für das ‚Sich-Einleben‘ des Lesers ist. Dieser muss sich
nämlich dazu bereit erklären, gewisse unerklärliche Aspekte einer Erzählung einfach für
wahr anzunehmen, bzw. seinen Unglauben wenigstens bis zu einem gewissen Punkt
auszustellen. Denn „unless one participates sympathetically in the ground rules of a
narrative world, no occurrence in that world can make sense – or even nonsense.”23
Der
Begriff willing suspension of disbelief stammt ursprünglich von S.T. Coleridge. In
seinem Werk Biographia Literaria bespricht dieser seine Pläne bezüglich der
Lyrical Ballads; in which it was agreed, that my endeavours should be directed to
persons and characters supernatural [Hervorhebungen von K.B.], or at least
romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a
semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that
willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.24
Auch Coleridge verbindet den Aufschub des Unglaubens folglich mit übernatürlichen,
phantastischen Geschehnissen. Diese müssen jedoch genügend Ähnlichkeit mit der
Wahrheit, sprich unserer Wirklichkeit, aufweisen um die willing suspension of disbelief
rechtfertigen zu können. Bei Coleridge finden wir demnach schon einen der
Kerngedanken der Phantastik. Außerdem schließt sich dieser Kommentar auch bei der,
von mir zuerst genannten Eigenschaft der Phantastik an, nämlich, dass es immer einen
realen Bezugspunkt geben sollte. Todorov meint ferner: „the text must oblige the reader
to consider the world of the characters as a world of living persons and to hesitate
between a natural and a supernatural explanation of the events described.”25
In den
Moers-Romanen wird diese Vorstellung der Welt ‚lebender Personen‘ insbesondere
dadurch vereinfacht, dass Moers bzw. Hildegunst uns Zamonien von Anfang an als
etwas geschlossenes Ganzes präsentiert. So finden wir bereits auf der Rückseite des
Umschlags seines ersten Romans eine Karte von „Zamonien und seine[r] näheren
22
Todorov: The Fantastic, S.33 23
Rabkin, Eric S.: The Fantastic in Literature. Princeton New Jersey, Princeton University Press, 1976;
S.4 24
Coleridge, Samuel Taylor.: Biographia Literaria; or Biographical Sketches of My Literary Life and
Opinions. (Chapter XIV) Verfügbar: http://www.gutenberg.org/cache/epub/6081/pg6081.html. Besucht
19.05.2012 25
Todorov: The Fantastic, S.33
7
Umgebung (in leicht vereinfachter Darstellung)“26
Dieselbe und ähnliche Karten finden
wir übrigens auch in E&K, DSdTB, Rumo und DLdTB. Hierauf werden alle
Mythenmetzschen und Blaubärschen Aussagen bezüglich des Kontinents und seiner
Anordnung bestätigt. Außerdem wird die topographische Verlässlichkeit zusätzlich
durch die Anwesenheit des Nachtigallerschen Lexikons27
bestärkt. In der unteren,
rechten Ecke der Karte lesen wir nämlich: „Diese Karte wurde hergestellt unter
Zuhilfenahme vom Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und
Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller“28
. Lexika und
Landkarten sind auch bekannte Objekte unserer Wirklichkeit und gelten als faktisch und
zuverlässig. Der Leser kann seine willing suspension of disbelief also dadurch
rechtfertigen, dass alle Ereignisse sich auf dem Kontinent Zamonien, den wir selber
nicht erreichen können, abspielen. Diese Rechtfertigung könnte, meiner Meinung nach,
dann folgendermaßen aussehen: „Vielleicht gelten auf diesem Kontinent andere
Naturgesetze und Regeln, und gehören Lindwürmer, Eydeten, Buntbären und
Fhernhachen dort zum täglichen Leben. Ich werde es niemals mit Sicherheit sagen
können, da ich Zamonien nie erreichen kann.“ Der Autor bietet dem Leser demnach
einen einfachen Weg in die willing suspension of disbelief an.
Eine weitere Bedingung der Phantastik ist, Todorov zufolge, dass es beim Leser
zu einer bestimmten Lesehaltung kommen muss. „[T]he reader must adopt a certain
attitude with regard to the text: he will reject allegorical as well as “poetic”
interpretations.”29
Dem Leser werden die Ereignisse so präsentiert, wie sie sind. Sie
haben keinerlei allegorische Bedeutung, und es ist auch nicht Sinn der Sache die Wörter
unabhängig voneinander zu interpretieren. Sie sind nur die einzelnen Teile des Satzes,
die das Ganze begründen.30
Allgemeiner kann man also behaupten: „Not all fictions and
not all literal meanings are linked to the fantastic; but the fantastic is always linked to
both fiction and literal meaning.”31
Schauen wir uns in dieser Hinsicht einmal folgendes
Zitat aus WR an:
26
Käpt’n Blaubär, Rückseite Umschlag; siehe Abbildung 1 27
Siehe dazu auch „Das Buch im Buch“ 28
Ebd. 29
Todorov: The Fantastic, S.33 30
Todorov: The Fantastic, S.32 31
Todorov: The Fantastic, S.75
8
Sie ritten noch lange durch das Tal der Ungeheuer, vorbei an trostlosen Trümmern
und durch dürres Unkraut, über zahllose Skelette von Menschen und Tieren,
durch knisterndes und fiepsendes Gewimmel von Insekten, die die Herrschaft
über das Gestein zu übernehmen schienen. Aber sie begegneten keiner weiteren
Monstrosität, bis auf zwei doppelköpfigen Riesenschnecken, die sie am nächsten
Morgen am Talausgang im Frühnebel friedlich grasen sahen.32
Dem Leser ist von Anfang an klar, dass es sich bei WR um eine fiktive Erzählung
handelt. Die Phantastik sollte zudem als ein ‚literal‘ Genre verstanden werden. Mit dem
Zitat wird also nicht auf einen metaphorischen oder allegorischen Hintergrundgedanken
verwiesen, z.B. dass der Protagonist an einem schwierigen Punkt in seinem Leben
angekommen ist, wo ihn Tod (Trümmer, Skelette, Unkraut) und unterdrückende Angst
(Gewimmel von Insekten, Herrschaft des Gesteins) umgeben, wonach es jedoch zu
einem Neuanfang (Morgen, Talausgang, Frühnebel, friedlich), zu einem Auferstehen,
einer Widergeburt kommt. Außerdem sollte der Leser sich auch nicht den individuellen
Wörtern zuwenden und ihnen eine bestimmte Wichtigkeit oder Bedeutung zuschreiben,
z.B. dass wir in dem Wort „fiepsendes“ eine Onomatopoesie finden können. Mit diesem
Satz ist also einfach gemeint, was da auch steht: ein Junge reitet auf einem Pferd durch
eine pfade, einsame und gefährliche Landschaft, begegnet keiner weiteren Monstrosität
und erreicht letztendlich den Ausgang des Tals.
Todorov konstatiert noch eine weitere Eigenschaft der Phantastik: „The
represented („dramatized“) narrator is […] quite suitable to the fantastic. He is
preferable to the simple character, who can easily lie [...]. But he is also preferable to
the non-represented narrator [...].” 33
Letzterer würde die Erzählung sehr einfach in das
Genre des Wunderbaren (the marvelous) versetzen, da der Leser an keinem Moment die
Aussagen dieses Erzählers in Frage stellen könnte oder würde34
. Wie ich bereits
erwähnt habe, ist Zweifel bezüglich der Wahrheit des Erzählten jedoch gerade eine der
wichtigsten Voraussetzungen für die Phantastik.35
Außerdem scheint es, Todorovs
Ansicht nach, wichtig zu sein, dass der Leser sich mit der erzählenden Figur, dem
‚Ich‘36
der Erzählung, identifizieren kann.37
„Further, in order to facilitate the
32
WR, S.111 33
Todorov: The Fantastic, S.83 34
Todorov: The Fantastic, S.83 35
Todorov: The Fantastic, S.83 36
Siehe dazu auch den autobiographischen Pakt von Lejeune und das referentielle ‚Ich‘ von Käte
Hamburger in „Hildegunst von Mythenmetz als Autor & Figur“. 37
Todorov: The Fantastic, S.83
9
identification, the narrator will be an “average man”, in whom (almost) every reader can
recognize himself. Thus we enter as directly as possible into the universe of the
fantastic.”38
Auch in den Moers-Romanen haben wir es sozusagen mit „Durchschnitts-
Männern“39
zu tun. Hildegunst von Mythenmetz, der Protagonist in DSdTB und DLdTB,
wird zwar teilweise als literarisches Genie40
vorgestellt. Ansonsten erkennen wir ihn
jedoch als eine nicht gegen Irrtümer gefeite, übergewichtige Figur, die genau wie der
Leser, Fehler macht und Liebe, Enttäuschungen, Angst, Freundschaft und Verlust
kennenlernt. Auch Käpt’n Blaubär lässt sich leicht mit diesem Bild des ‚fehlbaren‘
Protagonisten identifizieren. Er reist durch die Welt, um seinen Weg, seine Wurzeln und
ein Zuhause zu finden. Er hat mehrere schlecht bezahlte Jobs, wird das Opfer eines
Schwindlers, dem Stollentroll, und verliebt sich. In E&K, dem ‚zamonischen Märchen‘,
treffen wir, im Gegensatz zu dem Märchen aus unserer Wirklichkeit Hänsel und Gretel,
auf zwei Kinder, die sich durch Ungehorsam selbst den Teufel auf dem Hals laden. In
DS lesen wir einen Teil des Lebens der Kratze, Echo, dessen größte Schwäche seine
Zutraulichkeit und Fresssucht zu sein scheint. Er versucht aus einem, für ihn sehr
ungünstigen, Vertrag rauszukommen und während der Erzählung lässt seine Freundin,
die Schreckse, das Leben. Auch Echo ist fehlbar. Gustave Doré, der Protagonist in WR,
ist ein zwölfjähriger Kapitän, der nach einem Schiffsunglück, die Wahl hat zu sterben,
oder, durch das Lösen von sechs Aufgaben, am Leben zu bleiben. Während der sechs
Aufgaben wird er oftmals mit sich selbst und seinen Schwächen konfrontiert. Er verliebt
sich, trotz Warnung, unsterblich in eine betrügerische Jungfrau, er fällt auf den Betrug
einiger Waldbewohner herein und scheint an manchen Momenten den Mut zu verlieren.
Rumo erscheint uns anfangs zwar als ein Anti-Held, entwickelt sich jedoch zunehmend
zu einem eher prototypischen Helden. Deswegen erfüllt Rumo meiner Meinung nach am
wenigsten das Merkmal des average man. Der Roman weist allerdings viele andere
38
Todorov: The Fantastic, S.84 39
Interessant ist hierbei, dass es in allen Moers-Romanen kein einziges Mal einen weiblichen
Protagonisten gibt und nur in DS treffen wir auf eine, sich selbst opferende, Heldin nämlich Inazuela
Anazazi. Die Wolpertingerin Rala in Rumo kann zwar anfangs als Heldin gelten, sie rettet Rumos Leben,
ist in gewissem Sinne auch eine Heldin durch ihr Verhalten in der ‚Eisernen Jungfrau‘. Sie wird jedoch zu
Ende des Romans von Rumo, dem Protagonisten gerettet. Rala kann in diesem Sinne zwar als eine starke
weibliche Figur gesehen werden. Sie ist jedoch kein Protagonist. 40
Siehe „Hildegunst von Mythenmetz als Autor & Figur“
10
phantastische Elemente41
auf, wodurch er also dennoch zu der Phantastik gezählt
werden kann. Die meisten Charaktere der Moersschen Erzählungen haben also gewisse
Schwächen, die in den Romanen auch jeweils in den Vordergrund gerückt werden. Die
Helden sind außerdem nie ‚absolute‘ Helden. So fällt es dem Leser leichter, sich mit
ihnen zu identifizieren, wodurch auch die willing suspension of disbelief bestärkt wird.
Denn schließlich ist es einfacher etwas zu glauben, oder gerade nicht zu glauben, wenn
man sich mit der Hauptfigur identifizieren kann.
Die Phantastik scheint, Todorov zufolge, auch drei bestimmte Funktionen42
zu
haben. Sie verursacht erstens einen bestimmten Effekt beim Leser: Angst,
Neugierigkeit, etc. Zweitens ist die Phantastik auch dem narratologischen Verlauf und
dem Spannungsaufbau, behilflich. „[T]he presence of fantastic elements permits a
particularly dense organization of the plot.”43
Drittens hat die Phantastik eine scheinbar
tautologische Funktion: “it permits the description of a fantastic universe, one that has
no reality outside language; the description and what is described are not of a different
nature.”44
Das phantastische Moerssche Universum existiert also nur in seiner
Deskription.
Zusammenfassend können wir demnach konstatieren, dass ein phantastischer
Roman oftmals folgende unterschiedlichen Merkmale inkorporiert: die phantastischen
Elemente und Geschehnisse stehen in einem realistischen bzw. erkennbaren Kontext.
Auf diese Weise hat der Leser einen realistischen Bezugspunkt. Außerdem soll es sich
bei der dargestellten Welt um eine Welt ‚lebender Personen‘ handeln, was in den
Moers-Romanen gut durch die Zusammenstellung von Zamonien, mit all seinen
Kreaturen und Gebieten, widergegeben wird. Zudem sollte es bei dem Leser ein
gewisses Zweifeln bezüglich des Realitätsgehalts der Geschehnisse geben, was zwar
auch vom Protagonisten innerhalb des Romans repräsentiert werden kann. Dieses letzte
ist allerdings keine Voraussetzung. Den Aufschub des Unglaubens habe ich zusätzlich
mit der willing suspension of disbelief verbunden. Der Leser muss sich auf die
potentiale Realität der Ereignisse einlassen, damit er sich in die Geschichte
41
Spielt sich ab auf dem Kontinent Zamonien, integriert phantastische Geschehnisse und
Objekte/Subjekte, wie ein sprechendes Schwert, sollte nicht „allegorical“ oder „poetic“ (siehe weiter)
gelesen werden, narrated (‚dramatized‘) author. 42
Todorov: The Fantastic, S.92 43
Todorov: The Fantastic, S.92 44
Todorov: The Fantastic, S.92
11
hineinversetzen kann. Es ist außerdem wichtig, dass der Leser die phantastische
Erzählung nicht auf eine ‚poetische‘ oder sogar allegorische Weise liest. Ein Satz ist
hier nur eine Zusammenstellung von Wörtern und sollte so interpretiert werden, wie er
geschrieben steht. Auch die konkrete Autorschaft scheint wichtig zu sein. Der ideale
Autor für eine phantastische Erzählung ist Todorov zufolge der represented
(‚dramatized‘) narrator, also ein erzählender Autor, der auch in der Erzählung
vorkommt. Auf diese Weise kann der Leser sich leichter mit ihm identifizieren und
können seine Aussagen angezweifelt werden. Zudem sollte dieser Autor nicht unfehlbar
sein. Ein Leser wird sich letztendlich einfacher mit einem average man identifizieren
können, als mit einem absoluten Helden. Funktionstechnisch scheint die Phantastik
insbesondere der narratologischen Organisation zu Densität zu verhelfen. Die
phantastischen Elemente können auch beim Leser bestimmte Gefühle, wie Neugierde
oder Angst hervorrufen. Außerdem gibt es Todorov zufolge eine tautologische
Funktion. Die Beschreibung und das Beschriebene sind keine unterschiedlichen
Gegebenheiten.
Gerade diese letzte Funktion bietet sich als Stichwort für das nächste Kapitel an.
Schließlich handelt die Metafiktion gerade von einem ‚Sich-Bewusstwerden‘ des
literarischen Zustands bzw. der literarischen, deskriptiven Einschränkung eines
Romans. Der Leser erkennt, anhand unterschiedlicher literarischer Konventionen, dass
der Text wirklich nur ein Text ist und dass es sich um eine Beschreibung einer ‚fiktiven
Welt‘ handelt.
3. Metafiktion
Patricia Waugh zufolge ist Metafiktion “a term given to fictional writing which self-
consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to
pose questions about the relationship between fiction and reality.”45
Linda Hutcheon
meint, es sei „fiction about fiction – that is, fiction that includes within itself a
commentary on its own narrative and/or linguistic identity”46
Dadurch dass
metafiktionale Literatur selbst-kritisch ist, werden nicht nur „the fundamental structures
45
Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London und New
York: Methuen 1984, S.2 46
Hutcheon, Linda: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. Waterloo, Ontario, Canada:
Wilfrid Laurier University Press 1980, S.1
12
of narrative fiction“47
untersucht, sondern wird zusätzlich die Fiktionalität der Welt
außerhalb des literarischen, fiktiven Texts erkundet.48
Wenn man sich mit Metafiktion
befasst, untersucht man somit auch dasjenige was dafür sorgt, dass der Roman seine
Identität erhält.49
Wie kommen dieses ‚Selbst-Bewusstsein‘ und die ‚Selbst-
Reflexivität‘ nun aber zustande, und wie, wenn überhaupt, äußern sie sich in Moers‘
Werken? Um diese Fragen zu beantworten ist es zunächst unvermeidlich die
unterschiedlichen Elemente der Metafiktion anzudeuten. Dafür werde ich Patricia
Waughs Werk Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction
verwenden. Um eine vielseitige Übersicht der Metafiktion in Moers‘ Werken zu geben,
werde ich mich jedoch auch anderen literarischen Theoretikern, wie Bachtin, Hutcheon
und McHale, zuwenden.
Bei Metafiktion geht es vor allem darum, dass die (ver)alte(te)n und/oder neuen
Konventionen des Romans sichtbar gemacht werden und dass ‚selbst-bewusst‘ und
‚selbst-kritisch‘ mit ihnen umgegangen wird. Diese Konventionen können formaler,
stilistischer, genrespezifischer oder linguistischer Art sein. Durch das Bloßstellen der
Aspekte des Romans kann es beim Leser zu einem Erkennen von z.B. bestimmten
literarischen und/oder linguistischen Techniken kommen. Manche Konventionen
werden jedoch auch gegeneinander ausgespielt, was den Romanen einen
oppositionellen Charakter verleiht und was ich insbesondere in den Kapiteln bezüglich
Sprache, Typographie und Parodie zeigen werde. Gleichzeitig ist jedoch auch das
Gefühl einer Entfremdung beim Leser nicht auszuschließen, da viele bekannte
literarische Aspekte nun auf andere Art und Weise dargestellt oder genutzt werden.
Hierdurch erhält der Leser zugleich auch eine aktive(re) Rolle. Hutcheon konstatiert
diesbezüglich: “What narcissistic narrative does do in flaunting, in baring its fictional
and linguistic systems to the reader’s view, is to transform the process of making, of
poiesis, into part of the shared pleasure of reading.”50
Der Rezipient scheint also mehr
in die Rolle desjenigen zu schlüpfen, der über das Bloßstellen der Konventionen, den
literarischen Prozess bzw. das literarische Skelet erkennt, dieser Eigenschaft jedoch
positiv gegenübersteht. Nicht mehr nur der schiere Inhalt der Erzählung scheint
47
Waugh: Metafiction, S.2 48
Waugh: Metafiction, S.2 49
Waugh: Metafiction, S.5 50
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.20
13
interessant zu sein. Inzwischen interessiert der Leser sich auch für den kreativen und
organisatorischen Prozess, der dem Werk zugrunde liegt.
Literaturwissenschaftler Michael Bachtin sieht die oppositionelle Eigenschaft der
Konventionen jedoch als eine inhärente Eigenschaft des Romans an sich. Da Moers
seine Texte auch mit dem Label „Roman“ versehen hat (mit Ausnahme von E&K),
können Bachtins Definitionen helfen, um Moers‘ Werke besser zu verstehen und zu
deuten.
[...] “novel” is the name Bakhtin gives to whatever force is at work within a given
literary system to reveal the limits, the artificial constraints of that system.
Literary systems are comprised of canons, and “novelization” is fundamentally
anticanonical. It will not permit generic monologue. Always it will insist on the
dialogue between what a given system will admit as literature and those texts that
are otherwise excluded from such a definition of literature. What is more
conventionally thought of as the novel is simply the most complex and distilled
expression of this impulse.51
Für Bachtin ist der Roman also bereits ein, wie er es nennt, “supergenre“52
, das ständig
die Grenzen des literarischen Systems abtastet, aufsucht und bloßlegt und die
literarischen Oppositionen letztendlich nutzt um etwas Neues zu kreieren, dass sich von
den ‚alten‘ Konventionen absetzt bzw. sie zumindest in Frage stellt. Es geht um ein
Wechselspiel zwischen dieser Literatur, die auch als solche gesehen wird, sprich:
‚kanonisierte‘ oder ‚hohe‘ Literatur, und diesen Texten, die eigentlich nicht als Literatur
angesehen werden, sondern sprichwörtlich ‚aus dem Boot fallen‘ und eher zur
‚populären‘ Literatur gehören. Durch das Spiel der Oppositionen ergibt sich dann dieses
supergenre, das sich ständig neu erfindet und den ‚stilisierten‘ Genres, wie der Epik,
welche Bachtin als literarisch und stilistisch ‚abgeschlossen‘ und daher als eher statisch
perzipiert, somit immer einen bedeutenden Schritt voraus bleibt. Durch die ständige
Variabilität kann es demnach auch keinen wirklichen Kanon des Romans geben.
Schließlich kann man dem Roman keine Sorte Text eindeutig zuordnen, wenn er sich
selbst ständig in Frage stellt und sich kontinuierlich verändert. Der Roman ist, wie
Bachtin sagt, anticanonical. Bachtin meint außerdem auch: “The novel is the only
developing genre and therefore it reflects more deeply, more essentially, more
sensitively and rapidly, reality itself in the process of its unfolding.”53
Dadurch dass der
51
Bakhtin, M.M.: The Dialogic Imagination. Four Essays. Austin: University of Texas Press 2006, S.xxxi 52
Bakhtin: The Dialogic Imagination, S.xxix 53
Bakhtin, M.M.: “Epic and Novel”. In: The Dialogic Imagination, S.7
14
Roman sich ständig neu erfindet, projiziert er demnach auch unsere veränderliche
Wirklichkeit. Diese Entwicklungen innerhalb des Romans, die also von unserer
Wirklichkeit und den Veränderungen innerhalb unserer Wirklichkeit hervorgerufen
werden, können allerdings nur stattfinden, wenn es auch diese gewisse Selbstreflexivität
und ‚Selbst-Evaluation‘ im Text selbst bzw. durch den Autor im Text und bezüglich des
Textes gibt. Auch Patricia Waugh erkennt den Einfluss, den unsere Realität auf die
Entwicklungen des Romans hat:
Metafiction, then, does not abandon ‘the real world’ for the narcissistic pleasures
of the imagination. What it does is to re-examine the conventions of realism in
order to discover – through its own self-reflection [Hervorhebungen von K.B] –
a fictional form that is culturally relevant and comprehensible to
contemporary readers. In showing us how literary fiction creates its imaginary
worlds, metafiction helps us to understand how the reality we live day by day is
similarly constructed, similarly ‘written’.54
Der metafiktionale Roman ‚wächst‘ also durch seine Selbst-Reflexivität; er konstruiert
den Gebrauch der literarischen Konventionen anhand der Realität und passt sich somit
kontinuierlich an diese an. Auf diese Weise bleibt er „culturally relevant and
comprehensible to contemporary readers“. Der Roman bleibt aktuell und der Leser wird
direkt angesprochen. Die heutigen Literaturwissenschaftler sehen diesen Aspekt sogar
schon als eine feste Komponente; so sagen Fontis Jannidis et al.: „Der Autor ist im
Alltag unserer Kultur die wichtigste Größe, um literarische Äußerungen so in Kontexte
einzubetten, dass sie verstehbar sind und handlungsrelevant werden können.“55
Demnach ist der Autor dafür verantwortlich, dass seine literarischen Äußerungen
‚culturally relevant and comprehensible to contemporary readers‘ bleiben. Waugh
unterstellt in ihrem Zitat zusätzlich eine bilaterale Beziehung zwischen Realität und
Roman. Der Leser wird, durch das Lesen metafiktionaler Werke, damit konfrontiert,
dass auch seine Realität, wie er oder sie diese auch erfährt, auf ähnliche Art und Weise
„constructed“, bzw. „written“ sein könnte.
Sind self-reflection und self-consciousness nun aber Eigenschaften des Romans an
sich, oder spezifische Eigenschaften metafiktionaler Werke? Oder sind alle Romane
vielleicht metafiktional? Waugh zufolge kann Metafiktion nicht als Sub-Genre des
Romans gesehen werden, sondern „as a tendency within the novel which operates
54
Waugh: Metafiction, S.18 55
Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.) : “Einleitung. Autor und Interpretation” In: Texte zur Theorie der
Autorschaft. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.7
15
through exaggeration of the tensions and oppositions inherent in all novels: of frame
and frame-break, of technique and counter-technique, of construction and
deconstruction of illusion.”56
Somit kann Metafiktion als eine Tendenz, bzw. ein Aspekt
des Romans gesehen werden, der mehrere stilistische, formale und auch semantische
Elemente in sich vereint, diese aber auch gegeneinander ausspielt. Dieser Aspekt muss
jedoch nicht unbedingt in jedem Roman anwesend sein. Bachtins und Waughs
Betrachtungen können zwar an einander gekoppelt werden. Der Unterschied zwischen
beiden Auffassungen liegt vor allem darin, dass Waugh meint, Metafiktion sei dieser
Aspekt, der die Spannungen und Oppositionen deutlich zeigt und hervorbringt, wodurch
der Leser auf diese literarischen Techniken aufmerksam gemacht wird, während
derselbe Aspekt bei Bachtin dem Roman inhärent ist, und also nicht unbedingt der
Metafiktion angehört. Chronologisch gesehen ist Waughs Werk Metafiction (1985)
allerdings erst nach Bachtins The Dialogic Imagination (1975) entstanden. Waugh kann
diese Eigenschaft, die Bachtin zufolge dem Roman inhärent ist, demnach
hervorgehoben und mit der Denomination ‚Metafiction‘ versehen haben.
3.1.Die verschiedenen Aspekte der Metafiktion
In diesem Kapitel werde ich nun etwas näher auf die verschiedenen Elemente der
Metafiktion eingehen. Zunächst wende ich mich der language of fiction und der
Typographie zu. In einem verhältnismäßig großen Kapitel werde ich dann auf die drei
Autorinstanzen in den sieben Romanen eingehen. Schließlich werde ich mich auch noch
mit dem Bildungs- und Entwicklungsroman, dem Buch im Buch und der Parodie
befassen.
3.1.1. Language of Fiction
Zwischen Waugh und Bachtin scheint es, wie bereits erwähnt, einige deutliche
Parallelen zu geben. Auch Waugh war sich dieser Verbindung offensichtlich bewusst.
Als einer der metafiktionalen Aspekte in ihrem Werk wird nämlich auch the language
of fiction behandelt bzw. der Fakt, dass es nicht ‚die‘ language of fiction gibt, was sie
selbst auch mit Bachtins Werk verbindet:
56
Waugh: Metafiction, S.14
16
Metafiction flaunts and exaggerates and thus exposes the foundations of this
instability: the fact that novels are constructed through a continuous assimilation
of everyday historical forms of communication. There is no one privileged
‘language of fiction’. There are languages of memoirs, journals, diaries,
histories, conversational registers, legal records, journalism, documentary. [Hervorhebung von K.B.] These languages compete for privilege. They question
and relativize each other to such an extent that the ‘language of fiction’ is always,
if often covertly, self-conscious.
Mikhail Bakhtin has referred to this process of relativization as the ‘dialogic’
potential of the novel. Metafiction simply makes this potential explicit and in so
doing foregrounds the essential mode of all fictional language.57
Waugh meint also, dass metafiktionale Romane, außer an die inhaltlichen
Veränderungen der Realität, sich auch ständig an die ‚tagtäglichen historischen Formen
der Kommunikation‘ anzupassen versuchen und diese letztendlich integrieren und
miteinander kombinieren. Folglich scheinen sie einander dadurch zu ‚relativieren‘,
wodurch die ‚Sprache der Fiktion‘ self-conscious wird. Dieses Relativieren vergleicht
sie mit Bachtins „dialogic potential of the novel“. Waugh meint, dass Metafiktion
gerade der Aspekt des Romans ist, der dieses Potential explizit macht und somit ‚the
essential mode of all fictional language‘ hervortreten lässt. Eine Frage, die ich hier in
den Raum stellen möchte, ist, ob es nicht schon durch die bloße dialogic method zu
einem gewissen Hervorheben kommt? Wird etwas nicht schon sichtbar, dadurch dass es
in einer Opposition zu etwas anderem auftritt bzw. dadurch dass etwas anders
angewandt wird als zuvor, wie es bei der dialogic method von Bachtin der Fall ist?
Bei Moers tritt die Dialogizität der fiktionalen Sprache in allen Romanen auf. Er
kombiniert oftmals umgangssprachliche Elemente mit Fremdwörtern oder introduziert
Begriffe, die zu einem bestimmten Fachgebiet gehören. So erfährt Hildegunst von
Mythenmetz, der Protagonist (und mutmaßliche Autor58
) in DLdTB:
„Das ist eine olfaktorische [Hervorhebungen von K.B.] Aroma-Orgel zur
Erschaffung eines riechbaren Bühnenbildes“, erläuterte [die Schreckse Inazea
Anazazi] wispernd. „Das gibt es nur in Buchhaim. Nur in diesem Theater! Sie
fügt der Inszenierung neben der Musik noch die Dimension des Geruchs hinzu.59
Für viele erwachsene und/oder geschulte Leser würden diese beiden Wörter,
„olfaktorische“ und „Inszenierung“ vielleicht für keine erheblichen Probleme sorgen,
aber manche jüngere wie auch ungeübte Leser müssten diese eventuell doch
57
Waugh: Metafiction, S.5 58
Siehe Kapitel „Hildegunst von Mythenmetz als Autor & Figur” 59
DLdTB, S.234
17
nachschlagen. Fachjargon wird hier also in einen normalen Dialog inkorporiert.
Außerdem sehen wir in etlichen Dialogen in Moers‘ Werken, dass manche Wörter im
Nominalstil verwendet werden, im obigen Beispiel z.B. „Erschaffung“, was auf einen
‚professionelleren‘ Sprachgebrauch hinweist. Dazu sagt Hans Eggers, dass man „einen
[…] klaren, verbalen Stil im heutigen Schriftdeutsch fast als Ausnahme betrachtet. Sehr
viel weiter verbreitet [sei] der Nominalstil.“60
Außerdem meint er, dass „[m]öglichst
viel Informationen in möglichst wenig Worten, […] deutlich im Bestreben des heutigen
schriftsprachlichen Stils [, dem Nominalstil], [liegt]. “61
Ihm zufolge „fordert [dieser
Stil] vom Leser ein hohes Maß an Aufnahmebereitschaft, und intellektueller
Mitarbeit.“62
Der Nominalstil scheint in der gesprochenen Sprache also eine geringere
Rolle zu spielen und gehört eher der professionelleren Schriftsprache an. Dass eine
Figur mithilfe des Nominalstils kommuniziert, ist also sicherlich als ein Abweichen von
der ‚normalen‘, gesprochenen Sprache zu betrachten. Moers setzt demnach
Fremdwörter, schriftsprachlichen Stil und einen ‚professionellen‘ Jargon ein. Er verleiht
bestimmten Stellen im Roman auf diese Weise ein gewisses ‚Fachsimpeln‘. Wie in
Waughs Zitat bezüglich der language of fiction63
bereits gesagt wurde, ist es gerade das
Integrieren von Fach- und Fremdwörtern, das den Romanen ihren ambivalenten,
oppositionellen Charakter verleiht. Durch den Gebrauch von z.B. unterschiedlichen
Registern kann der Roman sich, auf linguistischer, sozialer und kultureller Ebene
kontinuierlich an die Realität anpassen. In seinem Werk Postmodernist Fiction
beschreibt Brian McHale den Gebrauch von u.a. Fremdwörtern oder schwierigen
Wörtern auch als lexical exhibitionism:
Lexical exhibitionism involves introducing words which are by their very nature
highly conspicuous, self-foregrounding as it were: rare, pedantic, archaic,
neologistic, technical, foreign words [Hervorhebung von K.B.]. Words, in short,
which many readers will need to look up, and which they may not be able to find
outside of OED64
– or even inside it, for that matter.65
60
Eggers, Hans: Die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert. München: R.Piper & Co Verlag 1973, S.45 61
Eggers: Die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert, S.47 62
Ebd. 63
“There are languages of memoirs, journals, diaries, histories, conversational registers, legal records,
journalism, documentary. These languages compete for privilege. They question and relativize each other
to such an extent that the ‘language of fiction’ is always, if often covertly, self-conscious.” [Waugh:
Metafiction, S.5] 64
OED ist eine Abkürzung für das „Oxford English Dictionary“, das Pendant vom deutschen Brockhaus. 65
McHale, Brian: Postmodernist Fiction. London und New York: Routledge 1999, S.151
18
Kann der Autor, ob es nun Moers, Mythenmetz oder Blaubär ist, als ein lexikalischer
Exhibitionist perzipiert werden? Und was ist die Funktion dieses lexical exhibitionism?
Eine naheliegende Antwort auf diese letzte Frage könnte sein, dass der echte oder
mutmaßliche Autor, oder eventuell sogar der ‚Übersetzer‘, mit seiner Kenntnis prahlen
möchte, dass er also dem Leser deutlich machen will, dass er weiß, wovon er spricht.
Diese Interpretation erscheint auch deshalb plausibel, da der Leser in etlichen
Erklärungen, wie zum Beispiel in den Nachtigallerschen Fußnoten, persönlich
angesprochen wird und ihm darin ein Begriff oder ein Ereignis erklärt wird. In E&K
finden wir bereits auf der ersten Seite der Erzählung eine Fußnote mit einer Erklärung
aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene
Zamoniens und Umgebung: „Buntbären, die: Zamonische Sonderform aus der Familie
landbewohnender Allesfresser mit dichter Fellbehaarung (Ursidae) [Hervorhebung von
K.B.]; kräftige, bis zu zwei Meter große Säugetiere mit Sprachbegabung.“66
Diese
Fußnote scheint hier vor allem dem Leser gegenüber eine erklärende Funktion zu
haben67
. Auch der Gebrauch des Lateinischen Wortes „Ursidae“ ist auffällig. Hiermit
integriert Moers nämlich eine realitätsgetreue Denomination68
, womit in der
Naturkunde die Gruppe der Bären markiert wird.
Eine Folge dieser Interpretation der Prahlerei vonseiten des Autors, Erzählers oder
Übersetzers, wäre nun folglich hauptsächlich mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit
zu verbinden. Die Frage nach der Funktion bleibt jedoch: Will er vielleicht mittels
dieser ‚Kenntnis-Demonstration‘ den Leser davon überzeugen, dass er ein intelligenter
und vertrauenswürdiger Mensch ist und somit den Prozess des So-Tun-Als-Obs
bestärken? Den Begriff ‚So-Tun-als-ab‘ benutze ich in meiner Arbeit übrigens Analog
zu dem make-believe-Konzept, was „so viel bedeutet wie das spielerische Sich-
Einlassen des Lesers auf die fiktionale Erzählung, das darin besteht, die Erzählung für
die Zeit der Lektüre in einer gewissen Hinsicht für wahr zu halten. […] [Der Leser soll]
66
E&K, S.17 67
Man könnte an diesem Punkt einwenden, dass das Lexikon in Käpt’n Blaubär eher dem Blaubär selbst
gilt, anstatt dem Leser. Meiner Meinung nach dient das Lexikon hier (E&K) vor allem dem Leser,
während es in Käpt’n Blaubär dem Leser wie auch Käpt’n Blaubär selbst gilt. 68
Z.B. “Spectacled bears, also called Andean bears, are among the smallest members of the family
Ursidae.” Verfügbar: http://animals.nationalgeographic.com/animals/mammals/spectacled-
bear/?source=A-to-Z (besucht 03.04.2012)
19
während der Lektüre für sich selbst so tun, als ob er die Erzählung glaubt.“69
Man kann
hier auch einen starken Zusammenhang mit der willing suspension of disbelief
bemerken, ein Begriff, den ich bereits im Kapitel der Phantastik introduziert habe.
Tatsächlich werden beide Begriffe oftmals als Synonyme von einander verwendet.
Beide haben schließlich mit einem mehr oder weniger bewussten Aufschub des
Unglaubens zu tun. In meiner Magisterarbeit werde ich hauptsächlich den Begriff des
So-Tun-Als-Obs verwenden.
Eine andere Deutung des lexical exhibitionism wäre, dass der ‚professionelle‘
Sprachgebrauch mit dem individuellen Charakter70
des ‚Erklärers’ innerhalb der
Erzählung selbst verbunden werden kann. Während die vorige Interpretation also
hauptsächlich damit zu tun hatte, wie der Autor, real oder nicht, perzipiert wird und sich
somit eher in der Rahmenerzählung situiert, geht es in dieser Interpretation um einen
‚intratextuellen‘ Aspekt. Insbesondere bei Prof. Dr. Abdul Nachtigaller wäre die
‚lexikal exhibitionistische‘ Eigenschaft dann sehr auffällig. Bei ihm wird das
Fachsimpeln außerdem solchermaßen mit umgangssprachlichen Elementen verbunden,
dass er vereinzelt als brillanter aber dennoch verrückter Professor interpretiert werden
kann.
Tja, und bei der Beimischung dieser letzten Zutat ist mir aus Versehen noch ein
Irrlicht in die Rezeptur [Hervorhebungen von K.B.] gefallen, eine
Friedhofsmotte, die kurz vorher vom Blitz getroffen worden war. Das hat alles
versaut. Das Zamomin war fast perfekt, aber es hatte einen Dachschaden.71
Der Sprachgebrauch kann also durchaus Einfluss auf unsere Interpretation und unseren
Eindruck der Figur haben. Hier würde die Bestärkung oder der Verlust der
Glaubwürdigkeit sich also eher auf eine Figur in der Erzählung projizieren. Bezüglich
anderer Figuren können wir feststellen, dass das Fachsimpeln zwar oftmals zu einer
Bestärkung der Glaubwürdigkeit führt. Diese kann, durch weitere Charakterzüge
derselben Figur, jedoch auch wieder zerstört werden. So ist der zwölfjährige Gustave
Doré in Moers‘ Roman Wilde Reise durch die Nacht z.B. auf einer Quest: er muss sechs
Aufgaben erfüllen, um dem (anthropomorphisierten) Tode zu entrinnen. Zu Beginn
69
Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum
Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001, S.217 70
Obwohl es sich hier selbstverständlich nicht um eine reale Person ‚aus Fleisch und Blut‘ handelt,
verwende ich trotzdem das Wort ‚Charakter‘. Damit meine ich das Konstrukt verschiedener Charakter-
Elemente, die der jeweiligen dramatis personae vom Autor zugeschrieben werden. 71
Käpt’n Blaubär, S.646
20
unterstützt der Tod Gustave scheinbar auf seinem Weg. Letztendlich entpuppen alle
Helfer, die der Tod geschickt hatte, sich allerdings wirklich als „Diener des Todes“72
,
wodurch Gustave von einem Übel ins Nächste gerät. Einer dieser mutmaßlichen Helfer
ist das sprechende Pferd Pancho Sansa. Auch er ist in gewisser Weise eine ‚Erklärer‘-
Figur. Da er Gustave zuvor jedoch schon einmal im Stich gelassen hat, erweckt er auf
den Leser und auch auf Gustave selbst nicht den Anschein einer vertrauenswürdigen
Figur.
„Eine im Hochgebirge nicht seltene Sinnestäuschung“, erklärte Pancho. „Die oft
frappierende Turmähnlichkeit der Berge, gepaart mit den getrübten
Sichtverhältnissen und den Einwirkungen der dünnen Luft auf die optische
Wahrnehmung und die Belastbarkeit des Gehirns führen oft zu
Sinnestäuschungen, die…“ „Ach, halt die Klappe!“ rief Gustave und gab dem
Gaul die Sporen […]. Die altklugen Bemerkungen von Pancho fingen langsam an,
ihm auf die Nerven zu gehen.73
Moers kombiniert dieses Fachsimpeln, was stark an die Nachtigallerschen Erklärungen
erinnert, mit einer verräterischen bzw. unzuverlässigen Figur. Die tatsächliche
Intelligenz und das Wissen des sprechenden Pferdes werden dadurch besudelt; Panchos
Intelligenz macht letztendlich nichts mehr aus und wirkt sogar als Wichtigtuerei.
Bedeutend scheint in Moers‘ Romanen vor allem zu sein, was genau mit diesem Wissen
geschieht, wie es angewandt und übertragen wird74
.
Positiver wirkt ein formeller Sprachgebrauch übrigens bei diesen Figuren, die im
Verlauf der Erzählung als Vertrauensperson gelten und auch ihr Standing wahren. So
wird uns z.B. Danzelot von Silbendrechsler durch die Zusammenstellung seines
Wortschatzes „als ein[…] gebildete[r], ältere[r] aber etwas zerstreute[r] Mann“75
vorgestellt. Bei ihm wird der Gebrauch von Fremdwörtern und Fachsprache mit
umgangssprachlichen Elementen verknüpft, was uns zu Waughs Zitat bezüglich der
language(s) of fiction zurückführt, und was Bachtin „multi-languaged consciousness“76
nennt. Durch den Kontrast zwischen Fachbegriffen oder Fremdwörtern und dialogischer
Alltagssprache, werden die schwierigeren Wörter automatisch hervorgehoben. Es
kommt zu einer Verstörung des Leseflusses. Der Leser muss innehalten, sich kurz einer
Definition, Beschreibung oder eines Beispiels entsinnen, eventuell sogar die Bedeutung
72
WR, S.93, 107 73
WR, S.114 74
Siehe diesbezüglich auch die Bedeutung des Lexikons in dem Kapitel „Das Buch im Buch“ 75
Blondeel: “Multiple Adressiertheit“, S.24 76
Bachtin: The Dialogic Imagination, S.11
21
eines Wortes nachschlagen, und damit entsteht womöglich sogar eine Unterbrechung im
Aufbau und der Erhaltung des So-Tun-Als-Obs. McHale zufolge verhindert dies aber
nicht unbedingt „the reconstruction of a world“77
, sondern hindert den „reconstruction
process“78
eher, „making it more difficult and thus more conspicuous, more
perceptible.“79
Er beschreibt die Verwendung unerwarteter Register und Jargons als
foregrounding. Dieses foregrounding
refers to features of the text which in some sense ‚stand out‘ from their
surroundings. [...] [I]n any text some sounds, words, phrases and/or clauses may
be so different from what surrounds them, or from some perceived ‚norm‘ in the
language generally, that they are set into relief by this difference and made
prominent as a result. Furthermore, the foregrounded features of a text are often
seen as both memorable and highly interpretable.80
Bestimmte Wörter, Phrasen oder Laute werden also gerade durch ihre Deviation
hervorgehoben. Der Leser hält beim Lese inne und analysiert die ihm unbekannte
linguistische Konstruktion. Dieses Zitat kann man leicht mit dem metafiktionalen, self-
conscious Roman verknüpfen kann: der metafiktionale Roman geht bewusst mit
Registern und Sprache um. Gleichzeitig wird der Leser, durch den Gebrauch
unterschiedlicher und auffälliger Jargons und Register, daran erinnert, dass es sich um
ein künstlerisches Artefakt handelt, denn Ausdrücke wie „pekuniär“81
, „Katatonie“82
oder „opulent“83
gehören meist nicht zum tagtäglichen Vokabular.
McHale spricht in seinem Zitat bezüglich des lexical exhibitionism aber auch von
„neologistic words“, also von ‚neu-geformten‘ Wörtern. In den Moersschen Romanen
sind diese auffällig zahlreich. Bei Moers scheinen solche Neologismen, die sich bei ihm
übrigens auch bis hin zur Phraseologie erstrecken, mehrere Funktionen zu haben. Eine
dieser Funktionen hat, meiner Meinung nach, mit dem So-Tun-als-ob-Konzept zu tun.
Der Schöpfer der fiktiven, phantastischen Welt im Roman muss konsequent sein, wenn
es darum geht, die beabsichtigte Illusion der Erzählung zu erhalten. In einer
phantastischen Welt gelten oft andere Regeln als in unserer Wirklichkeit und dazu
gehören demnach auch Elemente, die wir als solche nicht kennen. Es ist also logisch,
77
McHale: Postmodern Fiction, S.151 78
McHale: Postmodern Fiction, S.151 79
McHale: Postmodern Fiction, S.151 80
Jeffries, Lesley & McIntyre, Dan: Stylistics. Cambridge: Cambridge University Press 2010, S.31 81
DSdTB, S.16 82
Käpt’n Blaubär, S.258 83
DS, S.158
22
dass man für ‚neue‘ Dinge auch neue Wörter braucht. Moers’ Neologismen84
bleiben
trotzdem relativ deutlich, da Moers oftmals Komposita bestehender Wörter konstruiert,
die uns doch mindestens teilweise ein Indiz darüber geben, um was es sich handelt. So
erfahren wir in DLdTB etwas über Mythenmetz‘ Notizloses Notieren85
, was er auch
Mythenmetzsche Mentalmalerei86
nennt. Schon durch die Zusammenstellung Mental-
und Malerei, wird eigentlich deutlich was gemeint ist: jemand ‚malt‘ ein mentales Bild,
bzw. rekonstruiert das, was er oder sie sieht, vor seinem mentalen Auge und speichert
es. Außer dieses, relativ bildlichen, Kompositums, wird dem Leser der Begriff
zusätzlich im Text noch erklärt. Falls die Bedeutung einer phantastisch konnotierten
Phrase dann eventuell doch noch undeutlich sein sollte, sorgt Moers mithilfe des
Lexikons oder eines ‚Übersetzerkommentars‘ für mehr Deutlichkeit. So schreibt
Hildegunst in einer seiner Mythenmetzschen Abschweifungen in E&K: „Wissen Sie, was
Kritiker mir mal können? Sie können mir mal die Schere spülen!*“87
was prompt von
einer Erklärung in der Fußnote gefolgt wird:
Du kannst mir mal die Schere spülen ist einer der gebräuchlichsten und zugleich
drastischsten Kraftausdrücken von Zamonien. Die in den atlantischen
Fellkämmereien beschäftigten Scherenspüler (sie waren damit beschäftigt, die
läuseverseuchten Yetihaare aus Kämmen und Scheren zu spülen) galten lange Zeit
als der niedrigste Berufsstand Zamoniens. Jemand als Scherenspüler zu
bezeichnen oder ihn aufzufordern, einem die Schere zu spülen, war eine grobe
Beleidigung. (Der Übersetzter)88
Moers gliedert hier also seine ‚neologistische Phraseologie‘ in einen phantastischen
Kontext ein. Dadurch dass solche ‚neuen‘ Phraseologien und Wörter dem Leser vor
dem Leseprozess unbekannt sind, kommt es beim Lesen automatisch zu einem
foregrounding. Auch pejorative Wortwahl kann zu foregrounding führen. Wörter wie
„Lektürememmen“89
, „Heulsusen“90
oder das eher euphemistisch-beleidigende
„Kamillenteetrinker“91
gehören schließlich nicht zum normativen Sprachgebrauch und
machen eher auf sich aufmerksam.
84
Als Neologismen können hier auch die Anagramme in Moers‘ Romanen erwähnt werden. 85
DLdTB, S.46 86
DLdTB, S.46 87
E&K, S.89 88
E&K, S.89 89
DLdTB, S.11 90
DSdTB, S.9 91
DSdTB, S.9
23
Neben der Funktion der Erhaltung und Bestärkung des So-Tun-Als-Obs, können
Neologismen oder andere spezifische und abweichende Wortwahl also auch als
metafiktionales, linguistisches Hervorheben gesehen werden. Die hervorgehobenen
Begriffe und Ausdrücke machen den Leser darauf aufmerksam, dass es sich bei der
Erzählung um ein artistisches, kulturelles Artefakt handelt, aber auch, dass die eigene
Realität genauso konstruiert oder geschrieben92
sein könnte, wie der Roman, den er oder
sie gerade liest. In dieser Hinsicht verbinde ich foregrounding also auch mit der
Metafiktion.
Bezüglich McHale und seinem Werk Postmodern Fiction möchte ich an dieser
Stelle und mittels eines kurzen Exkurses noch erwähnen, dass ich die Verbindung
zwischen Postmodernismus und Metafiktion natürlich nicht einfach so herstelle. Birgit
Neumann und Ansgar Nünning nennen Metafiktion „a hallmark of postmodernism“93
,
ein Siegel bzw. Stempel des Postmodernismus, und Linda Hutcheon äußert sich
folgendermaßen: „What we tend to call postmodernism in literature today is usually
characterized by intense self-reflexivity and overtly parodic intertextuality. In fiction
this means that it is usually metafiction that is equated with the postmodern.”94
Ihr
zufolge sollte man jedoch auch „an equally self-conscious dimension of history“95
zu
der Definition der Postmoderne hinzufügen. “The term postmodernism, when used in
fiction, should, by analogy, best be reserved to describe fiction that is at once
metafictional and historical in its echoes of the texts and contexts of the past.”96
Hutcheon meint also die Metafiktion sei einer der zwei Aspekte der Postmoderne. Ihrer
Ansicht nach, können Metafiktion und Postmoderne einander also zwar nicht
gleichgestellt werden. Sie sind jedoch eng mit einander verbunden. Peter Hunt zufolge
ist
[m]etafiction […] a mode of writing which has recently flourished within a
broader cultural movement referred to as postmodernism [...] with which it shares
some common features: narrative fragmentation and discontinuity, disorder and
92
“metafiction helps us to understand how the reality we live day by day is similarly constructed,
similarly ‘written’” [Waugh: Metafiction, S.18] 93
Neumann, Brigit & Nünning, Ansgar: Metanarration and Metafiction. Verfügbar: http://hup.sub.uni-
hamburg.de/lhn/index.php/Metanarration_and_Metafiction (besucht 03.05.2012) 94
Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction: Parody and the Intertextuality of History. S.3
Verfügbar: https://tspace.library.utoronto.ca/bitstream/1807/10252/1/TSpace0167.pdf (besucht
03.05.2012) 95
Hutcheon: Historiographic Metafiction, S.3 96
Hutcheon: Historiographic Metafiction, S.3
24
chaos, code mixing and absurdity of the kind which appears in the picture books
of John Burningham [and] Chris Van Allsburg [...] and the novels of William
Mayne and Terry Pratchett.97
Obwohl es also gewisse Unterschiede zwischen dem Postmodernismus und der
Metafiktion gibt, sind sich alle Literaturwissenschaftler darüber einig, dass beide in
einem engen Verhältnis zueinander stehen. In meiner Magisterarbeit, und bezüglich
McHales Werk, sehe ich Metafiktion demnach, wie es auch Linda Hutcheon vorschlägt,
als einen der Hauptaspekte des Postmodernismus. Dadurch scheint mir auch der
Gebrauch des Werkes Postmodern Fiction bezüglich der Metafiktion in Walter Moers‘
Zamonien-Romanen gerechtfertigt zu sein.
Zusammenfassend zu diesem Kapitel kann ich konstatieren, dass der
Sprachgebrauch in Moers‘ Romanen eine große Bedeutung hat. Einerseits wirken
bestimmte Wörter als Katalysatoren für die Lese-Erfahrung und das Eintauchen in die
Erzählung, andererseits weisen sie auch auf den Konstrukt-Charakter des Romans hin.
In allen Fällen sorgen sie jedoch dafür, dass der Leser, ob es nun ein schwieriges oder
neologistisches ist, sich des Wortes bewusst wird. Das Wort tritt sozusagen aus seinem
semantischen Kontext hervor und erhält für einen kurzen Moment einen anderen,
höheren Status. Gleichzeitig verstärkt das Wort aber auch seinen semantischen Kontext.
Es liegt also in der phantastischen Erzählung eingebettet, obwohl es sich durch spezielle
Eigenschaften, wie Jargon, Register oder Neologismus, auszeichnet und so von anderen
‚normalen‘ Wörtern unterscheidet. Der metafiktionale Aspekt der Wortwahl ist in
Moers‘ Romanen deutlich vorhanden und zeichnet sich vor allem durch eine starke
Dialogizität zwischen den unterschiedlichen Registern, Jargons und Denominationen
aus verschiedenen Fachbereichen aus. Es gibt demnach nicht nur die eine language of
fiction, sondern eher eine Konstellation unterschiedlicher languages of fiction oder eine
Dialogizität zwischen den verschiedenen languages of fiction.
3.1.2. Typografie
Auch die Typographie kann als metafiktionaler Aspekt gesehen werden. Qua Funktion
und Effekt gibt es hier sogar viele Ähnlichkeiten mit der language of fiction. Durch
Veränderungen in der Typographie, z.B. Schriftgröße oder Schrifttyp, wird der Leser
97
Hunt, Peter: Understanding Children’s Literature: Key Essays from International Companion
Encyclopedia of Children’s Literature. Taylor & Francis e-Library 2002, S.141
25
ein aktiver Leser. Er oder sie erkennt die formalen Veränderungen, die bei Moers meist
zur Veranschaulichung eines akustischen Ereignisses oder zur Darstellung eines
paratextuellen Elementes oder eines anderen literarischen Mediums dienen. Die
vergleichsweise minimalistischsten typographischen Besonderheiten finden wir in
Wilde Reise durch die Nacht, einem Roman, der, als einziger, nicht auf dem Kontinent
Zamonien spielt. Es gibt zwar gewisse inhaltliche Parallelen zwischen WR und den
anderen Moersschen Romanen, wie den Greif98
und andere intertextuelle Elemente, die
in vielen Moers-Romanen wiederholt vorkommen. Dennoch scheint es sich hier um
eine eigene, phantastische, Welt zu handeln. Eine abweichende Typografie gibt es in
WR vor allem dann, wenn eine Figur etwas ruft, wenn die Lautstärke also erhöht ist. In
diesem Falle sind die Buchstaben des Wortes fett gedruckt: „»Was soll das heißen? Du
bist doch das Schrecklichste Aller Ungeheuer, oder?« Gustave dachte nicht daran,
seine Stimme zu senken“99
; oder bei einer Betonung, ohne dass dabei unbedingt die
Stimme erhoben wird: „Du hast ein Teleskop und beobachtest die Sterne – Esomitrona:
dein richtiger Name ist Astronomie!“100
Waugh meint dazu: „[...] the typographic
arrangements on the page visually imitate the content of the story.”101
Es wird, in
unserem Fall, also visuell dargestellt, was der fiktionale Gegenspieler des Sprechers
hört. So sehen wir deutlich, welche Wörter in ‚gesprochener‘ Sprache im Roman betont
wären, wenn wir sie auch akustisch wahrnehmen könnten. Außerdem kann der Autor
auf diese Art und Weise selbst auf wichtige Stellen in der Erzählung hinweisen. Bei
dem zuletzt genannten Zitat aus WR fällt dem Leser insbesondere das Wort
‚Astronomie‘ auf. In der Erzählung ist Gustave gerade bei seiner dritten der sechs
Aufgaben angelangt. Er muss die Namen von sechs Riesen erraten. Es stellt sich heraus,
dass die Namen, die er ihnen anfangs ablistet, nur Anagramme von ihren wirklichen
Namen sind. Durch Kombinationsgabe und List kann der junge Gustave letztendlich
alle Namen richtig deduzieren. Der Leser kann diesen Prozess des ‚Namen-Ratens‘mit
verfolgen. Dadurch, dass Moers die Lösungen durch Fettschrift betont, sieht auch der
Leser was es mit den Anagrammen auf sich hat. Typographie ist demnach eine
98
„[…] Willkommen in Atlantis, der Stadt mit Zukunft! Siehst du den Greif dort oben auf dem
Minarett?“ in Käpt’n Blaubär, S.448; „Er ritt auf einem Geschöpf, welches zum Teil ein Löwe, zum Teil
ein Pferd und zum Teil ein Adler zu sein schien. »Um deiner Frage zuvorzukommen«, sagte das
Geschöpf, »ich bin ein Greif […].«“ In WR, S.26 99
WR, S.144 100
WR, S.120 101
Waugh: Metafiction, S.97
26
Möglichkeit um den Leser auf etwas innerhalb der Erzählung hinzuweisen. Zudem
meint Waugh folgendes: “Elaborate introductions to the novel, footnotes, marginalia,
letters to publishers – inclusion of the physical ‘scaffolding’ of the text
[Hervorhebung von K.B.]– these again are reminders of the text’s linguistic
condition.”102
Der Leser konstatiert dass es sich um ein Artefakt handelt, ein
künstlerisches Konstrukt. Er wird damit konfrontiert, dass der Text kreiert ist.
Letztendlich kann Typographie niemals wirklich den Platz einer akustischen Erfahrung
übernehmen.
Noch deutlicher sehen wir die abweichende Typographie allerdings in den
anderen Moers-Romanen. In Rumo liest Haifischmade Smeik „Das Nebelheimer
Leuchtturmtagebuch von Doktor Oztafan Kolibril“ 103. Um die handgeschriebene Schrift des
Doktors zu imitieren, wird ein anderer Schrifttyp104
verwendet. Es handelt sich um ein
anderes literarisches Artefakt, nämlich um ein Tagebuch105
. Waugh zufolge ist dies also
“[a] reminder[...] of the text’s linguistic condition.”106
Dadurch dass andere mediale
Elemente integriert werden, erkennt der Leser den Konstrukt-Charakter des Textes. In
einem folgenden Roman, Käpt’n Blaubär, wird der Protagonist über achtzehn Seiten
(S.233-251) hinweg von einer „Waldspinnenhexe“ verfolgt. Die Distanz, die der
Blaubär durch das Geräusch „Bromm!“ der „meterlangen Beine [,die die
Waldspinnenhexe] wie Holzpfähle in den Boden rammte“107
, einschätzen kann, wird im
Roman durch Schriftgröße und Fettdruck symbolisiert. Anfangs, wenn der Abstand,
zwischen Blaubär und Spinne groß ist, wird dies mit einer Schriftgröße 12
widergegeben. Je näher Jäger und Opfer sich allerdings kommen, je größer die Gefahr
also wird, desto größer wird auch die Schrift. Zuletzt beschlagnahmt das
„BROMM!“108
sogar eine ganze Seite. Hier symbolisiert Schrift abermals Akustik. Da
Text natürlich kein Geräusch hervorbringen kann, muss der Autor auf diese Art und
Weise auf eine erhöhte Lautstärke hinweisen. Der Leser spürt in diesem Moment die
‚Grenzen der Sprache‘ im Roman und wird so an die linguistic condition des Textes
102
Waugh: Metafiction, S.97 103
Rumo, S.265-283 104
Der ursprüngliche Schriftzug ist nicht in der Word-Liste der Schrifttypen vorhanden. Nach Vergleich
ähnelt der Schrifttyp des Tagebuches dem Pristina-Schrifttyp meiner Meinung nach jedoch am meisten. 105
Siehe dazu auch „Das Buch im Buch“ 106
Waugh: Metafiction, S.97 107
Käpt’n Blaubär, S.232 108
Käpt’n Blaubär, S.251
27
erinnert. Auch bei McHale ist die Rede von veränderten typografischen Elementen. Ihm
zufolge wird “irregular spacing of typography on the pages of [a] text [genutzt] to
represent or simulate geographical space in an oblique and distorted way.”109
Auch
diese Aussage lässt sich leicht mit unserem Zitat aus Käpt’n Blaubär verbinden. Am
Ende des „Marathonrennen[s] vom Großen Wald“110
bzw. der Verfolgungsjagd
zwischen Waldspinnenhexe und Blaubär auf Seite 251 ist der Schriftzug des
BROMM!‘s nämlich vertikal anstatt horizontal gedruckt und füllt zudem die ganze
Seite, was für eine direkte körperliche Nähe der Waldspinnenhexe stehen könnte: sie hat
sich buchstäblich vor Blaubär ‚aufgebaut‘, bzw. aufgerichtet, wie auch das Wort selbst
es getan hat. Hier ist die Vorstellung des Wortes also eine Widergabe der Akustik und
der Optik innerhalb der Erzählung. In Metafiction zitiert Waugh zu diesem Thema auch
B.S. Johnson. In seinem Albert Angelo wird behauptet:
a page is an area on which I place my signs I consider to communicate most
clearly what I have to convey... therefore I employ within the pocket of my
publisher and the patience of my printer, typographical techniques beyond the
arbitrary and constricting limits of the conventional novel. To dismiss such
techniques as gimmicks or to refuse to take them seriously is crassly to miss the
point.111
Johnson macht es hier sehr deutlich, dass seine typografischen Besonderheiten alles
andere als eine ‚Spielerei‘ oder Gimmicks sind. Ihm zufolge gehören sie zur Botschaft
die der Sender bzw. der Urheber des Textes dem Empfänger bzw. dem Leser,
übermitteln möchte. Die Botschaft wäre in diesem Falle dann auch mehr als nur der
Erzähltext an sich. Es wäre vielmehr die subjektive Lese-Erfahrung, der Eindruck den
der Leser von dem Gesamtwerk, also inklusive Paratext, Erzähltext, etc. bis hin zur
Größe des Buches, hätte.
Seine Kulmination findet die typografische Deviation allerdings nicht nur bei dem
‚Wettlauf‘ zwischen dem Blaubär und der Waldspinnenhexe, sondern auch noch an
einer anderen Textstelle. Es handelt sich um ein Gespräch, dass sich zwischen drei
Parteien innerhalb Blaubärs Gehirn abspielt:
Lass den Jungen in Ruhe!“ Das war das Lexikon. Nein, das war Professor
Nachtigaller persönlich. „Nachtigaller, bist du das?“ Die Stimme des
Zamomins klang plötzlich verängstigt. „Und ob ich das bin. Habe ich dich
109
McHale: Postmodernist Fiction, S.51 110
Käpt’n Blaubär, S.241 111
Johnson, B.S.: Albert Angelo. London.1964, p.176 In: Waugh: Metafiction, S.7
28
endlich ausfindig gemacht! Wo seid ihr, mein Junge? Ich kann ja leider
nichts sehen.“ „Auf der Moloch! Wir müßen uns eigentlich nördlich von Atlantis
befinden!“ „Halt deinen Mund!“ „Sieh an, ich hätte nicht gedacht, daß du
dich auf der Moloch verkriechst. Eigentlich naheliegend. Immer noch die
alten Träume von der Weltherrschaft?!“ „Ich träume nicht, Nachtigaller,
ich denke! Und ich verkrieche mich nicht wie du in einem
Höhlenlabyrinth! Ich bin das Zamomin! Wage dich nicht in meine Nähe,
Nachtigaller! Ich müßte dich sonst zerstören!“ 112
Hier steht jeder Schriftzug also für eine bestimmte Stimme im Gespräch. Auf diese
Weise kann der Leser Prof. Nachtigaller, Blaubär und das Zamomin voneinander
unterscheiden. Dieselben individuellen Schriftzüge werden übrigens auch für andere
Gespräche derselben Person genutzt, und haben demnach in gewissem Sinne auch eine
Identifizierungsfunktion. In dem oben genannten Beispiel wird auf diese Weise jedoch
nicht nur die individuelle Klangfarbe der einzelnen Stimmen angedeutet, sondern auch
die Geschwindigkeit der Reaktionen. Durch das schnelle Aufeinanderfolgen der
unterschiedlichen Schrifttypen bekommt der Leser den Eindruck eines schnellen,
abwechslungsreichen Streitgesprächs.
Außerdem äußert sich Hildegunst auch persönlich zu der Typographie und ihrem
Effekt auf die Interpretation des Lesers. So meint er in DLdTB: „Fraktur ist in der
Typographie sozusagen das, was das Fachwerk in der Architektur darstellt. Beide
signalisieren eine gewisse Altertümlichkeit, aber auch solides Handwerk und zeitlose
Haltbarkeit. Fraktur ist vertrauenerweckend.“113
Aus diesem Zitat können wir schließen,
dass Hildegunst, und demnach auch Moers, bestimmten Schrifttypen eine spezifische
(emotionale, subjektive) Funktion zuschreibt. Hier stellt sich dann letztendlich auch die
Frage, welchen Einfluss Moers‘ Schrifttypen auf die Lese-Erfahrung seiner eigenen
Romane habe sollte. Wenn der Fraktur-Font ‚vertrauenerweckend‘ ist, was bedeuten
dann ‚Comic Sans MS‘, ‚Iskoola Pota‘ oder ‚Pristina‘? Meiner Meinung nach hat der
Eindruck, den ein Schrifttyp dem Rezipienten gibt, hauptsächlich mit seinem
historischen und praktischen Kontext und/oder Hintergrund zu tun. Außerdem scheint
auch die optische Ausführung bzw. das Eckige oder Runde des Schrifttypen
112
Käpt’n Blaubär, S.643 113
DLdTB, S.67 [Für Beispiele dieses typographischen Typs siehe auch
http://www.library.yale.edu/cataloging/music/fraktur.htm besucht 07.05.2012. Interessant ist außerdem
auch Martin Conrads‘ Artikel ”Typography Today: Current Trends in Type Design.” [Verfügbar
http://www.goethe.de/kue/des/prj/des/dth/en6750772.htm besucht 07.05.2012], wo über das Comeback
alter Schrifttypen berichtet wird.]
29
mitzuspielen. Dadurch dass dieser Schrifttyp altertümlich erscheint und eine bestimmte
optische Komplexität hat, erhält er eine gewisse Seriosität und wird darum als
‚vertrauenerweckend‘ erfahren. Der Leser erhält den Eindruck eines ‚glaubwürdigen‘
Schrifttyps. Meiner Meinung nach stehen typographische Typen wie Comic Sans MS
dann eher für etwas Jüngeres, Moderneres. Es handelt sich optisch gesehen um einen
‚runderen‘ Schrifttyp, der weniger seriös, sondern eher einfach und verspielt wirkt.
Diese eher subjektive Eigenschaft der Typographie scheint für mich allerdings kein
wirkliches metafiktionales Merkmal an sich zu sein. Die abweichende Typographie
wird in dem Streitgespräch zwischen dem Zamomin, Nachtigaller und Blaubär meines
Erachtens vom Leser automatisch mit einer anderen Stimme oder einem anderen
Medium assoziiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Leser sich bezüglich dieses
Aspekts der Typographie unbedingt der linguistic condition des Textes bewusst werden
muss. Der Gebrauch unterschiedlicher Schrifttypen für unterschiedliche Stimmen
scheint sich in der gegenwärtigen Literatur, und sicherlich in der KJL, schon längst
eingebürgert zu haben und erweckt darum nicht mehr unbedingt den Eindruck einer
‚Deviation‘. In dieser Hinsicht können wir davon ausgehen, dass Metafiktion auch von
einem gewissen ‚Neuheitsgrad‘ abhängig ist, denn nur das Neue ist auch ‚anders‘ und
auffällig. Wenn der Leser sich an eine bestimmte literarische Konvention gewöhnt hat,
erscheint sie ihm nach einer Zeit als veraltet und ist sie weniger auffällig. Linda
Hutcheon sagt dazu: „metafiction has two major focuses: the first is on its linguistic and
narrative structures, and the second is on the role of the reader.”114
Um zu funktionieren
benötigt der metafiktionale Roman also nicht nur literarische und linguistische
Techniken, sondern auch die Mitarbeit des Lesers, denn dieser interpretiert, erkennt und
bewertet. Der Autor kann mit seiner typographischen Deviation also zwar einen
metafiktionalen, sprich ‚selbst-bewussten‘ Effekt beäugen. Das bedeutet jedoch nicht,
dass der Leser das auch immer so interpretiert. Falls eine metafiktionale Komponente
also nicht als solche gedeutet wird, verliert sie, meines Erachtens, ihren Effekt. Etwas
Ähnliches habe ich übrigens auch schon bezüglich der Phantastik angedeutet. Der
Effekt der Phantastik kann auch nur als solcher erfahren werden, wenn ein Leser die
114
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.6
30
abweichenden Elemente, wie Gespenster oder fliegende Inseln115
, auch als solche
perzipiert.
Die typografischen Techniken haben offensichtlich eine bestimmte Funktion: sie
deuten, in metafiktionalem Sinne, die Grenzen der linguistic condition des Textes an,
und symbolisieren dadurch gleichzeitig ein anderes Medium oder eine andere
Sinneserfahrung, wie Akustik, Optik oder Geschwindigkeit, um den Leser in das
Geschehen mit einzubeziehen. Der Leser wird so Teil der Erzählung und erfährt die
Ereignisse, z.B. eine spannende Verfolgungsjagd, eventuell sogar verstärkt. Außer dass
deutlich wird, dass es sich um ein Artefakt handelt, was beim Rezipienten also für einen
Bruch in der Illusion der Erzählung sorgen könnte, wäre es auch möglich zu
schlussfolgern, dass die typografischen Techniken das ‚Einleben‘, Miterleben und So-
Tun-Als-Ob gerade vereinfachen und/oder verstärken. Meiner Ansicht nach, könnten
vor allem in DSdTB und DLdTB sogar beide Optionen gelten: der Leser merkt anhand
der Typographie, dass es sich um ein literarisches Artefakt handelt. Gleichzeitig
bestärkt dies jedoch auch die Illusion von Hildegunst als Autor116
der Erzählung. Auch
in E&K können beide Deutungen der Typographie gelten. In WR, Rumo, DS und Käpt’n
Blaubär scheint mir die Funktion der Typographie jedoch eher ‚rezipientgebunden‘ zu
sein. Ein Leser A wird die typographischen Variationen vielleicht als metafiktionalen
Aspekt, und in diesem Sinne als Fiktionsbruch deuten, während Leser B dies eher als
eine Bestärkung der Illusion perzipieren bzw. eventuell sogar unbewusst erleben wird.
Die Funktion der Typographie scheint in diesen Fällen also in the eye of the beholder zu
liegen. Außerdem habe ich konstatiert, dass eine ursprünglich metafiktionale
Komponente ihren Effekt verfehlen kann, falls dieselbe literarische Eigenschaft schon
solchermaßen eingebürgert ist, dass sie vom Leser nicht mehr bewusst als Deviation
interpretiert wird, sondern eher eine automatische Deutung erhält. In diesem Fall hätten
wir es also nicht mit einem typographischen foregrounding zu tun. Die literarische
Konvention erhält dann vielmehr eine ‚Standard-Deutung‘, in unserem Beispiel also,
dass unterschiedliche Schrifttypen für unterschiedliche Stimmen stehen. Der
metafiktionale Effekt, dass der Leser merkt, dass er es mit einem literarischen Artefakt
zu tun hat, würde hier dann, meines Erachtens, verfallen.
115
Käpt’n Blaubär, S.633 116
Siehe “Hildegunst von Mythenmetz als Autor und Figur“
31
Abschließend zum Thema Typographie würde ich an dieser Stelle gerne
erwähnen, dass ich mich auch in meiner Bachelor-Arbeit bereits mit der Typographie
und der „Kombination Zeichengröße, Zeilenabstand und Illustration“117
auseinandergesetzt habe, hier jedoch hinsichtlich der multiplen Adressiertheit in
DSdTB. In meiner Arbeit konnte ich konkludieren, dass „Moers und sein Verlag […]
unterschiedliche[…] [formale] Aspekte, die in der Bücherwelt oft verschiedenen
Altersgruppen zugeordnet sind, zu einem Ganzen [kombinieren].“118
Durch die
Verknüpfung typographischer Variationen mit detaillierten Illustrationen, die mitunter
an Graphic Novels erinnern, schafft Moers es, ein breites Publikum zu erreichen. Der
Erzähltext bleibt visuell abwechslungsreich und ‚locker‘, und somit anziehend für
jüngere oder unerfahrene Leser119
, ist jedoch, durch die detaillierten Zeichnungen und
den sehr intertextuellen Inhalt120
, auch für den geübten und/oder älteren Leser reizvoll.
Anhand der Typographie kann der Autor, auf fast unsichtbare Art und Weise, denn
häufig werden typographische Deviationen einfach angenommen aber nicht weiter
beachtet oder analysiert, den Leser auf etwas hinweisen, ihn also gewissermaßen
steuern. Die Interpretation der typographischen Deviation scheint jedoch auch mit dem
Inhalt zusammen zu hängen. Während wir in DSdTB, DLdTB und E&K von einem
Illusionsbruch und einer Illusionsbekräftigung reden können, gilt in WR, Rumo, DS und
Käpt’n Blaubär nur eine der beiden Optionen, welche außerdem gleichzeitig auch
rezipient- bzw. interpretationsgebunden ist.
3.1.3. Der Autor
Bei dem ersten Kontakt zwischen Buch und Leser, sehen wir vor allem den Namen
‚Walter Moers‘ auf dem Umschlag. Dieser Name gilt als Erkennungszeichen für die
Zamonien-Romane und den Typ Text um den es sich handelt. Dazu meint Carlos
Bergeron: „En micro-texte qu'il est, le titre, en introduisant une seconde organisation
textuelle (le co-texte), établit dès le départ un rapport dialectique entre deux contextes:
celui du micro-texte (le discours intitulant) et celui du "co-texte" (la narration en tant
117
Blondeel: “Multiple Adressiertheit“, S.8 118
Blondeel: “Multiple Adressiertheit“, S.9 119
Obwohl natürlich auch erwachsene und/oder erfahrene Leser von einem lockeren Erzählstil und
Layout genießen können. 120
Vgl. Altgeld, Martin: Intertextualität und Intermedialität in Walter Moers‘ »Wilde Reise durch die
Nacht« und »Die Stadt der Träumenden Bücher«. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2008
32
que telle).“121
Der Titel kann demnach als Introduktion des Erzähltextes gesehen
werden. Es kommt zu einem ‚dialektischen Zusammenhang‘ zwischen Titel und
Erzähltext. Auf diese Weise können auch die Erwartungen des Lesers bezüglich des
Titels auf den Erzähltext übertragen werden. Man geht beim Rezipieren des Titels nun
davon aus, dass Moers der Urheber der Texte ist. Auf dem Titelblatt in DSdTB, DLdTB,
E&K und DS finden wir allerdings zusätzlich noch einen anderen Namen. So lesen wir
in Moers‘ ersten Roman Käpt’n Blaubär:
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines
Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des „Lexikons der
erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller.122
Der Text ist allem Anschein nach die (Auto)Biographie eines ‚Seebären‘. Käpt’n
Blaubär berichtet uns hierin von seinen „13 ½ Leben“. Es ist von „Lebenserinnerungen“
die Rede, und wenn man bis zu den Seiten 6 und 7 blättert, wird dieses Gefühl sogar
noch verstärkt: in einem „Vorwort“ spricht Käpt’n Blaubär den Leser direkt an. Diese
Leser-Anrede kann einerseits natürlich als eine literarische Technik gelten, um den
Leser in die Erzählung zu ziehen, also quasi als Introduktion für die phantastischen
Ereignisse, die noch folgen werden. Das Vorwort wäre dann eher eine Übersicht der
phantastischen Regeln und Vereinbarungen, an die der ‚Modell-Leser‘ („der in der Lage
ist, an der Aktualisierung des Textes so mitzuwirken, wie es sich der Autor gedacht hat,
und sich in seiner Interpretation fortzubewegen, wie jener seiner Züge bei der
Hervorbringung des Werkes gesetzt hat“ 123
), sich zu halten hat, um sich ganz und gar in
den Text einleben zu können. Andererseits kann man hier aber auch von einem
Einrahmen der Erzählung im Sinne der „Übersetzerfiktion“ ausgehen, worauf ich im
folgenden Kapitel etwas mehr eingehen werde.
Beim nächsten Moers-Roman, Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien, wird
die Autorschaft noch rätselhafter. Auf Seite 3, dem Titelblatt, finden wir nämlich
folgendes:
Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz.
Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des
121
Bergeron, Carlos : Le Titre Comme Unité Rhétorique de la Narration. Université de Québec: Mai 1993
Verfügbar : http://constellation.uqac.ca/1358/1/1480909.pdf (besucht 03.05.2012) 122
Käpt’n Blaubär, S.3 123
Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 3. Auflage.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998, S.67
33
Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der
erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller.
Der Erzähltext scheint auf den ersten Blick also nicht von Moers selber, sondern von
einem Hildegunst von Mythenmetz124
zu sein. Außerdem ist das Buch mit einer
Abbildung125
und einer „halben Biographie des Dichters“ versehen. In E&K wird Moers
also lediglich als Übersetzer genannt. Auch hier handelt es sich demnach um eine
‚Übersetzerfiktion‘, die bereits in den Paratexten etabliert wird.
In Moers‘ chronologisch dritten Buch Wilde Reise durch die Nacht, fungiert er
selbst wieder als Autor der Erzählung. Wie ich an einer vorherigen Stelle bereits
festgestellt habe, gehört dieses Buch jedoch ‚geographisch‘ gesehen nicht zu den
restlichen Romanen. Der Kontinent Zamonien spielt in WR also keine Rolle. Es scheint
vor allem um die phantastischen Erfahrungen von Gustave Doré auf uns bekannten
Kontinenten, in uns bekannten Gefilden, in Kombination mit phantastischen Elementen
zu gehen. Hier haben wir es demnach mit einer fiktionalen Erzählung aus der
Moersschen Feder zu tun.
An dieser Stelle würde ich mittels einer kurzen Abschweifung auch gerne auf die
starke Intertextualität in WR verweisen, die in Martin Altgelds Intertextualität und
Intermedialität in Walter Moers‘ »Wilde Reise durch die Nacht« und »Die Stadt der
Träumenden Bücher« ausführlicher besprochen wird. Altgeld zufolge legt Moers in
diesem Roman nämlich den „Schwerpunkt deutlich auf die sogenannte hohe Literatur
[…]. Analog zu den in die „Wilde Reise“ integrierten Illustrationen Dorés macht Moers
deren ursprünglich angestammten Quelltexten auch zu den hauptsächlichen Prätexten
des Werkes.“126
Moers scheint sich in WR also nicht nur einem der bekanntesten
Illustratoren des 19. Jahrhunderts, Gustave Doré, zugewandt zu haben. Er integriert
auch „in regem Maße Bestandteile jener hochkarätigen Werke der Weltliteratur […], die
die für „Wilde Reise durch die Nacht“ verwendeten Doré-Zeichnungen ursprünglich
illustrierten.“127
Als Prätexte nennt Altgeld u.a. S.T. Coleridges „The Rime of the
Ancient Mariner“, Dante Alighieris La Comedia, Edgar Allen Poes „The Raven“ und
124
Siehe „Hildegunst von Mythenmetz als Autor & Figur“ 125
E&K, S.5 126
Altgeld, Martin: Intertextualität und Intermedialität, S.14 127
Altgeld, Martin: Intertextualität und Intermedialität, S.15
34
Cervantes‘ El ingenioso hidalgo don Quixote de la Mancha128
. Vor allem auf diese
letzte Werk wird sogar inhaltlich verwiesen. So enthält der Name des Pferdes Pancho
Sansa einen direkten Verweis auf Sancho Panza, ‘Don Quichotes’ rechte Hand. Zu
Ende der Erzählung werden einige Prätexte sogar wortwörtlich erwähnt: „[Gustave]
suchte mit den nackten Füßen nach seinen Pantoffeln und trat dabei auf seine
Gutenachtlektüre, die rund ums Bett verstreut lag: Cervantes‘ Don Quichote, ein Band
Ariost, Dantes Inferno und andere Bücher zusammen mit Schulheften […].“129
An
dieser Stelle kann man sich auch Fragen stellen bezüglich der Funktion dieser
Integration vereinzelter Werke der ‚höheren‘ Literatur. Diese Frage werde ich in meiner
Magisterarbeit jedoch nicht behandeln. Sie soll an dieser Stelle als Ausblick für
zukünftige Studien gelten.
Der nächste Zamonien-Roman ist Rumo & Die Wunder im Dunkeln. Hier
behauptet sich Moers wiederum als Autor. Hildegunst von Mythenmetz selbst, wird im
Erzähltext allerdings auch erwähnt: „[Aksel von den Quellen sagte, die Prinz-Kaltbluth-
Romane seien] das Spannendste, Abenteuerlichste und Genialste, was jemals in
zamonischer Literatur geschrieben worden war, dagegen könnte man das Gesamtwerk
von Hildegunst von Mythenmetz getrost »in der Pfanne braten«.“130
Auch in Käpt’n
Blaubär ist übrigens, wenn auch relativ selten, schon die Rede von Hildegunst. So wird
er im Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene
Zamoniens und Umgebung erwähnt: „»Finsterbergmade, die« (Gedicht):
achtundsiebzigstrophiges Gedicht des Dichters Hildegunst von Mythenmetz, gilt als
Höhepunkt der zamonischen Rarlebewesen-Dichtung.“131
Hier wird Hildegunst also
bereits als talentierter und in Zamonien sehr bekannter Autor introduziert. Käpt’n
Blaubär gibt uns jedoch noch weitere Informationen bezüglich Hildegunst von
Mythenmetz:
Im Kolodrom, einem Riesentheater mit 34 Bühnen, gab es eine
Marathonaufführung von „Der Baßrüttler des Voltigorken“, einem
experimentellen Bühnenstück von Hildegunst von Mythenmetz; ein Stück, das
240 Stunden dauerte und ein Ensemble von über 3000 Schauspielern
beschäftigte.132
128
Vgl. Altgeld, Martin: Intertextualität und Intermedialität, S.16-48 129
WR, S.212 130
Rumo, S.241 131
Käpt’n Blaubär, S.192 132
Käpt’n Blaubär, S.508
35
Hildegunst scheint nicht nur ein zamonischer Dichter, sondern auch Prosa-Autor von
mindestens einem (größenwahnsinnigen) Bühnenstück zu sein. In Käpt’n Blaubär wird
die Figur von Mythenmetz offensichtlich bereits aufgebaut und dem Leser vermittelt,
sodass dieser dessen Namen in E&K zu Anfang eventuell schon erkennt und akzeptiert.
Der gute Eindruck, den uns Käpt’n Blaubär bis jetzt von Hildegunst gegeben hat, wird
in einem weiteren Zitat wieder zerstört.
Eine weitere wichtige Trainingsmethode ist das Lesen großer, mittlerer und
kleiner Literatur. Schriftsteller sind, abgesehen von Politikern, die besten
Lügner, von ihnen kann man am meisten lernen [Hervorhebung von K.B.].
[…] Ich las das Gesamtwerk von Hildegunst von Mythenmetz in zweihundert
Bänden, sämtliche Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Bühnenstücke, Notizen,
Briefe, Reden und experimentelle Lautgedichte, die er jemals geschrieben hatte,
einschließlich seiner zwölfbändigen Autobiographie.133
Käpt’n Blaubär bezichtigt die Schriftsteller des Lügens. Bereits hier, und also schon
bevor Hildegunst uns überhaupt als Autor eines für uns bestimmten Romans, wie
DSdTB, DS oder DLdTB, vorgestellt wird, gibt es eine deutliche Verbindung zwischen
Hildegunst und seiner Glaubwürdigkeit als Autor. Gleichzeitig könnte man diese
Aussage, dass Schriftsteller ‚die besten Lügner‘ sind, jedoch auch mit Moers und
Käpt’n Blaubär selbst verknüpfen. Das Bild der Autorschaft unterliegt also im ersten
Buch bereits heftigen Spekulationen und Fragen nach der Glaubwürdigkeit. Auf Seite
544 in Käpt’n Blaubär wird später zusätzlich noch erwähnt: „[…] Hildegunst von
Mythenmetz […] war Balsam für die Nerven.“, was zwar nicht unbedingt unsere Frage
nach der Glaubwürdigkeit dieser Figur Hildegunst von Mythenmetz beantwortet, jedoch
sicherlich zur Einschätzung der ‚Popularität‘ und des sozialen Standings dieses
zamonischen Schriftstellers beiträgt. In Zamonien gilt Hildegunst von Mythenmetz als
Nationalautor, als der zamonische Goethe.
Nach diesem kurzen Exkurs bezüglich der Figur ‚Hildegunst von Mythenmetz‘ in
Käpt’n Blaubär und Rumo, wende ich mich nun wieder der Autor-Instanz in den
anderen Werken zu. Die Stadt der Träumenden Bücher ist das folgende Buch in der
Moers-Reihe. Das Titelblatt berichtet folgendes: „Die Stadt der Träumenden Bücher.
Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen
übertragen und illustriert von Walter Moers.“134
Auch hier ist Hildegunst von
133
Käpt’n Blaubär, S.534 134
DSdTB, S.3
36
Mythenmetz der mutmaßliche geistige Schöpfer der Erzählung. Moers erscheint als
Illustrator und Übersetzer. In vereinzelten Fußnoten äußert er sich mittels A.d.Ü.,
„Anmerkung des Übersetzers“, auch persönlich, jedoch immer nur in seiner Rolle als
Übersetzer. Inhaltlich können DSdTB und auch der spätere Roman DLdTB übrigens als
Bildungs- und Entwicklungsromane gesehen werden, die die Geschehnisse im Leben
von Hildegunst nachvollziehen. Darauf werde ich jedoch im Kapitel „Die Stadt der
Träumenden Bücher & Das Labyrinth der Träumenden Bücher als Bildungs- und
Entwicklungsromane“ mehr eingehen.
In Der Schrecksenmeister, dem nächsten Roman, wird die Autorschaft noch
komplizierter: „Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von
Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen
übersetzt und illustriert von Walter Moers.“ 135
Moers‘ Position bezüglich der
Erzählung hat sich, verglichen mit DSdTB, nun in der Hinsicht verändert, dass er noch
weiter von der geistigen Schöpfung seines Textes entfernt zu sein scheint.
Ursprünglicher Schöpfer ist hier scheinbar Gofid Letterkerl136
. Hildegunst hat
Letterkerls Märchen nur neu erzählt und es in einen Roman transformiert. Moers ist
abermals Übersetzer und Illustrator, und, wie sich später herausstellen soll, auch
‚Bearbeiter‘ der Moers-Bearbeitung. Wir haben es also mit einer „zweifache[n]
Vermittlung der ursprünglichen Geschichte“137
zu tun.
Das Labyrinth der Träumenden Bücher, das neueste Buch in der Zamonien-Reihe
ist eine Fortsetzung von DSdTB, und demnach logischerweise abermals eine Kreation
von Hildegunst von Mythenmetz: „Das Labyrinth der Träumenden Bücher. Ein Roman
aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und
illustriert von Walter Moers.“138
Die Autorschaft der Moers-Romane im Allgemeinen, und der Zamonien-Romane
im Besonderen, scheint also ein komplizierter Aspekt zu sein. Eine Sache, die wir mit
Sicherheit behaupten können, ist, dass Moers sehr bewusst mit den Konzepten ‚Autor‘
und ‚geistiges Eigentum‘ umgeht. Er erzwingt auf diese Weise eigentlich fast schon,
135
DS, S.3 136
Gofid Letterkerl ist ein Anagramm von Gottfried Keller. 137
Irsigler, Ingo: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers“
In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents.
Göttingen: V&R Unipress 2011, S.62 138
DLdTB, S.3
37
dass der Modell-Leser die Autor-Instanz und –Identität in Frage stellt. Wir können hier
auch sicherlich von einem metafiktionalen Zug sprechen. Waugh meint nämlich, dass:
[b]y breaking the conventions that separate authors from implied authors from
narrators from implied readers from readers, the novel reminds us [...] that
‘authors’ do not simply ‘invent’ novels. ‘Authors’ work through linguistic, artistic
and cultural conventions. They are themselves ‘invented’ by readers who are
‘authors’ working through linguistic, artistic and cultural conventions, and so
on.139
Moers bricht in vielen seiner Romane deutlich die ‚Regeln‘ bezüglich der Autorschaft.
Er lässt Hildegunst von Mythenmetz oder Blaubär seinen Platz einnehmen und nimmt
dadurch selber immer mehr Abstand von seinem geistigen Eigentum. Auf diese Weise
merkt der aufmerksame Leser, dass eine Erzählung nicht nur eine ‚phantastische
Erfindung‘ ist, sondern, dass der ‚Autor‘ sich bestimmter Konventionen bedient, um
einen Text zustande zu bringen, dass der Text also konstruiert ist. Auch inhaltlich wird
dieses ‚selbst-bewusste‘ Umgehen mit Text und Autorschaft deutlich gemacht. So lesen
wir z.B. in WR: „Der Tod fächerte seine Knochenfinger über sein bloßes Gebiß. »Ach
du meine Güte, jetzt habe ich eines der großen Geheimnisse des Universums verraten!
Na, macht nichts – du wirst ja wohl kein Buch mehr darüber schreiben, wie?«“140
Diese
Aussprache lesen wir natürlich gerade in einem Buch, dass offensichtlich auch
geschrieben wurde. An dieser Stelle wird der Leser sich sicherlich von der linguistic
condition des Textes bewusst. Ein anderes Beispiel für die ‚selbst-bewusste‘
Autorschaft wäre außerdem Hildegunst selbst. In ihm sehen wir einen Schriftsteller, der
seine Texte deutlich anhand literarischer Konventionen komponiert. So lässt er E&K
zwar schon auf Seite 200 negativ enden. Wenn man aber weiter blättert, liest man
folgende Mythenmetzsche Abschweifung:
He, Sie lesen ja immer noch! Was wollen Sie denn von mir? Was soll ich
machen? Etwa mit dem größten Tabu der zamonischen Literaturgeschichte
brechen? Nur in den Groschenromanen der Prinzen Kaltbluth triumphiert am
Ende das Gute über das Böse, aber diese Schwarten zählen ja auch nicht zur
akademisch anerkannten zamonischen Dichtkunst.141
Außer dass Mythenmetz es durch seine Abschweifungen und seinen direkten Eingriff in
den Erzählfluss peinlich deutlich macht, dass es sich um ein linguistisches Konstrukt
139
Waugh: Metafiction, S.134 140
WR, S.19 141
E&K, S.202
38
handelt, bemerkt er in dem Zitat selbst sogar noch, dass er sich mit diesem negativen
Ende an bestimmte zamonische literarische Konventionen hält, die vorgeben, dass ein
zamonisches Märchen schlecht zu enden hat. Hier wird der Leser also damit
konfrontiert, dass Schriftsteller, abhängig von Genre und Zeitgeist, sich bestimmter
literarischer ‚Schablonen‘ bedienen. Abermals sehen wir hierin de Konstrukt-Charakter
den Moers auf diese Weise eigentlich sogar parodiert142
und kritisiert. Mythenmetz
meint nämlich in derselben Abschweifung:
Mal gesetzt den Fall, ich würde der Geschichte einen glücklichen Ausgang geben
– würde deswegen gleich das heilige Haus der zamonischen Literaturgeschichte
einstürzen. Würde sich mein Arbeitszimmer mit Magensäften füllen? […] Es
wäre, das ist sicher, eine unerhörte, eine revolutionäre Tat, neben der sogar die
Mythenmetzsche Abschweifung verblassen würde. Und sie könnte mit
zahlreichen Literaturpreisen, Ehrendoktorwürden und nicht zuletzt hohen
Auflagen belohnt werden. Soll ich es wagen?143
In diesem Zitat spielt Hildegunst deutlich mit den zamonischen Literaturkonventionen
seiner Zeit. Er wird si letztendlich brechen, indem er das zamonische Märchen gut
ausgehen lässt. Man könnte fast sagen, Hildegunst würde sich bei sich selbst und seinen
Lesern für seine Wahl verantworten. Der Leser kann seinen Denkprozess bezüglich des
Romans mit verfolgen und erkennt, dass auch viele Märchen unserer Kindheit sich
meist an bestimmte vorgegebene Formen halten, was u.a. Vladimir Propp in seiner
strukturalistischen Literaturstudie Morphologie des Märchens144
schon nachgewiesen
hat. Wenn ein Schriftsteller nun von der gewohnten Form abweicht, kann ihm das
entweder Renommee oder Hohn einbringen. Auch das bringt Hildegunst/Moers in den
Abschweifungen also deutlich nach vorne.
Wenn wir nun wieder zurückgreifen auf Waughs letztes Zitat, lesen wir
außerdem, dass ‚Autoren‘ ihr zufolge selbst auch als eine ‚Erfindung‘ gesehen werden
können. Sie werden vom Leser rekonstruiert, der dafür selbst dieselben linguistischen,
artistischen und kulturellen Konventionen benutzt, wie der ‚Autor‘ während des
Entstehungsprozesses des Romans. Ingo Irsingler bemerkt zusätzlich, dass die „Texte
von Walter Moers ein ›modernes‹ Modell aus[stellen], das den Autor als »selegierende
und arrangierende editoriale Instanz« begreift, der für seine übersetzende »Tätigkeit«
142
Siehe „Die Parodie“ 143
E&K, S.204 144
Obwohl es sich in dieser Studie vorwiegend um Russische Märchen handelt, werden hierin auch die
Märchen der Gebrüder Grimm erwähnt. Vgl. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. München:
Hanser Verlag 1972
39
[…] »den Anspruch auf Autorschaft reklamiert«.“145
Er meint aber auch, dass „die
Moers-Texte […] noch eine weitere Dimension eines modernistischen Autorbildes
auf[weisen]: Gezeichnet wird ein Bild des Schriftstellers, der seinen Besitzanspruch an
das eigene Werk aufgibt, und mit dieser »Befreiung des Textes von de Fesseln der
väterlichen Autorität […] sein Recht über den Leser« verliert.“146
Irsingler zufolge
verliert Moers somit seine Ansprüche auf den Text. Meiner Meinung nach sollte Moers‘
Position bezüglich seiner Romane jedoch etwas nuanciert werden, was ich nun in den
folgenden Kapitel „Moers als Autor“, „Käpt’n Blaubär als Autor“ und „Hildegunst von
Mythenmetz als Autor & Figur“ tun werde.
3.1.3.1.Walter Moers als Autor
Wenn wir Moers‘ Spiel mitspielen, scheint er selber lediglich Rumo & Die Wunder im
Dunkeln und Wilde Reise durch die Nacht geschrieben zu haben. Die Frage nach der
Autorschaft von Käpt’n Blaubär werde ich im nächsten Kapitel beantworten. Bei den
anderen Romanen haben wir es mit einer literarischen Technik zu tun, die ich hier
‚Übersetzerfiktion‘ nennen möchte. Meiner Meinung nach handelt es sich streng
genommen nicht um eine ‚Herausgeberfiktion‘. Uwe Wirth zufolge geht es bei der
Herausgeberfiktion nämlich um folgendes:
Der Herausgeber gibt den von ihm gefundenen, gesammelten und gerahmten
Schriftstücken seinen Namen und wird durch diesen editorialen Akt zu einem
Quasi-Autor. Der Herausgeber als Autor hat also die Funktion, Geschriebenes zu
adoptieren und unter seinem Namen zu publizieren.147
Außerdem meint Wirth, „daß der Herausgeberrahmen dazu dient, Texte zu adoptieren,
die zwar einen Schreiber haben, aber keinen Autor. Dergestalt wird durch den
Herausgeberdiskurs eine sekundäre Autorschaft etabliert.“148
Bei Moers handelt es sich
jedoch gerade um das Gegenteil: er selbst nimmt Abstand von seinem geistigen
Eigentum und schreibt den kreativen Ursprung der Erzählungen jemandem anders zu.
145
Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im
Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München 2008, S.428.
Zitiert in: Irsingler, Ingo: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter
Moers“ In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen
Kontinents. Göttingen: V&R Unipress 2011, S.67 146
Ebd. 147
Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im
Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München: Wilhelm Fink
Verlag 2008, S.43 148
Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. S.43-44
40
Es wäre also eine quasi-Adoption in umgekehrtem Sinne: Hildegunst von Mythenmetz
adoptiert Moers‘ Texte, wobei keiner der Texte als ‚verwaist‘ gelten kann, wie es in der
Herausgeberfiktion der Fall ist. In dem Vor- und/oder Nachwort von Käpt’n Blaubär,
DSdTB, DLdTB, E&K und DS treffen wir zudem nicht auf einen „fingierten
Herausgeber“149
, sondern auf einen fiktiven Autor. Der Authentifizierungsanspruch geht
hier demnach nicht von einem fiktiven Herausgeber, sondern von einem fiktiven
Übersetzer aus, nämlich Walter Moers. Dieser ‚garantiert‘, mittels seiner Übersetzung,
den Wahrheitsgehalt der ursprünglichen Erzählung.150
In diesem Sinne könnten die
paratextuellen Elemente in DSdTB, wie z.B. das Titelblatt, übrigens bereits als Ansatz
eines ‚Fiktionspakts‘ gelten, da Moers schon an dieser Stelle als Übersetzer und
Hildegunst als Autor etabliert werden.
Dadurch, dass Moers sich selbst zum Übersetzer ausruft, nimmt er intellektuellen
Abstand von seinen eigenen Werken. Er tritt in diesen Texten buchstäblich am Rande
der Erzählung auf, nämlich in den Fußnoten. So erläutert er in Der Schrecksenmeister
z.B. lediglich die Bedeutung eines Wortes: „Krötenspinne, die: sehr unangenehme
zamonische Arachnoidensorte151
, die genauso aussieht, wie sie heißt. A.d.Ü.“152
Er
übernimmt in diesem Zitat die Funktion des Lexikons, wird zum Erklärer und
‚Fachsimpler‘. Auch in DLdTB schlüpft er in die Rolle des Übersetzers:
„Holzzeit, die: Altes Buchhaimer Brauchtum, bei dem zu vorgerückter
Abendstunde Holz an die Kamine gelegt und aus Büchern vorgelesen wurde.
Wurde zeitweilig von Bücherhandlungen zur Promotion von Büchern genutzt,
siehe Die Stadt der Träumenden Bücher, S.109 ff., A.d.Ü.“153
Moers ist in diesem Falle also nicht nur Erklärer. Er verknüpft in seiner ‚Anmerkung
des Übersetzers‘ sogar den aktuellen Text mit einem der Vorherigen. So entstehen
Verbindungen zwischen den Zamonien-Romanen, obwohl „alle [s]eine Bücher […] so
angelegt [sind], dass man sie [auch] unabhängig voneinander lesen kann.“154
Das
Statement im Buch, er sei nur Übersetzer, geht Moers aber anscheinend nicht weit
149
Lahn, Silke & Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart, Weimar: Verlag
J.B. Metzler 2008, S.88 150
Vgl. Lahn & Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, S.88 151
Hier treffen wir abermals auf lexical exhibitionism. Arachnoid bezieht sich auf Arachnid: Spinnentiere.
Siehe auch: http://www.americanarachnology.org/gallery_entrance.html (besucht 06.04.2012) 152
DS, S.26 153
DLdTB, S.293 154
Flor, Henrik (Literaturtest), Blank, Gisela (buecher.de): „Walter Moers im buecher.de-Interview“
Verfügbar: http://www.buecher.de/fr/autoren/interview/walter_moers/index.html
41
genug. Er treibt das Konzept der Übersetzerfiktion bis an die Spitze, wenn er in
Interviews meint, er habe in Der Schrecksenmeister im Vergleich zum
Mythenmetzschen Original „[s]chlicht 700 Seiten Mythenmetzsche Abschweifungen
[weggelassen] […] [und es sei] dadurch ein erheblich besseres Buch geworden. In der
Originalfassung [sei] es eigentlich unlesbar.“155
Sogar in seinen Interviews, die er
übrigens nur per Mail gibt, lässt er die Übersetzerfiktion also gelten. Seine Aussagen
zeigen jedoch auch, dass er letztendlich doch nicht nur übersetzt, sondern, wie
Hildegunst es auch bei Letterkerls ursprünglicher Novelle getan hat, selbst in den Text
eingegriffen hat. So verkündet Hildegunst im Nachwort von DS:
„Ich habe mir erlaubt, Echo, das Krätzchen in ein etwas zeitgemäßeres
Neuzamonisch zu übertragen, um die Novelle wieder ins kollektive Bewusstsein
zu rufen und ihr hoffentlich zu frischer Popularität zu verhelfen. […] Ich habe mir
außerdem erlaubt, das Märchen geringfügig zu bearbeiten und mit einem neuen
Titel zu versehen.“156
Mythenmetz ist in diesem Szenario selbst auch ‚Übersetzer‘. Dadurch, dass er den
ursprünglichen Letterkerl-Text jedoch auch bearbeitet, ist „[d]er Schriftsteller als
Übersetzer […] in diesem Selbstverständnis Handwerker und kreativer Schöpfer
zugleich.“157
Hildegunst tut dies, weil er „die Novelle wieder ins kollektive Bewusstsein
[…] rufen und ihr hoffentlich zu frischer Popularität […] verhelfen“158
will. Moers
macht, ihm selbst zufolge, fast dasselbe. Dadurch, dass er die Mythenmetz-Bearbeitung
selbst bearbeitet und z.B. um 700 Seiten kürzt, „muss[…] [er] also, um den Klassiker in
eine moderne Form zu überführen, kreativ tätig werden.“159
Er macht sich demnach, wie
Mythenmetz, zum „Handwerker und kreativem Schöpfer“. Irsingler weist an dieser
Stelle außerdem auch auf die tatsächliche intertextuelle Verbindung zwischen Der
Schrecksenmeister und Gottfried Keller160
hin.
Das im Paratext erklärte Ziel, dem Klassiker Letterkerl zu einer Renaissance zu
verhelfen, lässt sich demnach auf Gottfried Keller übertragen. Und tatsächlich
155
Flor & Blank: „Walter Moers im buecher.de-Interview“ 156
DS, S.380 157
Irsingler, Ingo: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers“
In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents.
Göttingen: V&R Unipress 2011, S.64 158
DS, S.380 159
Irsingler, Ingo: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers“
In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents.
Göttingen: V&R Unipress 2011, S.64 160
‚Gofid Letterkerl‘, der Name des Autors der ursprünglichen Novelle, ist ein Anagramm für Gottfried
Keller.
42
bestätigt sich dieser rezeptionslenkende Hinweis im Akt der Lektüre, erweist sich
Der Schrecksenmeister dem Leser als Palimpsest von Gottfried Kellers Spiegel,
das Kätzchen (1856).161
Moers nimmt doppelten Abstand von seinem literarischen Gut, indem er als Übersetzer
der Übersetzung von der ursprünglichen Novelle von Gofid Letterkerl fungiert. Er ist
gleichzeitig jedoch involviert, da es sich auch um eine ‚Bearbeitung einer Bearbeitung‘
handelt. Außerdem verbindet die Intertextualität mit Gottfried Keller Moers zusätzlich
mit Der Schrecksenmeister. Im Falle von DS können wir also nicht nur davon reden,
dass Moers sich schöpferisch und kreativ trennt von seinem geistigen Gut, sondern dass
es sich gleichzeitig auch um einen Annäherungsversuch aus dem Hintergrund handelt.
Wenn wir diese Beobachtungen bezüglich des ‚wirklichen‘ und ‚fiktionalen‘
Autors in Moers‘ Werken nun verknüpfen mit der Literaturwissenschaft, gibt es
zunächst deutliche Parallelen mit u.a. Roland Barthes. Wir merken, wie bereits gesagt,
dass Moers sich als Autor teilweise selbst verleugnet und auf sein geistiges Eigentum
verzichtet, eine Auffassung, die sich leicht mit dem berühmten „Tod des Autors“
verknüpfen lässt. In Texte zur Theorie der Autorschaft finden wir dazu folgendes:
Einerseits sind für Barthes literarische Texte immer und notwendig autorlos – das
Literarische wird geradezu mit der Loslösung von seinem Urheber identifiziert.
Andererseits erscheint die Neuzeit als eine Epoche, in welcher der Autor zum
unvermeidlichen Bezugspunkt im Umgang mit literarischen Texten wurde, und
unsere Gegenwart als Schwellenperiode, in welcher der ältere, autorlose Text
zurückkehrt.162
Moers macht buchstäblich das, was Barthes theoretisch darlegt: er löst sich von seinem
Text, wird mutmaßlicher Übersetzer und eliminiert so (fast) alle Beziehungen mit
seinem geistigen Eigentum. Der Text wäre in dieser Hinsicht also tatsächlich „autorlos“
zu nennen. Im selben Zitat lesen wir auch, dass der ältere, autorlose Text in unsere
Gegenwart zurückkehrt, also Teil unserer Gegenwarts-Literatur ist bzw. wird. Die
Zamonien-Romane können als ein Beispiel davon gelten. Waughs Metafiktion schließt
sich hinsichtlich des Autors übrigens auch an Barthes‘ Auffassung an:
Metafictional novels [...] thus reject the traditional figure of the author as a
transcendental imagination fabricating, through an ultimately monologic
161
Irsingler, Ingo: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers“
In: Lembke, Gerrit (Hg.): Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents.
Göttingen: V&R Unipress 2011, S.64-65 162
Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.): „Einleitung. Roland Barthes: Der Tod des Autors“ In: Texte zur Theorie
der Autorschaft. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.182
43
discourse, structures of order which will replace the forgotten material text of the
world. They show not only that the ‘author’ is a concept produced through
previous and existing literary and social texts but that what is generally taken to
be ‘reality’ is also constructed and mediated in similar fashion. ‘Reality’ is to this
extent ‘fictional’ and can be understood through an appropriate ‘reading’
process.163
Metafiktionale Romane scheinen sich demnach auch von dem romantischen Bild des
allwissenden und alles-kontrollierenden Autors loszusagen. Den Autor als Genie, wie
wir ihn in der „Sturm-und-Drang“-Epoche finden, gibt es für Waugh in der Metafiktion
als solchen also nicht. “[Authors] are themselves ‘invented’ by readers who are
‘authors’ working through linguistic, artistic and cultural conventions, and so on.”164
Das Moerssche ‚Sich-selbst-außer-Acht-lassen‘ kann demnach als metafiktionale
Komponente gedeutet werden. Durch die ‚Abwesenheit‘ des Autors wird der Leser
sozusagen auf die abweichende Autorschaft aufmerksam gemacht. Das schließt sich bei
Barthes‘ „Tod des Autors“ an, der den Autor „zum kompilatorischen ‚Schreiber‘
[scripteur] vorgegebenen Sprachmaterials reduziert […].“165
Dadurch, dass Moers sich
bewusst aus der Öffentlichkeit fernhält, kann man übrigens auch keine biographischen
Parallelen zwischen Autor und Werk konstatieren. Moers meint zwar, er könne sich
„mit der Rolle des Lindwurms am besten identifizieren“166
, Fakt ist aber, dass es noch
nicht mal Fotos von dem heutigen Walter Moers gibt, geschweige denn eine
Autobiographie. Er hat sich, bezüglich DSdTB, DLdTB, DS und E&K und sogar
bezüglich der Öffentlichkeit auktorial scheinbar selber ausradiert. Barthes meint dazu:
„Als Nachfolger des Autors birgt der Schreiber keine Passionen, Stimmungen, Gefühle
oder Eindrücke mehr in sich, sondern dieses riesige Wörterbuch, dem er eine Schrift
entnimmt, die keinen Aufenthalt kennt.“ 167
Auf diese Weise löst sich der Text vom
Autor bzw. löst der Autor sich vom Text und kann es so zu unabhängigen und immer
neuen Interpretationen kommen. Barthes zufolge „wird [ein Text] eingedämmt, mit
einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten“168
, „sobald ein Text
163
Waugh: Metafiction, S.16 164
Waugh: Metafiction, S.134 165
Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.): „Einleitung. Roland Barthes: Der Tod des Autors“ In: Texte zur Theorie
der Autorschaft. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.181 166
Philipp, Claus: „Interview mit einem Unsichtbaren: Walter Moers“ 167
Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“ In: Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der
Autorschaft. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.190-191 168
Barthes: „Der Tod des Autors“, S.191
44
einen Autor zugewiesen bekommt“169
. Daher verbindet Barthes die „Herrschaft des
Autors“ auch mit der „Herrschaft des Kritikers“170
: „[i]st erst der Autor gefunden, dann
ist auch der Text ‚erklärt‘, und der Kritiker hat gewonnen.“171
Ähnlich wie bei Barthes,
finden wir auch bei Moers eine gewisse Aversion gegen Kritiker. So sagt er in seinem
Interview mit der FAZ, er habe vom „deutschen Literaturbetrieb […] schon wenig
gehalten, als [er] noch reiner Konsument war, von einer Kritikerkultur, wie wir sie
haben, noch weniger. Nur bei uns [in Deutschland] ist es möglich, daß gewisse Kritiker
über eine höhere Popularität verfügen als die meisten Schriftsteller.“172
Diese
Abneigung projiziert Moers auch auf seine fiktionalen Autoren. So bemerkt Hildegunst
von Mythenmetz in einer seiner Mythenmetzschen Abschweifungen: „Wollen Sie gar
nichts lernen, bleiben Sie eben dämlich oder werden Literaturkritiker.“173
Und einige
Seiten weiter beschreibt Hildegunst Kritiker sogar folgenderweise:
Sie sind meist gescheiterte Schriftsteller, die einen mißglückten Roman oder
stapelweise abgelehnte Gedichte in der Schublade liegen haben und sich dafür an
ihren erfolgreichen Kollegen rächen wollen. Verbitterte, griesgrämige Gesellen,
die keine Mahlzeit genießen können, weil sie dabei ständig nach dem Haar in der
Suppe suchen. Schleimfressende, nach Stinktierchensekret riechende
Kanalisationsbewohner. Ja, Laptantidel Latuda – Dich meine ich!174
Moers macht außerdem Barthes‘ Punkt, bezüglich der Dynamik Autor-Kritiker, sehr
deutlich. In folgendem Zitat aus DSdTB irrt der junge Hildegunst durch Buchhaim und
trifft in der Giftigen Gasse auf denselben Laptantidel Latuda, der sein Erzfeind werden
wird. Nach dieser „schicksalhaften Begegnung […] [wird dieser] ihn nämlich mit
vernichtenden Kritiken hartnäckig [verfolgen], sowie Mythenmetz [anfängt], zu
veröffentlichen.“175
Laptantidel Latuda verurteilt Mythenmetz‘ Werke ab diesem Punkt
genauso wie er Mythenmetz selbst verurteilt. Latuda äußert sich folgenderweise:
„Mythenmetz, hm, […] Noch nichts veröffentlicht, hm, das würde ich sonst wissen.
Habe einen wachen Blick auf die Zamonische Gegenwartsliteratur. Aber da du von der
Lindwurmfeste stammst, wird das schon noch kommen. Ihr verdammten Echsen könnt
169
Barthes: „Der Tod des Autors“, S.191 170
Barthes: „Der Tod des Autors“, S.191 171
Barthes: „Der Tod des Autors“, S.191 172
Weidermann, Folker: „Walter Moers: „Im Jenseits werde ich streng bestraft““. FAZ Nr.16 2003, S.22 173
E&K, S.88 174
E&K, S.89-90 175
DSdTB, S.89 (Fußnote)
45
doch alle die Tinte nicht halten.“176
Und während Mythenmetz sich entfernt ruft Latuda
ihm noch hinterher: „Laptantidel Latuda! […] Du brauchst dir meinen Namen nicht
aufzuschreiben. Du wirst auch so noch von mir hören.“177
Latuda wird Mythenmetz‘
Werke also mit Mythenmetz selbst identifizieren, der Autor ist gefunden und somit hat
der Kritiker gewonnen.
Zwischenzeitlich zusammenfassend zu Moers bemerken wir, dass er auf der einen
Seite als Autor fiktionaler Erzählungen auftritt, wie in WR und Rumo, andererseits seine
direkte schöpferische Verbundenheit zu den Texten leugnet. Gleichzeitig behält er
jedoch trotzdem einen gewissen Einfluss auf die Erzählungen durch sein Statut als
‚Übersetzer/Bearbeiter‘, wie in Der Schrecksenmeister, DSdTB und DLdTB178
. In
DSdTB bemerkt er im ‚Nachwort des Übersetzers‘:
Nachdem ich mit Ensel und Krete zum ersten Mal ein Buch des zamonischen
Schriftstellers Hildegunst von Mythenmetz ins Deutsche übertragen hatte, wurde
ich immer wieder gefragt, welches seiner Werke ich als nächstes übersetzen
würde. […] Schließlich habe ich mich für ein chronologisches Vorgehen
entschieden. Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers179
, war das
erste Buch von Mythenmetz, das in Zamonien in gedruckter Form erschien, aber
es umfaßt in der Erstausgabe über zehntausend Seiten, verteilt auf 25 Bände […].
Daher entschloß ich mich, die beiden ersten Kapitel aus diesem Buch zu nehmen
und sie unter dem Titel Die Stadt der Träumenden Bücher zusammenzufassen. Ich
hoffe man wird mir diese editorische Freizügigkeit verzeihen […].180
Hier übernimmt er also die Verantwortung für einige Anpassungen in DSdTB, jedoch
nicht für E&K, dort bleibt er lediglich Übersetzer. Moers könnte demnach zunächst als
fleischgewordene Reinkarnation von Barthes‘ ‚totem Autor‘ gesehen werden; sein
Eingreifen in DS, und sein Auftreten in den Fußnoten und Vor- und Nachwörtern in
anderen Erzählungen, widersprechen diesem Bild jedoch. Ilana Shiloh sagt in ihrem
Artikel “Writing about Writing: the Figure of the Writer in Contemporary Fiction and
Film”: „Metafictional writing apparently demonstrates this erosion of the authorial
176
DSdTB, S.89 177
DSdTB, S.89 178
In seinem Nachwort meint er zu diesem Buch nämlich auch, er habe „massive[…] Kürzungen”
vornehmen müssen “wie fast immer bei Mythenmetz‘ oft absurd umfangreichen Prosatexten“; [DLdTB,
S.429] 179
Hier sehe ich auch eine parodistische Anspielung auf Laurence Sternes A Sentimental Journey
Through Italy and France. 180
DSdTB, S.478
46
status, but in reality the opposite is the case.”181
Obwohl Moers natürlich nicht als
‚göttlicher Schöpfer‘ auftritt und letztendlich teilweise nur über die Übersetzerfiktion
auf den Leser einwirkt, bedeutet das nicht, dass er in seinen Texten nicht doch
anwesend ist. Schließlich gibt er selbst zu erkennen, er könne sich mit dem Lindwurm
Hildegunst von Mythenmetz am besten identifizieren: „Wir sind beide Schriftsteller
[…]. Wir sind beide Hypochonder und neigen zur Selbstbeobachtung, bis hin zum
Narzissmus.“182
Dieses Zitat könnte man natürlich einfach als metafiktionale
Aussprache deuten, denn schließlich handelt die Metafiktion gerade von der
Selbstbeobachtung und Hutcheon zufolge auch vom Narzissmus, womit sie in ihrem
Werk „the figurative adjective chosen here to designate this textual self-awareness“183
meint. Die Aussage Moers‘ gibt jedoch auch Grund zur Annahme, dass Hildegunst
tatsächlich zumindest ansatzweise als Moers‘ phantastisches alter ego gesehen werden
kann. Die Selbst-Reflexivität, die sich bei Hildegunst und Moers literarisch äußert, was
an sich schon als ein metafiktionales Element gedeutet werden kann, verbindet beide
Autoren, fiktiv und real, und demonstriert Moers‘ Anwesenheit im Text. Bei Waugh
lesen wir: “Very often the Real Author steps into the fictional world, crosses the
ontological divide. Instead of integrating the ‘fictional’ with the ‘real’ as in traditional
omniscient narrative, he or she splits them apart by commenting not on the content of
the story but on the act of narration itself, on the construction of the story.”184
Gerade
durch die Übersetzerfiktion demonstriert Moers demnach seine Anwesenheit. “The
more the author appears, the less he or she exists. The more the author flaunts his or her
presence in the novel, the more noticeable is his or her absence outside it.”185
Für
Hildegunst wäre dieses Zitat natürlich zutreffend, für Moers gilt das Gegenteil. Gerade
weil er innerhalb der Erzählung nicht als Autor auftritt, wird seine Existenz außerhalb
der Erzählung, als realer Autor, bestätigt.
Diese literarischen Konventionen bezüglich der Autor-Instanz könnten, außer eine
metafiktionale Komponente, natürlich auch schlicht und einfach ein Verkaufstrick sein.
181
Shiloh, Ilana: “Writing about Writing: the Figure of the Writer in Contemporary Fiction and Film”.S.4
Verfügbar:
http://clb.academia.edu/IlanaShiloh/Papers/620935/Writing_About_Writing_The_Figure_of_the_Writer_
in_Contemporary_Fiction_and_Film (besucht 11.04.2012) 182
Kulturjournal NDR: „Auf der Suche nach dem Phantom: Walter Moers“ Verfügbar:
http://www.youtube.com/watch?v=-k--zodf5SA&feature=relmfu (11.04.2012 besucht) 183
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.1 184
Waugh: Metafiction, S.131 185
Waugh: Metafiction, S.134
47
Sie könnte aber auch durch Moers‘ Wunsch nach Anonymität hervorgerufen sein. So
sagt er in einem Interview mit Falter in 2003:
Ich mag einfach keinen Rummel und es ist mir unangenehm, wenn sich die
allgemeine Aufmerksamkeit auf mich richtet. Ich habe früh bemerkt, dass das
irgendwann mal mein Schicksal werden wird, wenn ich die Veröffentlichung von
Fotos nicht radikal unterbinde. Ich bin davon überzeugt, dass mich manch ein
Prominenter um meine Nichtprominenz beneidet. Wenn man einen Prominenten
fragt, was denn das Schönste an seiner Prominenz wäre, kommt immer wieder
dieser Mythos vom "besten Platz im Restaurant". Als ob es den gäbe!186
Durch seine Zurückgezogenheit wird er oftmals mit anderen Schriftstellern, wie
Thomas Pynchon187
, verglichen. Moers selbst sagt er fände „eher Patrick Süßkind
vorbildlich. Der [habe] gezeigt, dass eine künstlerische Existenz ohne den ganzen
öffentlichen Affenzirkus möglich [sei]. Er [Moers] [wolle] ja nicht den Dr. Mabuse
markieren sondern nur privat [s]eine Ruhe haben.“188
Seine persönliche Meinung
bezüglich der Kritiker wird abermals auf die Figur Hildegunst von Mythenmetz
projiziert. In DLdTB lesen wir, dass Hildegunst am liebsten unerkannt in Buchhaim
umhergehen möchte. Dafür hüllt er sich in einen Reisemantel mit Kapuze und probiert
inkognito zu bleiben. Auch er scheint eine gewisse Aversion gegen das falsche
Präsentieren seiner eigenen Person zu haben. In dem Geschäft eines Puppenbauers
entdeckt er eine Puppe seiner selbst, was zu einer heftigen Diskussion mit dem
Puppenbauer führt, da die Puppe Mythenmetz nach nicht repräsentativ ist. Hildegunst
lässt sich schließlich folgendermaßen aus: „Was ich wünsche? […] Ich wünsche mir
erst mal eine Erklärung für das da! Wer hat diese Mythenmetzpuppe gebaut? […] [D]as
Ausbeuten von dichterischer Popularität ist wohl erlaubt, wenn ich mir das Angebot hier
so ansehe?“189
Hier sehen wir also abermals eine Übereinstimmung zwischen
Mythenmetz und Moers.
Zusammenfassend zu diesem Kapitel möchte ich behaupten, dass Moers zwar
anfangs auktorial abwesend erscheint. Durch die vielen Übereinstimmung zwischen
Hildegunst von Mythenmetz und ihm selbst, und auch durch sein übersetzendes und
editorisches Eingreifen behält er jedoch einen gewissen Einfluss auf den Leser.
Mythenmetz erhält zwar augenscheinlich die Rolle des Autors, während Moers in de
186
Nüchtern, Klaus. Mein Zielpublikum bin ich. Originaltext: Falter 17/03 vom 23.04.2003, Verfügbar:
http://www.falter.at/print/F2003_17_2.php 187
Philipp: „Interview mit einem Unsichtbaren“ 188
Philipp: „Interview mit einem Unsichtbaren“ 189
DLdTB, S.192
48
Hintergrund tritt. Moers kann jedoch bei einer gründlichen Lektüre als der
Marionettenspieler hinter den Zamonien-Romanen entdeckt und perzipiert werden.
Ironisch ist hierbei insbesondere der Gegensatz zwischen Hildegunst von Mythenmetz
und Walter Moers. Ersterer könnte sich nicht deutlicher als Autor in den Vordergrund
drängeln, während Letzterer sich nicht mehr hinter seinem mutmaßlichen alter ego
verstecken könnte.
3.1.3.2.Käpt’n Blaubär als Autor
„Ein Blaubär hat siebenundzwanzig Leben. Dreizehneinhalb davon werde ich in diesem
Buch preisgeben, über die anderen werde ich schweigen. Ein Bär muß seine dunklen
Seiten haben, das macht ihn attraktiv und mysteriös.“190
Dies ist der Anfang des
Vorwortes in Käpt’n Blaubär, und genau das bietet dem Leser auch direkt den ersten
Eindruck der Erzählung. Das Vorwort fungiert also als Einstiegsmöglichkeit für den
Modell-Leser. Bezüglich des Vorwortes meint auch Wirth:
Das Vorwort gibt Leseanweisungen, indem es über die Ordnung und die
Disposition, die sich im Haupttext beobachten lassen, Vorbericht erstattet.
Zugleich erfüllt das Vorwort aufgrund seines Instruktionscharakters aber auch
selbst eine dispositive Steuerungsfunktion. Der Instruktionscharakter des
Vorworts rührt daher, daß es eine Lektüreanweisung darstellt, die dem Leser
einen interpretativen Zugang zum Werk eröffnen soll. Das Minimalziel ist, daß
das Vorwort überhaupt „eine Lektüre bewirkt“, das Maximalziel ist, daß „ein
guter Verlauf der Lektüre“191
ermöglicht wird.192
Das Vorwort kann hier also an den ‚Fiktionspakt‘ gekoppelt werden. Der Leser lässt
sich auf die Regeln des Urhebers des Vorwortes ein und wird so, unter der
Voraussetzung, dass das So-Tun-als-ob-Spiel anhält, zum Modell-Leser. Elemente, wie
die Unterschrift von Käpt’n Blaubär zu Ende des Vorwortes oder das Personalpronomen
‚Ich‘, übernehmen hierin eine zusätzliche Authentifizierungsfunktion.
Wie ich im Kapitel 3.1.3. bereits erwähnt habe, wird Käpt’n Blaubär schon auf
der Titelseite als Biographie vorgestellt.193
Im Vorwort wird dies noch expliziter
gemacht: Blaubär scheint selbst der Urheber der Biographie zu sein, wodurch wir es mit
190
Käpt’n Blaubär, S.6 191
Genette, Gérard: Paratexte, S.191 Zitiert in Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der
Herausgeberfiktion, S.88 192
Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S.88 193
„Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären […].“ Käpt’n Blaubär, S.3
49
einer einem autobiographischen Roman zu tun hätten. Martina Wagner-Egelhaaf
zufolge verschweigen „Autobiographien […] Erinnerungen, manipulieren sie,
[Autobiographien] ergänzen und erfinden.“ 194
Dies gilt offensichtlich auch für Käpt’n
Blaubär, schließlich erkennen wir den Protagonist als einen sehr subjektiven
Fokalisator, der uns von seinen Erfahrungen bis zu seinem 13½. Leben berichtet.
Wagner-Egelhaaf meint, dass „[d]ie immer wieder erzählten Stationen des kulturellen
autobiographischen Gedächtnisses – Vorfahren, Geburt, Elternhaus, Lesen lernen,
Krankheit, erste Verirrungen, erste Liebe, etc. – […] einigermaßen stereotyp“ 195
sind in
autobiographischen Texten. Einen ähnlichen Lebensverlauf finden wir in Käpt’n
Blaubär. Auch Philippe Lejeune hat sich mit dem autobiographischen Erzählen befasst.
Er definiert es folgendermaßen: „Récit rétrospectif en prose qu’une personne réelle
[Hervorhebung von K.B.] fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie
individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité.“196
Solang wir also davon
ausgehen, dass es diesen Blaubär wirklich gibt, haben wir es offenkundig mit einem
autobiographischen Roman zu tun, und das ist wahrscheinlich auch der Eindruck, den
Moers erwecken möchte. Aber spätestens bei der Auflistung einiger phantastischer
Stichwörter im Vorwort, wie „Ein Riese ohne Kopf. Ein Kopf ohne Riese.
Wüstengimpel. Eine gefangene Fata Morgana. Schlafwandelnde Yetis. Ein ewiger
Tornado. Rikschadämonen. Vampire mit schlechten Absichten. Ein Prinz aus einer
anderen Dimension.“197
wird deutlich, dass es sich keinesfalls um einen ‚realen‘
autobiographischen Roman handeln kann. Auch Lejeunes Anforderung einer „personne
réelle“ wird nicht nachgekommen. Es scheint gerechtfertigt zu sein, anzunehmen, dass
es sprechende, blaue Bären nicht gibt. Und da wir es hier mit einem phantastischen
Roman zu tun haben, kann der Blaubär auch nicht als eine Metapher von etwas anderem
gesehen werden, da phantastische Romane ‚literal‘ gelesen werden sollten.
194
Wagner-Egelhaaf, Martina: „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der
Literaturwissenschaft“. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und
Lebensverlaufanalysen, 23 (2010), H.2, S.192 195
Wagner-Egelhaaf: „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der
Literaturwissenschaft“, S.193 196
Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique. Paris 1975. Zitiert in: Zipfel, Frank: „Autofiktion.
Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In: Winko, Simone et al.(Hrsg.):
Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York: Walter de Gruyter
2009 197
Käpt’n Blaubär, S.6
50
Eine folgende Möglichkeit bezüglich der (auto)biographischen Darstellung wäre
dann im Konzept der ‚Autofiktion‘ zu suchen. Hierbei können Wagner-Egelhaaf
zufolge zwei Modelle unterschieden werden: im ersten Modell „treten […]
lebensweltliche Figuren, die durchaus auch ihre ‚richtigen‘ Namen behalten, in
fiktionalen Texten auf“, während im anderen Modell „bewusst und gezielt fiktionale
Elemente in autobiographische Erzählungen integriert“198
werden. Käpt’n Blaubär wäre
also, wenn überhaupt nur in dem zweiten Modell zu situieren. Auch Marie Darrieussecq
hat sich bezüglich der Autofiktion geäußert:
Wichtig ist Darrieusecq in ihrer Definition [der Autofiktion], dass der
autofiktionale Text sich sowohl als referentiell wie auch fiktional zu erkennen gibt
[…] bzw. dass dem Leser sowohl der autobiographische Pakt, wie auch der
Fiktionspakt angeboten werden, ohne dass er die Möglichkeit an die Hand
bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen
[…].199
Hieraus folgt, dass die Autofiktion es dem Leser ermöglicht, weder den
autobiografischen noch den Fiktionspakt fallen zu lassen. Das wichtigste ist hierbei,
dass dem Leser „die Unsicherheit darüber, was fiktiv und was wirklich ist“200
nicht
genommen wird. Der autofiktionale Text muss immer mit ‚Ambiguität‘ behaftet sein.
Für Frank Zipfel besteht
„das vom autofiktionalen Text inszenierte Spiel [allerdings] darin […], dass der
Leser von einem Pakt zum andern wechselt und dies mehrmals im Laufe der
Lektüre. […] Damit bleibt die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man
könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem
einen und dem anderen auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam gemacht
wird.201
Bei Zipfel geht es also ebenfalls um eine Ambiguität. Das Zweifeln zwischen
autobiographischem oder Fiktionspakt erhält bei ihm jedoch zusätzlich eine gewisse
Dynamik. Der Leser soll zwischen dem einen und dem anderen Pakt wechseln und nicht
beide gleichzeitig berücksichtigen, wie es Darrieussecq vorschlägt. Wenn wir nun
198
Wagner-Egelhaaf, Martina: „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der
Literaturwissenschaft“, S.197 199
Darrieussecq, Marie: „Autofiction, un genre pas sérieux“, In: Poétique 27 (1996)S. 369 f., zitiert in :
Zipfel, Frank: « Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In:
Winko, Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin,
New York: Walter de Gruyter 2009, S.305 200
Ebd. 201
Zipfel, Frank: « Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In:
Winko, Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin,
New York: Walter de Gruyter 2009, S.306
51
davon ausgehen, dass es sich bei Käpt’n Blaubär um eines der beiden Modelle von
Wagner-Egelhaaf handelt, müsste der Leser folglich hin und her gerissen werden
zwischen dem Glauben, es handele sich um eine Biographie, und dem Eindruck, es sei
eine fiktionale Erzählung. Auch hier muss jedoch Rücksicht genommen werden auf die
phantastischen Elemente im Vorwort und dem Rest der Erzählung. So meint
Darrieusecq nämlich, dass „[e]ine Erzählung, die ins Unwahrscheinliche oder gar
Phantastische gleitet, […] keine Autofiktion mehr [ist].“202
Ab dem Moment, wo wir
also auf ein phantastisches Element treffen, muss auch das Konzept der Autofiktion
beiseitegeschoben werden.
Käpt’n Blaubär kann demnach nur als quasi- bzw. pseudo-autobiografisch
gesehen werden, und obwohl die Glaubwürdigkeit der Ereignisse in der fiktionalen
Erzählung durch die Selbstreflexivität des Blaubären erhöht wird, werden dem Leser
damit nicht die Zweifel über die Fiktionalität der Begebenheiten genommen. So
beteuert der Blaubär z.B. „daß [es] nicht [s]einer Natur entspricht“203
zu lügen und gibt
er sogar zu, dass manche Ereignisse sehr unglaubwürdig erscheinen:
Ich weiß, daß ich mich der Gefahr aussetze, an dieser Stelle auch noch den letzten
wohlmeinenden Leser zu verlieren, aber ich bin nun mal der Wahrheit verpflichtet
und kann nichts anderes berichten: Ich plumpste genau aus demselben
Dimensionsloch wieder heraus, in das ich hineingefallen war.204
Außerdem bietet er uns auf Seite 632 sogar eine Alternative für die These der
versunkenen Stadt Atlantis an: „Atlantis schwebte am Himmel, vielleicht fünf
Kilometer über der Küstenlinie. Die ganze Stadt hatte sich vom Boden erhoben, ein
riesiger schraubenförmiger Pflock, ein Raumschiff aus Lehm mit einer Stadt
obendrauf.“205
Zuletzt kann man Käpt’n Blaubär jedoch nicht anders als eine fiktionale
Erzählung lesen, was Moers somit indirekt zu so etwas wie einem ‚Pseudo-Ghostwriter‘
machen würde. Anders als bei DSdTB, DS, E&K und DLdTB wird bei Käpt’n Blaubär
auf Umschlag und Titelblatt auch nur Walter Moers als Autor erwähnt, und versucht
202
Darrieussecq, Marie: „Autofiction, un genre pas sérieux“, In: Poétique 27 (1996)S. 378., zitiert in :
Zipfel, Frank: « Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In:
Winko, Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin,
New York: Walter de Gruyter 2009, S.305 203
Käpt’n Blaubär, S.6 204
Käpt’n Blaubär, S.267 205
Käpt’n Blaubär, S.632
52
Moers also nicht, um die Illusion vom ‚Blaubär als Autor‘ zu konstruieren, wie er es mit
Hildegunst tut.
3.1.3.3.Hildegunst von Mythenmetz als Autor
Die interessanteste Manifestation einer abweichenden Autorschaft stellen wir jedoch bei
Hildegunst von Mythenmetz fest. Er wird beim Leser als mutmaßlicher Autor von
E&K, DSdTB und DLdTB introduziert und seine Autorschaft wird bereits auf den
Titelseiten dieser drei Romane etabliert. Außerdem scheint er bei DS auch als
„Handwerker und kreative[r] Schöpfer“206
zu gelten. Wirth zufolge dient
[d]er Name des Autors auf dem Titelblatt […] nur noch in zweiter Linie der
Bezeichnung der Person, an erster Stelle steht die Kennzeichnung der Person in
ihrer Funktion als Autor – eine Funktion, die durch einen Zuschreibungsakt
vollzogen wird und eine juristisch-performative Rahmung des Diskurses
vornimmt.207
Demnach übernimmt Hildegunst die Funktion des Autors und wird Moers zum
Übersetzer degradiert. Hildegunsts Name dient dann an zweiter Stelle der
„Kennzeichnung der Person“, was in unserem Falle allerdings eine fiktive Person wäre.
Wir haben in einem vorigen Kapitel bereits festgestellt, dass wir es in manchen der
Moers-Romane mit einer Übersetzerfiktion zu tun haben: Hildegunst fungiert als
fiktiver Autor, während Moers nur mutmaßlicher Übersetzer ist. Wirth scheint in seiner,
von mir oben genannten, Auslegung demnach keine Rücksicht darauf genommen zu
haben, dass Paratexte bereits einen Fiktionspakt mit dem Leser eingehen oder
zumindest vorbereiten können. Gérard Genette zufolge gehört der Name des Autors,
fiktiv oder nicht, zu den Paratexten bzw. Epitexten, was „elements as the title or the
preface and sometimes elements inserted into the interstices of the text, such as chapter
titles or certain notes”208
sind. Deshalb meint Genette auch, „the name of the author is
[...] a constituent element of the contract and has an effect that blends with the effect of
other elements, such as the presence or absence of a genre indication[...]”209
. Somit
kann der Autorname als Teil, und, in unserem Fall, bereits als erster Ansatz, des
206
Irsingler: „»Ein Meister des Versteckspiels«. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers“, S.64 207
Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S.37 208
Genette, Gérard: Paratexts: Thresholds of Interpretation. Cambridge: Cambridge University Press
1997, S.5 209
Genette: Paratexts: Thresholds of Interpretation, S.41
53
Fiktionalitätspakts fungieren. Er hat also einen Einfluss auf die Rezeption und
Interpretation des Textes. In seinem Essay “Who is the Narrator?” bemerkt Richard
Walsh, dass “[b]y conceiving of a fictional narrative as issuing from a fictional narrator,
the reader has cancelled out its fictionality, negotiated a mode of complicity with
representation, and found a rationale for suspension of disbelief.”210
Auch Walsh spricht
hier also von einem gewissen Fiktionalitätspakt: der Leser lässt sich auf die Fiktionalität
des Autors ein, klammert diese dann aus und kann so die willing suspension of disbelief
verantworten: der Modell-Leser wird zum Komplize. Die Fiktionalität des Autors kann
bei Hildegunst von Mythenmetz im Grunde auch schon an seinem Nachnamen erkannt
werden: ‚Mythenmetz‘ scheint ein Kompositum von ‚Mythen‘ und ‚metzen‘ zu sein,
was abermals auf eine Kombination von ‚Handwerker und kreative[m] Schöpfer‘
hinweist. Mit ‚Mythos‘ wird meist eine fiktionale Narration gemeint, während ‚metzen‘
mit handwerklichen Tätigkeiten und ‚Konstruieren‘ zu tun hat. Außerdem kann auch
der Vorname als eine bewusste Komposition interpretiert werden. ‚Hildegunst‘ erinnert
an ‚Hildegunde‘ aus der mittelhochdeutschen (13. Jahrhundert) Heldensage Walther
und Hildegunde211
. Hierbei wäre dann insbesondere die Vermännlichung des
weiblichen Vornamens zu bemerken. Zudem scheint es, genau wie beim Nachnamen,
eine Referenz auf einen mythologischen Ursprung zu geben. Hildegunsts ‚mythische‘
Aura möchte ich an dieser Stelle mit dem Genie-Gedanken verbinden, auf den ich
jedoch später näher eingehen werde.
Den Fiktionalitätspakt könnte man nun zusätzlich mit dem autobiographischen
Pakt von Lejeune verbinden. In einem vorigen Kapitel212
habe ich bereits von dem
autobiographischen ‚Erzählen‘ berichtet. Bei dem autobiographischen Pakt213
geht es
jedoch um folgendes:
Dem Leser muss deutlich gemacht werden, dass die Person von der berichtet wird,
keine andere ist als der Autor selbst. Es gibt nach Lejeune zwei Möglichkeiten für
den Autor, den autobiographischen Pakt herzustellen bzw. anzubieten: 1) durch
die Namensidentität von Autor, Erzähler und Figur; 2) durch paratextuelle
Angaben, z.B. durch eine Gattungsbezeichung oder durch entsprechende
Bekundungen im Paratext (Vorwort, Klappentext,…). Das Angebot des
210
Walsh, Richard: “Who is the Narrator?”. In: Poetics Today, Vol.18, Nr.4 (Winter, 1997), S.496 211
Universität Bamberg: Ältere deutsche Literaturwissenschaft. Verfügbar: http://www.uni-
bamberg.de/germanistik/aedl/leistungen/kundrie/kundrie/literarhistorisches/gattungen/ besucht
22.05.2012 212
Siehe „Käpt’n Blaubär als Autor“ 213
Meiner Meinung nach handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Phänomene.
54
autobiographischen Paktes ist nach Lejeune deshalb notwendig, weil die Referenz
des selbstreflexiven Personalpronomens ›Ich‹ im Schrifttext explizit etabliert
werden muss.214
Dieser Auslegung nach wird in DSdTB und DLdTB ein autobiographischer Pakt
hergestellt. Dazu werden, mir zufolge, sogar beide der von Lejeunes vorgeschlagenen
Möglichkeiten kombiniert. Bezüglich der ersten Möglichkeit treffen wir tatsächlich auf
eine Namensidentität zwischen „Autor, Erzähler und Figur“: Hildegunst fungiert in
DSdTB und DLdTB, der Titelseite zufolge, als Autor. Schon im Vorwort finden wir das
Personalpronomen ‚Ich‘, was auf einen persönlichen Erzähler hinweist. In DSdTB nennt
Hildegunst seinen eigenen Namen innerhalb der Erzählung allerdings erst auf Seite 47:
„Der Eydeet reichte mir ein dürres Bündel von Fingern, das ich behutsam schüttelte.
»Hildegunst von Mythenmetz«.“215
Bis zu diesem Punkt wird die Übereinstimmung
zwischen ‚Hildegunst als Autor‘, ‚Hildegunst als Erzähler‘ und ‚Hildegunst als Figur‘
also unterstellt und nur von dem Personalpronomen ‚Ich‘ und einer Abbildung von
Hildegunst von Mythenmetz216
unterstützt. In DLdTB enttarnt Hildegunst sich jedoch
bereits auf Seite 10: „So – nun wären wir unter uns, meine tapferen Freunde! Endlich!
Denn wer jetzt noch dieses Buch in Händen hält, in dessen Adern fließt Blut von
meinem Blut. Ich bin es, Hildegunst von Mythenmetz, euer treuer Freund und
Wegbegleiter, ich heiße euch willkommen!“217
Damit wäre an dieser Stelle etabliert,
dass Hildegunst in DSdTB und DLdTB auch als Erzähler fungiert. Innerhalb der beiden
Erzähltexte, DSdTB und DLdTB, entpuppt er sich zusätzlich auch noch als Protagonist
und Figur der Erzählung. Damit wäre den Anforderungen der ersten Möglichkeit von
Lejeunes autobiographischen Pakt Genüge getan.
Die zweite Lejeunsche Möglichkeit bezieht sich vor allem auf die Paratexte und
Vor- und Nachwörter. Wie bereits erwähnt, wird Hildegunst schon auf dem Titelblatt in
DSdTB als Autor etabliert und auch die Abbildung von dem jungen Lindwurm kann als
paratextuelle Bestätigung des autobiographischen Paktes gelten. Im Vorwort wird die
Leserschaft selektiert und vorgewarnt, worin wir auch bereits auf das vielsagende ‚Ich‘
stoßen. Das Nachwort ist dann zwar von dem Übersetzer Moers geschrieben, bestätigt
214
Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique, S.4, zitiert in: Zipfel, Frank: « Autofiktion. Zwischen
den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In: Winko, Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der
Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009, S.287 215
DSdTB, S.47 216
Siehe Abbildung 2 217
DLdTB, S.10
55
inhaltlich jedoch Mythenmetz‘ Funktion als Autor. Moers stellt hierin nämlich folgende
Frage „Wie aber soll es weitergehen, frage ich mich nun, welches Werk von
Mythenmetz soll ich als nächstes übersetzen?“218
Er weist hier also deutlich auf
Mythenmetz als Autor der Erzählung hin und postuliert sich selber als Übersetzer.
Die Referenz auf das ‚Ich‘ innerhalb der Erzählung wird also tatsächlich durch
eine Kombination der beiden, von Lejeune genannten, Optionen hergestellt. Damit ist
natürlich nicht gemeint, dass Moers‘ Romane nun nicht mehr als fiktiv anzusehen
wären. Meiner Meinung nach kommt es eher zu einer Kombination von
autobiographischem und Fiktionalitätspakt. Dadurch kann Moers die Illusion eines
anderen, ihn vertretenden Autors herstellen und diese Illusion dem Leser gegenüber
veantworten. Der Leser muss sich zuvor jedoch auf dieses So-Tun-Als-Ob einlassen.
Auch Käte Hamburger äußert sich in ihrem Werk Die Logik der Dichtung zum
‚Ich‘ in der Ich-Erzählung. Ihr zufolge gehört es „zum Wesen jeder Ich-Erzählung, daß
sie sich selbst als Nicht-Fiktion, nämlich als historisches Dokument setzt. Dies aber tut
sie auf Grund ihrer Eigenschaft als Ich-Erzählung.“219
Hamburger sieht in den Ich-
Erzählungen also einen Versuch das Fiktive real erscheinen zu lassen. In ihren Augen
ist das
Ich der Ich-Erzählung […] ein echtes Aussagesubjekt. […] [Es] will kein
lyrisches Ich sein, sondern ein historisches […]. Es erzählt Selbsterlebtes, aber
nicht mit der Tendenz, dies als nur subjektiv Wahres, als sein Erlebnisfeld im
prägnanten Sinne dieses Phänomens darzustellen, sondern es ist wie jedes
historische Ich auf die objektive Wahrheit des Erzählten ausgerichtet.220
Das ‚Ich‘ der Erzählung profiliert sich als objektiver Erzähler der Begebenheiten seines
Lebens, eine Eigenschaft, die wir nicht nur bei DSdTB und DLdTB, sondern eigentlich
auch in Käpt’n Blaubär finden. Ohne diese Eigenschaft des ‚Ichs‘ könnte es keinen
Authentifizierungsanspruch geben, und würde das ganze Spiel der Übersetzerfiktion
und der phantastischen Erlebnisse des Blaubärs in sich zusammenfallen. Das ‚Ich‘ ist
demnach deutlich ein Teil der So-Tun-als-ob-Absicht. Hamburger zufolge sorgt dieser
Gebrauch des Ichs für eine „fingierte Wirklichkeitsaussage“221
, wobei der Begriff des
218
DSdTB, S.478 219
Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag (zweite stark veränderte
Auflage) 1968, S.246 220
Hamburger: Die Logik der Dichtung, S.247 221
Ebd.
56
Fingierten „ein Vorgegebenes, Uneigentliches, Imitiertes, Unechtes“222
bedeutet,
während mit dem Fiktiven „dagegen die Seinsweise dessen, was nicht wirklich ist“223
,
gemeint ist. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch, daß „die in einer Ich-Erzählung
auftretenden Personen stets nur in einer Beziehung zum Ich-Erzähler gesehen
werden.“224
Sie werden also nur ‚erzählt‘, wenn sie auch in irgendeinem Verhältnis zu
der Ich-Figur stehen, wenn sie z.B. mit Hildegunst reden, oder gar zufällig in derselben
Straße laufen. Dies bestärkt den Eindruck, dass uns etwas aus der Ich-Perspektive
erzählt wird: wir sehen, was Hildegunst sieht und durch die typographischen
Deviationen, die ich in einem vorhergehenden Kapitel bereits erwähnt habe, ‚hören‘ wir
nun auch, was Hildegunst hört. Der Gebrauch des referentiellen Ichs in der Erzählung
ist also eine literarische Technik um die Glaubwürdigkeit der Illusion zu verstärken. Die
Fiktionalität der Moersschen Erzählungen kann Frank Zipfel zufolge dennoch nie
angezweifelt werden. Dieser meint nämlich:
Zum einen gibt es in Geschichten, die in fiktiven Orten angesiedelt sind oder in
fiktiven Zeiträumen spielen, immer auch fiktive Ereignisträger. Ereignisträger, die
sich an fiktiven Orten oder in fiktiver Zeit bewegen, müssen letztendlich selber
fiktiv sein. Zum anderen können Geschichten auch nur dadurch fiktiv sein, dass in
ihnen fiktive Ereignisträger vorkommen, wenn die fiktiven Geschichten vor
sowohl zeitlich wie örtlich realem Hintergrund spielen.225
In Käpt’n Blaubär, DS, E&K, WR, Rumo, DSdTB und DLdTB ist die Erzählung deutlich
an einem einen fiktiven Ort, nämlich Zamonien angesiedelt. Zipfel zufolge kann es sich
bei den Protagonisten Käpt’n Blaubär, Hildegunst von Mythenmetz, Rumo und Echo,
dem Krätzchen226
demnach nur um fiktive Ereignisträger handeln. Um seinen Leser
dazu zu bringen, das So-Tun-als-ob-Spiel mitzuspielen, muss Moers sich also
bestimmter literarischer Techniken bedienen. Der Lejeunsche autobiographische Pakt
und das referentielle Ich scheinen zwei dieser Techniken zu sein.
Der autobiographische Pakt nach Lejeune lässt sich, meiner Ansicht nach, auch
mit François Delpechs Auffassung bezüglich des phantom pre-text verbinden, welche in
Carroll B. Johnsons Essay „Phantom Pre-texts and Fictional Authors: Sidi Hamid
222
Ebd. 223
Ebd. 224
Hamburger: Die Logik der Dichtung, S.249 225
Zipfel, Frank: „ Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ In:
Winko, Simone et al.(Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin,
New York: Walter de Gruyter 2009, S.291 226
Hier kann zusätzlich auch der Schrecksenmeister Eißpin als Protagonist und Ereignisträger erwähnt
werden.
57
Benengeli, Don Quijote and the Metafictional Conventions of Chilvaric Romances“
ausführlich besprochen wird. In diesem Essay heißt es:
[…] François Delpech situates the relation between the text we read and the
phantom pre-text within the general context of what he calls “the motif of the
book hidden and discovered”, a literary device whose purpose is to offer
authenticity and prestige on the work that is in fact offered to the reader. Delpech
argues that whether or not the phantom pre-text exists in fact is irrelevant; that
what matters is the space of real or fictional intertextuality that is opened up, the
effects of perspectivism and distancing that are achieved, and the manipulation of
the reader’s point of reference. The shadowy presence of the phantom pre-text has
a powerful effect on the reader’s relation to the text she reads.227
In unserem Fall wäre Hildegunst von Mythenmetz‘ zamonischer Text, also das
‚ursprüngliche Original‘, der phantom pre-text. Delpech zufolge stellt der Modell-Leser
nun zwischen diesem phantom pre-text und dem Erzähltext, den er oder sie liest, eine
Verbindung her. Ob es den ursprünglichen Text tatsächlich gibt, oder jemals gegeben
hat, macht im Endeffekt nichts aus. Johnson zufolge ist Hildegunst von Mythenmetz’
Originaltext “a virtual text, in the sense that it only exists in translation”228
. Der Modell-
Leser ‚sucht‘ in gewissem Sinne eine reale oder fiktionale Intertextualität zwischen dem
Erzähltext und dem phantom pre-text. Anhand des phantom pre-text wird der Erzähltext
authentifiziert. Er hat also eine Authentifizierungsfunktion. Der autobiographische Pakt
von Lejeune übernimmt übrigens in gewisser Weiser dieselbe Funktion, denn auch hier
geht es um die Authentifizierung des Erzählten. Dass der Leser versucht den phantom
pre-text zu rekonstruieren, impliziert auch, dass er oder sie sich der linguistic condition
des Textes bewusst ist. Carroll Johnson meint:
As we know, the job of every reader of narrative is to reconstruct the story (what
is presumed to happen) on the basis of the discourse (the text we read). At the
metafictional level the reader’s job is the same: to reconstruct the virtual or
phantom pre-text on the basis of the actual text.229
Auf einer metafiktionalen Ebene versucht der Modell-Leser also zum ursprünglichen,
wenn auch fiktiven, Text, zurück zu kehren, was bei E&K, DSdTB, DLdTB die
zamonischen Versionen von Hildegunst von Mythenmetz wären. So lesen wir z.B. auf
Seite zwei von E&K: „Hier [im Nordwesten des Kontinents Zamonien, im Großen
227
Johnson, Carroll B.: „Phantom Pre-texts and Fictional Authors: Sidi Hamid Benengeli, Don Quijote
and the Metafictional Conventions of Chilvaric Romances”. In: Cervantes: Bulletin of the Cervantes
Society of America, 27 (Frühling 2007), S.182 228
Johnson: „Phantom Pre-texts and Fictional Authors”, S.192 229
Johnson: „Phantom Pre-texts and Fictional Authors”, S.183
58
Wald] spielt das Märchen von Ensel und Krete, aufgeschrieben vom zamonischen
Großdichter Hildegunst von Mythenmetz, und von Walter Moers kongenial aus dem
Zamonischen ins Deutsche übersetzt und illustriert.“230
Auf der Titelseite wird demnach
schon über den mutmaßlichen Ursprung der Erzählung berichtet. Der metafiktionale
Leser hat nun die Aufgabe diesen virtual text zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion
wird dann vom Leser intertextuell mit dem eigentlichen Erzähltext verbunden. In
DSdTB berichtet der Übersetzer im Nachwort:
Nachdem ich mit Ensel und Krete zum ersten Mal ein Buch des zamonischen
Schriftstellers Hildegunst von Mythenmetz ins Deutsche übertragen hatte, wurde
ich immer wieder gefragt, welches seiner Werke ich als nächstes übersetzen
würde. […] Schließlich habe ich mich für ein chronologisches Vorgehen
entschieden. Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers, war das erste
Buch von Mythenmetz, das in Zamonien in gedruckter Form erschien, aber es
umfaßt in der Erstausgabe über zehntausend Seiten, verteilt auf 25 Bände […].231
Der Modell-Leser wird den Erzähltext also mit dessen fiktiver Herkunft verbinden, was
in unserem Fall der zamonische Text von Hildegunst von Mythenmetz,
Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers, wäre. Metafiktionalität hat gerade
mit dieser (Re-)Konstruktion zu tun. Auch Waugh meint, “[m]etafiction may concern
itself [...] with particular conventions of the novel, to display the process of their
construction”232
. Genau das wird in den Zamonien-Romanen auch demonstriert. Moers
macht Andeutungen darüber, woher der Text kommt, wie dieses Zamonien genau
aussieht, von wem der Text ursprünglich geschrieben wurde und wie Moers selbst ihn
letztendlich ‚editorial‘ verändert hat233
. Es gibt Verweise auf den ‚Entstehungsprozess‘
des Romans und das erinnert den Leser abermals daran, dass es sich um ein Artefakt,
ein literarisches Konstrukt handelt, das von einem Autor zusammengestellt und mithilfe
vieler Konventionen komponiert wurde. Gleichzeitig kann die Beschreibung des
Entstehungsprozesses und die Erwähnung des phantom pre-text, Reiseerinnerungen
eines sentimentalen Dinosauriers, jedoch auch eine Authentifizierungsfunktion
übernehmen. Denn schließlich wird auf diese Weise indirekt Hildegunsts Position als
Autor bekräftigt. Wie bereits erwähnt, verursacht das vor allem bei DS eine besondere
Autorschaft, denn hier ist nicht Hildegunst sondern Gofid Letterkerl der Schöpfer des
230
E&K, S.2 231
DSdTB, S.478 232
Waugh: Metafiction, S.4 233
Siehe „Walter Moers als Autor“
59
‚ursprünglichen‘ Textes. Wenn man nun der, im Vor- und Nachwort dargelegten Spur
in die Fiktionalität folgen würde, würde Letterkerls Novelle, Echo, das Krätzchen, als
phantom pre-text gelten, zu dem der Modell-Leser, über Moers‘ und Mythenmetz‘
Übersetzung, finden müsste. Wenn wir allerdings von der realen intertextuellen
Verbindung mit Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen (1856) ausgehen, wäre dieser
reale Text auch als phantom pre-text zu betrachten. DS hätte also eine reale
intertextuelle Verbindung mit Spiegel, das Kätzchen von Gottfried Keller, und eine
fiktionale mit Echo, das Krätzchen von Gofid Letterkerl.
Soweit habe ich festgestellt, dass die Figur Hildegunst von Mythenmetz und seine
Texte mit dem autobiographischen Pakt wie auch mit dem metafiktionalen phantom
pre-text verbunden werden können. Zusätzlich ist jedoch auch seine Tätigkeit als
Kommentator in seinen Erzähltexten auffällig. Mit der Mythenmetzschen Abschweifung,
die zum ersten Mal in E&K eingeführt wird, unterbricht Hildegunst den Lese- und
Erzählstrom und mischt sich in die Erzählung ein. Damit gibt
[d]er Erzähler […] seine gespielte Rolle als berichtender Zeuge auf und legt
stattdessen offen, dass er nur erfindet, was er soeben erzählt [hat]. In solchen […]
Erzählweisen sieht Genette dieselbe Grundstruktur wie im (seit der Antike
bekannten) rhetorischen Tropus »metalepsis«, nämlich die Umkehrung von
Ursache (d.h. etwas existiert) und Wirkung (d.h. jemand kann darüber
berichten).234
Hildegunst wird somit Teil der Erzählung und greift als fiktionaler Autor in seine eigene
Fiktion ein. Gérard Genette zufolge, haben wir es demnach mit einer Metalepse bzw.
einer „métalepse narrative“ zu tun, welche er folgenderweise definiert: „»toute intrusion
du narrateur ou du narrataire extradiégétique dans l’univers diégétique (ou de
personnages diégétiques dans un univers métadiégétique235
, etc.) ou inversement,« unter
Verletzung der »frontière mouvant mais sacré entre deux mondes : celui où l’on
raconte, celui que l’on raconte.« “236
Es handelt sich also um eine „regelwidrige
Verletzung der Ebenenhierarchie oder [um] eine Grenzüberschreitung zwischen den
verschiedenen Welten in Erzähltexten […] – etwa zwischen den Ebenen der Erzählung
234
Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. S.20 235
Der Prefix « méta- » wird heute häufig durch „hypo-“ ersetzt. Vgl. dazu Bal, Mieke: Narratologie.
Essai sur la signification narrative dans quatre romans modernes. Paris 1977 236
Genette, Gérard: Discours du récit. In : ders. : Figures III. Paris 1972. S.67-282. Hier S.244f. Zitiert in:
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.18
60
und der erzählten Handlung.“237
Der Erzähler unterbricht die Fiktionalität und der Leser
wird daran erinnert, dass der Erzähler uns etwas berichtet, was er selbst konstruiert hat,
dass es sich also um ein literarisches Medium handelt. Es erinnert den Leser „in
amüsanter Form an die Konstruiertheit der erzählten Geschichte“238
. Hier können wir,
auf den ersten Blick, sicherlich von einer metafiktionalen Komponente reden. Im
Grunde genommen können hier auch so gut wie alle Mythenmetzschen Abschweifungen
als Beispiel gelten. So berichtet Hildegunst in E&K nämlich sogar selbst auch
Sie haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber Sie sind schon mittendrin in einer
von mir entwickelten und vollkommen neuartigen schriftstellerischen Technik,
die ich die Mythenmetzsche Abschweifung nennen möchte. Diese Technik
ermöglicht es dem Autor, an beliebigen Stellen seines Werkes einzugreifen,
um, je nach Laune, zu kommentieren, zu belehren, kurzum: abzuschweifen. [Hervorhebung von K.B.] Ich weiß, daß Ihnen das jetzt nicht gefällt, aber es geht
nicht darum was Ihnen gefällt. Es geht darum, was mir gefällt.239
Hildegunst verknüpft seine Abschweifungen also deutlich mit dem Konzept der
Metalepse. Er selbst nennt es ‚in sein Werk eingreifen‘, was eine grenzüberschreitende
Aktion impliziert und zusätzlich als metafiktionale Komponente gesehen werden kann.
So meint Waugh nämlich:
One method of showing the function of literary conventions, of revealing their
provisional nature, is to show what happens when they malfunction. Parody and
inversion are two strategies which operate in this way as frame-breaks. The
alternation of frame and frame-break (or the construction of an illusion through
the imperceptibility of the frame and the shattering of illusion through the
constant exposure of the frame) provides the essential deconstructive method of
metafiction.240
Vor allem ihre Aussage bezüglich ‚alternation of frame and frame-break‘ scheint mir
hier exemplarisch zu sein. Die Mythenmetzschen Abschweifungen sind nämlich gerade
ein solcher frame-break, da der Autor in diesem Moment in das Geschehen eingreift.
Das Exponieren des Erzählrahmens durch das Eingreifen des Erzählers/Autors ist in
seiner Essenz genau das, worum es in der Metafiktion geht: die literarischen
Konventionen, der Skelettbau der Erzählung, wird zur Schau gestellt, wodurch es zu
einer Konfrontation mit der Konstuiertheit derselben Erzählung kommt.
237
Lahn & Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, S.90 238
Lahn & Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, S.91 239
E&K, S.40 240
Waugh: Metafiction, S.31
61
Inzwischen haben Literaturwissenschaftler allerdings Einwände bezüglich der
Metalepse als pures „Fiktionalitätssignal“241
. So meint Sonja Klimek, dass „[n]ur solche
Metalepsen, die die Ebene des ‚discours‘ [‚wie‘ wird etwas erzählt] tangieren, […]
[auch] die ästhetische Illusion des Lesers [stören]. Metalepsen auf der Ebene der
‚histoire‘ [‚was‘ wird erzählt] können dagegen unter der Bedingung, dass der Leser sich
auf eine wunderbar-phantastische Geschichte einlässt, die Illusion einer kohärenten
Anderswelt sogar noch verstärken.“242
Ihr zufolge muss die Metalepse also nicht
unbedingt die Funktion des kurzweiligen Illusionsbruches erfüllen, sondern kann sie das
So-Tun-als-ob-Konzept noch verstärken, vorausgesetzt es handelt sich um eine
Metalepse auf der Ebene der histoire. Weiter meint Klimek auch, dass
[a]nders als in der experimentellen Literatur Brechts, der ›nouveaux romanciers‹
und der ›Metafictionists‹ […] Metalepsen in der phantastischen Erzählliteratur
dagegen meist nicht in den Dienst einer Ästhetik des Illusionsbruchs gestellt
[werden]. Gerade in der zeitgenössischen Phantastik dienen die gleichen
Verfahren und Motive im Gegenteil oft dazu, das Wunderbare zu plausibilisieren
und so die Illusion einer kohärenten, wenn auch offenkundig fiktiven Geschichte
zu stabilisieren.243
Diese Aussage können wir vor allem mit Hildegunst als fiktivem Autor und mit der
Übersetzerfiktion verbinden. Hildegunsts Eingreifen in den Erzähltext in E&K bestätigt,
Klimek zufolge, seine Rolle als Autor. Auch Käte Hamburger ist der Meinung, dass
„die fingierende Einmischung des Erzählers als Verfasserperson, zu meist
humoristischen Zwecken, das Fiktionsphänomen [nicht] beeinträchtigt.“244
Die Illusion
des fiktionalen Autors bleibt demnach erhalten, denn eigentlich ist auch Hildegunst
selbst ein Teil des Erzählten, ein Teil der histoire: Hildegunst von Mythenmetz ist in
Wirklichkeit nicht der Erzähler, er ‚wird‘ erzählt. Dadurch, dass Walter Moers selbst
nicht in die Texte eingreift, sondern nur am Rande, in Übersetzerkommentaren oder
Nachwörtern zu Wort kommt, wird die Ebene des discours nicht ‚tangiert‘. Wenn
Hildegunst sich, wie im folgenden Zitat, plötzlich zu Wort meldet, um zu erklären, wie
seine Werke zustande kommen, bestätigt das also gleichzeitig auch seine Verbundenheit
mit dem phantom pre-text. Auch im nächsten Zitat aus E&K haben wir es mit einer
„métalepse de l’auteur“ auf der Ebene der histoire zu tun: der Erzähler steigt zwar in die
241
Lahn & Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, S.91 242
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.49 243
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.48 244
Hamburger: Die Logik der Dichtung, S.248
62
Welt seiner Fiktion hinab245
, er wird aber selber auch erzählt. So elaboriert er in diesem
Zitat wie seine Texte und Theaterstücke zustande kommen. Übrigens postuliert
Hildegunst sich in demselben Zitat in gewisser Weise auch als ‚göttlicher Schöpfer‘, ein
Konzept, was in DSdTB, DLdTB und E&K mehrmals zur Äußerung kommt, und was
ich auf Seite 64 dieser Magisterarbeit in einem Exkurs mehr erläutern werde.
So kann ich Szenen erproben und an Dialogen feilen, indem ich mit veränderter
Stimme die jeweiligen Texte spreche und die Strippen ziehe. Mit kleinem
Donnerblech und Funkenschläger kann ich ein Gewitter erzeugen, mit
verborgenen Wunderkerzen und Weihrauch einen Fabrikbrand oder einen
Vulkanausbruch.246
Hildegunst beschreibt in diesem Exzerpt, wie er eventuelle Textstellen seiner Erzählung
in seinem Büro, auf einer kleinen Bühne mit Marionetten etc., nachahmt. Auf diese
Weise kann er ermitteln, welche Variante seiner Idee am besten in das literarische
Ganze passt. Zusätzlich möchte ich hier noch ein weiteres Zitat erwähnen, das abermals
verdeutlicht, dass es sich bei der Metalepse zwar um eine metafiktionale Komponente
handelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erzählung, die Illusion des fiktiven Autors
dadurch eine Bruch erleidet. In diesem Zitat treffen wir wiederum auf eine
Mythenmetzsche Abschweifung. Hierin introduziert Hildegunst gleichzeitig auch eine
weitere selbst erfundene, literarische Technik, die er anschließend sogar erläutert.
Sie werden es wahrscheinlich schon längst bemerkt haben: es handelt sich nicht
um einen Waldgnom, sondern um einen Stollentroll. Warum nenne ich ihn dann
im Text die ganze Zeit Gnom und nicht Troll? Nein, das ist nicht unseriös,
sondern eine ganz legitime, übrigens ebenfalls von mir erfundene Technik, die ich
die Mythenmetzsche Ungewißheitsschürung nenne. Der Leser wird auf
nervenzerfetzende Weise im Ungewissen gehalten: Ist er’s, oder ist er’s nicht?
Erst mit dem stollentypischen ‚Kähähä!‘ wurde die kaum erträgliche Spannung
aufgehoben und der Leser aus dem Schwitzkasten der Mythenmetzschen
Ungewißheitsschürung entlassen.247
In diesem Zitat legt Hildegunst deutlich dar, wie diese Stelle der Erzählung aufgebaut
ist. Damit entblößt er zwar die literarischen Techniken, was beim Rezipient zu einem
Illusionsbruch führen könnte. Gleichzeitig beweist er damit jedoch auch seine
Könnerschaft bezüglich der Literatur und seine Verbundenheit mit dem Text an sich,
was gerade illusionsverstärkend wirkt. Die Illusion, der der Leser sich zu stellen bzw.
zu unterwerfen hat, ist also nicht diese der Hildegunst-Erzählung, das zamonische
245
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.140 246
E&K, S.48 247
E&K, S.69
63
Märchen Ensel und Krete, sondern diese, die von Moers kreiert wurde. Diese Illusion
wäre folgendermaßen zu perzipieren: ‚Hildegunst ist der Autor der ursprünglichen
Romane und ich, Moers, bin nur Übersetzer.‘ In Wirklichkeit ist Walter Moers natürlich
der Autor der Erzählung und ist Hildegunst eine Erfindung. Wäre nicht Moers, sondern
Hildegunst der wirkliche Autor der Erzählung gewesen, dann wäre Hildegunst somit in
seiner Funktion als Autor nicht mehr Teil des Erzählten und hätten wir es mit einer
Metalepse auf der Ebene des discours zu tun, was Klimek zufolge wohl zu einem
Illusionsbruch führt. Übrigens können dieselben Mythenmetzschen Abschweifungen in
E&K auch als metanarrative Elemente gesehen werden. Neumann und Nünning
definieren Metanarration nämlich folgenderweise: „metanarration refers to the
narrator’s reflections on the act or process of narration“248
und auf genau das treffen wir
auch in Hildegunsts Äußerungen in E&K. So lesen wir beispielsweise:
Ich bin’s wieder, Mythenmetz – jetzt möchten Sie sicher wissen, warum ich nur
noch »Brummli« schreibe, statt mit der Handlung fortzufahren, stimmt’s? Ich sage
Ihnen warum: Darum! Künstlerische Freiheit! Schiere Willkür! Avantgarde! […]
Ich kann soviel »Brummli« schreiben, wie es mir paßt, und Sie müssen es lesen,
wenn Sie wissen wollen wie es weitergeht: [an dieser Stelle wird das Wort
»Brummli« noch zigmal wiederholt] So, jetzt verstehen Sie vielleicht besser, wie
so ein totalitäres System funktioniert. Obwohl die Mehrheit der Leser dem Fluß
der Geschichte zu folgen wünscht, schaltet sich eine übergeordnete, nicht durch
freie Wahl legitimierte Macht ein [Hervorhebung von K.B.] und verordnet, daß
es nur noch »Brummli« zu lesen gibt. 249
Hildegunst beschreibt in diesem Zitat also genau wieso er was tut. Die Erklärungen sind
zwar nicht immer literarisch-technisch. Sie weisen jedoch deutlich auf die
unterschwelligen Motive des fiktiven Autors Hildegunst von Mythenmetz bei der Wahl
verschiedener literarischen Techniken hin, und können demnach als metanarrativ
angesehen werden. Klimek zufolge kommt es in metafiktionalen Romane also nicht
immer unbedingt zu Illusionsbrüchen. Die Metalepse kann auch für eine Bestärkung des
So-Tun-Als-Obs sorgen. Sie spricht diese Problematik, dass ‚Metafiktionisten‘ und
‚Postmodernisten‘ meinen eine Metalepse würde immer zu einem Illusionsbruch führen,
sogar an. Klimek meint: „Wie Wolf und McHale, so sieht auch Waugh (1993) alle
logikwidrigen ‚Ebenenwechsel‘ als Illusionsbrüche an, ohne dabei zu berücksichtigen,
dass die phantastischen Texte von der Leser-Wahrnehmung her einen solchen ‚Bruch‘
248
Neumann, Brigit & Nünning, Ansgar: Metanarration and Metafiction. Verfügbar: http://hup.sub.uni-
hamburg.de/lhn/index.php/Metanarration_and_Metafiction (besucht 03.05.2012) 249
E&K, S.61f.
64
gar nicht in sich tragen – also auch gar nicht mehr illusionsstörend wirken.“250
Klimek
äußert sich zu Recht kritisch bezüglich Waughs Resultaten, da in deren Untersuchung
„nur realistische und metafiktionale Romane berücksichtigt“251
werden, und auf die
Fantasy-Literatur gar nicht eingegangen wird. Die Metalepse kann zwar zu den
metafiktionalen Konventionen gezählt werden. Damit ist jedoch nicht bewiesen, dass
sie in unterschiedlichen Genres und Typen von Romanen immer dieselbe Funktion hat.
Schließlich wird, Klimek zufolge, vom Leser ein Illusionsbruch nicht immer auch als
solcher perzipiert. Mythenmetzsche Abschweifungen wie: „Bitte denken Sie in Zukunft
mal ein bißchen über die gesellschaftliche Situation nach, bevor Sie sich wieder von
weltfremden Märchen einlullen lassen“252
weisen den Leser zwar darauf hin, dass er es
mit einem Artefakt zu tun hat. Da Hildegunst an sich eine fiktive Figur ist, wird seine
Rolle als Autor durch sein Eingreifen jedoch vor allem bestätigt, anstatt korrumpiert.
In dem zuletzt genannten Zitat aus E&K behauptet Hildegunst sich übrigens auch
als ‚übergeordnete, nicht durch freie Wahl legitimierte Macht‘, worauf ich nun in einem
Exkurs gerne näher eingehen würde. Diese Aussage ruft einem nämlich prompt den
Gedanken von dem Autor als der ‚sich selbst vergöttlichende Schöpfer‘ ins Gedächtnis,
was ein zentrales Konzept der Stürmer und Dränger war. „Der Geniekult der Stürmer
und Dränger hob den Dichter über das gewöhnliche Menschenmaß hinaus. Kunst war
nicht länger erlernbar (»Schädlicher als Beyspiele sind dem Genius Principen« -
Goethe), der Künstler schöpft aus dem ihm eigenen Genie.“253
Hier wird also bereits
deutlich, dass die Stürmer und Dränger das Genie als etwas Erhabenes sehen. Das Genie
hat eine Gabe, die man nicht erlernen kann. „Der Ausdruck ‚Genie‘, der zu einer
Kennzeichnung der gesamten bürgerlichen Oppositionsbewegung wird, bedeutet nichts
anderes, als die sich von allen Einengungen befreiende, gegen allen Zwang
rebellierende Individualität.“254
Das Genie will sich also von den sozial-
gesellschaftlichen und literarischen Konventionen absetzen. Es
250
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.62 251
Klimek: Paradoxes Erzählen, S.62 252
E&K, S.52 253
Beutin, Wolfgang et al.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Siebte
Auflage. Stuttgart. Weimar: J.B. Metzler Verlag 2008, S.158 254
Veeser, Caroline: „Der Genie-Gedanke in der deutschen Literatur des Sturm und Drang und der
Romantik und seine Verwirklichung in Robert Schneiders Schlafes Bruder und Christa Wolfs Der
Schatten eines Traumes. Diplomarbeit. http://www.grin.com: GRIN Verlag 2006, S.38
65
konzipiert sich […] als naturgegebene ‚schöpferische Kraft‘, die sich durch
Spontaneität, Intensität und Originalität seiner Empfindungen auszeichnet. Damit
steht es in enger Verbindung zum weltanschaulichen Zentralbegriff des Sturm und
Drang: zur Natur. Der die Natur ‚nachahmende‘ Künstler ist keiner, der Natur
wiederholt (‚natura naturata‘), sondern der analog zur Natur produziert (‚natura
naturans‘).255
Dass Mythenmetz die Natur nicht nachahmt, sondern selbst produziert bzw. als
Inspiration nutzt, merken wir vor allem an seinen metanarrativen und metaleptischen
Kommentaren in E&K. So erfahren wir z.B.
Will ich eine Schlachtszene beschreiben, brauche ich nur einen Tropfen meines
eigenen Blutes unter das Okular zu legen: Das Gemetzel, das Blutkörperchen,
Bakterien und Antikörper darin veranstalten, läßt die legendäre Schlacht im
Nurnenwald zu einer harmlosen Schlägerei verkümmern. Für ein Gebirge genügt
mir ein Brotkrümel, will ich eine Unterseewelt voller vorzeitlicher Ungeheuer
beschreiben, reicht eine Pipette voll Wasser.256
Hildegunst sieht die natürlichen Ereignisse und Elemente als Hilfe bei seinen eigenen
literarischen Beschreibungen. In den Zamonien-Romanen kommt der Genie-Gedanke
also insbesondere durch Hildegunst von Mythenmetz, aber auch durch das ‚Orm‘ zur
Äußerung. Übrigens finden wir dieselbe Idee der natura naturans auch bei Immanuel
Kant, in Kritik der Urteilskraft: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst
die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers,
selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die
angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel
gibt.“257
Auch auf dem Kontinent Zamonien scheint ‚Genie‘ angeboren bzw. doch
zumindest ‚Arten-abhängig‘ zu sein. Hildegunst gehört der Art der Lindwürmer an und
er ist „wie alle Bewohner der Lindwurmfeste, ein literarisch begabter
[Hervorhebungen von K.B.], aufrecht gehender Nachfahre derjenigen zamonischen
Dinosaurier, die aus dem Loch Loch stammen. […] [F]ast alle der in der Feste
lebenden Saurier [sind] praktizierende Literaten mit einer angeborenen Neigung
zu handwerklicher Gründlichkeit.“258
Die Gruppe der Lindwürmer scheint also ein
angeborenes literarisch-handwerkliches Talent in sich zu tragen, was ich an dieser Stelle
nicht nur mit dem Genie-Gedanken verknüpfen möchte, sondern was auch an eine
255
Information bezüglich einer Literaturvorlesung an der Universität Duisburg & Essen. Verfügbar
http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/literaturge/sturmdrang.htm (17.04.2012 besucht) 256
E&K, S.50 257
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Meiner Verlag 2009, S.193 258
E&K, S.232
66
vorherige Bemerkung bezüglich Hildegunst als ‚Handwerker und kreativem Schöpfer‘
erinnert. Die angeborene künstlerische Gabe, also quasi die ‚Veranlagung‘ des Genies,
findet seine ‚zamonische‘ Übersetzung auch in dem Konzept des ‚Orms‘, was
Hildegunst als eine der sieben Grundtugenden des Dichters anführt.
Orm, das ist die Kraft, die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben, einen
tagelang an einem einzigen Satz feilen, einen das Lektorat eines
dreißigtausendseitigen Romans lebend überstehen läßt. Orm, das sind die
unsichtbaren Dämonen, die um den Dichter tanzen und ihn auf seine Arbeit
bannen. Orm, das ist der Rausch und das Brennen.259
Das Orm ist also „eine Art mysteriöse Kraft, die manche Dichter in Augenblicken
höchster Inspiration durchströmen soll.“260
Auch Hildegunst möchte natürlich ‚Zugang
zum Orm‘ erlangen. Dafür geht er beim Schattenkönig, dem Homunkoloss261
, dem
schrecklichen Herrscher des unterirdischen Labyrinths von Buchhaim, in die Lehre262
.
Dank dem Homunkoloss kann Hildegunst am Ende von DSdTB schließlich auch das
Orm erreichen.
„Jeder kann schreiben“, sagte [Homunkoloss]. „Es gibt welche, die können ein
bißchen besser schreiben als die anderen – die nennt man Schriftsteller. Dann gibt
es welche, die besser schreiben können als die Schriftsteller. Die nennt man
Dichter. Und dann gibt es noch Dichter, die besser schreiben können als andere
Dichter. Für die hat man noch keinen Namen gefunden. Es sind diejenigen, die
einen Zugang zum Orm haben. […] Die kreative Dichte des Orms ist
unermeßlich. Es ist ein Quell der Inspiration, der nie versiegt – wenn man weiß,
wie man dorthin gelangt“263
Die Veranlagung formt also die Basis, ist jedoch keine Garantie für Erfolg, denn wie
der Schattenkönig weiter berichtet kann das Orm nur ‚gelesen’ und genutzt werden,
wenn man das ‚Alphabet der Sterne‘ beherrscht. „Es ist ein Alphabet, aber es ist auch
ein Rhythmus. Eine Musik. Ein Gefühl.“264
Es ist „nicht vermittelbar“265
. Jemand wie
Perla La Gadeon266
„hatte das Alphabet […] schon im Blut, als er geboren wurde. Der
259
E&K, S.42-43 260
DSdTB, S.20 261
Hier möchte ich auf die frappante Intertextualität mit Goethes‘ Homunculus (Faust, zweiter Teil,
zweiter Akt) hinweisen. Vgl. von Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. München: C.H. Beck
Verlag 2005, S.209ff. 262
Dieses ‚in die Lehre gehen‘, erinnert, insbesondere bezüglich DSdTB, aber auch bezüglich DLdTB, an
den Bildungsroman, worauf ich im nächsten Kapitel mehr eingehen werde. 263
DSdTB, S.393 264
DSdTB, S.393 265
DSdTB, S.394 266
Anagramm für Edgar Allan Poe.
67
war so begnadet, daß er daran gestorben ist.“267
Das Orm kann also nur begriffen bzw.
richtig angewandt und gelenkt werden, wenn man auch Einblick in das Alphabet der
Sterne hat, welches jedoch nicht vermittelt werden kann. Das Orm, in Kombination mit
dem Alphabet der Sterne, kann also als ein Äquivalent für die Naturgabe und den Fleiß
des Künstlers unserer Wirklichkeit gelten. Anschließend an die Definition des Genies
bei den Stürmern und Drängern und der Beschreibung des Orms in Kombination mit
dem Alphabet der Sterne, kann man demnach konstatieren, dass Moers mit Hildegunst
den Prototypen eines Genies reproduziert hat. Ironisch in dieser Hinsicht ist jedoch,
dass Hildegunst zwar alles tut, um sich von den Regeln und der Allgemeinheit
abzusetzen und den literarischen Rebellen zu spielen, so lässt er z.B. erstmals in der
zamonischen Literaturgeschichte eine Erzählung positiv enden oder greift er über die
Mythenmetzschen Abschweifungen direkt in die Erzählung ein, womit er den Lesefluss
verstört. Gleichzeitig hält er sich dennoch wohl an gewisse Regeln, wie seine
Aufzählung der sieben Grundtugenden eines Dichters beweist. Die erste Tugend, die er
erwähnt, ist Furcht. Mythenmetz erläutert: „Nur der Furchtsame ist zu Großem befähigt,
der Furchtlose kennt keinen Antrieb und verliert sich im Müßiggang.“268
. Über die
nächste Tugend, ‚Mut’, lesen wir folgendes: „Man braucht Mut um den Fährnissen der
literarischen Unternehmung standzuhalten, als da sind: Schreibhemmung, unsensible
Lektoren, zahlungsunwillige Verleger, gehässige Kritiker, niedrige Verkaufszahlen,
ausbleibende Preise usw.“269
. Auch ‚Vorstellungskraft‘ scheint für einen Künstler eine
Voraussetzung zu sein: „Es gibt genügend zamonische Schriftsteller, die sehr gut ohne
diese Tugend durchkommen, man erkennt sie daran, daß ihre Werke vorwiegend um sie
selbst kreisen oder von aktuellen Ereignissen handeln.“270
Bei dieser Eigenschaft
können wir bezüglich Hildegunst übrigens von Selbstironie reden, schließlich handelt
DSdTB und DLdTB ausschließlich von seinen eigenen Erlebnissen. Auch in E&K fällt,
durch seine Mythenmetzschen Abschweifungen, wessen Denomination er sogar nach
sich selbst benannt hat, stark auf, dass er gerne im Mittelpunkt steht. Die vierte Tugend,
das Orm, habe ich weiter oben bereits dargelegt. Die nächsten Tugenden auf
Hildegunsts Liste sind ‚Verzweiflung‘ („Der Humus, der Torf, der Kompost der
267
DSdTB, S.394 268
E&K, S.42 269
Ebd. [Hier dürfte einem übrigens auch die erneute Kritik am heutigen Literaturbetrieb auffallen.] 270
Ebd.
68
Literatur […]. Zweifel an der Arbeit, an den Kollegen, am eigenen Verstand, an der
Welt, am Literaturbetrieb, an allem.“271
) und Verlogenheit: „Ja, sehen wir der Sache
ruhig ins Gesicht: Alle gute Literatur lügt. Beziehungsweise: Gute Literatur lügt gut,
schlechte Literatur lügt schlecht – aber die Unwahrheit sagen beide.“272
Auch mit dieser
letztgenannten Grundtugend macht Hildegunst eine interessante Aussage. In Käpt’n
Blaubär, dem ersten Zamonien-Roman, wurde nämlich bereits erwähnt, dass
„Schriftsteller […], abgesehen von Politikern, die besten Lügner [sind]“273
. Durch
solche Zitate wird meiner Ansicht nach insinuiert, dass es sich bei Hildegunsts phantom
pre-text womöglich um ‚zamonische‘ Fiktion handeln könnte, was somit die
Glaubwürdigkeit von DSdTB und DLdTB als ‚authentische‘, zamonische biographische
Romane untergraben würde. Die siebte und letzte Tugend, ‚Gesetzlosigkeit‘, weist
wiederum direkte Parallelen mit dem Genie-Gedanken der Stürmer und Dränger auf.
Hildegunst meint hierin nämlich:
[…] [D]er Dichter gehorcht keinen Gesetzen, nicht einmal denen der Natur. Frei
von allen Fesseln muß sein Schreiben sein, damit seine Dichtung fliegen kann.
Gesellschaftliche Gesetze sind ebenfalls verpönt, besonders die von Anstand und
Sitte. Und auch moralischen Gesetzen darf sich der Dichter nicht unterwerfen,
damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann –
Leichenfledderer sind wir alle.274
Hildegunst sieht den Dichter, und somit auch sich selbst, anscheinend als eine Art
literarischen Rebellen, der sich von nichts und niemandem beeinflussen lassen sollte,
auch nicht von der Natur. Der Dichter erhält seine Gabe, sein Talent, zwar von der
Natur, darf sich von ihr jedoch nicht einschränken lassen.
Das Konzept des Mythenmetzschen Dichters in den Zamonien-Romanen könnte
zusätzlich an dieses des ‚unverstandenen, unangepassten Künstler‘ gekuppelt werden,
was auch schon von dem Satz „Frei von allen Fesseln muß sein Schreiben sein, damit
271
E&K, S.43 272
Ebd. 273
Käpt’n Blaubär, S.534 274
E&K, S.43 [In diesem Zitat ist übrigens auch der letzte Satz („Und auch moralischen Gesetzen darf
sich der Dichter nicht unterwerfen, damit er gewissenlos das Werk seiner Vorgänger plündern kann –
Leichenfledderer sind wir alle.“) sehr auffällig. Er erinnert nämlich an das Konzept der Intertextualität
und insbesondere an das Modell der Intertextualität, das Renate Lachmann ‚Transformation‘ nennt. Sie
meint damit „eine über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende
Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch komplizierte
Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt, eine Tendenz zur Esoterik, Kryptik,
Ludismus und Synkretismus zeigt.“ [Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der
russischen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990, S.39]]
69
seine Dichtung fliegen kann“ im vorigen Zitat angedeutet wurde. Insbesondere das
‚Fliegen der Dichtung‘ weist einen intertextuellen Bezug zu Baudelaires Gedicht
„L’Albatros“ aus seinem berühmten Werk Fleurs du mal auf. Darin heißt es nämlich:
Le Poète est semblable au prince des nuées
Qui hante la tempête et se rit de l'archer;
Exilé sur le sol au milieu des huées,
Ses ailes de géant l'empêchent de marcher.275
Hildegunst ist der geniale, unverstandene Schriftsteller bzw. literarische Künstler, der
durch das Orm und das Alphabet der Sterne ‚höhere Gefilde‘ erreichen kann.
Gleichzeitig zieht der Reichtum, die Arroganz und die eigene Sterblichkeit276
ihn jedoch
auch wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. In DSdTB verlässt der junge
Hildegunst die Lindwurmfeste und versucht alles hinter sich zu lassen. Er begibt sich
auf ein Abenteuer, das ihn in die Katakomben von Buchhaim führen wird. Während der
ganzen Erzählung scheint er als Fremdkörper in seiner Umgebung zu fungieren. Auf der
Lindwurmfeste, seinem Zuhause, hat er noch nichts veröffentlich und kann sich
demnach noch keinen ‚praktizierenden‘ Literaten nennen. In Buchhaim erscheint er
allein schon durch seine Naivität und Provinzialität sozial-gesellschaftlich unangepasst.
Er scheint die Rolle des künstlerischen Außenseiters gut auszufüllen. In der Fortsetzung
von DSdTB, DLdTB, erfahren wir außerdem, dass er sich, nach einigen großen
literarischen Erfolgen, schließlich gänzlich von der Außenwelt verabschiedet hat und zu
der Lindwurmfeste zurückkehrt.
Es war eine Flucht vor dieser ins Monströse gewachsene Popularität, vor meinem
bizarren Erfolg und meinen verrückten Verehrern, als ich mich entschloss, nach
langen Jahren der ruhelosen Wanderschaft und etlichen Abenteuern für eine Weile
auf die Lindwurmfest zurückzukehren, um mich dort ein wenig auf meinen
275
Baudelaire, Charles : „ L’Albatros“ aus Fleurs du mal. Verfügbar : http://fleursdumal.org/poem/200.
14.05.2012 besucht 276
Siehe zum Thema ‚Sterblichkeit‘ auch die Zeichnung auf Seiten 156 und 157 in DLdTB. Hierauf sehen
wir Hildegunsts Freund Kibitzer, der von einigen memento mori-Gegenständen umringt wird, z.B. die
Sanduhr, die Taschenuhr, der Totenkopf, die verloschene Kerze und der ‚Sensenmann‘. Gleichzeitig kann
diese Abbildung übrigens auch als eine Parodie auf die Kunst perzipiert werden, wo, vor allem während
des Mittelalters, oftmals ähnliche memento mori-Objekte genutzt wurden um den Gedanken der
Sterblichkeit anzudeuten. Oftmals waren diese jedoch gut versteckt und nur vereinzelt, also nicht in
diesem Maße wie in unserer Zeichnung, anwesend. Der Gedanken der Sterblichkeit wird hier scheinbar
mit dem humanistischen Ideal der Ausbildung und der intellektuellen Selbstverwirklichung aus der
Renaissance kombiniert, da Kibitzer von Büchern umringt ist. Meiner Ansicht nach, wird hierdurch vor
allem Kibitzers Gelehrtheit angedeutet. Die memento mori weisen auf seinen zukünftigen Tod hin.
70
Lorbeeren auszuruhen. […] Auch darum – Sehen wir der Sache ins Gesicht,
meine geliebten Freunde -, der Öffentlichkeit und meinen Artgenossen auf der
Feste eine Rückkehr zu meinen Wurzeln vorzutäuschen [Hervorhebung von
K.B.]: Auf dem Zenit seiner Karriere kehrt der verlorene Sohn heim, um unter
bescheidensten Verhältnissen demütig sein titanisches Werk fortzusetzen, im
beengten Häuschen seines über alles geliebten Dichtpaten. Nichts war weiter von
der Wahrheit entfernt. Niemand in ganz Zamonien hatte zu dieser Zeit weniger
Bodenhaftung als ich. Und niemand lebte dekadenter und zielloser in den Tag
hinein, ohne sich um seine kulturelle Aufgabe und dichterische Disziplin zu
scheren.277
Moers hat hier deutlich einige humoristische Anspielungen bezüglich der
Zurückgezogenheit, die meist mit dem exzentrischen, genialen und armen Künstler
verbunden wird, integriert. Hildegunst von Mythenmetz kann in Moers‘ Romanen
demnach als unangepasstes Genie gelten, dass jedoch auch mit der eigenen
literarischen, auktorialen Glaubwürdigkeit spielt, was seine Zuverlässigkeit als Erzähler
zur Debatte stellt. Ist er ein Lügner, wie ‚alle Schriftsteller‘, was in Käpt’n Blaubär
behauptet wird und was Hildegunst sogar als eine der sieben Grundtugenden eines
Dichters andeutet? Und perzipieren wir seine phantom pre-texts dadurch automatisch
als Fiktion? Die Figur Hildegunst von Mythenmetz bleibt, meiner Ansicht nach,
während des Verlaufs von DSdTB und DLdTB, weiterhin das Fleisch gewordene Genie,
der literarische Rebell, der sich von den literarischen Konventionen absetzen will, der
die Mythenmetzsche Abschweifung und die Mythenmetzsche Ungewißheitsschürung
introduziert und persönlich in die Erzählung eingreift, was seine Rolle als Autor auf der
Ebene der histoire bestätigt. Gleichzeitig stellt er jedoch auch seine eigene
Glaubwürdigkeit und in diesem Sinne auch sich selbst als reale Entität in Frage. Die
Autorschaft in den Zamonien-Romanen ist demnach komplizierter als sie auf den ersten
Blick erscheinen mag. Auffällig ist allerdings auch der parodistische Ansatz, den Moers
wählt, um Hildegunst als das ‚unverstandene, sich selbst exilierende‘ Genie
darzustellen. Die Parodie als metafiktionale Komponente werde ich in einem eigenen
Kapitel ausführlicher besprechen.
Zuletzt möchte ich noch auf eine Besonderheit der Figur Hildegunst von
Mythenmetz hinweisen, nämlich seine Verselbstständigung in der Öffentlichkeit.
Hiermit geht Moers bezüglich der Übersetzerfiktion noch einen Schritt weiter. Wie ich
in dem Kapitel „Walter Moers als Autor“ etabliert habe, nimmt Moers einen ständig
277
DLdTB, S.15
71
größer werdenden auktorialen Abstand von seinem geistigen Eigentum, indem er
Hildegunst zum Autor von DSdTB, DLdTB und E&K befördert. Bei DS wird dieser
Abstand sogar weiter vergrößert, da der ‚ursprüngliche‘ Text mutmaßlich von Gofid
Letterkerl kreiert, und dann von Hildegunst übersetzt und bearbeitet wurde. Dieser
Mythenmetzsche Roman wurde anschließend von Moers selbst nochmals bearbeitet und
übersetzt. Die Illusion der ‚realen‘ Mythenmetzschen Autorschaft findet seine
Kulmination jedoch darin, dass Hildegunst sozusagen aus der Fiktion heraus und in die
Öffentlichkeit hinein tritt. Es kommt zu einem Aufeinandertreffen zwischen Fiktion und
Realität. In „Drachengespräche“278
, einem Interview mit dem ZDF, stellt Hildegunst
von Mythenmetz sich ‚live‘ der Öffentlichkeit. „Er behauptet[…] [darin], er sei durch
ein Dimensionsloch in unsere Welt und Zeit gereist und er stehe für Interviews zur
Verfügung.“279
Wie ich in dem letzten Exkurs bezüglich der Figur Hildegunst von
Mythenmetz bereits festgestellt habe, bleiben manche Fragen im Zusammenhang mit
seiner Glaubwürdigkeit als Autor und Figur offen und auch im Interview wird folgendes
behauptet: „[…] Mythenmetz ist bekannt dafür, dass er ein Meister darin ist, seine
Lebensumstände zu verschleiern, falsche Spuren zu legen und die richtigen zu
verwischen.“280
Was hat diese Konstatierung nun aber, wenn überhaupt, mit Metafiktion
zu tun? Wie ich bereits festgestellt habe, ist Metafiktion Fiktion über Fiktion. Der
Skelettbau der Narration wird bloßgelegt, wodurch der Leser mit dem Rahmen, dem
Konstrukt der Erzählung konfrontiert wird. Dadurch erleidet die Illusion entweder einen
Bruch, man wird sich der linguistic condition bewusst, oder die Illusion wird auf einer
histoire-Ebene, wie bei den Mythenmetzschen Abschweifungen, sogar bestärkt.
Bezüglich Hildegunst von Mythenmetz habe ich bereits ermittelt, dass seine Rolle als
mutmaßlicher Autor von DSdTB, DLdTB und E&K durch metafiktionale Elemente eher
bestärkt als untergraben wird. Er profiliert sich nämlich gerade durch sein Eingreifen in
die Erzählung als ‚wirklicher‘ Autor. Meiner Ansicht nach schließt sich das ‚In die
Öffentlichkeit treten‘, wie er es in dem Interview tut, diesem illusionsbestärkendem
Konzept an und liegt also mit dem Effekt der histoire-Metalepse in einer Linie.
278
Zeilmann, Achim: „Drachengespräche Hildegunst von Mythenmetz“ (Teil 1 von 2). ZDF „aspekte“.
Drehbuch: Walter Moers. Deutschland 2007. Verfügbar
http://www.youtube.com/watch?v=E3JwEVYcGBk besucht 14.05.2012 279
Zeilmann: „Drachengespräche“ (Teil 1 von 2), (1’44 min) 280
Zeilmann: „Drachengespräche“ (Teil 1 von 2)
72
Zusammenfassend zu diesem Kapitel möchte ich demnach behaupten, dass das
Konzept des fiktionalen Autors in Kombination mit der Übersetzerfiktion, dem
autobiographischen Pakt, dem phantom pre-text und der Metalepse nicht nur dafür
sorgt, dass der Modell-Leser, im metafiktionalen Sinne, den Erzähltext als Artefakt
erkennt. Gerade durch dieses Bloßlegen des narratologischen Gerüsts kann das So-Tun-
Als-Ob beim Leser auch unterstützt werden, da Hildegunsts Rolle als Autor gerade
hierdurch bestätigt und also bestärkt wird. Durch diese Feststellung kann man sich nun
auch Fragen stellen bezüglich des Effekts der Metafiktion innerhalb der
unterschiedlichen Genres. Ist die Funktion bzw. der Effekt der Metafiktion abhängig
vom Genre? Kann Metafiktion nun auch als Bestätigung einer Fiktion anstatt einer
Untergrabung angewandt werden? Da die Effekte einer literarischen Technik ein sehr
subjektives Unterfangen sind, kann ich hier nur die unterschiedlichen Möglichkeiten
widergeben, und den letztendlichen Effekt natürlich nicht einfach bestimmen. Es liegt
dennoch nahe, dass, wie Klimek meint, die Metalepse auf der Ebene der histoire eher
illusionsbestärkend als illusionsuntergrabend wirkt und dass Moers alles daran tut,
Hildegunst als Autor der Erzählung zu etablieren. Verschiedene literarische Aspekte,
wie der autobiographische Pakt von Lejeune, das referentielle Ich, der phantom pre-text,
Mythenmetzsche Abschweifungen und sogar Hildegunsts Gleichnis mit dem Genie der
Stürmer und Dränger, sorgen letztendlich dafür, dass der Leser das Skelett der
Erzählung zwar erkennt. Dieses Bloßlegen der Strukturen verursacht, meines Erachtens,
jedoch vorwiegend das Bestärken der Illusion von ‚Hildegunst von Mythenmetz als
Autor‘.
3.1.4. Die Stadt der Träumenden Bücher & Das Labyrinth der Träumenden
Bücher als ‚Bildungs- und Entwicklungsromane‘
In dem vorigen Kapitel habe ich bereits erwähnt, dass DSdTB und DLdTB gewisse
Komponenten eines Bildungs- und Entwicklungsromans281
aufweisen. Ortrud Gutjahr
zufolge wird in diesen die
281
Kontje behauptet nämlich, dass eine eindeutige Definition des Konzepts ‚Bildungs- und
Entwicklungsroman‘ nicht möglich ist. In anderen literaturgeschichtlichen Werken, wird hauptsächlich
die Denomination ‚Bildungs- und Entwicklungsroman‘ hantiert. Sie erscheint mir selbst auch weniger
einschränkend.
73
Entwicklungsgeschichte eines jugendlichen Protagonisten bis ins
Erwachsenenalter hinein als Weg der Selbstfindung und zugleich sozialen
Integration [erzählt]. Der Bildungsgang gleicht dabei einem Reifungsprozess, bei
dem natürliche Anlagen in einem gesellschaftlichen Umfeld über Konflikt- und
Krisenerfahrungen zur Ausbildung gelangen. […] Nach den Kinder- und
Jugendjahren unter spezifisch häuslichen Bedingungen und
Erziehungsforderungen folgen Jahre der Welterkundung, in denen es durch
Wanderschaft oder Reisen zur Begegnung mit bisher unbekannten
soziokulturellen Kontexten kommt.282
Zwischen Gutjahrs Definition und dem Verlauf von DSdTB und DLdTB gibt es klare
Parallelen. So berichtet uns Hildegunst zu Beginn von DSdTB: „Jede Reise hat ihren
Anlaß, und meiner hat mit Überdruß und jugendlichem Leichtsinn zu tun, mit dem
Wunsch, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen und das Leben und die Welt
kennenzulernen.“283
Der junge Lindwurm will sich nach dem Tode seines Dichtpatens,
der ihn bis jetzt literarische geschult hatte, von seinen jugendlichen und häuslichen
Fesseln befreien. Er begibt sich dafür auf den Weg nach Buchhaim, wo er auf neue
Freunde trifft, wo er aber auch vielen Gefahren trotzen muss. Bei Das Labyrinth der
Träumenden Bücher scheint es sich, Hildegunst selbst zufolge, anfangs nicht unbedingt
um einen Bildungsroman zu handeln. In dem folgenden Zitat verweist er allerdings
darauf, dass DSdTB tatsächlich als ein Bildungs- und Entwicklungsroman gesehen
werden kann.
Es gab Dutzende von triftigeren Gründen für meine Reise! Überdruss, Reiselust,
Langeweile, Höhenkoller, Übergewicht, und außer Bequemlichkeit gab es kein
einziges Argument dafür, zur Lindwurmfeste zurückzukehren. Dies war nicht die
kopflose Flucht eines Jünglings ins Ungewisse, so wie damals [Hervorhebungen von K.B.]. Beim Orm, ich war immerhin Hildegunst von
Mythenmetz! Ein gestandener Schriftsteller mit solider Karriere, und ich hatte das
Ziel meiner Reise schon einmal ausgiebig erkundet. […] Dies hier war doch nur
ein Spaziergang, eine biographische Fußnote. Eine Forschungsreise. Kleine
Recherche. Luftveränderung. Ein Spaß. Und diesmal würde ich den
jugendlichen Übermut durch Erfahrung und Reife ersetzen. Auf keinen Fall
blauäugig in jede ausgelegte Falle tappen, wie der Grünschnabel von vor
zweihundert Jahren.284
DLdTB kann nichts desto trotz als eine Beschreibung eines Lebensweges gesehen
werden, auf dem Hildegunst erst auf Freundschaft und bestimmte ‚soziokulturelle
Kontexte‘ trifft, so kommt es z.B. zu einem Wiedersehen mit Kibitzer und Inazea
282
Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2007, S.8 283
DSdTB, S.11 284
DLdTB, S.31-32
74
Anazazi, und freundet er sich in einem Qualmoir285
mit Ovidios von Versschleifer an.
Auch das neue Buchhaim an sich, mit dem Puppetismus, den begehbaren Katakomben
und allen Kreaturen, die sich inzwischen in der Stadt eingefunden haben, kann man
leicht in diesen Begriff des ‚soziokulturellen Kontextes‘ von Gutjahr eingliedern.
DLdTB endet schließlich mit einem deutlichen cliffhanger: Hildegunst befindet sich
abermals einsam, verraten und verlassen in der Dunkelheit der Katakomben. Da Moers
den Roman “aus Gründen seines Umfangs und seiner Komplexität in zwei Bücher
aufteilen“286
musste, kann man eventuell davon ausgehen, dass der zweite Teil die
letztendliche ‚Selbstfindung‘ und ‚soziale Integration‘ von Mythenmetz enthalten
wird287
.
Außerdem scheint auch Hildegunsts ‚intellektueller Wachstum‘ mit dem
Bildungs- und Entwicklungsroman zusammen zu hängen. In dem Zitat von Gutjahr
wurde bereits erwähnt, dass der Bildungsgang dem Reifungsprozess gleichgestellt
werden kann. Bei Lahn & Meister ist zusätzlich die Rede von der „Kindheit und Jugend
des Helden [,die] einen Läuterungsprozess vor[bereiten], der dem Protagonisten
schließlich kritische Selbstkenntnis und damit den Übergang in das reife
Erwachsenenalter ermöglicht.“288
In meiner Bachelorarbeit habe ich bezüglich
desselben Phänomens bereits erläutert, dass Hildegunst
„[d]iesen „Läuterungsprozess“ […] sicherlich beim Schattenkönig, zuvor jedoch
schon bei den Buchlingen [findet], wo er sich selbst einen „Buchlehrling“289
nennt
[Er entdeckt den Läuterungsprozess jedoch auch schon] früher […] bei seinem
Dichtpaten, Danzelot von Silbendrechsler, der ihn literarisch schult und ihm damit
wichtiges Wissen mit auf den Weg gibt.“290
Der Bildungs- und Entwicklungsroman kann jedoch zusätzlich auch als eine
metafiktionale Komponente gesehen werden, was Todd Kontje in seinem Werk Private
Lives in the Public Sphere: The Geman Bildungsroman as Metafiction bereits etabliert
hat. Hierin stellt er fest, dass „most protagonists of these texts [...] avid readers
[Hervorhebungen von K.B.] [sind]. [...] Moreover, most of these characters engage in
some form of artistic production themselves, whether it be as writers, actors, or painters.
285
DLdTB, S.85ff 286
DLdTB, S.429 287
Wobei Todd Kontje sagt, dass Bildungsromane keineswegs immer so enden müssen. Vgl. Kontje:
Private Lives in the Public Sphere, S.12ff 288
Lahn & Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, S.222f 289
DSdTB, S.276 290
Blondeel: „Multiple Adressiertheit“, S.30
75
Direct commentary on the contemporary cultural scene often plays an important role
in these texts as well [...].”291
Übrigens kann diese Aussage auch mit Waughs Zitat auf
Seite 14 dieser Magisterarbeit verknüpft werden. Sie meint nämlich, dass es sich bei
dem metafiktionalen Roman um „a fictional form that is culturally relevant and
comprehensible to contemporary readers“292
handelt. Der metafiktionale Roman ist
aktuell und selbst-kritisch. Kontjes Aussage trifft deutlich auch für Hildegunst zu.
Tatsächlich scheint das Lesen und das literarische Leben auf der Lindwurmfeste sogar
zur Tagesordnung zu gehören, denn
[w]enn ein junger Lindwurmfestebewohner ins lesereife Alter eintritt, bekommt er
von seinen Eltern einen sogenannten Dichtpaten zugeordnet. Das ist meist eine
Person aus der Verwandtschaft oder dem engeren Freundeskreis, welche von
diesem Augenblick an für die schriftstellerische Erziehung des jungen
Dinosauriers verantwortlich ist. Der Dichtpate bringt dem Zögling Lesen und
Schreiben bei, führt ihn an die zamonische Dichtkunst heran, gibt
Lektüreempfehlungen und lehrt ihn das Schriftstellerhandwerk. Er hört ihm
Gedichte ab und bereichert seinen Wortschatz - und so weiter und so fort, lauter
Maßnahmen also, die für die künstlerische Entwicklung seines Patenkindes
nützlich sind.293
Hildegunst von Mythenmetz ist außerdem damit beschäftigt selbst irgendwann ein
erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Dafür geht er auf die Suche nach dem Urheber
eines genialen Manuskripts über das horror vacui, die Angst vor dem leeren Blatt.
Dieses mutmaßlich literarische Genie soll „den leeren Platz [s]eines [verstorbenen]
Dichtpaten ersetzen und [s]ein Lehrmeister werden“294
. Mit seinen eigenen literarischen
Neigungen konfrontiert Hildegunst den Leser jedoch auch mit dessen ‚lesender‘
Tätigkeit. Der ‚avid reader‘ innerhalb des Erzähltextes spiegelt sozusagen das Lesen
vom Leser wider. Hierdurch wird der Leser sich von seiner eigenen Tätigkeit bewusst.
Es handelt sich bei dem Bildungs- und Entwicklungsroman in dieser Form also auch um
self-conscious fiction, und einen metafiktionalen Roman. Auch Aussagen, die sich bei
Kontjes Zitat bezüglich der ‚contemporary cultural scene‘ anschließen, gibt es zuhauf.
So finden wir z.B. eine sehr ausführliche Auflistung der Läden, Handwerke und
Techniken, die sich in Buchhaim mit Büchern und Literatur befassen. Das folgende
Zitat soll als kleiner Einblick in diesen Teil gelten. „In Buchhaim existierten über
291
Kontje: Private Lives in the Public Sphere, S.5-6 292
Waugh: Metafiction, S.18 293
DSdTB, S.12 294
DSdTB, S.30
76
sechshundert Verlage, fünfundfünfzig Druckereien, ein Dutzend Papiermühlen und eine
ständig wachsende Anzahl von Werkstätten, die sich mit der Herstellung von bleiernen
Druckbuchstaben und Druckerschwärze beschäftigte.“295
Die Stadt Buchhaim wird
demnach deutlich mit dem Literaturbetrieb und der Literatur an sich identifiziert. So
meint auch Hildegunst:
Endlich blieb ich an einer Kreuzung stehen, drehte mich noch einmal um die
eigene Achse und zählte dabei die Buchläden, die sich in den abgehenden Straßen
befanden: es waren einundsechzig. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Hier
schienen Leben und Literatur identisch zu sein, alles kreiste um das gedruckte
Wort.296
Hildegunst informiert uns außerdem noch über andere kulturelle Ereignisse, z.B. das
Trompaunenkonzert297
und die Katakomben von Buchhaim298
. Die contemporary
cultural scene, die in unserem Falle an die Literatur und den Literaturbetrieb an sich
gelinkt wird, wird in DSdTB also stark hervorgehoben und weist den Leser auch auf
dessen eigene kulturelle Umgebung hin.
In DLdTB, der Fortsetzung von DSdTB, ist Hildegunst bereits ein etablierter
Schriftsteller. Er meint: „[Ich war] zu jener Zeit, als diese Geschichte begann, schon der
größte Dichter Zamoniens […].“299
Aussagen bezüglich der contemporary cultural
scene finden wir u.a. in den Kommentaren bezüglich des Puppetismus300
. An sich ist es
natürlich nicht verwunderlich, dass wir in beiden Romane auf Bücher und
buchbezogene Handwerke treffen, schließlich zielen die Titel (Die Stadt der
Träumenden Bücher, Das Labyrinth der Träumenden Bücher) ja eindeutig darauf ab.
Wichtig ist allerdings, dass die contemporary cultural scene oftmals mit einer kritischen
Aussage bezüglich des Verschwindens der Bücher oder der Entfremdung ihrer
eigentlichen Funktion verbunden wird. Am Ende dieses Kapitels gehe ich deswegen
auch näher auf diese Problematik ein.
Zurückkehrend zu DLdTB fällt auf, dass sich in Buchhaim nun anscheinend sogar
verschiedene Leute bzw. Kreaturen anhand der Literatur definieren, oder besser, von ihr
und durch sie definiert werden. Der ‚Biblionismus’ bestimmt die ‚literarische Identität‘
295
DSdTB, S.31 296
DSdTB, S.41 297
DSdTB, S. 119 298
Vgl. DSdTB, S.43 299
DLdTB, S.13 300
Vgl. DLdTB, S.197ff.
77
der Einwohner und Besucher Buchhaims. „Der Biblionismus ist der Begriff, der alle
buchnahen wissenschaftlichen Disziplinen, Berufe und sozialen Phänomene – und noch
einiges mehr – in sich vereint. Stell dir das ganze alltägliche Leben rund ums Buch
einfach mal in eine große Tüte gerollt vor, dann hast du den Biblionismus.“301
Ovidios
von Versschleifer, ein Artgenosse der Lindwurmfeste, klärt Hildegunst diesbezüglich
weiter auf.
[…] Da sind Gnömchen. Mumen. Halbhünen. Rübenzähler. Froschlinge.
Nattifftoffen. Grüntaler. Moorkerle. Midgardzwerge. […] Wie soll man da den
Überblick bewahren? Ich sag’s dir: durch Biblionismus. Denn was uns alle hier
vereint, ist unser enges Verhältnis zum Buch. Es ist wie bei einem gedruckten
Satz: Er besteht aus lauter verschieden aussehenden Buchstaben, die scheinbar
willkürlich durcheinander stehen. Aber trotzdem kann man ihn lesen! Und er
ergibt einen Sinn. Man kann sogar darüber lachen, wenn er komisch ist. So
funktioniert Buchhaim. Das ist Biblionismus. […] Der Biblionismus ist keine
Religion und auch kein Verein oder eine Partei. Es ist auch keine wirklich exakte
Wissenschaft mit festen Regeln. Er ist der Geist des modernen Buchhaims.302
Ovidios kann die verschiedenen Personen in seiner Umgebung anhand ihres Aussehens
und ihrem Verhalten in verschiedene ‚biblionistische‘ Kategorien einteilen. So sagt er:
„[I]n diesem Raum befinden sich… öh… ein Bibliophrener… zwei Biblioten… ein
Biblioklast… ein Bibliopath… ein Bibliophober… nein, zwei! Drei Biblionekromaten,
die sind ja nicht zu übersehen… und, äh… ach ja, ein Biblioskop. Und der
unvermeidliche Biblioverse, da hinten an der Theke!“303
Ihm zufolge sind Biblioklasten
von „der Vorstellung besessen, Bücher zerstören zu müssen. Der Typ [zwei Tische
weiter] geht garantiert gleich auf sein Kämmerchen, macht eine gute Flasche Wein auf,
wirft die Bücher in die Badewanne und kippt dann Salzsäure drüber. Das ist das Größte
für ihn.“304
„Bibliomaten sind mechanische Leser […], die überhaupt keinen
Unterschied darin machen, was sie lesen.“305
Die Einwohner von Buchhaim und auch
die Touristen, die Buchhaim besuchen, können demnach anhand ihrer literarischen
Neigungen kategorisiert werden. Diese Auffassung möchte ich an dieser Stelle auch mit
dem Konzept der Enzyklopädik306
verbinden und insbesondere mit der „artistische[n]
301
DLdTB, S.110 302
DLdTB, S.110 303
DLdTB, S.112 304
DLdTB, S.113 305
DLdTB, S.114 306
Siehe für eine ausführliche Erläuterung der Enzyklopädik in DSdTB: Blondeel: “Multiple
Adressiertheit“
78
Enzyklopädik“307
, die vor allem im barocken Roman ihren Höhepunkt erreichte308
.
Hierbei handelt es sich um eine „Konfiguration von Enzyklopädien und Literatur, in
deren Verlauf Literatur enzyklopädisiert, Gestalten, Formen oder Funktionen von
Enzyklopädie annimmt, Enzyklopädie wiederum literarisiert, Gestalten, Formen und
Funktionen von Literatur enthält.“309
Dieses ‚biblionistische‘ Kategorisieren sorgt
dafür, dass Kultur, Verhalten und Identität in Buchhaim quasi identisch werden. Leute
können anhand ihrer biblionistischen Identität beschrieben und verstanden werden. Auf
diese Art und Weise erläutert Moers auch deutlich die contemporary cultural scene des
neuen Buchhaims, nämlich eine, die Kultur, Literatur und das tagtägliche Leben in sich
vereint, sie jedoch, in gewisser Weise, gleichzeitig auch auf diese drei Elemente
reduziert. Die biblionistischen Ausführungen erinnern in dieser Hinsicht auch an die
Redewendung: „Sage mir, was du liest und ich sage dir, was du bist.“310
Hildegunst bzw. Moers reflektiert also, wie bereits erwähnt, innerhalb des Textes
ausführlich und teilweise kritisch über die contemporary cultural scene. Im neuen
Buchhaim werden versteinerte Bücher nun inzwischen als Baumaterial angewandt.
Hildegunst sieht „Bücher als Mauer- und Dachziegel, zu stützenden Säulen gestapelt
und zu Treppen verarbeitet, für Fensterbänke vermauert und sogar als Pflastersteine
eingesetzt.“311
Die Literatur ist in diesem Falle also allgegenwärtig und bietet den
Bewohnern und Besuchern sozusagen ein ‚buchstäbliches Zuhause‘. Gleichzeitig kann
diese Neuigkeit allerdings auch als eine Kritik an dem Gebrauch von Büchern gesehen
werden. Durch Vernachlässigung und Vergessen haben die Bücher ihre ursprüngliche
Funktion, ‚gelesen‘ zu werden, verloren und werden sie schließlich sogar von dieser
entfremdet. Die Bücher werden in ein anderes Medium transponiert, die Architektur.
Auf diese Weise verlieren sie ihre ursprüngliche Bedeutung. Auch Aussagen bezüglich
Literaturkritiker und dem Literaturbetrieb im Allgemeinen können als eine kritische
Reflektion bezüglich der gegenwärtigen Entwicklungen in der literarischen Welt gelten.
In DLdTB fängt das Visuelle, das Theater, langsam an die ‚gelesene‘ Literatur zu
ersetzen. Der Puppetismus profiliert sich als eine eigene, neue und vielleicht sogar
307
Kilcher, Andreas B: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600-2000. München:
Wilhelm Fink Verlag 2003, S.12 308
Vgl. Blondeel: „Multiple Adressiertheit“ 309
Kilcher: mathesis und poiesis, S.12 310
de La Gorçe, Pierre : Rede à l'assemblée de la Société bibliographique, 7. Mai 1920 Verfügbar
http://www.quotez.net/german/sein.htm (besucht 22.05.2012) 311
DLdTB, S.45
79
zugänglicherer Kunstgattung, die die ‚gelesene‘ Literatur von ihrem Thron stößt. Eine
ähnliche Entwicklung sehen wir auch in unserer Wirklichkeit. In dem Zeitalter des e-
books, des Internets, der 3D-Filme und dem Virtuellen im Allgemeinen, fällt es einem
demnach leicht, Moers‘ Texte als eine Kritik auf das ‚Verschwinden‘ von Büchern und
ihren Funktionen zu sehen. In DSdTB wird zu Beginn sogar auf diese ‚Entfremdung‘
hingewiesen.
Und da waren sie, die Träumenden Bücher. So nannte man in dieser Stadt die
antiquarischen Bestände, weil sie aus der Sicht des Händlers nicht mehr richtig
lebendig und noch nicht richtig tot waren, sondern sich in einem Zwischenzustand
befanden, der dem Schlafen ähnelte. Ihre eigentliche Existenz hatten sie hinter
sich, den Zerfall vor sich, und so dämmerten sie vor sich hin, zu Millionen und
Abermillionen in all den Regalen und Kisten, in den Kellern und Katakomben von
Buchhaim. Nur wenn ein Buch von suchender Hand ergriffen und aufgeschlagen,
wenn es erworben und davongetragen wurde, dann konnte es zu neuem Leben
erwachen. Und das war es, wovon all diese Bücher träumten.312
Der eigentliche Wille eines Buches scheint also zu sein, gelesen zu werden. Ansonsten
‚dämmern‘ sie nur vor sich hin, und erfüllen ihren eigentlichen Zweck nicht. In DLdTB
entdeckt Hildegunst sogar den Höhepunkt der Entfremdung:
Gibt es tatsächlich Bücher, die man auf Anhieb nicht also solche erkennt? […] Ich
sah Objekte, die auf den ersten Blick an alles Mögliche erinnerten – an
Pyramiden, an Würste oder Zieharmonikas, nur nicht an Bücher […]! Aber dann
bemerkte ich, dass all diese seltsamen Dinge aus Leder und Papier bestanden,
bedruckte Seiten hatte und mit Büchertiteln und Lesebändchen versehen waren.
[…] Jetzt entdeckte ich auch winzigste Büchlein, die in kleine Glasflaschen oder
Streichholzschachteln passten.313
Nachdem Hildegunst nun also festgestellt, dass es sich dennoch um Bücher handelt,
spricht er den Verkäufer darauf an.
„Das sind alles Bücher?“ fragte ich dämlich und bereute es gleich wieder. „Eben
nicht!“, schnaufte der [dürre bärtige Druide in der Leinenkutte]. „Gewöhnliche
Bücher bekommt man überall! Das sind Unbücher!“314
Der Inhalt des Buches scheint nicht mehr genug zu sein. Inzwischen verkauft man sogar
Bücher in Wurstform, die man „auch scheibchenweise erwerben“315
kann. Das Buch hat
also nicht nur seine ursprüngliche Kodex-Form verloren. Der Inhalt scheint auch gar
keine Rolle mehr zu spielen, sondern sich sogar an der äußerlichen Form zu orientieren.
312
DSdTB, S.33 313
DLdTB, S.54 314
DLdTB, S.55 315
Ebd.
80
Der Verkäufer meint nämlich: „Kommen Sie doch rein! Ich zeige Ihnen die
Pyramidenromane von Humidius von Quakenstamm! Sie spielen alle in einer
dreieckigen Dimension.“316
Diesen Teil des Textes sehe ich insbesondere als eine Kritik
an der Reizüberflutung unserer Zeit. Verlage versuchen immer mehr, anhand der
Umschläge, ihre Ware ins Auge springen zu lassen. Viele Konsumenten kaufen Bücher,
weil ihnen der Umschlag gefällt. Das Buch wird in gewissem Sinne ‚verkleidet‘. Auch
Beispiele wie das Trompaunenkonzert und die Aromaorgel sind Grund zur Annahme,
dass Moers die ‚Reizüberflutung‘ unserer Zeit thematisiert und kritisiert. Das Kritisieren
kultureller Aspekte kann mit Kontjes Aussage bezüglich der metafiktionalen
contemporary cultural scene verbunden werden, denn schließlich denkt der Leser so
eventuell auch über den eigenen kulturellen Kontext nach. Todd Kontje meint auch
noch: „In addition to reflecting on the world around them, the novels also turn inward to
reflect upon themselves."317
In gewisser Weise kann man die Kritik am Literaturbetrieb,
wie auch die Kommentare bezüglich der ‚lügenden Schriftsteller‘ als selbst-reflexive
Eigenschaft des Romans sehen. Schließlich sind Walter Moers und Hildegunst von
Mythenmetz selbst auch Schriftsteller und gehören sie außerdem deutlich dem
Literaturbetrieb an: auch Moers nutzt bestimmte Vermarktungsstrategien, wie
Badewannenstöpsel, Schreibblöcke, Radiergummis und sogar Musicals, um eine
größere Leser- bzw. Hörerschaar anzusprechen. In DSdTB sehen wir deutlich, dass
Hildegunst über seine eigene Position als Schriftsteller innerhalb dieser
Vermarktungsfabrik nachdenkt. Wenn er z.B. auf eine schlecht modellierte
Repräsentation seiner selbst in Form einer Puppe trifft318
oder versucht inkognito durch
die Straßen von Buchhaim zu gehen, während sein Name von ‚lebenden Zeitungen‘
durch den Dreck gezogen wird319
, wird dem Leser schmerzhaft deutlich, wie sehr die
Vermarktung das Ansehen eines Autors und somit eines Werkes beeinflusst.
In diesem Sinne sind DSdTB und DLdTB sicherlich als selbst-reflexive,
metafiktionale Bildungs- und Entwicklungsromane zu perzipieren. Der Protagonist ist
selbst ein begeisterter Leser, der über die eigene Position im gegenwärtigen
literarischen Umfeld nachdenkt. Dadurch wird der Leser an seine eigene lesende
316
Ebd. 317
Kontje: Private Lives in the Public Sphere, S.6 318
Vgl. DLdTB, S.190ff. 319
Vgl. DLdTB, S.194f
81
Tätigkeit erinnert. Die kritischen Bemerkungen bezüglich der contemporary cultural
scene führen dem Leser gleichzeitig auch die eigene Abhängigkeit von Gestaltung von
Umschlägen und Reklame vor Augen. In DSdTB und DLdTB übt Moers auf diese Weise
auch Kritik an dem Literaturbetrieb an sich, was u.a. durch Hildegunsts abfällige
Aussagen bezüglich der schlecht modellierten Puppen und Kritikern wie Laptantidel
Latuda, deutlich gemacht wird.
3.1.5. Das Buch im Buch
Mit diesem Konzept ist in Anne Siebecks Werk Das Buch im Buch. Ein Motiv der
phantastischen Literatur „der Verweis auf bzw. das Erwähnen von Büchern in der
fiktionalen Literatur gemeint.“320
Sie unterscheidet dabei zwischen „der Erwähnung von
bzw. dem Verweis auf tatsächliche Bücher und fiktive Bücher“321
, konzentriert sich in
ihrer Arbeit jedoch ausschließlich auf die Kategorie der fiktiven Bücher. Auch wenn der
Begriff Metafiktion in ihrem Werk nie explizit erwähnt wird, scheint Siebeck jedoch
gerade dieses Konzept anzudeuten. Sie meint nämlich:
Durch die Verdopplung der Lektüre im Buch [Der Held ist selbst auch Leser. Das
Geschriebene kehrt in sich selbst zurück.322
] wird das Buch „auf komplexe Weise
zum Spiegel, nicht der Welt, sondern des Lesens selbst.“323
, doch erst dadurch
kann der Weltbezug thematisiert werden. Dabei wird die perspektivische
Brechung, „als welche der Leser Realität im Buch erfährt“324
vergegenwärtigt:
„Das Buch im Buch, dort wo es Teil der Handlung ist, bringt genau diese für alle
Lektüre grundlegende perspektivistische Brechung ins Bewusstsein.“325
.326
Durch diese ‚perspektivistische Brechung‘ und die Konfrontation mit der ‚doppelten
Lektüre‘ wird dem Leser abermals die linguistic condition vergegenwärtigt: der Held ist
ein Leser, der seine eigene Geschichte liest327
, und genau das erinnert den Rezipienten
daran, dass auch er ‚nur‘ Leser ist und dass es sich hier um ein literarisches bzw.
320
Siebeck, Anne: Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur. Marburg: Tectum Verlag
2009, S.17 321
Siebeck: Das Buch im Buch, S.17 322
Wuthenow, Ralph-Rainer: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt am Main:
Europäische Verlagsanstalt 1980, S.174. Zitiert in: Siebeck, Anne: Das Buch im Buch, S.16 323
Japp, Uwe: „Das Buch im Buch. Eine Figur des literarischen Hermetismus.“ In: Neue Rundschau
1975, 4, S.651-670. Zitiert in: Siebeck: Das Buch im Buch, S.16 324
Ebd. 325
Ebd. 326
Siebeck: Das Buch im Buch, S.16f. 327
Der Held ist selbst auch Leser. Mit dieser Aussage möchte ich an dieser Stelle daher auch
zurückverweisen auf das Kapitel Die Stadt der Träumenden Bücher und Das Labyrinth der Träumenden
Bücher als Bildungs- und Entwicklungsromane.
82
linguistisches Artefakt handelt. Siebeck zufolge, ist das ‚Buch im Buch‘ ein starkes
Gegendstandsmotiv, da
die Buchgläubigkeit […] in der langen Tradition des Buches als Leitmedium
[begründet liegt]. Die Schriftkultur wird als den oralen Überlieferungstraditionen
überlegen wahrgenommen, Bücher dokumentieren, sie enthalten Fakten und
Wissen. […] Ein Buch hat stets die Aura des Seriösen, des Glaubwürdigen, des
Wissens und der Wahrheit. Unabhängig davon, wie das Motiv eingesetzt wird,
spielt der Autor stets mit dieser semiotischen Bedeutung des Zeichens Buch.328
Das Buch im Buch macht einen Text demnach glaubwürdiger, etwas was wir auch bei
dem bereits erwähnten phantom pre-text erkennen können, der ebenfalls eine deutliche
Authentifizierungsfunktion übernimmt, gleichzeitig aber auch an die metafiktionale
linguistic condition erinnert. Siebeck unterscheidet bei dem Buchmotiv fünf Varianten
und fügt zudem den Grenzfall ‚Dummy-Bücher‘ hinzu, „fiktive Bücher, deren Inhalt
von keinerlei Bedeutung für die Handlung ist, bzw. die inhaltsleer sind“329
. Ihr zufolge
können Nachschlagewerke, Zauberbücher, ultimative Bücher, Tagebücher und
Chroniken als Buchmotiv rezipiert werden.330
Siebeck geht in einem eigenen Kapitel
auch spezifisch auf Walter Moers‘ Zamonien-Romane ein, wobei sie sich hauptsächlich
Nachtigallers Lexikon zuwendet, jedoch auch das Leuchtturmtagebuch aus Rumo und
Buchmotive aus DSdTB erwähnt. Ihrer Meinung nach spielt jedoch insbesondere das
Lexikon eine zentrale Rolle331
. Als erste Variante des Buch-im-Buch-Motivs soll hier,
wie bei Siebeck, demnach Nachtigallers Lexikon gelten. Bei diesem handelt es sich
nach eigener Aussage um ein Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung. Siebeck definiert das
‚Nachschlagewerk‘, als etwas, das
viele Informationen in systematischer Aufbereitung [Hervorhebungen von K.B.]
[vereint] (z.B. nach Alphabet oder Themen ordnet), um seinem Benutzer einen
schnellen Zugriff auf Informationen zu ermöglichen. […] Es suggeriert
Objektivität und ist in der Regel in sachlichem, gegebenenfalls
wissenschaftlichem Stil geschrieben. Das Nachschlagewerk ist ein
Gebrauchsutensil, kein ästhetischer Gegenstand. Es zielt auf
Informationsvermittlung ab, seine Aufmachung ist daher möglichst
praktikabel und übersichtlich gestaltet.332
328
Siebeck: Das Buch im Buch, S.17f 329
Siebeck: Das Buch im Buch, S.22 330
Siebeck: Das Buch im Buch, S.20ff 331
Siebeck: Das Buch im Buch, S.79 332
Siebeck: Das Buch im Buch, S.20
83
Das Lexikon übernimmt in den Zamonien-Romanen eine deutliche und außerdem
‚phantastische‘ Authentifizierungsfunktion. Anhand der Erläuterungen innerhalb des
Textes oder am Rande, anhand der Fußnoten, erhält der Leser mehr Informationen über
phantastische Elemente und Begebenheiten. Bezüglich der Fußnoten in DSdTB habe ich
in meiner Bachelor-Arbeit konstatiert, dass „[d]ie Erklärungen der zamonischen
Begriffe in DSdTB […] nicht nur zur ‚zamonischen Bildung‘ des Lesers gedacht [sind],
sondern [auch] die naturalisierenden Absichten des […] Autors [bekräftigen] […].“333
Dazu meint Siebeck zusätzlich: „In Ensel und Krete werden teilweise dieselben Artikel
eingefügt wie [in Käpt‘n] Blaubär. Durch die Querverweise und das wiederholte
Zitieren derselben Auszüge wirkt das Lexikon stringent und plausibel, der erzielte
Wiedererkennungseffekt erhöht die Authentizität des fiktiven Nachschlagewerks.“334
Wie ich bereits im Kapitel der Phantastik erläutert habe, bestärken die Landkarten und
das Lexikon die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Hildegunst und Blaubär.
Gleichzeitig handelt es sich jedoch, meiner Meinung nach, auch um eine metafiktionale
Komponente. Die Konfrontation mit einem anderen literarischen Artefakt, macht den
Leser darauf aufmerksam, dass er einen Text liest und dass die Deskription des
Kontinents und der Figuren für immer eine Deskription bleiben wird. Ein Zitat von
Patricia Waugh, das ich bereits im Kapitel der Typographie erwähnt habe, trifft auch
hier zu: “Elaborate introductions to the novel, footnotes, marginalia, letters to
publishers [Hervorhebung von K.B.]– – inclusion of the physical ‘scaffolding’ of the
text these again are reminders of the text’s linguistic condition.”335
Ab dem Moment,
wo wir also auf ein anderes Medium336
treffen, werden wir an die linguistic condition
erinnert.
Auf Siebecks Definition des Nachschlagewerkes appliziert, scheint das
Nachtigallersche Lexikon jedoch auch einige ironische Noten zu enthalten. Zum ersten
ist das Lexikon nicht wirklich objektiv zu nennen. Insbesondere in Käpt’n Blaubär
erscheint das Lexikon uns und dem Protagonisten eher als subjektive
Informationsquelle. So erfährt der Leser bezüglich der Zwergpiraten: „Trotz oder
333
Blondeel: “Multiple Adressiertheit”, S.39 334
Siebeck: Das Buch im Buch, S.80 335
Waugh: Metafiction, S.97 336
Meiner Meinung nach kann es sich dabei auch um ein nicht-geschriebenes Medium handeln. In diesem
Sinne wäre es sicherlich auch interessant, um die Intermedialität auf ihre Metafiktionalität hin zu
untersuchen.
84
vielleicht gerade wegen ihrer eigentlichen Harmlosigkeit führen sich Zwergpiraten sehr
blutrünstig und rauhbeinig auf. Sie schwingen gerne großmäulige [Hervorhebungen
von K.B.] Reden, die bevorzugt von erfolgreichen Kaperfahrten und fetter Prise
handeln.“337
Außer dass deutlich wird, dass es sich nicht um eine unvoreingenommene
und pur objektive Erläuterung handelt, wird mit diesem selben Zitat auch etabliert, dass
wir es hier nicht unbedingt mit einen ‚sachlichen‘ oder ‚wissenschaftlichen‘ Stil zu tun
haben, da Wörter wie ‚großmäulig‘ und ‚fette Prise‘ normalerweise nicht in einer
Definition eines Nachschlagewerkes vorkommen338
. Nachtigallers Lexikon zielt jedoch
wohl merkbar auf die phantastische Informationsvermittlung ab, und es handelt sich
sicherlich auch um ein Gebrauchsutensil. Prof. Dr. Nachtigaller ‚infiziert‘ Blaubär sogar
mit dem Wissen des Lexikons, wonach Blaubär das Lexikon gewissermaßen in seinem
Kopf mit sich herumträgt. Blaubär bemerkt dazu: „Nachtigaller hatte mir sein
Standardwerk über Zamonien, das sein gesammeltes Wissen über diesen Kontinent und
seine Umgebung enthielt sozusagen telepathisch auf die Festplatte meines Hirns
gebrannt.“339
Der Professor gibt seinen Nachtschülern also „bei der
Abschiedsumarmung […] die Enzyklopädie mit auf den Weg“340
. Den wichtigsten
Voraussetzungen eines Nachschlagewerkes, Zuverlässigkeit und Vollständigkeit der
Informationen, wird jedoch nicht immer nachgekommen. So gerät Blaubär häufig
gerade dadurch in die Probleme, weil das Lexikon ihm nur halbe Informationen
verschafft. Als Blaubär z.B. in der Süßen Wüste auf eine Tornadohaltestelle des Ewigen
Tornados trifft, erklärt ihm das Lexikon zwar, was es mit diesen Haltestellen und dem
Tornado auf sich hat. Es unterbreitet ihm jedoch erst dann die zusätzliche und relativ
wichtige Bemerkung, man solle einen Tornado keineswegs besteigen341
, wenn es schon
zu spät ist. Siebeck bemerkt:
Die Unberechenbarkeit des Lexikons sorgt für komische Effekte und
Spannungsaufbau. Das Buch im Buch kann den Protagonisten in die eine oder
andere Richtung lenken, der Autor schafft somit eine leitende und informative
Instanz. […] Der komische Effekt gipfelt darin, dass der Protagonist
ironischerweise erst am Ende seiner Abenteuer […] feststellt, dass es eine
337
Käpt’n Blaubär, S.19 338
Siehe dazu auch „Language of Fiction“ 339
Käpt’n Blaubär, S.172 340
Siebeck: Das Buch im Buch, S.81 341
Käpt’n Blaubär, S.342-344
85
Bedienungsanleitung für das Lexikon zum gezielten Abruf von Informationen
gegeben hätte, nach der er nur hätte fragen müssen.342
Diese Unzuverlässigkeit könnte man übrigens abermals als versteckte Kritik vonseiten
Moers konzipieren. Vielleicht will er auf diese Weise das blinden Vertrauen der
Menschen in Sachbücher zur Sprache bringen und kritisieren. Schließlich ist nicht alles
was in Büchern steht auch unbedingt wahr. Die Artikel des Lexikons werden von
Blaubär übrigens auch kommentiert und reflektiert343
, was man als eine metafiktionale
Komponente deuten könnte. Schließlich ist dieses Kommentieren und Reflektieren
nichts anderes als ein Deutungsprozess, etwas was der Leser selbst auch mit dem
Erzähltext tut. Blaubär meint nach einer weiteren zweifelhaften Information des
Lexikons:
Das war einer der Ratschläge von der Sorte wie der, man sollte ganz stillhalten,
wenn ein Tyrannowalfisch Rex auf einen zuschwimmt oder ein wütendes Phorinth
mit gesenktem Horn Anlauf nimmt. Mir fiel es sehr schwer, dieser Empfehlung
das nötige Vertrauen entgegenzubringen.344
Soll Blaubär dem Lexikon glauben und sollten wir Blaubärs Äußerungen Glauben
schenken? Der Leser wird sich hier, meiner Meinung nach, von der eigenen, auktorialen
bzw. narratologischen Abhängigkeit bewusst. Dieses Bewusstwerden vom Leser kommt
sicherlich auch dadurch zustande, dass Blaubär selbst nicht als der meist zuverlässige
Erzähler gelten kann. Gleichzeitig bedeutet es zudem, dass der Leser über die eigene
Position nachdenkt, und sich seines Status als Leser bewusst wird: er hat keinerlei
Einfluss auf den Verlauf der Erzählung.
Am deutlichsten scheint im Bezug auf das Lexikon als Buch im Buch jedoch die
Kritik am puren Buchwissen zu sein. Siebeck meint auch:
Bücher können die weltliche Erfahrung nicht ersetzen. Das eigentliche Lernen,
aus dem schließlich Wissen hervorgehen kann, findet erst durch die Verbindung
von Theorie und Praxis statt, welche in Moers‘ Roman in dem durchgehenden
Muster der Kopplung von Situationen und Informationen dargestellt wird.345
Bei Blaubär sehen wir deutlich, dass man mit Buchwissen allein zwar auf dem guten
Weg ist, aber dass man auch wissen muss, wie man dieses Wissen anzuwenden hat.
342
Siebeck: Das Buch im Buch, S.82 343
Siebeck: Das Buch im Buch, S.82 344
Käpt’n Blaubär, S.492 345
Siebeck: Das Buch im Buch, S.85; Diese Feststellung erinnert übrigens auch an die Aussage des
Schattenkönigs, man müsse „Therio und Praxis“ kombinieren, um das Orm zu erreichen. [Vgl. DSdTB,
S.400]
86
Nachdem Blaubär während der ganzen Erzählung Probleme mit dem Gebrauch des
Lexikon hatte, erfährt er am Ende, dass es eine Gebrauchsanweisung gibt. Er hätte also
nur die richtigen Fragen stellen müssen. „Intelligent ist, wer die richtigen Fragen stellt,
nicht, wer alle Antworten kennt.“346
Auch in DSdTB treffen wir auf Varianten des Buchmotivs, die hier sogar
auffällig zahlreich. Zwei davon sind das geheimnisvolle Manuskript, was der Anstoß ist
für Hildegunsts Reise nach Buchhaim, und das giftige Buch, das dafür sorgt, dass
Hildegunst betäubt und verraten in die Katakomben von Buchhaim verschleppt werden
kann. Das geniale Manuskript über das horror vacui „initiiert […] die Handlung“347
.
Außerdem ist der „Schlüsselsatz [des Manuskript-] Textes, Hier fängt die Geschichte an
[Kursivierungen von K.B.], […] auch der Anfangssatz von [DSdTB]. Zusammen mit
seiner Abwandlung als Schlussformel (Denn hier hört die Geschichte auf) rahmt er die
Geschichte ein.“348
Im Bezug auf die Metafiktion ist hier nicht nur das andere Medium,
das geniale Manuskript, innerhalb des eigentlichen Erzähltextes bemerkenswert,
wodurch der Leser, wie bei dem Lexikon auf die linguistic condition hingewiesen wird.
Der Anfangs- und der Schlusssatz des Manuskripts und des Romans spielen auch
inhaltlich eine große metafiktionale Rolle. Durch diese beiden Sätze verweist der Autor
nämlich schon auf die Fiktionalität der Erzählung. Er nennt DSdTB eine ‚Geschichte‘.
Hiermit wird die Konstruiertheit des Erzähltextes angedeutet, und wird der Rezipient
sich seiner Rolle als Leser bewusst. In DLdTB finden wir übrigens eine Variante
desselben Satzes. Auf der ersten Seite des Erzähltextes lesen wir: „Hier geht die
Geschichte weiter. Sie erzählt, wie ich nach Buchhaim zurückkehrte und zum zweiten
Mal hinabstieg in die Katakomben der Bücherstadt.“349
Auf der letzten Seite des
Erzähltextes von DLdTB wird der ursprüngliche Satz noch einmal wiederholt: „Hier
fängt die Geschichte an.“350
und sogar Walter Moers bemerkt in seinem Nachwort ganz
am Ende: „[W]ie bereits von Mythenmetz verheißen: Die wirkliche Geschichte fängt
hier in der Tat erst an. Alles Bisherige war nur Ouvertüre.“351
Mithilfe der
unterschiedlichen Variationen wird ständig auf eine selbe Tatsache verwiesen: es
346
Siebeck: Das Buch im Buch, S.85 347
Siebeck: Das Buch im Buch, S.89 348
Ebd. 349
DLdTB, S.9 350
DLdTB, S.427 351
DLdTB, S.430
87
handelt sich um eine Geschichte und nicht um eine (Auto)Biographie oder eine
‚historische Widergabe der Ereignisse‘. Diesen Anfangs- und Schlusssatz können wir
demnach deutlich mit self-conscious und self-reflexive fiction und also mit der
Metafiktion verbinden.
Das giftige Buch, das zweite Buchmotiv, das von Siebeck bezüglich DSdTB
erwähnt wird, übernimmt eine andere Rolle auf dem Gebiet der Metafiktion. Siebeck
verbindet dieses Konzept insbesondere mit den giftigen Büchern in Umberto Ecos Der
Name der Rose und in Tausendundeine Nacht und zielt damit auf die enttäuschten oder
erfüllten Erwartungen352
des Lesers ab. Gleichzeitig verweisen diese intertextuellen
Referenzen jedoch auch auf den literarischen und linguistischen Charakter des
Zamonien-Romans. Bachtin meint, dass „[die] einzige Macht [des „Schreibers“ darin]
besteht […], die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne
sich jemals auf eine einzige davon zu stützen.“353
Der Leser wird mithilfe der
Intertextualität abermals darauf hingewiesen, dass ein Text nur eine Komposition, eine
Zusammenstellung vereinzelter Komponenten ist. Die Intertextualität kann demnach
auch mit der Metafiktion verbunden werden, worauf ich zwar gerne mehr eingehen
würde, was jedoch die Grenzen meiner Magisterarbeit weit überschreiten würde. Die
Konstatierung einer Verbindung zwischen der Metafiktion und der Intertextualität sollte
an dieser Stelle demnach als Aufruf zu bzw. Ausblick auf weitere(n) Studien zu diesem
Thema gesehen werden. Es ist deutlich, dass die Intertextualität den Leser, der diese
intertextuellen Verweise auch als solche erkennt, eigentlich fast daran erinnern muss,
dass er es hier mit einem Artefakt, einer Komposition zu tun hat. Wie ich, bezüglich
anderen Aspekten auch schon erwähnt habe, wird hierzu jedoch auch die Mitarbeit des
Lesers unterstellt. Außer in den Zamonien-Romanen, finden wir diese metafiktionale
Intertextualität übrigens auch in WR, einem Roman, den ich bei der Besprechung des
Buchmotivs bis jetzt außer Acht gelassen habe, da das Konzept von Buch im Buch hier
nicht so nachdrücklich anwesend ist, wie in DLdTB, DSdTB und Käpt’n Blaubär. Wie
ich bereits erwähnt habe, werden hier zwar unterschiedliche reale Autoren und ihre
Werke genannt, wie Dante, Ariost und Cervantes. Da Siebeck sich jedoch
ausschließlich mit Verweisen auf fiktive Bücher befasst, wird WR in ihrem Werk nicht
352
Siebeck: Das Buch im Buch, S.91 353
Barthes: „Der Tod des Autors“ In: Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft.
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.190
88
analysiert. Die intertextuellen Verweise scheinen mir hier, bezüglich der Metafiktion,
dennoch erwähnenswert.
Als letztes Buchmotiv erwähnt Siebeck das Leuchtturmtagebuch von Dr.
Kolibril aus Rumo, was bereits im Kapitel der Typographie erwähnt wurde. „Die Zitate
aus dem Buch sind durch eine eigene Schriftart, die mit geschwungenen Buchstaben
eine Handschrift imitieren soll, vom restlichen Text abgehoben.“354
Inhaltlich erweist
sich dieses Tagebuch jedoch auch als metafiktional, denn
[m]it dem letzten Eintrag355
ändert sich die Adressierung des Tagebuches. Der
eigentliche dokumentierende und selbstreflexive Charakter dieser Buchform wird
durchbrochen und ein fremder Leser direkt angesprochen. Der inhaltliche Zweck
des Buchs wird nun ersichtlich: Der Text soll den Leser im Buch in seiner
gegenwärtigen Lesesituation warnen, indem die drohende Gefahr des Ortes
verdeutlicht wird, an dem sein Leser sich befindet.356
Der Leser des Tagebuches ist in diesem Fall jedoch nicht nur die Figur Smeik, der sich
über das Verschwinden des Doktors wundert, sondern auch der Modell-Leser des
Moersschen Erzähltextes. Meiner Meinung nach ist nicht nur das Einführen eines
anderen Mediums hier metafiktional zu nennen, sondern auch das direkte Ansprechen
des Lesers des Tagebuchs357
. Der Modell-Leser und Smeik werden sich ihres eigenen
Status bewusst, sie lesen die Erinnerungen einer anderen Person. Außerdem finden wir
auch hier intertextuelle Verweise auf Tagebücher als bekanntes Strukturelement. „Das
Buch im Buch als Tagebuch ist ein romantisches Strukturelement, wie es etwa als
Erzähleinlage in Goethes Wahlverwandtschaften oder Defoes Robinson Crusoe
auftritt.“358
Siebeck zufolge „pflegt [Moers] in seinen Zamonien-Romanen eine spielerische,
zunehmend intensive Auseinandersetzung mit Literatur, der Rolle des Autors und dem
Literaturbetrieb.“359
Das sehen wir unter anderem durch die unterschiedlichen
Autorinstanzen und die vielen komisch-kritischen Aussagen bezüglich der
354
Siebeck: Das Buch im Buch, S.92 355
„Sollten diese Aufzeichnungen von jemandem gefunden werden, der kein Nebelheimer ist, dann
mögen sie als Warnung dienen: Du, der du diese Aufzeichnungen gerade liest – flieh! Flieh, solange du
noch kannst! Es klopft an der Tür. Sie sind gekommen. Sie sind gekommen, um mich zu holen.“ [Rumo,
S.283] 356
Siebeck: Das Buch im Buch, S.94 357
Das direkte Ansprechen des Lesers erinnert in diesem Sinne auch an die „aufsteigende Metalepse“.
[Vgl. dazu Klimek: Paradoxes Erzählen, S.164ff] 358
Siebeck: Das Buch im Buch, S.95 359
Siebeck: Das Buch im Buch, S.95
89
Literaturkritiker und dem Literaturbetrieb. Aber auch das Konzept Buch im Buch weist
auf einen selbst-bewussten und selbstreflexiven Umgang mit Literatur und ihren
Funktionen hin. Die Moers-Romane sind in dieser Hinsicht also sicherlich metafiktional
zu nennen. Das Buchmotiv beweist, dass, im Sinne der Intermedialität, auf andere
literarische Medien hingewiesen wird. Inhaltlich sind diese Buchmotive jedoch auch
nochmal mit anderen Aspekten, wie der Intertextualität, der Typographie oder anderen
Fiktionalitätssignalen verbunden, die deutlich auf einen metafiktionalen Charakter
hinweisen.
3.1.6. Die Parodie
Metafiktion scheint, wie bereits erwähnt, nicht so sehr ein Genre an sich zu sein,
sondern eine Eigenschaft bzw. eine Form des Romans, wodurch stilistische,
linguistische oder formale Konventionen hervorgehoben und in Frage gestellt werden.
„Metafiction [...] offers both innovation and familiarity through the individual
reworking and undermining of familiar conventions.”360
Der Modell-Leser wird
hierdurch ein aktiver Leser. Er erkennt dieses selbst-bewusste Umgehen mit
literarischen Aspekten, wird mit der Variabilität des Romans konfrontiert und reflektiert
anschließend womöglich selbst auch über die Realität-als-Konstrukt.361
Der
metafiktionale Roman ‚parodisiert‘ jedoch auch die stilistischen oder kanonisierten
Genres. Bachtin meint: “Parodic stylization of canonized genres and styles occupy an
essential place in the novel.” Über die Parodie werden die alten, aber anders
gebrauchten, Konventionen hervorgehoben. Hierzu mein Waugh:
The well-worn conventions of realism or of popular fiction are used to establish a
common language which are then extended by parodic undermining and often
amalgamated with cultural forms from outside the mainstream literary
tradition [Hervorhebung von K.B.], including journalese, television influences such
as soap opera, cinematic devices and the effects of such genres as space opera.362
Waugh zufolge werden die Konventionen also durch die Parodie untergraben und
oftmals kombiniert mit kulturellen Formen, die von außerhalb der literarischen
Tradition kommen. Ein gutes Beispiel der Integration eines neuen, modernen Mediums,
ist das ‚filmische Schreiben‘ in DSdTB, was ich bereits in meiner Bachelorarbeit
360
Waugh: Metafiction, S.12 361
Bachtin: The Dialogic Imagination, S.6 362
Waugh: Metafiction, S.64
90
erwähnt habe. Hierbei werden Eigenschaften des Films in einen Roman inkorporiert, ein
Aspekt, den wir auch der Intermedialität zuordnen können. In „Multiple Adressiertheit“
bemerkte ich bereits, dass Moers sich bei der Beschreibung der fallenden
Bücherschränke363
und der „Bahn der Rostigen Gnome“364
in den Katakomben in
DSdTB „Altgeld zufolge […] von einer filmischen Vorlage des ersten Teils [und des
Teils „Und der Tempel des Todes“] der bekannten Trilogie der „Indiana Jones“-
Filme365
[hat] inspirieren lassen.“366
Zusätzlich, berichtet Altgeld, gibt es bei Moers dieselben „Intensitätswechsel der
Rasanz […] – von langsam bis rasend - , wie sie bei „Indiana Jones zu sehen
sind.“367
Altgeld zufolge haben wir es hier mit einer „nahtlosen Einfügung von
Fremdmaterial“368
zu tun.
Auch das Integrieren von Tagebüchern, abwechslungsreichen Dialogen, die an den
Comicstil erinnern, und abweichende Typographie im Allgemeinen, kann als
intermedialer Einschub kultureller Formen ‚from outside the mainstream literary
tradition‘ gesehen werden. Insbesondere Moers‘ Zeichnungen, die wir in großem Maße
in allen Moersschen Romanen finden, weisen auf Intermedialität369
und ein bewusstes
Umgehen mit anderen Medienformen hin. Diese Zeichnungen kann man übrigens auch
„mit der Graphic Novel [verbinden] […].“370
Waugh zufolge kommt es in metafiktionalen Romanen jedoch auch zu einem
‚parodic undermining’ alter Konventionen. Diese werden zur Schau gestellt und in ihre
Strukturen zerlegt, wodurch sie für den Leser sichtbar gemacht werden. Dass Moers
DSdTB aus verschiedenen Genres371
und Konventionen zusammengestellt hat, habe ich
in meiner Bachelorarbeit bereits nachgewiesen. Darin nenne ich unter anderem die
Queste, die Schauer- und Gruselliteratur bzw. die Gothic Novel und die Biographie372
.
363
DSdTB, S.177 364
DSdTB, S.300 365
Altgeld: Intertextualität und Intermedialität, S.80 366
Blondeel: “Multiple Adressiertheit”, S.35f 367
Altgeld: Intertextualität und Intermedialität, S.80 368
Altgeld: Intertextualität und Intermedialität, S.81 369
Siehe für weitere Aspekte der Intermedialität in DSdTB: Blondeel: „Multiple Adressiertheit“, S.32-36.
Für eine ausführliche Beschreibung der Intermedialität an sich und in DSdTB und WR verweise ich
zusätzlich auf folgende Werke: Rajewsky, Irino O.: Intermedialität. Tübingen und Basel: A. Francke
Verlag 2002; Altgeld, Jan-Martin: Intertextualität und Intermedialität in Walter Moers‘ «Wilde Reise
durch die Nacht» und «Die Stadt der träumenden Bücher», Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2008 370
Blondeel: „Multiple Adressiertheit”, S.10 371
Blondeel: „Multiple Adressiertheit“, S.25-32 372
In dieser Hinsicht würde ich gerne eine kleine Korrektur in „Multiple Adressiertheit“ vornehmen. Hier
wäre wahrscheinlich der ‚(auto)biographische Roman‘ ein besseres Konzept gewesen, als die Biographie.
91
Ein sehr gutes Beispiel von einem parodistischen Untergraben in DSdTB ist ein Zitat,
das ich auch schon in „Multiple Adressiertheit“ erwähnt habe.
Es gibt etliche Werke der Zamonischen Schauerliteratur, in denen ein Held in eine
ähnliche Situation gerät. Eine Situation, in der man als Leser am liebsten das
Buch anschreien möchte: »Geh nicht! Geh da bloß nicht rein, du Idiot! Das
ist eine Falle!« Aber dann lässt man das Buch sinken, lehnt sich zurück und
denkt »He – wieso eigentlich nicht? Soll er doch reingehen! [Hervorhebungen
von K.B.] Da drinnen lauert bestimmt eine hundertbeinige Riesenspinne, die ihn
in einen Kokon einwickeln will oder so was – das wird bestimmt lustig. Das ist
schließlich der Held der Zamonischen Schauerliteratur, der muss das aushalten
können.« Und er geht natürlich rein, der Held der Zamonischen Schauerliteratur,
gegen jede Vernunft, und prompt wird er von einer riesigen hundertbeinigen
Spinne in einen Kokon eingewickelt oder so was. Aber nicht mit mir! Ich würde
nicht hineingehen. Ich war gebrannt und fallengeprüft durch schmerzliche
Erfahrung, ich war kein stupider Held, der zur Befriedigung niedriger
Unterhaltungsbedürfnisse sein Leben riskierte! Nein, ich würde nicht
wirklich hineingehen – ich würde nur ein biβchen hineingehen. Denn was
konnte daran schon verkehrt sein? Ein paar Schritte nur, sich mal kurz
umschauen, dabei immer schön die Tür im Auge behalten. Ich würde mir ein Bild
machen, und wenn irgendwas nicht geheuer wäre, sofort wieder umkehren.373
Hier werden also deutlich die Konventionen des typischen Schauerromans parodisiert.
Hildegunst denkt über seine eigene Situation und die möglichen Erwartungen des
Lesers eines Schauerromans nach. Insbesondere die Aussagen über den Leser zu
Anfang des Zitats weisen auf eine metafiktionale und ‚parodisierende‘ Komponente hin.
Zum ersten spielt der Autor hier mit dem typischen Schauerroman, indem er die
Strukturen bzw. den Spannungsaufbau dieses Genres bloßlegt. Dadurch kann es
einerseits zu einem Spannungsverlust kommen, da der Leser über die Situation und die
möglichen Folgen schon vorher aufgeklärt wird. Andererseits kann der Aufschub des
eigentlichen Betretens von Schloss Schattenhall auch dazu führen, dass die Spannung
widerhergestellt wird. Zum Zweiten wird so jedoch auch ein komischer Effekt kreiert,
da der Protagonist, sogar nach einer ausführlichen Analyse der eigenen Situation, sich
dennoch dazu entschließt das geheimnisvolle Schloss Schattenhall zu betreten. Auch
Hutcheons Bemerkung bezüglich der Parodie scheint in dieser Hinsicht erwähnenswert
zu sein. Sie meint nämlich: “By reminding the reader of the book’s identity as artifice,
the text parodies his expectations, his desire for verisimilitude, and forces him to an
awareness of his own role in creating the universe of fiction.” 374
Das Gleiche sehen wir
373
DSdTB, S.324f 374
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.139
92
auch in dem zuletzt genannten Moers-Zitat: durch das Hervorheben der literarischen
Techniken ‚parodisieren‘ Hildegunsts Aussagen die Erwartungen des Lesers, wodurch
dieser sich von seiner eigenen Rolle bewusst wird. Hutcheon meint außerdem:
Parody is [...] an exploration of difference and similarity; in metafiction it invites
a more literary reading, a recognition of literary codes. But it is wrong to see the
end of this process as mockery, a ridicule, or mere destruction. Metafiction
parodies and imitates as a way to a new form which is just as serious and valid, as
a synthesis, as the form it dialectically attempts to surpass.375
Hierin sehen wir auch deutliche Parallelen mit Bachtins dialogic method. Der Roman
verändert sich kontinuierlich, indem er einzelne Aspekte von anderen Genres oder sogar
extra-literarischen Medien inkorporiert und zu etwas Neuem zusammenfügt. Außerdem
erinnert der Satz ‚in metafiction it invites a more literary reading’ auch an die
Bedingung der Phantastik376
, phantastische Texte seien ‚wortwörtlich‘ zu verstehen und
man solle sie nicht ‚poetic‘ oder ‚allegorical‘ lesen. Hutcheon sieht in der Parodie auch
einen Weg zu einer neuen (Roman)Form, welche genau so ernst genommen werden
sollte, wie diese Formen, die sie integriert und parodisiert.
In Narcissistic Narrative lesen wir bezüglich der Parodie außerdem auch:
Another operation is at work in metafictional parody, however, and this the
formalists called “defamiliarization”. The laying bare of literary devices in
metafiction brings to the reader’s attention those formal elements of which,
through over-familiarization, he has become unaware. 377
Durch die Parodie werden bestimmte literarische Konventionen ans Licht gebracht, es
kommt zu einer ‚defamiliarization‘. Bekannte, ältere literarische Konventionen werden
von ihrer ursprünglichen Funktion entfremdet und zur Schau gestellt. Eingebürgerte
literarische Techniken sind weniger auffällig und werden nicht mehr als deutliche
Konventionen perzipiert. Eine ähnliche Bemerkung habe ich übrigens auch schon im
Kapitel „Typographie“, bezüglich dem Gespräch zwischen dem Zamomin, Blaubär und
Nachtigaller, gemacht378
, wo ich schlussfolgerte, dass der metafiktionale Blick bzw. der
metafiktionale Effekt rezipientgebunden ist. Wenn zwei Leser während ihres gesamten
Lebens immer unterschiedliche Literaturgenres gelesen haben, wird Leser A
wahrscheinlich mit anderen Aspekten der Literatur ‚zu viel‘ vertraut sein (over-
375
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.25 376
Siehe Kapitel “Die Phantastik“ 377
Hutcheon: Narcissistic Narrative, S.24 378
Siehe S.27ff dieser Magisterarbeit.
93
familiarization), als Leser B, und umgekehrt. Folglich würden Leser A auch andere
Deviationen bezüglich Genre oder Typographie auffallen, als Leser B. Ähnlich wie bei
der Intertextualität wird die Interpretation und die Auffälligkeit eines metafiktionalen
Aspekts, meiner Meinung nach, mit dadurch bestimmt, was der Modell-Leser in seinem
Leben zuvor schon gelesen hat. Bei Barthes lesen wir diesbezüglich:
Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen
Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander
in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und
dieser Ort ist nicht der Autor […], sondern der Leser.379
Die Interpretation und somit auch der parodistische Effekt finden ihre Bestimmung also
erst beim Modell-Leser während des Leseprozesses. Auch hier lässt sich demnach ein
starker Zusammenhang zwischen Metafiktion und Intertextualität feststellen. Eine
Frage, die man sich stellen könnte, wäre nun: Ist alle Intertextualität auch Metafiktion
bzw. ist alle Metafiktion auch Intertextualität? Um diese Frage zu beantworten, müsste
man ihr eine eigene Studie widmen. Es scheint mir jedoch plausibel, vorsichtig zu
behaupten, dass wenigstens alle erkannte Intertextualität gleichzeitig auch als
metafiktionale Komponente perzipiert werden kann. Ab dem Moment, wo man nämlich
eine intertextuelle Parallele zieht zwischen dem Text, den man gerade liest, und einem
älteren Text, aus dem die implizite oder explizite Referenz stammt, ist man sich
eigentlich auch davon bewusst, dass man etwas liest, dass es sich um ein literarisches
Artefakt handelt, welches vom Autor zusammengestellt wurde, und dass man selber
auch eine schöpfende bzw. interpretierende Funktion hat.
Ein weiteres Beispiel aus der Moersschen Feder ist Ensel und Krete. Ein Märchen
aus Zamonien. Schon auf der Umschlagseite ist die Parodie offensichtlich: Es handelt
sich um eine ‚Bearbeitung‘ von dem uns bekannten Märchen der Gebrüder Grimm
Hänsel und Gretel, oder das denkt man zumindest zu Anfang des Romans. In einer
Mythenmetzschen Abschweifung parodisiert der Autor bzw. Hildegunst von
Mythenmetz in gewissem Sinne nämlich die expliziten Erwartungen des Lesers.
Nun, bis zu dieser Stelle wird Ihnen dieses zamonische Märchen bekannt
vorgekommen sein, nicht wahr? Oder zumindest das gleichnamige Kinderlied:
Ensel und Krete, die gingen in den Wald… Nur die leicht modernisierte Fassung,
die Sache mit dem Buntbärenwald, hat Sie bei der Stange gehalten, stimmt’s? Tja,
379
Barthes: „Der Tod des Autors“ In: Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft.
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 2000, S.192
94
das war ein kleiner professioneller Trick, um Sie dazu zu veranlassen, bis hierhin
durchzuhalten – wenn Sie diesen Satz lesen, sind Sie drauf reingefallen.380
Mit diesem (metaleptischen) Kommentar deutet Hildegunst nicht nur an, dass er die
Erwartungen des Modell-Lesers, der mit ‚unserem‘ Hänsel und Gretel vertraut ist,
parodisiert. Auf der Ebene der histoire enttäuscht bzw. parodisiert Hildegunst,
theoretisch gesehen, auch die Erwartungen des ‚zamonischen‘ Lesers, der das
zamonische Märchen Ensel und Krete kennt. Der Leser, ob zamonisch oder real, wird
sich hier deutlich seiner Position als Rezipient und ‚Opfer‘ der literarischen Techniken
bewusst. Gleichzeitig könnte man dieses Reduzieren zum puren „Konsument“381
jedoch
auch als einen Widerspruch zu Bachtins Auffassung des aktiven Lesers, des Lesers als
Schöpfer, auffassen. Hildegunst will dem Leser in seinen metanarrativen Kommentaren
nämlich in gewisser Hinsicht deutlich machen, dass er selbst derjenige ist, der den
Verlauf der Erzählung und somit auch die ‚Reaktionen‘ des Lesers steuert.
Ein weiteres Beispiel der Parodie in den Moersschen Romanen ist WR. Wie ich
bereits erwähnt habe, handelt diese Erzählung von dem jungen Gustave Doré, der sechs
Aufgaben lösen muss, um dem Tod zu entrinnen. Während er nun versucht diese
Aufgaben zu bewältigen, bekommt er Gehilfen zur Verfügung gestellt. Ich habe zuvor
jedoch bereits konstatiert, dass alle diese Gehilfen sich letztendlich als ‚Diener des
Todes‘ entpuppen. An sich kann dies schon als (tragische) Parodie gelten, wenn man
WR mit einem Abenteuerroman oder eine Queste verbindet. In diesen Erzählungen trifft
der Held nämlich fast ausschließlich auf ‚gute‘ Gehilfen, während die schlechten bzw.
hinterhältigen schon von Anfang an mit schlechten Eigenschaften markiert werden.
Auch hier spielt der Autor also in gewisser Weise mit den Erwartungen und Hoffnungen
des Lesers.
Dieses Enttäuschen bzw. Parodisieren der Erwartungen, oder besser, das
Überraschen mit abweichenden und, im metafiktionalen Sinne, teilweise
durchschaubaren Erzählstrategien, scheint sich wie ein roter Faden durch Moers‘ Werke
zu ziehen. Wir finden es in Form des unzuverlässigen Lexikons in Käpt’n Blaubär,
beim übergewichtigen Anti-Helden Hildegunst von Mythenmetz, bei den ‚schlechten‘
Gehilfen in WR, bei der Märchen-Farce in E&K und auch in den anderen Romanen. Die
Parodie ist allgegenwärtig und bestimmt in gewisser Weise auch den humoristischen,
380
E&K, S.40 381
E&K, S.40
95
selbst-reflexiven Ton der Romane. Durch das Bloßlegen und Parodisieren bestimmter
veralteter, literarischer Konventionen, konstatiert der Leser, dass es sich um ein
literarisches Artefakt handelt und dass die Welt, die er rezipiert niemals etwas mehr sein
wird als eine Deskription. Die Parodie kann sich dadurch sehr einfach in einem Genre
wie der Phantastik zurechtfinden, denn schließlich zielen beide auch eine wortwörtliche,
und keine allegorische oder poetische Lektüre des Textes ab. Diese Parallele könnte
übrigens auch einer der Gründe dafür sein, wieso es so viele Quellen gibt bezüglich der
Kombination Phantastik-Metafiktion gibt.
96
4. Fazit
In dem Kapitel bezüglich der Phantastik habe ich zuerst nachgewiesen, dass die
Moersschen Romane viele der phantastischen Merkmale in sich tragen. Zwei der
wichtigsten Aspekte waren hierbei, dass der Leser sich bewusst auf die Fiktionalität der
Erzählung einlassen und dass es zudem einen realistischen Bezugspunkt geben muss.
Die phantastischen Ereignisse müssen also in einem realistischen Rahmen stattfinden,
um die willing suspension of disbelief verantworten zu können. Außerdem helfen der
narrated (‚dramatized‘) narrator und der average man-Protagonist dem Leser jeweils,
um in einem Zustand des Zweifels bezüglich des Realitätsgehalts der phantastischen
Ereignisse zu bleiben, und um sich besser mit dem Protagonisten identifizieren zu
können. Auch phantastische Elemente wie die Karte von Zamonien und das Lexikon der
erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller haben sich als eine Unterstützung für das
So-Tun-Als-Ob erwiesen. Bei der Phantastik geht es also vor allem darum, dass
phantastische mit realistischen Elementen kombiniert werden. Außerdem sollte ein
phantastischer Roman nicht auf allegorische oder poetische Weise gelesen werden. In
der Phantastik geht es gerade um ‚übernatürliche‘ Geschehnisse, die auch als solche
interpretiert werden sollten.
Auch die Metafiktion scheint ein deutlicher Bestandteil der Moersschen Romane
zu sein. In den sieben phantastischen Romanen tritt die Metafiktion zwar nicht immer in
derselben Form auf. Sie ist jedoch zweifellos in jedem der sieben anwesend. In dem
Kapitel „Language of Fiction“ habe ich konstatiert, dass der Leser durch die Opposition
unterschiedlicher Register und Jargons, auf bestimmte Wörter aufmerksam gemacht
wird. Diese werden hervorgehoben und dem Leser durch ihre Deviation vor Augen
geführt. Der Leser wird in diesem Moment mit der linguistic condition konfrontiert. Er
merkt, dass die Erzählung nur ein literarische Konstrukt ist. Außerdem scheint hier auch
die Phantastik eine deutliche Rolle zu spielen. Das foregrounding wird nämlich auch
von neologistischen, pejorativen oder fremdsprachlichen Wörtern verursacht. Zu den
Neologismen zählen auch die phantastischen Komposita, die Moers sehr häufig
verwendet, um einen zamonischen Aspekt zu beschreiben. In diesem Sinne kann der
Sprachgebrauch also auch als Katalysator für die phantastische Leseerfahrung auftreten
und eher als illusionsverstärkend als illusionsbrechend gelten.
97
Bei der Typographie wurde deutlich, dass Metafiktion sich auch in den
abweichenden Schriftzügen verstecken kann. Allerdings scheint der metafiktionale
Aspekt hier auch leserabhängig zu sein. Ab dem Moment, wo sich eine Konvention
häufig genug profiliert hat, verliert sie ihren Neuheitsgrad und wird sie nicht mehr
unbedingt als metafiktional, sondern eher als ,normal‘ perzipiert. Der Leser muss den
metafiktionalen Prozess also vervollständigen, damit dieser sich ausreichend profilieren
kann.
Als nächstes bin ich auch die Autorschaft bei Walter Moers, Käpt’n Blaubär und
Hildegunst von Mythenmetz eingegangen. Die beiden erste erwiesen sich bereits als
interessant. Moers‘ Position schien anfangs die eines ‚toten Autors‘ zu sein, was sich
auch der Auffassung der metafictionists anschloss. Gerade dadurch, dass Moers in den
Hintergrund verschwindet, wird der Leser auf die abweichende Autorschaft
aufmerksam gemacht. Es stellte sich zusätzlich heraus, dass Moers über die
Übersetzerfiktion indirekt dennoch Zugriff und Einfluss auf seine Texte hatte. Wie Ilana
Shiloh382
in ihrem Zitat schon feststellte, scheinen metafiktionale Texte oftmals das
Abbröckeln der Autoschaft zu demonstrieren. In Wirklichkeit haben wir es jedoch mit
dem Gegenteil zu tun. Käpt’n Blaubär erwies sich in dem nächsten Kapitel dann, nach
Ablehnung des autobiographischen Romans, dem autobiographischen Erzählen und der
Autofiktion als fiktiver pseudo-biographischer Roman.
Die frappanteste Manifestation einer metafiktionalen Komponente habe ich
insbesondere bei der Autorschaft von Hildegunst von Mythenmetz konstatieren können.
In dem entsprechenden Kapitel habe ich gezeigt, dass die Metafiktion hier zwar
offensichtlich durch die Mythenmetzschen Abschweifung, eine Metalepse auf der Ebene
der histoire, auftritt. Diese Komponente kann hier jedoch nicht nur als ein
Fiktionalitätssignal, als ein Hinweis auf die linguistic condition, interpretiert werden.
Kombiniert mit dem Fiktionalitätspakt, dem autobiographischen Pakt von Lejeune und
dem referentiellen Ich von Käte Hamburger, wird die Fiktion von Hildegunst als
tatsächlichem Autor sogar noch bestärkt. Hildegunsts Position wird zusätzlich durch
mehrere Referenzen in dem selben oder in anderen Moersschen Texten und durch seine
Vorstellung als literarisches und rebellisches Genie im Sinne der Stürmer und Dränger
bestärkt. Hildegunsts literarische und auktoriale Position ist jedoch auch deswegen
382
Siehe S.45 dieser Magisterarbeit.
98
interessant, weil sie uns auf einen ironischen Aspekt bezüglich der Zuweisung der
Autorschaft aufmerksam macht. Die Romane stehen dem Konzept der Autorschaft
anscheinend eher kritisch bzw. ironisch gegenüber und scheinen eine deutliche
Zuweisung anscheinend vermeiden zu wollen. Moers degradiert sich zum Illustrator und
Übersetzer und ernennt jemanden anders zum mutmaßlichen Schöpfer seiner Werke.
Außerdem ist Moers öffentlichkeitsscheu und er äußert sich in Interviews, die er nur per
Mail gibt, oftmals abfällig bezüglich der Kritikerkultur und dem Literaturbetrieb im
Allgemeinen. Auch die pejorativen Aussagen innerhalb der Erzähltexte über Laptantidel
Latuda, die Mythenmetzpuppe und die Unbücher weisen auf eine eher negative und
sicherlich kritische Moerssche Wahrnehmung des Literaturbetriebs hin. Er scheint mit
seiner auktorialen Abwesenheit ein Statement bezüglich der Position des Autors, der
Literatur und des Literaturbetriebs machen zu wollen. Gleichzeitig postuliert er jedoch
Hildegunst von Mythenmetz: genial, leicht pedantisch, auffällig, extravertiert und
bestimmend. Je mehr Moers sich in den Hintergrund zieht, desto stärker wird auch
Mythenmetz. Mythenmetz scheint in dieser Hinsicht alles zu sein, was Moers nicht ist.
Erwähnenswert ist auch der phantom pre-text, der genau wie der autobiographische
Pakt und das referentielle Ich eine Authentifizierungsfunktion übernimmt. Der Leser
versucht, mithilfe kleiner Indizien des Autors, den ursprünglichen Text zu
rekonstruieren. Als Leser wird man sich hierbei demnach abermals davon bewusst, dass
der Erzähltext eine Komposition unterschiedlicher Teile darstellt, was man leicht mit
der Intertextualität verknüpfen kann. Die Intertextualität weist, meiner Meinung nach,
einen starken Bezug zur Metafiktion auf. Eine Studie bezüglich der Verbindung
zwischen der Metafiktion und der Intertextualität scheint mir deswegen sicherlich
gerechtfertigt zu sein und soll an dieser Stelle als Ausblick gelten. Leider hätte eine
Integration der Intertextualität den Rahmen meiner, bereits sehr ausgebreiteten,
Magisterarbeit gesprengt, wodurch ich sie außer Acht lassen musste. Dieses
‚Ignorieren‘ hat jedoch keineswegs damit zu tun, dass ich die Intertextualität hier nicht
relevant achte, sondern, wie bereits erwähnt, mit ordinärem Platz- und Zeitmangel.
Die Autorschaft in den Moers-Romanen scheint also alles andere als evident zu
sein. Die wichtigste Konstatierung ist, meiner Meinung nach, dass eine metafiktionale
Komponente zwar häufig vom Autor also eine solche intendiert sein kann, dass aber die
Interpretation und die Sichtweise des Lesers diese Absicht auch wieder zerstören kann.
99
Außerdem ist auffällig, dass z.B. die Metalepse, die insbesondere und logischerweise
der Metafiktion zugerechnet wird, in einem phantastischen Roman bzw. in einer
bestimmten Ausführung ihren metafiktionalen Effekt, den Illusionsbruch, verliert und
im Gegenteil sogar illusionsbestärkend wirkt. Hier befindet sich also abermals eine
Möglichkeit für weiterführende Untersuchungen. Erhält die Metafiktion nur in
bestimmten phantastischen Romanen eine andere Funktion? Gibt es noch andere Genres
in denen die Metafiktion eher illusionsbestärkend als illusionszerstörend wirken kann?
In einem weiteren Kapitel bin ich spezifisch auf DSdTB und DLdTB eingegangen
und habe ich diese mit dem Entwicklungs- und Bildungsroman verbunden. Wie Todd
Kontje bereits nachgewiesen hatte, kann nämlich auch diese Romanform als
metafiktional angesehen werden. Ich konnte konstatieren, dass insbesondere DSdTB der
Definition eines Bildungs- en Entwicklungsromans entspricht, dass jedoch auch DLdTB
viele der Eigenschaften enthält. Metafiktional war insbesondere, dass Hildegunst selbst
auch ein avid reader war, wodurch der Leser an seine eigene Position als Rezipient
erinnert wurde. Außerdem enthalten beide Romane viele kritische und selbstreflexive
Bemerkungen bezüglich der contemporary cultural scene. Anhand unterschiedlicher
Kommentare über z.B. Bücher als Baumaterial oder die von sich selbst entfremdeten
Unbücher, weist Moers uns deutlich auf die eigene kulturelle Situation und das
Verschwinden von Büchern und Literatur hin. Zudem wird auch die Reizüberflutung
thematisiert. Moers geht also selbst-reflexiv mit der Perzeption der Kultur und ihrer
Anwendung um, wodurch der Leser auch mit dem eigenen kulturellen Kontext
konfrontiert wird.
Das Konzept vom Buch im Buch wurde bei Siebeck zwar nicht mit der
Metafiktionalität verbunden. Meiner Meinung gibt das Integrieren von anderen Texten
und Medien jedoch gerade wieder, dass der Text an sich ein Konstrukt ist, eine
Zusammenstellung von unterschiedlichen literarischen und linguistischen
Komponenten. In dieser Hinsicht, habe ich das Buch im Buch demnach auch mit der
Intertextualität verknüpft. Eines der ‚Bücher im Buch‘ ist das Lexikon von Prof. Dr.
Abdul Nachtigaller, über welches Blaubär häufig reflektiert und kommentiert. Er geht
also selbst-bewusst und selbst-reflexiv mit diesem Medium um. Das Lexikon beinhaltet
jedoch auch eine Warnung, nicht zu viel auf Bücher zu vertrauen und Theorie immer
mit Praxis zu kombinieren. Das geniale Manuskript wies mit seinem Anfangs- und
100
Schlusssatz, der auch innerhalb des Erzähltextes wiederholt und manchmal leicht
abgewandelt wird, auf die linguistische Konstruktion der Erzählung hin. Vor allem das
Wort ‚Geschichte‘, war hier ausschlaggebend. Das giftige Buch wies vor allem durch
seine Intertextualität einen starken Bezug zu der Metafiktion auf, während das
Leuchtturmtagebuch durch seine abweichende Typographie und sein vom Rest
abweichendes Medium metafiktional zu nennen ist. Das Buch im Buch wird meist mit
einer abweichenden Typographie konkretisiert, wodurch dem Leser deutlich gemacht
wird, dass es sich um ein anderes Medium handelt. In diesem Sinne wäre also auch die
Intermedialität mit Metafiktion zu verknüpfen. Ab dem Moment, wo wir auf ein anders
Medium stoßen, werden wir eigentlich schon an die Grenzen der Sprache und des
Mediums Buch erinnert. Dieser Zusammenhang soll hier also als Ausblick gelten.
Zuletzt bin ich auf den Aspekt der Parodie eingegangen, den ich jedoch auch
schon einige Mal während meiner Darlegungen in den vorherigen Kapiteln erwähnt
hatte. Wie bei der language of fiction geht es hier abermals um die Opposition von alten
und neuen literarischen Konventionen. Mit der Parodie werden veraltete Techniken
untergraben und sorgen diese so für einen komischen Effekt. Die Parodie integriert, wie
die language of fiction jedoch auch aktuellere Medien und stellt sie den älteren
gegenüber. Wir haben es hier mit einer metafiktionalen Komponente zu tun, da
Parodisierung für ein Hervorheben der unterliegenden Strukturen sorgt. Wie in einer
Mythenmetzschen Abschweifung werden die literarischen Strategien entblößt. Aber auch
hier gilt, wie bei der Topographie, dass der Leser diese metafiktionalen Aspekte auch
als solche perzipieren muss. Ansonsten verlieren sie ihren Effekt.
Zusammenfassend möchte ich demnach behaupten, dass die sieben Moers-
Romane sicherlich phantastisch und metafiktional zu nennen sind. Die Metafiktion
äußert sich allerdings nicht immer so, wie man es vielleicht erwartet, und funktioniert
zeitweise sogar als Fiktionalitätsverstärker und nicht als Fiktionalitätssignal. In diesem
Sinne wäre eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den unterschiedlichen
Genres und der Metafiktion sicherlich empfehlenswert. Das ‚Erkennen‘ der Metafiktion
scheint stark mit dem Leser zusammen zu hängen. Diesem fallen vereinzelte Aspekte
entweder auf, oder nicht. Der Rezipient hat also eine zunehmend aktivere Rolle.
Bezüglich der Metafiktion habe ich im entsprechenden Kapitel außerdem bereits
erwähnt, dass der heutige Leser sich mehr und mehr für den Entstehungsprozess eines
101
Romans interessiert und nicht mehr nur für den Inhalt. Die Metafiktion ermöglicht es
dem Leser, meines Erachtens, um den linguistischen und literarischen Skelettbau zu
erkennen, ohne dass der Roman auf ihn reduziert wird. Romane sind zwar interessante
Kompositionen. Sie sollten aber dennoch nicht nur analysiert, sondern auch ‚erfahren‘
werden. Die Bedingungen der Phantastik, kombiniert mit den Aspekten der Metafiktion,
sorgen meiner Meinung nach dafür. Die sieben phantastischen Romane sind gerade
durch dieser starke Kombination ein Spiel voll Humor, Geist, Intelligenz, Reflexion und
Selbst-Bewusstsein und verdienen es demnach, um auf diese Weise gelesen zu werden.
Abschließend zu meiner Magisterarbeit, möchte ich nun gerne noch kurz etwas zu
dem Titel meiner Magisterarbeit sagen. Der Begriff Holzzeit beschreibt eigentlich eine
gewisse Aktivität383
in Buchhaim. Ich habe ihn jedoch von seiner ursprünglichen
Bedeutung entfremdet und dementsprechend meine eigene Interpretation appliziert. Mit
dem Begriff Holzzeit verweise ich auf den materiellen Ursprung des Buches und somit
auf die metafiktionale Perzeption, dass Bücher letztendlich nur eine Komposition
unterschiedlicher Konventionen sind. ‚Holzzeit‘ bedeutet für mich: Zeit für Holz, Zeit
sich mit Holz befassen. Holz markiert das Ursprungsmaterial des Blattes und somit auch
des Buches. Wenn wir die ursprüngliche Moerssche Bedeutung jedoch so belassen, wie
sie ist, kann sie auch als Zeichen einer gemütlichen Lektüre vor einem Kamin
interpretiert werden. Dadurch dass ich den Begriff aus seiner ursprünglicher Bedeutung
gehoben und neu eingefüllt habe, kann man im Nachhinein auch von einem
foregrounding reden, denn ist Ihnen der Titel anfangs nicht gerade deswegen
aufgefallen, weil es sich um ein neues, unbekanntes und phantastisches Wort handelte?
383
Siehe S.40 dieser Magisterarbeit.
102
5. Literaturverzeichnis
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- Fraktur Schrifttyp http://www.library.yale.edu/cataloging/music/fraktur.htm
(besucht 21.05.2012)
- de La Gorçe, Pierre : Rede à l'assemblée de la Société bibliographique, 7. Mai
1920 Verfügbar http://www.quotez.net/german/sein.htm (besucht 22.05.2012)
- Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction: Parody and the Intertextuality of
History. Verfügbar:
https://tspace.library.utoronto.ca/bitstream/1807/10252/1/TSpace0167.pdf
(besucht 03.05.2012)
- Karte von Zamonien Verfügbar http://www.nachtschule.de/zamonien.php
(besucht: 20.05.2012)
- Kulturjournal NDR: „Auf der Suche nach dem Phantom: Walter Moers“
Verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=-k--zodf5SA&feature=relmfu
(besucht 11.04.2012)
- Literaturvorlesung an der Universität Duisburg & Essen. Verfügbar
http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/literaturge/sturmdrang.htm
(besucht 17.04.2012)
- National Geographic bezüglich Ursidae
http://animals.nationalgeographic.com/animals/mammals/spectacled-
bear/?source=A-to-Z (besucht 03.04.2012)
- Neumann, Brigit & Nünning, Ansgar: Metanarration and Metafiction.
Verfügbar: http://hup.sub.uni-
hamburg.de/lhn/index.php/Metanarration_and_Metafiction (besucht 03.05.2012)
107
- Nüchtern, Klaus. Mein Zielpublikum bin ich. Originaltext: Falter 17/03 vom
23.04.2003, Verfügbar: http://www.falter.at/print/F2003_17_2.php (besucht
17.04.2012)
- Philipp, Claus: „Interview mit einem Unsichtbaren: Walter Moers“. Der
Standard.at. Verfügbar: http://derstandard.at/1785787 (besucht 01.04.2012)
- Shiloh, Ilana: “Writing about Writing: the Figure of the Writer in Contemporary
Fiction and Film”.S.4 Verfügbar:
http://clb.academia.edu/IlanaShiloh/Papers/620935/Writing_About_Writing_Th
e_Figure_of_the_Writer_in_Contemporary_Fiction_and_Film (besucht
11.04.2012)
- Zeilmann, Achim: „Drachengespräche Hildegunst von Mythenmetz“ (Teil 1 von
2). ZDF „aspekte“. Drehbuch: Walter Moers. Deutschland 2007. Verfügbar
http://www.youtube.com/watch?v=E3JwEVYcGBk (besucht 14.05.2012)
108
6. Anlagen
Abbildung 1: Karte von Zamonien http://www.nachtschule.de/zamonien.php
Abbildung 2: Hildegunst von Mythenmetz