52
1 Grundzɒge der Toxikologie Hans Marquardt, Siegfried G. SchȨfer und Holger Barth ZunȨchst sollen hier einige Aufgaben, Entwicklun- gen und Begriffe in der Toxikologie skizziert wer- den. Danach werden einige gesellschaftliche Aspek- te der Toxikologie aufgegriffen. Die Fremdstoffe, denen der Mensch ausgesetzt ist, lassen sich unter- scheiden in Stoffe, die sowohl eine heilende als auch eine toxische Komponente besitzen (Arznei- stoffe), Substanzen, die keine heilende Wirkung ha- ben, bzw. NȨhrstoffe sind. Den beiden ersten Grup- pen bleibt gemeinsam, dass sich ihre ToxizitȨt im Allgemeinen in AbhȨngigkeit von der Dosis entwi- ckelt. Eine Ausnahme kçnnten hier die genotoxi- schen Kanzerogen sein. Die Vielfalt der Anwen- dung oder der Exposition von potenziell toxischen Fremdstoffen fɒhrt dazu, dass sich Wissenschaftler in zum Teil entfernten Disziplinen mit ganz unter- schiedlichen Aspekten der Toxikologie beschȨfti- gen, was die Toxikologie zu einer sehr breit gefȨ- cherten Wissenschaft macht. Die Konsequenz ist, dass es zahlreiche Spezialisten in unterschiedlichen Fachbereichen gibt, wie Lebensmitteltoxikologie, Gewerbetoxikologie, Umwelttoxikologie oder klini- sche Toxikologie. Die Toxikologie teilt sich prinzipiell in zwei gro- ße Teilgebiete auf, die experimentelle Toxikologie erarbeitet Ergebnisse, die einerseits lediglich de- skriptiv sind, andererseits zum VerstȨndnis der Me- chanismen der ToxizitȨt beitragen. Daher finden Studien aus toxikologischen Laboratorien der che- mischen Industrie ebenso Eingang in diese Wissen- schaft wie BeitrȨge aus der Biochemie, Physiologie, Pharmakologie, Zellbiologie oder der pharmazeuti- schen Forschung. Die regulatorische Toxikologie bewertet dagegen die erhobenen Befunde in Bezug auf das potenzielle Risiko fɒr den Menschen. Hier- zu wurde in den letzten Dekaden nicht nur eine Vielzahl von Standarduntersuchungen etabliert, sondern auch eine hohe DatenqualitȨt und -sicher- heit durch die Einfɒhrung und Ƞberwachung der so genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt- linien fɒr toxikologische Studien aufgrund der ICH- Richtlinien (International Committee of Harmoni- zation) erreicht (Tab. 1.1). Die Standardisierung und Dokumentation der Untersuchungsverfahren sowie der verwendeten TierstȨmme, Zelllinien oder BakterienstȨmme ist unverzichtbar fɒr die Ver- gleichbarkeit der Daten und die daraus resultierende Bewertung der Ergebnisse. Damit hat die Toxikologie die Aufgabe, Risiken abzuschȨtzen und den Sicherheitsrahmen zu defi- nieren. Das Risiko reprȨsentiert die Wahrschein- lichkeit, mit der eine Substanz einen Schaden verur- sachen kann. Die Sicherheit verhȨlt sich reziprok zum Risiko, das heißt, sie entspricht der Wahr- scheinlichkeit, mit der unter definierten Bedingun- gen kein oder ein akzeptables Risiko zu erwarten ist. Was in diesem Zusammenhang ein akzeptables Risiko ist, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Selbst eine extrem toxische Substanz kann daher weniger gefȨhrlich sein, wenn sie unter kontrollier- ten Bedingungen gehandhabt wird, als ein geringfɒ- gig toxischer Fremdstoff, der unkontrolliert freige- setzt oder aufgenommen wird. Die Inkorporation wird bestimmt von dem Aufnahmepfad, der Matrix, mit der der Fremdstoff aufgenommen wird, den chemischen Eigenschaften und von der Dosis. Die Toxikokinetik schafft die Voraussetzungen, die Bioverfɒgbarkeit, die Verteilung in eventuelle Zielorgane, den Metabolismus und die Elimina- tionskinetik zu beschreiben und zu beurteilen. Bei genauerer Betrachtung dieses Fachgebietes wird sehr schnell deutlich, dass die Meinung „Toxikolo- gie ist die Pharmakologie hoher Dosen“ nicht nur nicht zutrifft, sondern wesentliche Aspekte der To- xikologie unberɒcksichtigt lȨsst. Vielmehr existie- ren eine Vielzahl von Fragestellungen und Metho- den, z. B. die der Mutagenese oder Kanzerogenese, die im Allgemeinen ohne pharmakologische Rele- vanz sind. Sie sind vielmehr im Vorfeld der Prɒfung von Arzneimitteln oder Chemikalien von Bedeu- tung. Aus dem Metabolismus der Fremdstoffe las- sen sich teilweise auch die Mechanismen der Toxi- zitȨt ableiten. Beispiele hierfɒr sind die Hepatotoxi- zitȨt von Paracetamol oder die porphyrinogene Wir- kung von Blei. Die Wirkung einer Substanz wird neben der Do- sis auch von der Dauer und der HȨufigkeit der Ex- position bestimmt. In der Toxikologie unterscheidet man deshalb vier Kategorien: akute, subakute, sub- chronische und chronische Expositionen. Akute Ex- 1

1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

1 Grundz�ge der Toxikologie

Hans Marquardt, Siegfried G. Sch�fer und Holger Barth

Zun�chst sollen hier einige Aufgaben, Entwicklun-gen und Begriffe in der Toxikologie skizziert wer-den. Danach werden einige gesellschaftliche Aspek-te der Toxikologie aufgegriffen. Die Fremdstoffe,denen der Mensch ausgesetzt ist, lassen sich unter-scheiden in Stoffe, die sowohl eine heilende alsauch eine toxische Komponente besitzen (Arznei-stoffe), Substanzen, die keine heilende Wirkung ha-ben, bzw. N�hrstoffe sind. Den beiden ersten Grup-pen bleibt gemeinsam, dass sich ihre Toxizit�t imAllgemeinen in Abh�ngigkeit von der Dosis entwi-ckelt. Eine Ausnahme kçnnten hier die genotoxi-schen Kanzerogen sein. Die Vielfalt der Anwen-dung oder der Exposition von potenziell toxischenFremdstoffen f�hrt dazu, dass sich Wissenschaftlerin zum Teil entfernten Disziplinen mit ganz unter-schiedlichen Aspekten der Toxikologie besch�fti-gen, was die Toxikologie zu einer sehr breit gef�-cherten Wissenschaft macht. Die Konsequenz ist,dass es zahlreiche Spezialisten in unterschiedlichenFachbereichen gibt, wie Lebensmitteltoxikologie,Gewerbetoxikologie, Umwelttoxikologie oder klini-sche Toxikologie.Die Toxikologie teilt sich prinzipiell in zwei gro-

ße Teilgebiete auf, die experimentelle Toxikologieerarbeitet Ergebnisse, die einerseits lediglich de-skriptiv sind, andererseits zum Verst�ndnis der Me-chanismen der Toxizit�t beitragen. Daher findenStudien aus toxikologischen Laboratorien der che-mischen Industrie ebenso Eingang in diese Wissen-schaft wie Beitr�ge aus der Biochemie, Physiologie,Pharmakologie, Zellbiologie oder der pharmazeuti-schen Forschung. Die regulatorische Toxikologiebewertet dagegen die erhobenen Befunde in Bezugauf das potenzielle Risiko f�r den Menschen. Hier-zu wurde in den letzten Dekaden nicht nur eineVielzahl von Standarduntersuchungen etabliert,sondern auch eine hohe Datenqualit�t und -sicher-heit durch die Einf�hrung und �berwachung der sogenannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien f�r toxikologische Studien aufgrund der ICH-Richtlinien (International Committee of Harmoni-zation) erreicht (Tab. 1.1). Die Standardisierungund Dokumentation der Untersuchungsverfahrensowie der verwendeten Tierst�mme, Zelllinien oder

Bakterienst�mme ist unverzichtbar f�r die Ver-gleichbarkeit der Daten und die daraus resultierendeBewertung der Ergebnisse.Damit hat die Toxikologie die Aufgabe, Risiken

abzusch�tzen und den Sicherheitsrahmen zu defi-nieren. Das Risiko repr�sentiert die Wahrschein-lichkeit, mit der eine Substanz einen Schaden verur-sachen kann. Die Sicherheit verh�lt sich reziprokzum Risiko, das heißt, sie entspricht der Wahr-scheinlichkeit, mit der unter definierten Bedingun-gen kein oder ein akzeptables Risiko zu erwartenist. Was in diesem Zusammenhang ein akzeptablesRisiko ist, ist von Fall zu Fall zu entscheiden.Selbst eine extrem toxische Substanz kann daher

weniger gef�hrlich sein, wenn sie unter kontrollier-ten Bedingungen gehandhabt wird, als ein geringf�-gig toxischer Fremdstoff, der unkontrolliert freige-setzt oder aufgenommen wird. Die Inkorporationwird bestimmt von dem Aufnahmepfad, der Matrix,mit der der Fremdstoff aufgenommen wird, denchemischen Eigenschaften und von der Dosis.Die Toxikokinetik schafft die Voraussetzungen,

die Bioverf�gbarkeit, die Verteilung in eventuelleZielorgane, den Metabolismus und die Elimina-tionskinetik zu beschreiben und zu beurteilen. Beigenauerer Betrachtung dieses Fachgebietes wirdsehr schnell deutlich, dass die Meinung „Toxikolo-gie ist die Pharmakologie hoher Dosen“ nicht nurnicht zutrifft, sondern wesentliche Aspekte der To-xikologie unber�cksichtigt l�sst. Vielmehr existie-ren eine Vielzahl von Fragestellungen und Metho-den, z.B. die der Mutagenese oder Kanzerogenese,die im Allgemeinen ohne pharmakologische Rele-vanz sind. Sie sind vielmehr im Vorfeld der Pr�fungvon Arzneimitteln oder Chemikalien von Bedeu-tung. Aus dem Metabolismus der Fremdstoffe las-sen sich teilweise auch die Mechanismen der Toxi-zit�t ableiten. Beispiele hierf�r sind die Hepatotoxi-zit�t von Paracetamol oder die porphyrinogene Wir-kung von Blei.Die Wirkung einer Substanz wird neben der Do-

sis auch von der Dauer und der H�ufigkeit der Ex-position bestimmt. In der Toxikologie unterscheidetman deshalb vier Kategorien: akute, subakute, sub-chronische und chronische Expositionen. Akute Ex-

Grundz�ge der Toxikologie 1

Page 2: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

position ist die einmalige Aufnahme eines Fremd-stoffes �ber weniger als 24 Stunden, unabh�ngigvom Aufnahmepfad. Die �brigen Expositionen be-schreiben eine wiederholte Gabe. Die subakute Ex-position entspricht der wiederholten Applikation biszu 28 Tagen. Die subchronische Exposition erfolgtzwischen einem und drei Monaten. Eine Applika-tion �ber drei Monate hinaus wird als chronischeExposition bezeichnet. Die toxischen Effekte nachakuter Gabe unterscheiden sich oft von der Sympto-matik nach wiederholter Gabe. Beispielsweise f�hrtakute Benzolaufnahme zu zentralnervçsen Wirkun-gen, w�hrend die wiederholte Aufnahme eine Leu-k�mie auslçsen kann. Die Symptomatik einer aku-ten Exposition kann jedoch auch verzçgert auftre-ten, sodass die Effekte eine Einzeldosis erst nachTagen beobachtet werden kçnnen, wie nach einerakuten Paracetamol-Intoxikation. Die Schwere ei-ner solchen Vergiftung kann daher anf�nglich leichtuntersch�tzt werden.Die wiederholte oder kontinuierliche Aufnahme

kann jedoch auch zu Toleranz f�hren, das heißt zueiner reduzierten Wirkung aufgrund einer vorheri-gen Exposition mit derselben oder einer strukturver-wandten Substanz. Die Toleranz beruht auf zweiunterschiedlichen Mechanismen. Der eine beruhtdarauf, dass weniger toxische Substanz das Zielor-gan erreicht, z.B. nach Induktion des substanzspezi-fischen Metabolismus. Der zweite Grund kann einereduzierte Empfindlichkeit des Zielorgans sein.�ber die Ursachen hierf�r ist nur wenig bekannt.Toleranzen bilden sich zum einen bei einigen

Arzneimitteln aus, aber auch bei toxischen Fremd-stoffen wie Tetrachlorkohlenstoff. Die wiederholteAufnahme von Tetrachlorkohlenstoff f�hrt zu einerverringerten Produktion von reaktiven Metabolitenwie dem Trichlormethyl-Radikal, das f�r die Hepa-totoxizit�t verantwortlich gemacht wird. Ein ande-res Beispiel ist die wiederholte Aufnahme von Cad-

mium, das die Synthese von Cadmium-bindendemMetallothionein induziert und auf diese Weise diefreie Cadmiumkonzentration und somit die Cad-miumtoxizit�t reduziert.Eine andere wichtige Frage f�r die Beurteilung

des toxischen Risikos ist die Frage nach der Rever-sibilit�t der Effekte. Beispielswiese f�hrt die Intoxi-kation durch Carbamate zu einer reversiblen Hem-mung der Acetylcholinesterase-Aktivit�t. Die Wir-kung kehrt daher nach wenigen Stunden zur�ck.Dagegen binden Alkylphosphate irreversibel andasselbe Enzym. Die Vergiftungssymptome sindsehr �hnlich, die Aktivit�t der Acetylcholinesterasekann jedoch grçßtenteils nur durch eine de novo-Synthese des Enzyms wieder hergestellt werden(Erythrozyten-Mauser). Die Vergiftungssymptoma-tik bleibt l�nger erhalten und die therapeutischenMaßnahmen bei einer Intoxikation unterscheidensich daher.Daneben kann die Interaktion von zwei oder

mehr Fremdstoffen zu einer Verst�rkung oder Ab-schw�chung der Einzeleffekte f�hren. Eine additiveWirkung liegt dann vor, wenn die Symptome nachgleichzeitiger Gabe von zwei Substanzen der Sum-me der einzelnen Effekte entspricht (z.B. Aufnah-me von zwei verschiedenen Organophosphate). Ei-ne synergistische Wirkung ist gegeben, wenn dieSymptome nach simultaner Gabe von zwei Fremd-stoffen sehr viel grçßer sind, als die Summe derEinzelwirkungen erwarten ließe. Zum Beispiel istdie Hepatotoxizit�t von Tetrachlorkohlenstoff inGegenwart von Ethanol sehr viel grçßer, als man�ber eine Summation der Einzeleffekte absch�tzenw�rde. Unter der Potenzierung versteht man die Si-tuation, dass eine Substanz keine toxische Wirkungauf ein bestimmtes Organsystem hat, aber die Toxi-zit�t einer anderen Verbindung deutlich steigert.Beispielsweise ist Isopropanol nicht hepatotoxisch.Wird es jedoch zusammen mit Tetrachlorkohlen-

2 Grundz�ge der Toxikologie

Tab. 1.1: Internationale Anforderungen der regulatorischen Toxikologie in verschiedenen Anwendungsgebieten.

Produktkategorie Kernstudien(akute und chronischeApplikation 1),Mutagenit�t 2))

Spezielle Untersuchungen

Repro-duktions-toxikologie

Kanzero-genit�t

Hautvert-r�glichkeit

Immuno-toxikologie

Neuro-toxikologie

Toxiko-kinetik

Arzneimittel (Mensch)Arzneimittel (Tier)PestizideChemikalienNahrungsmittelzus�tzeKosmetik

������

�sss�s

sssssd

ss��d�

�ddddd

ddssdd

���s�s

Zeichenerkl�rung:� Routineuntersuchung

s Teilweise erforderlichd Selten gefordert

1) Chronische Studien kçnnen bis zu einem Jahr ausgedehnt werden.2) Zwei oder mehr unabh�ngige Tests werden im Allgemeinen gefordert.

Page 3: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

stoff appliziert, wird die Hepatotoxizit�t des letzt-eren ganz erheblich gesteigert. Die Interaktion zwi-schen einem toxischen Agens und einem so genann-ten Antidot wird dagegen therapeutisch genutzt.Dabei kann das Zustandekommen des „Antagonis-mus“ auf sehr verschiedenen Prinzipien beruhen.Wenn zwei Substanzen ihre Wirkungen durch ent-gegengesetzte Effekte an derselben physiologischenEinheit aufheben, spricht man von einem funktion-ellen Antagonismus. Beispielsweise werden Kon-vulsionen, die bei sehr vielen Vergiftungen beo-bachtet werden, durch die Gabe von Diazepam an-tagonisiert, ohne dass beide Substanzen, z.B. amselben Rezeptor, konkurrieren. Von einem chemi-schen Antagonismus (Inaktivierung) spricht man,wenn eine einfache chemische Reaktion zwischenzwei Substanzen zu einer weniger toxischen Ver-bindung f�hrt. Es ist bekannt, dass Dimercaprol(BAL) Chelate mit Arsen, Blei oder Quecksilberbildet. Dieser Metallkomplex entzieht einerseits dietoxischen Metalle den Zielorganen und bringt sieandererseits schneller zur Elimination. Die Bindungzweier Substanzen an demselben Rezeptor wird alsRezeptor-Antagonismus bezeichnet. Nach diesemPrinzip lassen sich die Morphinintoxikation mit Na-loxon oder die Benzodiazepin�berdosierung mitFlumazenil behandeln, da die Wirksubstanzen undAntidote um dieselben Bindungsstellen an den Re-zeptoren konkurrieren. Dabei muss sichergestelltsein, dass der Antagonist am jeweiligen Rezeptorkeine entsprechende pharmakodynamische Wir-kung aus�bt. Die Gabe von Atropin bei der Organo-phosphatintoxikation ist ein Beispiel daf�r, dass dasAntidot nicht mit dem Gift am Rezeptor konkur-riert, sondern vielmehr den Rezeptor f�r das nat�r-liche Agens, das Acetylcholin, blockiert, das in derIntoxikation akkumuliert.Neben einer Reihe neuer Werkstoffe und Sub-

stanzen spielen in den letzten Jahren die sogenann-ten Nanopartikel eine zunehmende Rolle in ver-schiedensten Industriezweigen. Zudem werden Na-nopartikel in der çffentlichen Diskussion zum Teilskeptisch gesehen, ohne dass meist die Diversit�tder Substanzen wie der Formen von Nanopartikelnbekannt ist. Beispielsweise werden große Mengenvon „Carbon Black“ (Industrieruß) von der Reifen-industrie verwendet. Neben kohlenstoffhaltigen Na-nopartikeln werden sie synthetisch aus verschiede-nen Metalloxiden oder als Polymere hergestellt. Da-r�ber hinaus kçnnen sie in verschiedenen Formenverwendet werden, zum Beispiel als Nanorçhren.Sie finden zahlreiche unterschiedliche Anwendun-gen, wie in der Medizin, der Elektrotechnik alsHalbleiter oder in kosmetischen Produkten, ohne

dass im Detail die Wirkung der verschiedenen Na-nopartikel auf den menschlichen Organismus ge-kl�rt ist. Daher wurde in dieser Auflage dieserneuen Substanzgruppe und -form besondere Auf-merksamkeit geschenkt.Seit einigen Jahren gewinnt die regulatorische

Toxikologie zunehmend an Bedeutung, die sich mitder Beurteilung von genetisch modifizierten Pflan-zen in Lebensmitteln oder mit gentechnisch herge-stellten Arzneimitteln besch�ftigt. Obgleich bereitseine Vielzahl von Pr�fvorschriften existiert, gibt esinsbesondere hier ein hohes Maß an çffentlicherDiskussion („Gen-Food“) und erforderlicher Auf-kl�rung.Die Toxikologie ist eine der wenigen wissen-

schaftlichen Disziplinen, deren Erkenntnisse einegroße und oft sofortige çffentliche Resonanz habenkçnnen. Zurzeit ist die Furcht vor Sch�digungen derGesundheit und Umwelt durch Chemikalien einewichtiges Thema der çffentlichen Aufmerksamkeit– zumindest in unseren hochzivilisierten Kulturkrei-sen. Diese Angst vor den chemischen Wirkprinzi-pien ist nicht neu. Bereits Plinius der �ltere stellteim 1. Jahrhundert v.Chr. fest: „So viele Gifte wer-den benutzt, um den Wein unserem Geschmack an-zupassen, und wir wundern uns dar�ber, dass unsdies nicht wohl tut.“ Heute aber kann ein massiver„Einbruch der Chemie in den Lebensraum des Men-schen“ nicht geleugnet werden und zwingt zu kriti-scher Auseinandersetzung.In zuk�nftigen Geschichtsb�chern wird die zwei-

te H�lfte des 20. Jahrhunderts als die �ra der syn-thetischen Chemie und der Biotechnologie Eingangfinden. Beginnend in den 1940er-Jahren haben wireine explosive Entwicklung neuer industriellerTechnologien und eine Integration synthetischerChemikalien in unser persçnliches Leben erfahren.Allein in den USA sind nahezu 600000 chemischeProdukte im Gebrauch, und im t�glichen Leben um-geben uns etwa 70000 dieser Produkte und die Ten-denz ist steigend. Von diesen Substanzen kçnnenqualitativ und quantitativ unterschiedliche gesund-heitssch�dliche Wirkungen ausgehen. W�hrend zu-n�chst diese Chemie in unserem Leben als Gewinnpositiv beurteilt wurde, betrachtet sie die Gesell-schaft – aufgeweckt z.B. durch Rachel Carson„Stummer Fr�hling“ – heute mit Misstrauen. Ob-gleich wir heute ein deutlich l�ngeres und qualitativreicheres Leben genießen, betrachtet die �ffentlich-keit Wissenschaft und Technologie nicht mehr alswertvolle Verb�ndete, sondern mehr oder wenigerals Feinde der Natur.Der Druck der �ffentlichkeit hat zu einer strikten

Gesetzgebung hinsichtlich chemischer Exposition

Grundz�ge der Toxikologie 3

Page 4: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

in der Umwelt und am Arbeitsplatz gef�hrt: Wir al-le kçnnen selbstverst�ndlich gemeinsam nur begr�-ßen und fordern, dass das Wohl von Mensch undUmwelt gesch�tzt wird. Unbestreitbar ist aber auch,dass die Industrie ermutigt werden muss, Forschungzur Entwicklung neuer Materialien zu betreiben, dievon Wert f�r uns alle sind. Die toxikologische Risi-koabsch�tzung, d. h. die Beurteilung des Risikos f�rdie menschliche Gesundheit und Umwelt durch Ex-position gegen�ber Chemikalien, ger�t zum einenzunehmend zwischen die Fronten dieser beidenPostulate und steht zum anderen auf durchaus unsi-cherer wissenschaftlicher Basis. Einerseits ist diemoderne chemisch-analytische Technik heute in derLage, die meisten synthetischen und nat�rlichenchemischen Stoffe in fast unvorstellbar geringenSpuren zu bestimmen. Solche Befunde werden h�u-fig ohne wissenschaftlichen Beweis mit Krankheits-symptomen verbunden, die solche Stoffe bei Ein-wirkung hoher Dosen auslçsen, ohne zu beachten,dass zwischen analytisch ermitteltem Wert undkrank machender Dosis unter Umst�nden viele Zeh-nerpotenzen liegen. Ohne eine derartige quantita-tive Wirkungsbetrachtung und Risikobeurteilungaber ist der analytische Befund bedeutungslos. An-dererseits hat die Toxikologie diesen Fortschrittender Analytik nicht immer folgen kçnnen: Es ist un-bestreitbar, dass trotz großen Erkenntnisgewinns inden vergangenen Jahren unser Wissen um die Me-chanismen der Toxizit�t und unsere F�higkeit zuquantitativer Risikobewertung begrenzt sind.Die Toxikologie als Lehre von den Giften und

Giftwirkungen beschreibt als angewandte Wissen-schaft die chemisch-biologischen Wechselwirkun-gen mit akuter und chronischer gesundheitssch�dli-cher Auswirkung insbesondere auf den Menschenund versucht diese zu quantifizieren, um die Sch�-den zu erkennen, mçglichst zu verh�ten und even-tuell zu behandeln. Damit ist dieses Fach gefordert,einen wesentlichen wissenschaftlichen Beitrag zurPr�ventivmedizin zu erbringen („The ultimate goalin medicine is to achieve to die young as late aspossible“, E. Wynder). Dies war nicht immer so:Die griechischen Wçrter f�r Bogen und Arzneimit-tel sind „toxikon“ und „pharmakon“, d. h., ein Pfeil-gift war ein „toxikon pharmakon“. Zusammen mitdem „logos“, der Lehre, leitet sich daraus der Be-griff „Toxikologie“ ab.Sicher kann man dar�ber streiten, inwieweit die

Vermehrung der Chemie – Kosmetika, Waschmitteloder Nahrungsmittelzus�tze – �berfl�ssig ist; einesolche Debatte aber ist irrelevant: Diese Produktesind Teil unseres Lebens und werden dies auch f�rdie vorhersehbare Zukunft bleiben. Die Aufgabe

der Toxikologie ist es sicherzustellen, dass derMensch keinem unnçtigen Risiko durch Expositiongegen�ber diesen Substanzen ausgesetzt wird. Da-bei ist die Basis in der Toxikologie der Tierversuch,um pr�diktiv im Sinne des vorbeugenden Gesund-heitsschutzes ein Gefahrenpotenzial aufzeigen zukçnnen. So genannte alternative Methoden anschmerzfreier Materie sind seit Jahren ein wertvol-les Hilfsmittel, aber auch nicht mehr. Erst die Ent-wicklung definierter St�mme von Labortieren undMethoden zu ihrer Haltung ermçglichte die Durch-f�hrung reproduzierbarer Experimente und muss alsder eigentliche Beginn der experimentellen Toxiko-logie angesehen werden.Wichtigste Grundlage der Toxikologie ist die Er-

kenntnis des Paracelsus, dass es keine giftigenSubstanzen gibt, sondern nur giftige Dosierungen(Anwendungen) von Substanzen. In seiner 3. K�rnt-ner Defension hat Paracelsus klar gemacht, dassGift nicht mit Stoff schlechthin definiert werdenkann, sondern dass ein und derselbe Stoff Gift undNicht-Gift sein kann und dass „allein die Dosismacht, dass ein Ding kein Gift sei“. Paracelsus fol-gend muss man heute Gift als ein Wirkprinzip defi-nieren, das an die chemische Materie und an dieDosis gebunden ist. Als Toxikologen sind wir dem-zufolge mit dem Problem konfrontiert, dass – mitAusnahme genotoxischer Verbindungen – eineSubstanz oberhalb einer Schwellenkonzentration to-xisch (selbst 100 g Kochsalz kçnnen tçdlich sein),aber unterhalb dieser Schwelle nicht-toxisch ist.Diese Problematik kann nur durch eine sorgf�ltigeAnalyse der zugrunde liegenden Wirkungsmecha-nismen und Bedingungen, unter denen die Toxizit�tentsteht, gelçst werden. Diese Schwellenkonzentra-tionen werden aus toxikologischen Untersuchungenals so genannte (no-adverse-effect-level) NOAELabgleitet und f�hren unter Ber�cksichtigung von(Un-)Sicherheitsfaktoren aus toxikologischer Sichtzu duldbaren menschlichen Expositionen (zuGrenz- bzw. Richtwerten, z.B. ADI – („accepteddaily intake“).Die heutige Toxikologie mit ihrem Schwerpunkt

der Erfassung mçglicher Gesundheitsgef�hrdungendurch Belastungen von Wasser, Boden, Luft oderNahrungsmitteln ist vor besonders schwierige Auf-gaben und Probleme gestellt, handelt es sich dabeidoch um die Frage nach biologischen Wirkungenim Niedrigst-Dosis-Bereich. Die Toxikologie be-handelte zun�chst (Orfila, 1814) akute Vergiftungennach relativ hohen Expositionen. Diese Krankheits-bilder sind durch eine mehr oder weniger typischeSymptomatik, charakteristischen Ablauf und klarerkennbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen

4 Grundz�ge der Toxikologie

Page 5: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Substanzaufnahme und Krankheitsbeginn sowiedurch weitgehende Reversibilit�t der Effekte undden eben beschriebenen Begriff des Schwellenwer-tes gekennzeichnet. Die moderne Toxikologie be-fasst sich etwa seit den 1950er-Jahren weitgehendmit der chronischen Intoxikation und den Auswir-kungen der Aufnahme von Spuren kçrperfremderStoffe �ber lange Zeitr�ume. Zu dieser Entwicklunghat wesentlich die Identifizierung eines neuen Typstoxischer Wirkung gef�hrt, n�mlich die Interaktionchemischer Stoffe mit dem genetischen Material.Bei diesen genotoxischen Wirkungen – Mutage-

nese, Kanzerogenese – handelt es sich um weitge-hend irreversible Sch�digungen, die potenziell be-reits bei geringsten Expositionen auftreten kçnnen.Gerade die (oft mehr theoretische) Mçglichkeit,dass eine Langzeitexposition gegen�ber Minimal-dosen Krebs auslçsen kçnnte, verursacht in der �f-fentlichkeit Furcht und Unsicherheit, w�hrend wiralle wissen und akzeptieren, dass Chemikalien inhoher Dosierung akut giftig sind:

n 5 von 100000 Kindern sterben j�hrlich an akzi-dentiellenVergiftungen, insbesonderedurchHaus-haltschemikalien: Dieses Risiko ist allgemeinakzeptiert.

n Die Mehrheit unserer Mitb�rger hat dagegenAngst vor einem Risiko von 5 :1000000 (wenn�berhaupt existent), durch Asbest in einer SchuleKrebs zu entwickeln und verlangt die so genannteAsbest-„Sanierung“, obwohl gerade dadurch erstwirkliche Asbest-Gefahren hervorgerufen werdenkçnnen.

Die Beurteilung des Gefahrenpotenzials von Kanze-rogenen ist besonders schwierig: Die Ursachen f�rdie Umwandlung einer Normalzelle in eine Krebs-zelle sind vermutlich vielfach, die zugrunde liegen-den Wirkmechanismen weitgehend unbekannt, dieTest-Assays in vieler Hinsicht inad�quat. Trotzdemgibt es auch hier Grundlagen f�r eine Risikobewer-tung: Nach Paracelsus ist die Exposition gegen�berKonzentrationen unterhalb des Grenzwertes unbe-denklich. F�r einen Teil von Kanzerogenen, sol-chen, die mit dem genetischen Material interagie-ren, kçnnen derartige Grenzwerte z. Zt. nicht defi-niert werden. Hier gilt der experimentell nicht be-wiesene Grundsatz der stochastischen Wirkung. Erbesagt, dass mit sinkender Konzentration einesFremdstoffes zwar die Schadenswahrscheinlichkeitabnimmt, solange aber nicht null wird, wie noch eineinziges Molek�l vorhanden ist. F�r eine große An-zahl so genannter nicht-genotoxischer Kanzeroge-ne, die uns vielfach umgeben, z.B. Saccharin, aber

auch chlorierte Kohlenwasserstoffe, gibt es jedochkeinen Grund, nicht der Regel des Paracelsus zufolgen. Wir kçnnen nicht mehr zusehen und f�rsinnvoll erkl�ren, dass Testergebnisse, die mit zumTeil exorbitanten Dosen erzielt wurden, in den ppb/ppt-Bereich der normalen Umweltkonzentrationen(ein Zuckerw�rfel aufgelçst im Bodensee) extrapo-liert werden.Die toxikologische Bewertung einer Chemikalie

und einer bestimmten Situation, bei der Menschengegen�ber Chemikalien exponiert sind, verlangt al-so offensichtlich Sachkenntnis und große Erfah-rung. Die simple �bertragung von tierexperimentel-len Daten auf den Menschen ohne Ber�cksichtigungvon Interspezies-Unterschieden und Wirkungsme-chanismen und ohne quantitative Dosis-Wirkungs-Beziehungen f�hrt zwangsl�ufig zu großer Unsi-cherheit („Extrapolation in toxicology is more thanusing carbon paper“, A.F. Rahde).Die Bewertung des gesundheitlichen Risikos ei-

ner Exposition gegen�ber Chemikalien kann nurauf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicherErkenntnisse erfolgen. Wir kçnnen nicht weiterhinIrrationalit�t beim Umgang mit Chemikalien tole-rieren bzw. kultivieren. Die Chemophobie, die heu-te beim Umgang mit Chemikalien so im Vorder-grund steht, ist h�ufig nicht wissenschaftliche Rea-lit�t. Es wird gewarnt, l�ngst bevor klar ist, wovorgenau gewarnt werden muss; der findet am ehestenGlauben, der ein Risiko am schw�rzesten malt (H.R�diger).Was f�r die Exposition gegen�ber chemischen

Substanzen gilt, ist gleichermaßen f�r eine Exposi-tion gegen�ber Radioaktivit�t gegeben. In Deutsch-land wurde u.a. aufgrund der Ereignisse in Fukushi-ma der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen,weshalb die Energiemengen, die auf diese Weise re-duziert werden, durch eine andere Energieform er-setzt werden m�ssen. Das kann durchaus zu einerdeutlich ver�nderten Bodennutzung durch die Land-wirtschaft durch intensiven Anbau von Energietr�-gern wie Mais f�hren, der f�r die Biogasanlagen er-forderlich ist. Zum anderen wird es neben einer an-deren Betrachtung der �kosysteme (großfl�chigerAusbau von Windkraftanlagen) auch zu einer nach-haltigeren Nutzung fossiler Brennstoffe (Kohle,Gas) kommen. Ob dies zu einem Einfluss auf dieBelastung von Bçden oder Grundwasser durch denvermehrten Einsatz von D�ngern und Pestizidenf�hrt, bleibt abzuwarten.Die Verantwortung der Wissenschaft Toxikolo-

gie f�r den Menschen und die technischen Entwick-lungen in der chemischen Industrie sollten uns er-mutigen, dieses Fach auch weiterhin mit Sorgfalt

Grundz�ge der Toxikologie 5

Page 6: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

und kritischem Sachverstand zu entwickeln. Derwissenschaftlich begr�ndeten Risikoabsch�tzungkommt dabei eine besonders große Bedeutung zu.Die dramatischen Entwicklungen der Toxikologiein den vergangenen Dekaden m�ssen Eingang fin-den in die toxikologische Bewertung und vor allem

der Allgemeinheit vermittelt werden. �rzte, Chemi-ker und andere Naturwissenschaftler m�ssen mehrals bisher mit den toxikologischen Erkenntnissenund den Prinzipien der toxikologischen Bewertungvertraut gemacht werden. Dieser Aufgabe sei diesesBuch gewidmet.

6 Grundz�ge der Toxikologie

Page 7: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

4 Toxikokinetik

Harald M�ckter, Harald Derendorf und Burckhard Fichtl

4.1 Einf�hrung

Die Wirkungen eines Fremdstoffes im Organismusvon Mensch und Tier werden durch seine pharma-kodynamischen und pharmakokinetischen Eigen-schaften bestimmt. Die Pharmakodynamik (griech.farmakon¼Heilmittel;dunamiV¼St�rke)beschreibtdie Wirkungen und Wirkungsmechanismen einerSubstanz, d. h. „was die Substanz mit dem Kçrperanstellt“. Ausmaß und Zeitverlauf der Wirkungenh�ngen aber auch von der Pharmakokinetik (griech.kinein¼bewegen) ab. Sie beschreibt den zeitlichenVerlauf der Konzentrationen einer Substanz im Or-ganismus, die aus dem Zusammenspiel von Resorp-tion, Verteilung und Elimination resultieren. DiePharmakokinetik befasst sich damit, „was der Kçr-per mit dem Pharmakon anstellt“.

4.1.1 Was ist Toxikokinetik?

Der Ausdruck „Toxikokinetik“ wurde offenbar zumersten Mal 1937 in einer Publikation eines russi-schen Autors gebraucht (Case 1993). In den vergan-genen Jahren ist dieser Begriff zunehmend popul�rgeworden, sein Gebrauch ist aber recht uneinheit-lich (Tab. 4.1). Es sei hier dahingestellt, ob die An-wendung pharmakokinetischer Prinzipien auf toxi-kologische Fragestellungen die Einf�hrung desneuen Begriffs der Toxikokinetik rechtfertigt. ImFolgenden soll daher der „neutrale“ Begriff „Kine-tik“ verwendet werden. Entsprechend soll unterFremdstoff jede Substanz oder jedes Pharmakonverstanden werden, das im Organismus Wirkungenauslçst, unabh�ngig davon, ob diese als „therapeuti-sche“ oder „toxische“ Wirkungen zu werten sind.

4.1.2 Pharmako-(toxiko-)kinetischeParameter

Das Schicksal eines Fremdstoffs im Organismusl�sst sich durch das sogenannte LADME-Schema

(Abb. 4.1) beschreiben. Unter Umst�nden muss esaus einer Matrix oder einer Wirkstoffzubereitungerst freigesetzt werden (Liberation). Sofern es nichtdirekt ins Blut injiziert wird, muss es zun�chst re-sorbiert werden (Absorption; z.B. aus der Gastroin-testinalfl�ssigkeit, einem intramuskul�ren oder sub-kutanen Depot). Nachdem das Pharmakon in dasBlut gelangt ist, wird es mit dem Blutstrom in dieGewebe verteilt (Distribution). Die meisten Fremd-stoffe werden – in unterschiedlichem Ausmaß – re-versibel an Plasmaproteine und Gewebebestandteilegebunden. Sie kçnnen durch den Stoffwechsel ver-�ndert werden (Metabolismus) und werden schließ-

Einf�hrung 41

Tab. 4.1: Was ist Toxikokinetik?

Definition Quelle

„Toxicokinetics is … the applicationof pharmacokinetic principles to theinvestigation of toxicity and otheradverse effects of drugs.“

Yacobi et al. (1989)

„The primary purpose of toxicokine-tics is to provide information on therate, extent, and duration of exposureof the test animal species to the testcompound during the course of atoxicity study.“

Chasseaud (1993)

Toxicokinetics may be defined as „thegeneration of pharmacokinetic dataeither as an integral component inthe conduct of nonclinical toxicitystudies or in specially designedsupportive studies, in order to assesssystem exposure.“

ICH2 (1993)

„Toxicokinetics is a unique expansionof the science of pharmacokinetics.The major difference between thetwo disciplines, of course, is that toxi-cokinetic studies are generally carriedout at much higher doses than thoseused in pharmacokinetic studies.“

Welling (1995)

„Toxicokinetics is a subdiscipline ofpharmacokinetics dealing with theabsorption, distribution, metabolism,and elimination of xenobiotics atdoses higher than those expected toproduce therapeutic effects.“

Dahlem et al. (1995)

Page 8: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

lich – unver�ndert oder als Metabolite – aus demKçrper wieder ausgeschieden (Exkretion). F�r dieEinzelheiten der komplexen Vorg�nge, die imLADME-Schema zusammengefasst sind, muss aufdie Lehrb�cher der Pharmakologie verwiesen wer-den. Ein Aspekt, der in solchen Darstellungen meistzu kurz kommt, soll hier aber genauer betrachtetwerden.

4.1.3 „Lipophile“ Eigenschaftenvon Pharmaka

Bei allen Stadien des LADME-Schemas muss einFremdstoff biologische Membranen permeieren.Die F�higkeit zur Membranpermeation wird we-sentlich durch die „lipophilen“ Eigenschaften einerSubstanz bestimmt. In der Diskussion der Stoffei-genschaften, die bei Verteilungsvorg�ngen im Kçr-per eine Rolle spielen, werden vier Begriffspaare(wasserlçslich – wasserunlçslich, polar – unpolar,hydrophil – hydrophob und lipophob – lipophil)h�ufig in derselben Bedeutung verwendet, wenn esum die Verteilung eines Stoffes, seinen Transportdurch biologische Membranen oder seine Freiset-zung aus einer Matrix geht.Wasserlçslichkeit bezeichnet die Lçslichkeit ei-

nes (Fest-)Stoffs in Wasser und wird in g/100ml(pr�zise: g/100 g Wasser) oder mol/l angegeben.

Bei schwer lçslichen Salzen wie Blei(II)chlorid(PbCl2) ist die Angabe des Lçslichkeitsprodukts L�blich, das sich aus der Gleichgewichtsbetrachtungzwischen der fl�ssigen Phase und dem ungelçstenBodensatz (PbCl2 (fest)) der Salzlçsung ergibt, z.B.

PbCl2 ðfestÞ $ Pb2þþ2Cl�½Pb2þ� ½Cl��2½PbCl2�fest

¼Kc

oder ½Pb2þ� ½Cl��2 ¼LPbCl2

In der Literatur wird h�ufig der negative dekadischeLogarithmus (pL) des Lçslichkeitsprodukts angege-ben. Einige Beispiele sind in Tabelle 4.2 zusam-mengestellt.Die Lçslichkeit eines Stoffes h�ngt außer von der

Art der Komponenten noch stark von der Tempera-tur ab. In der Toxikologie ist das Lçslichkeitspro-dukt einer Substanz f�r das Ausmaß ihrer Resorp-tion wichtig. In manchen F�llen wird allerdings dieBetrachtung der Lçslichkeiten einzelner Ionendurch die Einstellung von komplexen Gleichge-wichten erschwert. So betr�gt beispielsweise dieLçslichkeit von Quecksilberchlorid (HgO) in rei-nem Wasser nur 0,0001mol/l. In Anwesenheit vonChloridionen, z.B. im Magensaft oder im Blutplas-ma, kommt es zur Bildung von basischem Quecksil-berchlorid bzw. Sublimat, dessen Lçslichkeit in Ge-genwart von Alkalichloriden (z.B. Kochsalz) durchBildung von Hg-Komplexen deutlich zunehmenkann:

42 Toxikokinetik

Wirkort„Rezeptoren“

gebunden frei

KinetischePhase

Liberation

Absorption

Distribution

Metabolism

Excretion

KinetischerParameter

Bioverfügbarkeit

Verteilungsvolumen

Clearance

Pharmakon in„Arzneimittel“

(Matrix)

Resorptionsort

SystemischerKreislauf

Gewebe

gebunden frei

gebunden

frei

Abb. 4.1: Schematische Darstellung des Schicksals eines Fremdstoffs im Organismus (sog. LADME-Schema).

Page 9: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

HgOwenig

wasserl€oslich

)�*�þaq

�aqHgðOHÞ2 )���*�

þHCl

�HClHgðOHÞCl )���*�

þHCl

�HCl

HgCl2 )���������*�þ2NaCl

�2NaCl½HgCl4�2�þ2Naþ

gutwasserl€oslich

Mangelnde Wasserlçslichkeit („wasserunlçslich“)impliziert keineswegs, dass ein solcher Stoff danngut lipidlçslich ist und Lipidmembranen leicht pas-sieren kann. So ist z.B. das wasserunlçslicheQuecksilberselenid praktisch nicht neurotoxisch,weil die Substanz, die zu einem Feststoff aggre-giert, in Wasser und in unpolaren Lçsungsmittelnunlçslich ist. In diesem Zustand wird das Quecksil-ber praktisch nicht resorbiert.

Lipophilie „stellt die Affinit�t eines Molek�ls odereiner Gruppe zu einer lipophilen Umgebung dar.Sie wird �blicherweise durch das Verteilungsver-halten in einem Zwei-Phasen-System gemessen,entweder fl�ssig-fl�ssig oder fest-fl�ssig“ (IUPAC).

Hydrophobie „ist der Zusammenschluss unpolarerGruppen oder Molek�le in einer w�ssrigen Umge-bung, die sich aus dem Bestreben des Wassers er-gibt, unpolare Molek�le auszuschließen“ (IUPAC).

Polarit�t: Als unpolar im physikochemischen Sin-ne wird eine Struktur angesehen, wenn ihr Dipol-

moment gegen „0“ geht (dabei kçnnen einzelneBindungen oder funktionelle Gruppen durchausasymmetrische Ladungsverteilung zeigen, z.B.beim CO2: d

�O¼Cdþþ¼Od� ) und/oder keine stabile

Ungleichverteilung elektrischer Ladungen festzu-stellen ist. Von der Polarit�t der betrachteten Teil-chen ist noch die Lçsungsmittelpolarit�t abzugren-zen, die auch als Lçsevermçgen bezeichnet wird,womit die „Aktion aller spezifischen und unspezifi-schen intermolekularen Wechselwirkungen zwi-schen Lçsungsmittelmolek�len und gelçsten Mole-k�len gemeint ist – ausgenommen diejenigen, diedie chemische Natur der Komponenten ver�ndern(also Protonierung, Dissoziation, Oxidation, Reduk-tion, Komplexierung, etc.)“ (IUPAC). LipophileSubstanzen gelten demnach als unpolar, da sie ent-weder ein vernachl�ssigbares Dipolmoment zeigenoder sich in unpolaren Lçsungsmitteln lçsen.Seit 1900 wird zur Beurteilung der Lipophilie

bzw. Hydrophobie eines Stoffs der Octanol/Wasser-Verteilungskoeffizient P¼Coct=CH2O benutzt, derdas Verh�ltnis der Stoffkonzentrationen in einerw�ssrigen (CH2O) und einer organischen (Coct) Pha-se ausdr�ckt, wenn beide miteinander im Gleichge-wicht stehen. n-Octanol hat eine hydrophobe Al-kankette und eine polare Kopfgruppe und ist daherwie biologische Lipide in der Lage, sowohl Wasser-stoffbr�ckenbindungen (mit hydrophilen Stoffen)auszubilden als auch hydrophobe Wechselwirkun-

Einf�hrung 43

Tab. 4.2: Lçslichkeitsprodukte ausgew�hlter Salze (angegeben als pL-Werte bei Raumtemperatur).Zum Verst�ndnis sei das Beispiel FeðOHÞ3 ausgef�hrt: die Tabelle gibt einen pL-Wert von 37,3 an, also LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3.

Nach dem Massenwirkungsgesetz gilt½Fe3þ� � ½OH��3½FeðOHÞ3�fest

¼ KFeðOHÞ3 bzw. ½Fe3þ� ½OH��3 ¼ LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3.

Mit x¼ ½Fe3þ� und y¼ ½OH�� wird die Konzentration an freiem Fe3þ in Lçsung errechnet, indem die Gleichung x � y3 ¼ L¼ 10�37,3

nach x aufgelçst wird. Das gelingt unter der Annahme, dass f�r jedes gelçste Fe3þ-Ion 3 Hydroxidionen in der Lçsung erscheinen, also

y¼ 3x. Aus der Gleichung xð3xÞ3 ¼ 27x4 ¼ LFeðOHÞ3 ¼ 10�37,3 folgt f�r x der Wert

ffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi10�37,3

274

r� 2 �10�10, entsprechend einer

Fe3þ-Konzentration von rund 0,2 nmol/l.

Salz (Trivial- od. Mineralname) Formel pL Vorkommen bzw. Verwendung

Lithiumcarbonat Li2CO3 2,77 Antidepressivum

Calciumsulfat (Gips) CaSO4 4,62 F�llstoff

Bleichlorid PbCl2 4,80 obsolet in Schilderfarben (Turners Gelb)

Bariumsulfat (Schwerspat) BaSO4 8,82 Rçntgenkontrastmittel

Calciumfluorid (Flussspat) CaF2 9,77 Prismenmaterial

Silberbromid AgBr 12,3 Fotografische Emulsionen

Quecksilber(I)chlorid (Kalomel) Hg2Cl2 17,7 Obsolet als Abf�hrmittel

Zinksulfid (Zinkblende) ZnS 23,9 Leuchtschirme

Eisen(III)hydroxid FeðOHÞ3 37,3 Rost

Quecksilbersulfid (Zinnober) HgS 53,8 Rotes Pigment

Page 10: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

gen (mit lipophilen Stoffen) auszu�ben. Entschei-dend f�r die tats�chliche Verteilung eines Stoffszwischen Octanol und Wasser ist allerdings nichtseine Lçslichkeit in Octanol, sondern die Tendenzder Wassermolek�le, die gelçsten Stoffteilchen aus-zuschließen. Die Bestimmung geht von der Annah-me aus, dass Wechselwirkungen der Lçsungsmittel-molek�le untereinander keinen Einfluss auf dieVerteilung haben und Wechselwirkungen der gelçs-ten Teilchen der Testsubstanz untereinander ver-nachl�ssigbar sind. Letzteres wird theoretisch nurbei unendlicher Verd�nnung erreicht; in der Praxissorgt man daf�r, dass die Stoffkonzentrationen inbeiden Phasen unter 10mmol/l liegen. �blicherwei-se wird der dekadische Logarithmus von P tabelliert(logP). F�r viele Stoffe konnte eine signifikanteKorrelation ihrer logP-Werte und der Bioakkumula-tion, z.B. in Fischen, gezeigt werden. Auch bei derAbsch�tzung der Bindung einer Substanz in Bodenund Sedimenten ist der logP n�tzlich. Ausgew�hltelogP-Werte zeigt Tabelle 4.3.Es hat in der Vergangenheit nicht an Versuchen

gefehlt, den logP grçßerer Molek�le aus der Struk-turformel oder den Beitr�gen einzelner Fragmenteabzusch�tzen, indem entweder aus verwandtenStrukturen extrapoliert oder aus Fragmenten, derenBeitr�ge zum logP-Wert durch Vergleich ermitteltworden waren, ein logP des großen Molek�ls be-rechnet wurde. F�r weniger komplexe Strukturenwie einfache substituierte Aromaten hat diese Stra-tegie brauchbare Resultate geliefert, aber bei Subs-tanzen wie Oligopeptiden, Oligonukleotiden, Ste-roiden, Tensiden waren die �bereinstimmungen mit

den empirisch gefundenen Werten unbefriedigend.Als Grund werden zum einen Wasserstoffbr�cken-bindungen genannt, die sowohl zwischen den gelçs-ten Teilchen untereinander als auch zwischen gelçs-ten Teilchen und Lçsungsmittelteilchen auftretenund in den zuvor genannten Ans�tzen praktisch ver-nachl�ssigt werden. Nicht ber�cksichtigt wurdenauch Formfaktoren, die der Tatsache Rechnung tra-gen, dass ein bestimmtes Molek�lvolumen ver-schiedenartige Ausdehnung haben kann (z.B. sph�-risch oder elongiert) und damit unterschiedlicheAngriffsfl�chen f�r Lçsungsmittelmolek�le bietet.Hier hat in den letzten zehn Jahren durch Arbei-

ten von Abboud, Abraham, Doherty, Kamlet, Pooleund Taft ein neues Konzept Einzug gehalten, dasdurch seine Vielseitigkeit besticht, nicht nur in Be-zug auf die untersuchten Phasensysteme (Octanol/Wasser, Blut/Hirn, Mizellen/Wasser, etc.), sondernauch auf die interessierenden Parameter, die außerLçslichkeiten und Akkumulationsph�nomenen auchpharmakologische und toxische Wirkungen umfas-sen. Es handelt sich um das Konzept der sog. linea-ren freien Energiebeziehungen (LFER) oder der li-nearen Solvatationsenergiebeziehungen (LSER).Dabei wird der Vorgang der Solvatation oder auchdes Phasentransfers als Folge dreier energieabh�n-giger Schritte betrachtet: (a) im Lçsemittel muss einHohlraum gebildet werden, in dem das gelçste Teil-chen Platz findet, (b) ein einzelnes Teilchen mussaus seiner bisherigen Umgebung (gleichartiger Teil-chen) herausgelçst werden, um in dem geschaffe-nen Hohlraum Platz zu finden, und (c) Anziehungs-kr�fte m�ssen zwischen gelçstem Teilchen und derneuen Umgebung existieren, die die gelçsten Teil-chen im Hohlraum festhalten. Der erste Schritt ist�blicherweise endergon, die beiden anderen sindexergon. Solvatation und Phasentransfer kçnnen so-mit als abh�ngig vom Hohlraum (Grçße), polarenWechselwirkungen und Wasserstoffbr�ckenbindun-gen beschrieben werden. Das Konzept kann durchfolgende Gleichung veranschaulicht werden:

log S¼ cþ rR2þ sp2þ aX

aH2 þb

XbH2 þnVx

Die Deskriptoren R2, p2, a2, b2, und Vx bedeutendie molare Brechung, die Polarisierbarkeit, eine ef-fektive Azidit�t und Basizit�t, mit denen Donor-und Akzeptorwasserstoffbr�cken erfasst werden,sowie das sog. McGowen-Volumen des gelçstenTeilchens, das aus der Molek�lstruktur berechnetwerden kann.Die Verteilung eines Stoffs zwischen zwei Pha-

sen ergibt sich in dieser Vorstellung aus dem Raum-bedarf der betrachteten Molek�le einerseits und den

44 Toxikokinetik

Tab. 4.3: Beispiele f�r Octanol/Wasser-Verteilungskoeffizienten.Angegeben sind die logarithmierten Werte (logP).

Substanz logP

Anilin 0,9

Phenol 1,5

Anisol 2,1

Benzol 2,1

Trichlorethen 2,4

Atrazin 2,6

Toluol 2,7

Naphthalin 3,6

Biphenyl 4,0

Lauryls�ure 4,2

Phenanthren 4,5

DDT 6,2

Page 11: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

differenziellen energetischen Wechselwirkungenmit Ursprungs- und der Zielphase andererseits,zweckm�ßig reduziert auf Polarisationseffekte,Wasserstoffbr�cken und hydrophobe Wechselwir-kungen.

4.2 Grundlegende kinetischeParameter

F�r die meisten Fremdstoffe besteht eine Beziehungzwischen ihrer Konzentration am Wirkort und ihrerWirkung. Diese Konzentration und auch die Kon-zentrationen in den meisten Geweben des Kçrperssind – zumindest beim Menschen – einer direktenMessung nicht zug�nglich. Zur pharmakokineti-schen Analyse ist man daher im Wesentlichen aufdie Messung der Fremdstoffkonzentrationen inleicht zug�nglichen R�umen wie Blutplasma oderExkreta (Urin, F�zes, Speichel, Muttermilch etc.)angewiesen. Insbesondere dem Plasma kommt einewichtige Rolle als „Referenzfl�ssigkeit“ zu. Sowohlnach direkter Injektion in den Blutstrom wie nachResorption gelangt eine Substanz zun�chst ins Blut-plasma. Von dort kann sie in die Blutzellen eindrin-gen und wird mit dem Blutstrom in die Gewebe ver-teilt.Es mag auf den ersten Blick verbl�ffend erschei-

nen, dass sich die komplexen Vorg�nge des LAD-ME-Schemas durch wenige grundlegende kineti-sche Parameter quantifizieren lassen. Die Parameterzur Quantifizierung von Resorption, Verteilung,Metabolismus und Exkretion sind die Bioverf�g-barkeit, das Verteilungsvolumen und die Clea-rance. Zur Beschreibung des zeitlichen Verlaufsder Konzentrationen dienen die Halbwertszeit, dieFl�che unter der Konzentrations-Zeit-Kurve AUC(area under the curve) und die maximalen (Cmax)und minimalen (Cmin) Konzentrationen im Blut-plasma. Die den Zeitverlauf beschreibenden Para-meter werden auch als „sekund�re“ kinetische Para-meter bezeichnet, da sie von den „prim�ren“ Para-metern Bioverf�gbarkeit, Verteilungsvolumen undClearance bestimmt werden.Zun�chst sollen die grundlegenden kinetischen

Parameter und ihr Zusammenspiel besprochen wer-den. In der Praxis basiert die kinetische Analyseweitgehend auf der Messung der gesamten Kon-zentration im Plasma. Idealerweise sollten zur kine-tischen Analyse die Konzentrationen der nicht anPlasmaproteine gebundenen Molek�le, die „freien“

Konzentrationen im Plasmawasser gemessen wer-den. Wegen des methodischen und zeitlichen Auf-wands zur Bestimmung der freien Konzentration(z.B. durch Ultrafiltration, Dialyse, Gelfiltration)basieren kinetische Untersuchungen �blicherweiseauf den gemessenen Gesamtkonzentrationen. Aufdie sich hierdurch ergebenden Probleme wird nocheingegangen.

4.2.1 Verteilungsvolumen

Das Verteilungsvolumen eines Fremdstoffs ist defi-niert als Proportionalit�tsfaktor zwischen der im Or-ganismus vorhandenen Menge (A) des Fremdstoffsund seiner Konzentration im Plasma (C), d. h.

A¼V � C ðGl: 1Þbzw.

V¼AC

ðGl: 2ÞAls Proportionalit�tsfaktor zwischen einer Menge(z.B. mg) und einer Konzentration (z.B. mg/l) hatdas Verteilungsvolumen die Dimension eines Volu-mens (l oder bezogen auf das Kçrpergewicht l/kg).In Tabelle 4.4 sind einige Werte f�r Verteilungsvo-lumina zusammengestellt. Die Beispiele zeigen,dass sich die gemessenen Werte �ber mehrere Grç-ßenordnungen erstrecken kçnnen und meist keinemrealen Verteilungsraum entsprechen. Je nachdemwie gut ein Fremdstoff biologische Membranen per-meieren kann, stehen f�r seine Verteilung im Orga-nismus prinzipiell drei Verteilungsr�ume unter-schiedlicher Grçße zur Verf�gung: das Plasma, derExtrazellul�rraum (Plasma plus interstitielle Fl�s-sigkeit) oder das gesamte Kçrperwasser. Das Plas-mavolumen eines „Standardmenschen“ von 70 kgbetr�gt etwa 3 l, entsprechend 0,04 l/kg Kçrperge-wicht. Die meisten Xenobiotika kçnnen sich aberzumindest im Extrazellul�rraum verteilen, dessenVolumen etwa 15 l bzw. 0,2 l/kg betr�gt. Das ge-samte Kçrperwasser betr�gt rund 42 l oder 0,6 l/kg.Wie die Daten aus Tabelle 4.4 zeigen, kann das be-rechnete Verteilungsvolumen diese Werte erheblich�bersteigen. Chlorpromazin hat z.B. ein Vertei-lungsvolumen von 20 l/kg, d. h. 1400 l bei einemKçrpergewicht von 70 kg.Dies erkl�rt sich dadurch, dass sich Fremdstoffe

nicht gleichm�ßig im Kçrper verteilen. Wenn z.B.ein erheblicher Anteil einer Dosis im Gewebe ge-bunden oder vom Fettgewebe aufgenommen wird,ist die resultierende Plasmakonzentration viel klei-ner, als zu erwarten w�re, wenn sich der Fremdstoff

Grundlegende kinetische Parameter 45

Page 12: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

8 Chemische Kanzerogenese

Michael Schwarz, Albert Braeuning, Hans Marquardt und Rolf Schulte-Hermann1)lll

8.1 Einleitung

Die Erkrankung an Krebs gehçrt ohne Zweifel zuden dringlichsten Problemen der heutigen Medizin.Krebsgeschehen ist ex natura canceris irreversibel,dennoch ist die Diagnose „Krebs“ heute, dank mo-derner Methoden der Fr�herkennung und Therapie,in vielen F�llen nicht mehr unausweichlich gleichbe-deutend mit einem qualvollen Tod. Trotzdem sindKrebserkrankungen nach den kardiovaskul�ren Er-krankungen die h�ufigste Todesursache mit j�hrlichetwa 210.000 Opfern in Deutschland. Das griechi-sche Wort f�r Krebs, „karkinoV“ (karzinos), gehtauf Hippokrates und das lateinische Wort f�r Krebs,„cancer“, auf Celsus zur�ck. „Wie eine Krabbe ihreGliedmaßen aus allen Teilen ihres Kçrpers nach au-ßen streckt, so schwellen bei dieser Krankheit dieVenen auf, breiten sich aus und bilden eine �hnlicheFigur“, sagt Galen. Es wird aber auch behauptet,dass der Krebs seinen Namen daher erhalten habe,dass er den Kçrperteilen, die er ergreift, hartn�ckiganhaftet wie eine Krabbe (Paulus von Aegina).Unter Krebs wird ein bçsartiger Tumor (Ge-

schwulst) verstanden, dessen Wachstum autonomund �berschießend ist und der gewisse pathologi-sche Charakteristika aufweist, wie Zellatypien, in-vasives Wachstum und h�ufig Metastasierung (Bil-dung von Tochtergeschw�lsten, ein eindeutiges Zei-chen der Malignit�t). Die Wachstumskontrollen desnormalen Organismus sind beim bçsartigen Wachs-tum von Tumorzellen aufgehoben. W�hrend gutar-tige Tumoren aus sich heraus expansiv und verdr�n-gend wachsen, erfolgt das Wachstum bei bçsartigenTumoren invasiv und infiltrativ unter Destruktionder Umgebung. Als Karzinome werden dabei ma-ligne Tumoren epithelialen Ursprungs, als SarkomeTumoren mesenchymalen Ursprungs bezeichnet.

Obwohl ionisierende Strahlen, infektiçses biolo-gisches Material (zumeist Viren) und erbliche gene-tische Determinanten ebenfalls eine urs�chlicheRolle f�r die Krebsentstehung beim Menschen spie-len, wird heute vermutet, dass chemische Substan-zen in der Umwelt die Mehrzahl der menschlichenTumoren (mit-) verursachen. F�r die Bedeutungexogener Noxen spricht die Tatsache, dass mehr als90% aller Krebse bevorzugt an den epithelialen Ge-weben entstehen, von denen die meisten in direktemKontakt mit der Umwelt stehen (Haut, Magen-Darm-Trakt, Urogenitalsystem, Bronchialbaum).Dies bedeutet allerdings gleichzeitig, dass die Ver-minderung der Exposition gegen�ber exogenenkanzerogenen Substanzen, beispielsweise durch�nderungen unserer Lebensweise, zu einer Reduk-tion der Krebsinzidenz f�hren kann. Die Ge-schlechtsunterschiede in der H�ufigkeit verschiede-ner Tumoren weisen dagegen auf die Rolle endoge-ner Substanzen bei der Kanzerogenese hin.

8.2 Historischer R�ckblickund Epidemiologie

8.2.1 Historischer R�ckblick

Bereits lange vor der Zeitwende, im Papyrus Ebers,findet sich eine recht genaue Beschreibung �ber�tiologie und Klinik des Blasenkrebses der im Nil-tal lebenden Bauern (Bilharziose). Wie wir heutewissen, wird dieser Krebs durch einen Trematoden(Schistosoma haematobium) verursacht. Dabei istbis heute ungekl�rt, ob hier chemische Substanzenoder ein „Reizkrebs“ (Schm�hl, 1981) zugrunde lie-gen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann davonausgegangen werden, dass Paracelsus (1493–1541)als Erster eine chemische Verbindung, das Realgaroder Rauschrot (As4S4), als Ursache/Mitursache f�rden Lungenkrebs der Bergleute in Schneeberg undJoachimsthal ansah. Ramazzini (1633–1714) be-schrieb 1700 die hohe Inzidenz von Brustkrebs bei

Historischer R�ckblick und Epidemiologie 159

1 Das folgende Kapitel basiert auf der vorigen Ausgabedieses Lehrbuchs. Die Autoren danken ihren Kollegin-nen und Kollegen Wolfgang Pfau, Brigitte Marian,Wilfried Bursch sowie Bettina Grasl-Kraupp f�r ihrewesentlichen Beitr�ge zu diesem Kapitel.

Page 13: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Nonnen, der englische Arzt, Botaniker und Schrift-steller John Hill (1716–1775) 1761 sechs F�lle vonPolypen und Krebsen der Nasenschleimhaut nachlangj�hrigem Gebrauch von Schnupftabak und Per-cival Pott (1714–1788) 1775 den Ruß als Ursachef�r den Hautkrebs an Skrotum und Oberschenkelnder Londoner Schornsteinfeger. Damit war Pott derErste, der eine chemische Krebsursache bei einerbestimmten Berufsgruppe beobachtete. T. v. Soem-mering (1755–1830), Professor der Anatomie inMainz und M�nchen, publizierte 1795 �ber denLippenkrebs bei Pfeifenrauchern. Im 19. Jahrhun-dert wurde insbesondere die kausale Bedeutung vonberuflicher Exposition gegen�ber chemischen Sub-stanzen f�r den menschlichen Krebs aufgedeckt:Hauttumoren nach Arsen-Exposition (I. A. Paris,1822) und Paraffin bzw. Teer (R. v. Volkmann,1875) sowie Harnblasengeschw�lste bei Fuchsinar-beitern (L. Rehn, 1895).

8.2.2 Epidemiologie

Einige Zusammenh�nge zwischen Krebs und exo-genen Noxen sind seit langem bekannt. Heute wer-den epidemiologische Untersuchungen durchge-f�hrt, um weitere Hinweise auf Zusammenh�ngezwischen Tumorerkrankungen und bestimmten Ex-positionen zu erlangen. Die Zusammenh�nge zwi-schen Lungenkrebs und Zigarettenrauchen sowiezwischen Leberkarzinom und Aflatoxin-kontami-nierter Nahrung sind �tiologisch am besten unter-sucht. Bei epidemiologischen Untersuchungen zurTumorentstehung muss allerdings ber�cksichtigtwerden, dass diese erheblich schwieriger durchzu-f�hren sind als �bliche Studien �ber andere toxischeWirkungen, da kanzerogene Effekte infolge der lan-gen Latenzzeit zumeist erst viele Jahrzehnte nachder relevanten Exposition in Erscheinung treten.Relativ einfach sind derartige retrospektive oderprospektive Studien bei Arbeitsstoffen, da hier dasAusmaß der Exposition oft recht groß und bekanntist und lediglich ein umschriebener Personenkreismit ihnen in Ber�hrung kommt. Wesentlich schwie-riger sind diese Studien dagegen f�r Fremdstoffe(Xenobiotika) in unserer Umwelt, also ubiquit�reund in meist �ußerst geringen Konzentrationen vor-kommende Stoffe.Einwandererstudien geben Hinweise auf mçgli-

che exogene Ursachen von Krebserkrankungen. Sokonnte etwa gezeigt werden, dass sich bei Einwan-derern aus L�ndern mit geringen Brustkrebsraten(Asien, Afrika) nach Israel oder in die USA (mit ei-ner hohen Brustkrebsrate) das Risiko binnen einer

Generation in etwa an das des Einwanderungslan-des anpasst. Umgekehrt sind dagegen die Verh�lt-nisse beim Magenkrebs. Diese Befunde sind Indi-zien f�r �ußere Einfl�sse (Umwelt oder Ern�hrung)auf die Kanzerogenese. Im Bereich der Arbeitsme-dizin konnte bei Chemiearbeitern der Zusammen-hang zwischen Harnblasenkrebs und Exposition ge-gen�ber polyzyklischen aromatischen Aminennachgewiesen werden. H�ufig wird auch versucht,regionale Unterschiede in der Krebsh�ufigkeit mitlandestypischen Ern�hrungsgewohnheiten zu korre-lieren. Auf diese Weise konnte die Assoziation zwi-schen einer fleischreichen Ern�hrung und einem er-hçhten Dickdarmkrebsrisiko best�tigt werden. Hierwerden verschiedene Ursachen postuliert: Die er-hçhte Exposition gegen�ber verschiedenen Inhalts-stoffen oder Stoffwechselprodukten des Fleisches(heterozyklische aromatische Amine, Ammoniak,Eisen) oder der einhergehende Mangel an pflanzli-cher Kost (Ballaststoffe, Vitamine).Hypothetische Zusammenh�nge lassen sich mit-

tels retrospektiver Studien untersuchen: Tumorpa-tienten und nicht erkrankte Kontrollpersonen wer-den hinsichtlich der Ern�hrungs- und Lebensge-wohnheiten, beruflicher Exposition, demographi-scher oder anderer Parameter befragt. Problema-tisch an diesen Fall-/Kontroll-Studien sind unter an-derem die Auswahl der Kontrollgruppe und auchdie Beeinflussung der Antworten durch die aufge-tretene Krankheit. Diese Nachteile gelten nicht f�rprospektive Kohortenstudien. In diesen ungleichaufwendigeren Untersuchungen werden große Kol-lektive (bis zu einigen hunderttausend Probanden)erfasst und befragt. Erst nach einigen Jahren kçnnenaufbauend auf diesen Daten in diese Kohorten ein-gebettete Fall-/Kontroll-Studien durchgef�hrt wer-den. Beispielsweise wurden 1976 f�r die US-ameri-kanische Nurses Health Study 122.000 Kranken-schwestern im Alter von 30 bis 50 Jahren erfasstund befragt. Urspr�nglich sollten damit uner-w�nschte Langzeiteffekte oraler Kontrazeptiva un-tersucht werden. Alle zwei bis vier Jahre erhaltendie Teilnehmer Fragebçgen zu Rauchgewohnheiten,Verwendung von Hormonen, menopausalem Statusund Ern�hrungsgewohnheiten. Mithilfe dieser Stu-die konnten eine Reihe von Zusammenh�ngen veri-fiziert (Hormonersatztherapie erhçht das Brust-krebsrisiko, Fols�ure sch�tzt vor Dickdarmkrebs),andere postulierte Zusammenh�nge jedoch nicht be-st�tigt werden (fettreiche Ern�hrung beeinflusst of-fenbar nicht das Dickdarm- oder Brustkrebsrisiko).Die tats�chliche Kausalit�t von Zusammenh�ngenist umso wahrscheinlicher, je mehr der von SirBradford-Hill aufgestellten Kriterien erf�llt werden:

160 Chemische Kanzerogenese

Page 14: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Reproduzierbarkeit in verschiedenen Studien, St�r-ke der Assoziation, zeitlich richtige Reihenfolgevon Ursache und Wirkung, Dosis-Wirkungs-Abh�n-gigkeit, Spezifit�t (fraglich: ein Agens kann auchmehrere Wirkungen auslçsen, z. B. Tabakrauch),�bereinstimmung mit bestehendem Wissen, biolo-gische Plausibilit�t sowie experimentelle Best�ti-gung (Intervention).

8.2.3 Molekulare Epidemiologie

Die Erkenntnisse �ber die molekularen Mechanis-men der Kanzerogenese ermçglichen es, anhandbiologischer Marker fr�here Endpunkte als die ei-gentliche Krebserkrankung und deren Zusammen-h�nge mit kausalen Faktoren in epidemiologischenStudien zu untersuchen. Dazu gehçren Marker derExposition, wobei die interne, individuelle Dosis ei-nes Kanzerogens (z. B. Metaboliten im Urin, Plas-maspiegel oder kovalente Protein- oder DNA-Ad-dukte im Blut) oder die target-Dosis (DNA-Adduk-te im Zielorgan) als Maß f�r die individuelle Expo-sition und gleichzeitig den Metabolismus der Sub-stanz im Individuum gemessen wird.Außerdem kçnnen die Aktivit�ten relevanter En-

zyme f�r jedes Individuum biochemisch bestimmtoder anhand genetischer Polymorphismen abge-sch�tzt werden. Dabei sind zahlreiche Enzyme desFremdstoffmetabolismus (metabolische Aktivie-rung oder Entgiftung chemischer Kanzerogene)oder der DNA-Reparatur identifiziert worden, dieeine polymorphe Verteilung in der Bevçlkerungaufweisen. In der Tat konnte bereits in einigen F�l-len ein Einfluss dieser Enzymaktivit�ten auf dasKrebsrisiko beobachtet werden. W�hrend die Be-einflussung des individuellen Krebsrisikos durcheinzelne polymorphe Enzyme meist nur gering ist,wird vermutet, dass das Zusammenspiel der vielenam Prozess der Kanzerogenese beteiligten geneti-schen Faktoren in der Summe einen erheblichenEinfluss auf das Krebsrisiko hat. Die Aufkl�rungder Sequenz des menschlichen Genoms und die mo-dernen Mçglichkeiten der gleichzeitigen Analysediverser Gene mittels Array-Techniken bieten dieMçglichkeit, in der Zukunft individualisierte Risi-koprofile zu erstellen.Die Daten zur Tumorinzidenz in verschiedenen

Bevçlkerungsgruppen der USA weisen auf einenethnischen Einfluss auf das Krebsrisiko hin. BeiAfroamerikanern werden erhçhte Raten an Tumo-ren der Speiserçhre, Leber, Magen, Lunge, Pank-reas und Prostata sowie an pr�menopausalemBrustkrebs beobachtet. Dagegen ist bei europ�isch-

st�mmigen US-B�rgern die H�ufigkeit von Mela-nomen, Leuk�mien, Lymphomen, Tumoren des En-dometriums, der Schilddr�se, Harnblase und desGehirns sowie von postmenopausalem Brustkrebshçher. Einerseits wurden in molekular-epidemiolo-gischen Studien entsprechende ethnisch bedingtegenetische Unterschiede in der Enzymausstattungnachgewiesen, anderseits spielen hier aber auchethnische Unterschiede hinsichtlich demographi-scher, sozioçkonomischer und umwelt- oder ern�h-rungsbedingter Faktoren eine Rolle. Dies wurdeauch durch die bereits erw�hnten Studien an Ein-wanderern aus asiatischen L�ndern in die USA oderIsrael deutlich.In der �berwiegenden Mehrzahl der F�lle ist

Krebs eine Erkrankung des Alters, daher ist die Zu-nahme der Krebserkrankungen im vergangenenJahrhundert auch eine Folge der erhçhten Lebenser-wartung. Vermutlich spielen dabei neben der le-benslangen Akkumulation von L�sionen im Genomauch die Abnahme der DNA-Reparaturkapazit�tund reduzierte Immunfunktionen eine Rolle. Wegender langen Latenzzeit und der komplexen Mecha-nismen der Kanzerogenese wird allerdings vermu-tet, dass urs�chliche Expositionen h�ufig schon inder Jugend liegen. Experimentelle Studien und ne-gative Erfahrungen mit Medikamenten in derSchwangerschaft (Diethylstilbestrol) belegen, dassbereits die transplazentare Exposition in utero dasKrebsrisiko im sp�teren Leben erhçhen kann. Auchkonnte gezeigt werden, dass Kleinkinder relativzum Kçrpergewicht h�ufig erhçhten Dosen an kan-zerogenen Stoffen in der Nahrung oder Umweltme-dien ausgesetzt sind. Expositionen in der pubert�renEntwicklungsphase gelten ebenfalls als besondersentscheidend, weil es hier zur Ausdifferenzierungder Geschlechtsorgane kommt. So war bei �berle-benden der Atombombenabw�rfe im Zweiten Welt-krieg das Brustkrebsrisiko in besonderem Maße er-hçht, wenn die Strahlenexposition in der Pubert�terfolgte. Auch das Zigarettenrauchen gilt in der Ju-gend als besonders gef�hrlich f�r die sp�tere Ent-wicklung von Lungentumoren.Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Tu-

morinzidenz werden nat�rlich in erster Linie bei Se-xualhormon-abh�ngigen Tumoren (Brustdr�se, En-dometrium, Prostata) beobachtet, aber auch beimLungenkrebs weisen Frauen offenbar eine hçhereEmpfindlichkeit auf als M�nner. So wurden beiweiblichen Zigarettenrauchern langsamere Nikotin-exkretion, hçhere Cytochrom P450-Aktivit�t (wich-tig f�r die metabolische Aktivierung kanzerogenerSubstanzen im Tabakrauch) und hçhere DNA-Ad-duktgehalte in der Lunge beobachtet.

Historischer R�ckblick und Epidemiologie 161

Page 15: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Die genetische Epidemiologie, hier das Studium ei-ner genetischen Pr�disposition f�r Kanzerogenese,ist ein wichtiges Feld aktueller und zuk�nftigerKrebsforschung. Neben heredit�ren Krebs-Syndro-men (Retinoblastom, Wilms-Tumor, Xerodermapigmentosum) gibt es auch genetische/famili�reKrebs-Dispositionen mit bisher unbekannter Ursa-che (bekannte F�lle einer famili�ren Krebsh�ufung

wie der Magenkrebs in der Familie Napoleons). F�rden Betroffenen ist das Risiko um ein Vielfacheserhçht: So haben Tr�ger erblicher BRCA1-Mutatio-nen ein bis zu 40-fach erhçhtes Risiko, an Brust-krebs zu erkranken, meist in fr�hem Alter. In vielen

162 Chemische Kanzerogenese

Tab. 8.1: Substanzen, Mischungen, biologische und physikali-sche Faktoren mit nachgewiesener humankanzerogener Wir-kung (IARC Gruppe 1).

Substanzen oder Substanz-gruppen

Arzneimittel

Aflatoxine4-AminobiphenylArsen und -VerbindungenAsbestBenzolBenzidinBeryllium und -VerbindungenBis(chlormethyl)etherCadmium und -VerbindungenChrom-Verbindungen(hexavalent)ErioniteEthylenoxid2-NaphthylaminNickel-VerbindungenRadon und seineZerfallsprodukteSenfgas (sulfur mustard)Silica, kristallinTalkum mit asbestiformenFasern2,3,7,8-Tetrachlorodi-benzodioxinVinylchlorid

Analgetische Mischungen mitPhenacetinAristolochia-haltigeArzneimittelAzathioprineN,N-Bis(2-chloroethyl)-2-naphthylamine(Chlornaphazin)1,4-Butandiol-di(methan-sulfonat) (Myleran)Chloroambucil1-(2-Chloroethyl)-3-(4-methyl-cyclohexyl)-1-nitrosoharnstoff(Methyl-CCNU)CyclophosphamidCiclosporinDiethylstilbestrolKontrazeptiva, oralMelphalan8-Methoxypsoralen plusUV-Strahlungstrogen-Ersatztherapiestrogene, nichtsteroidalstrogene, steroidalTamoxifenThiotepaTreosulfan

Mischungen Biologische undphysikalische Faktoren

Alkoholische Getr�nkeBetelnuss-KautabakHolzstaubKohlenteerKohlenteer-PechMineralçlRußSchieferçlTabak-Produkte (rauchfrei)Tabakrauch

Ionisierende Strahlung,32P-Phosphat, 239Pu, 131I,Neutronen, 222Rn, 224Ra,228Ra, 132ThUV-Strahlung, SonnenlichtHepatitis B-VirusHepatitis C-VirusHTLV 1Human immunodeficienyVirusesEpstein-Barr-VirusHuman papilloma Virus(Typ 16 und Typ 18)Helicobacter pyloriOpisthorchis viveriniSchistosoma haematobium

Tab. 8.2: Substanzen, Mischungen, Arzneimittel, biologischeund physikalische Faktoren mit wahrscheinlich humankanzero-gener Wirkung (IARC Gruppe 2A).

Substanzen oderSubstanzgruppen

Arzneimittel

AcrylamidBenz[a]anthracenBenzidin-Farben1,3-ButadienCaptafola-Chlorierte Toluole (Benzal-chlorid, Benzo-trichlorid,Benzylchlorid, Benzoylchlorid)4-Chloro-ortho-toluidinDibenz[a,h]anthracenDiethylsulfatDimethylcarbamoylchlorid1,2-DimethylhydrazinDimethylsulfatEpichlorhydrinEthylendibromidN-Ethyl-N-nitrosoharnstoffFormaldehydGlycidolIQ (2-Amino-3-methyl-imidazo[4,5-f]chinolin)4,40-Methylenbis(2-chloro-anilin) (MOCA)MethylmethansulfonatN-Methyl-N0-nitro-N-nitroso-guanidin (MNNG)N-Methyl-N-nitrosoharnstoffNitrogen mustardN-NitrosodiethylaminN-NitrosodimethylaminStyrol-7,8-oxidTetrachlorethylenortho-ToluidinTrichlorethylen1,2,3-TrichloropropanTris(2,3-dibromopropyl)-phosphatVinylbromidVinylfluorid

AdriamycinAndrogene (anabole) SteroideAristolochia-S�urenAzacytidinBischloroethyl-nitrosoharnstoff(BCNU)Chloramphenicol1-(2-Chloroethyl)-3-cyclohexyl-1-nitrosoharnstoff (CCNU)Chlorozotozin (DCNU)CisplatinEtoposid5-MethoxypsoralenPhenacetinProcarbazinhydrochloridTeniposid

Mischungen Biologische undphysikalische Faktoren

Kreosot (aus Kohlenteer)Diesel-AbgasHeißer Mate-TeePolychlorierte Biphenyle

Clonorchis sinensisHuman papilloma-Virus Typ 31Human papilloma-Virus Typ 33Kaposi�s sarcoma herpesvirus/human herpesvirus 8UV-Strahlung AUV-Strahlung BUV-Strahlung C

Page 16: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

F�llen heredit�rer Krebserkrankungen konnten dieurs�chlichen Gendefekte identifiziert werden. Oftist bei den Betroffenen ein Allel des entsprechendenTumorsuppressorgens defekt. Der Funktionsverlustdes anderen Allels (durch Mutation, Hypermethy-lierung, Allelverlust) kann dann zur Erkrankungf�hren. So konnte gezeigt werden, dass Mutationenin Tumorsuppressorgenen f�r famili�re adenomatç-se Polyposis (APC), medull�re Schilddr�senkarzi-nome (RET), Melanom (CDK4) und f�r Brust- undOvarialkrebs (BRCA1, BRCA2) pr�disponieren. Ins-gesamt gesehen sind diese genetisch bedingtenKrebsformen aber selten, erbliche Formen machennur einen vergleichsweise geringen Anteil allerKrebserkrankungen aus. So werden heute 5% derBrustkrebs-Inzidenz als heredit�r bedingt angese-hen. Im Gegensatz dazu sind genetisch determinier-te Varianten der im Aktivierungsmetabolismus be-teiligten Enzyme h�ufig. Diese Polymorphismenhaben zwar f�r den Einzelnen nur eine geringe Er-hçhung des Krebsrisikos zur Folge, sind aber in Be-zug auf die gesamte Bevçlkerung von erheblicherBedeutung.

8.3 Das Mehrstufenmodellder Kanzerogenese

8.3.1 Definition von Kanzerogenen

Chemische Kanzerogene sind operational definiertals Substanzen, die Krebs induzieren, also verant-wortlich sind f�r:

n die Induktion von Tumoren, die in nicht-expo-nierten Individuen nicht gesehen werden,

n die erhçhte Inzidenz von Tumoren, die auch innicht-exponierten Individuen gesehen werden,

n die fr�here Entwicklung von Tumoren, die innicht-exponierten Individuen erst sp�ter gesehenwerden,

n die erhçhte Multiplizit�t von Tumoren.

Nach Applikation eines chemischen Kanzerogensentstehen Tumoren, deren Anzahl und Latenzzeitvon der Dosis des Kanzerogens abh�ngen. Insoferngilt auch f�r Kanzerogene das Gesetz des Paracel-sus, wonach die Dosis �ber die toxische Wirkungentscheidet. Auch die andauernde, chronische Ein-wirkung von sehr geringen Dosen kann die Tumor-rate erhçhen. �ber 500 chemische Substanzen hat-

ten bereits bis 1962 tierexperimentell kanzerogenesPotential gezeigt. Eine Auswahl der von der Inter-national Agency for Research on Cancer (IARC)der WHO als nachgewiesen oder wahrscheinlichhumankanzerogen eingestuften Substanzen findetsich in den Tabellen 8.1 und 8.2. Tabelle 8.3 gibteinen �berblick �ber die verschiedenen Klassifizie-rungssysteme f�r Humankanzerogene, wie sie vonunterschiedlichen Gremien/Organisationen einge-f�hrt wurden. Die Einstufung der einzelnen Sub-stanzen orientiert sich dabei prim�r an der Verf�g-barkeit und der Qualit�t epidemiologischer (not-wendig zur Einstufung in die jeweils erste Katego-rie) oder tierexperimenteller Daten, nicht an derkanzerogenen Wirkst�rke. Eine Ausnahme stellt dasKlassifizierungssystem der MAK-Kommission derDeutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) dar.

8.3.2 Initiation, Promotionund Progression

Der Beginn des 20. Jahrhunderts kann als der Be-ginn der experimentellen Krebsforschung bezeich-net werden; als ihr Pionier wird der japanische Pa-thologe K. Yamagiwa (1863–1930) mit seinem As-

Das Mehrstufenmodell der Kanzerogenese 163

Tab. 8.3: Klassifizierung von Humankanzerogenen.

IARC (International Agency for Research on Cancer) derWHO

Group 1 Carcinogenic to humans

Group 2A Probably carcinogenic to humans

Group 2B Possibly carcinogenic to humans

Group 3 Not classifiable

Group 4 Probably not carcinogenic to humans

MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Kategorie 1 Nachgewiesen kanzerogen im Menschen

Kategorie 2 Wahrscheinlich kanzerogen im Menschen

Kategorie 3A Keine Einstufung (Datenmangel)

Kategorie 3B Verdachtsstoffe, keine Einordnung in andereKategorie mçglich

Kategorie 4 Nicht-genotoxischer Wirkmechanismus

Kategorie 5 Genotoxisch mit geringer Wirkungsst�rke

Europ�ische Union

Kategorie 1 Nachgewiesen kanzerogen im Menschen

Kategorie 2 Wahrscheinlich kanzerogen im Menschen

Kategorie 3 Mçglicherweise kanzerogen im Menschen

Page 17: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

25 Kohlenwasserstoffe

Albrecht Seidel, Pablo Steinberg, Klaus Appel, Alfonso Lampen,Hermann M. Bolt und G�nter Koss=

25.1 AromatischeKohlenwasserstoffe

25.1.1 Benzol

Benzol ist eine Vorstufe bei der Synthese von Sty-rol, alkylierten, nitrierten und halogenierten Benz-olen, Phenolen, Anilin, Hexachlorcyclohexan, unddarf seit dem Jahr 2000 in Deutschland und L�n-dern der europ�ischen Union nur bis zu 1% im Ot-tokraftstoff enthalten sein. Gem�ß einer Konventionder Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von1972 ist die Verwendung von Benzol untersagt (au-ßer beim Ottokraftstoff), wenn geeignete Substitu-tionsprodukte zur Verf�gung stehen. Seine Jahres-produktion in der Bundesrepublik betrug 2009 etwa1,65 Mio. t. Benzolemissionen beliefen sich im Jahr1983 auf knapp 70 000 Jahrestonnen in der Bundes-republik (alte L�nder). Davon gingen 80–90% aufden Kraftfahrzeug-Verkehr zur�ck. Seit der Be-schr�nkung des Benzolgehalts im Ottokraftstoffund sch�rferer Abgasnormen sind die kraftverkehrs-bedingten Benzolemissionen r�ckl�ufig. Als nat�r-licher Bestandteil ist es im Erdçl, Erdgas und Stein-kohlenteer enthalten. Ferner ist es Bestandteil desTabakrauches. Seine biogene Entstehung aus Sub-stanzen biologischer Bedeutung (z. B. durch Decar-boxylierung der Benzoes�ure) ist vermutlich zu ver-nachl�ssigen. Sowohl Produktionsumfang und Ver-wendung als auch eine mangelhafte Entsorgungf�hren zu ubiquit�rer Kontamination und infolge-dessen seit Jahrzehnten zu einer kontinuierlicherAufnahme mit der Atemluft sowie �ber Lebensmit-tel und Trinkwasser. Seit dem Jahr 2010 gilt einLuftgrenzwert f�r Benzol von 5 mg/m3. Bereits seit2007 wurden deutschlandweit selbst in Ballungs-r�umen keine �berschreitungen dieses Grenzwertesmehr beobachtet. Die Jahresmittelwerte liegen der-zeit zwischen 1–2 mg/m3.Wichtigste Aufnahmequellen f�r den Menschen

sind das Rauchen und die Aufnahme mittels konta-minierter Atemluft, w�hrend die Aufnahme vonBenzol aus Nahrungsmitteln und Trinkwasser f�r

die Belastung des Erwachsenen nur eine unterge-ordnete Rolle spielt. Bei einem Raucher mit einemKonsum von 10 Zigaretten t�glich liegt die inhalati-ve Aufnahme durchschnittlich bei 200 mg Benzol/Tag. Sch�tzungen ergeben, dass der Mensch �berdie verschiedenen Aufnahmepfade etwa 250 mg/Tagaufnimmt. Im Einzelfall kçnnen am Arbeitsplatzgrçßere Benzolmengen inhalativ und dermal aufge-nommen werden.

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung

Nach inhalativer Aufnahme folgt die Benzolresorp-tion einer S�ttigungskinetik. Bei Beginn einer Ben-zol-Exposition werden ca. 80% des Benzols resor-biert. Im Gleichgewicht zwischen Inhalation undExhalation liegt die Resorptionsquote zwischen 40und 50%. Der Zeitpunkt der Gleichgewichtseinstel-lung ist von Ventilationsparametern (Atemminuten-volumen) und der individuellen Aufnahmekapazit�t(Biotransformation, Fettgewebe) abh�ngig. Ruhen-de M�nner (Atemminutenvolumen von 7,4 l/min)resorbieren beispielsweise bei einer Konzentrationvon 3,25 mg Benzol pro m3 Luft etwa rund 0,72 mgBenzol/h, w�hrend sie bei schwerer Arbeit (Atem-minutenvolumen von 43 l/min) 4,2 mg Benzol/h re-sorbieren. Die Geruchsschwelle liegt bei 16 mg/m3

Luft. Benzol wird dermal gut resorbiert. Diemenschliche Haut kann 400 mg/cm2/h nach Auftra-gen fl�ssigen Benzols resorbieren. Beim Rhesusaf-fen wurde eine Resorption von 7 mg/cm2 und Stun-de ermittelt. Bei epikutaner Applikation einer Lç-sung von Benzol in anderen Lçsemitteln ist dieMenge an Benzol, die resorbiert wird, wesentlichgeringer. Bei Exposition gegen�ber Benzol in derLuft ist die dermale Aufnahme von Benzol prak-tisch ohne Bedeutung.Oral zugef�hrtes Benzol wird nahezu vollst�ndig

aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert. Nach ora-ler Gabe von 1,5 mg/kg 14C-Benzol (entsprechend16 mg/m3 Luft, 6 h eingeatmet) findet sich beimVersuchstier Radioaktivit�t in Leber, Niere, Blut,Knochenmark, Nasen- und Rachenhçhlen sowie inZymbal- und Brustdr�se. Bei Erhçhung der Dosis

Aromatische Kohlenwasserstoffe 593

Page 18: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

auf 15 mg/kg (entsprechend 160 mg/m3 Luft, 6 heingeatmet) reichert sich Radioaktivit�t in der Zym-bal- und Brustdr�se an.Die Verteilung im Organismus h�ngt wegen der

Lipophilie des Benzols wesentlich vom Lipidgehaltder Organe und Gewebe ab (Tab. 25.1). Das Fettge-webe weist die hçchste Konzentration und Spei-cherkapazit�t auf (Abb. 25.1). Im Blut stellt sich einVerteilungsverh�ltnis von 2:1 zwischen Erythrozy-ten und Plasma ein. Inhalationsstudien an der Rattezeigen, dass die Benzolkonzentration innerhalb von4 h im Blut, innerhalb von 6 h im Fettgewebe undin weniger als 2 h im Knochenmark ein Gleichge-wicht erreichen kann. Die Verteilung von Benzolim Organismus ist weitgehend unabh�ngig von derSpezies und von der Applikationsart.Hepatische Cytochrom-P450-abh�ngige Mono-

oxygenasen (CYP, vorrangig CYP2E1) katalysierendie Addition eines Sauerstoffatoms an den Benzol-

ring. Das gebildete Arenoxid ist ein reaktives, kurz-lebiges Intermedi�rprodukt, das in einem tautomerenGleichgewicht mit dem Oxepin existiert und sichnach Aufnahme hoher Benzoldosen nichtenzyma-tisch haupts�chlich in Phenol umlagert. Ein kleinererAnteil des Arenoxids wird durch mikrosomale Epo-xidhydrolase zum trans-Dihydrodiol umgesetzt unddies anschließend durch Dihydrodiol-Dehydrogena-sen ins Katechol �berf�hrt. Alternativ kann dasArenoxid in Gegenwart von Glutathion S-Transfera-sen (GST) mit Glutathion (GSH) konjugiert werden.Das GSH-Konjugat wird anschließend in die nieren-g�ngige Phenylmerkapturs�ure umgewandelt (Abb.25.2). Bei kleineren Benzoldosen (5 ppm in der Luftentsprechend 1,5 mg/kg KG) katalysieren CYP-En-zyme durch Ringoxidation die Bildung von Phenol,Katechol und Hydrochinon sowie von 1,2,4-Trihyd-roxybenzol. Aus dem Gleichgewicht zwischenArenoxid und Oxepin, oder dem trans-Dihydrodiolsowie �ber das Katechol kann nach Ringçffnungtrans, trans-Muconaldehyd entstehen, der durchweitere Oxidation in trans, trans-Mucons�ure �ber-f�hrt wird. In der Leber und zum kleineren Teil auchim Zielorgan der Benzoltoxizit�t, dem roten Kno-chenmark, werden die hydroxylierten Metaboliten inGlucuronide und Sulfatkonjugate umgewandelt.Nichtkonjugierte Metaboliten unterliegen nach

ihrer Aufnahme in das Knochenmark weiteren Oxi-dationsprozessen. Hier finden sich rund 90% der imKçrper vorkommenden granulozyt�ren Leukozyten.Sie besitzen die F�higkeit zum „oxidative burst“, ei-ner besonderen Form des oxidativen Metabolismus.Dabei kommt es zur Freisetzung verschiedener ly-sosomaler und peroxidativer Enzyme sowie vonOxidanzien einschließlich H2O2 und deren Transferin die Phagosomen und in den Extrazellul�rraum.Zu den Enzymen gehçrt die Myeloperoxidase, diein peripheren neutrophilen Granulozyten bis zu 5%der Trockenmasse ausmacht. In den im Knochen-mark befindlichen, noch nicht ausgereiften Granu-lozyten kann der Gewichtsanteil der Myeloperoxi-dase noch hçher sein. Phenol, Hydrochinon und Ka-techol scheinen potenzielle Substrate dieser Peroxi-dase zu sein. „Oxidativer burst“ stimuliertermenschlicher Leukozyten f�hrt zur Umwandlungvon Phenol in Reaktionsprodukte, die kovalent anzellul�re Strukturen binden. In In-vitro-Studienwurden Biphenole und 4,40-Diphenochinon identifi-ziert. Katalase und Natriumazid unterbinden dieBildung derartiger Reaktionsprodukte vermutlichdurch Entgiftung des H2O2 bzw. durch Hemmungder Myeloperoxidase. Die Bindung wird außerdemdurch GSH und Ascorbins�ure unterbunden. BeideFaktoren haben die Eigenschaft eines Antioxidans,

594 Kohlenwasserstoffe

Tab. 25.1: Gemessene Benzolkonzentration in Blut und Gewebeund berechnete Benzolkonzentration im Fett dieser Gewebe vonRatten nach einer 6-h-Exposition gegen�ber 1,62 g Benzol pro m3

Luft. Es ergibt sich das Bild einer Gleichverteilung. Die Berech-nung erleichtert die Absch�tzung der insgesamt vom Organismusretinierten Benzolmenge, wenn f�r die analytische Erfassung le-diglich Blut verf�gbar ist.

Benzolgehaltin mmg/g Frisch-g/g Frisch-gewichtgewicht

Fettgehalt inmg/g Gewebe

Benzolgehaltin mmg/g Fettg/g Fett

Blut 11,5 35 329

Knochen-mark

37,0 100 370

Fettgewebe 164,4 600 274

1000

100

10

μg/g

Milz

ZNS

Leb

er

Blu

t

Lun

ge

Nie

re

Kn

och

enm

ark

Fett

gew

ebe

Abb. 25.1: Benzolkonzentrationen im Fließgleichgewicht bei ei-ner 6-h-Exposition von Ratten gegen�ber 1,62 g Benzol pro m3

Luft. Die Konzentrationen sind in mg Benzol/g Frischgewicht an-gegeben (nach Rickert et al. 1979).

Page 19: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

wodurch beispielsweise das Phenoxy-Radikal zuPhenol reduziert wird. In gleichen Tests wurde dieoxidative Umwandlung von Hydrochinon in 1,4-Benzochinon beobachtet. Auf die Myeloperoxida-se-abh�ngige Hydrochinonoxidation kann Phenolstimulierend einwirken. Neben der Myeloperoxida-se spielen vermutlich auch andere Peroxidasen so-wie die Hydroperoxidase-Komponente der Prosta-glandinsynthase eine Rolle bei der Hydrochinon-Aktivierung. Die Beeintr�chtigung der metaboli-schen Umwandlung von Benzol in der Leber durchandere Substanzen sowie eine partielle Hepatekto-

mie mindern das Ausmaß Benzol-induzierter Effek-te. Toluol antagonisiert die h�matotoxischen undgenotoxischen Effekte von Benzol durch kompetiti-ve Hemmung mikrosomaler Biotransformationspro-zesse. Andererseits zeigen Tierexperimente auch,dass die Zufuhr beider Substanzen zu grçßeren neu-rotoxischen Effekten (Konzentrationserhçhung beibiogenen Aminen in verschiedenen ZNS-Regionen)f�hren als die Zufuhr der einen oder der anderenSubstanz allein. Ursache ist vermutlich die einge-schr�nkte Biotransformation, die sich daraus erge-bende verl�ngerte Halbwertszeit und zunehmende

Aromatische Kohlenwasserstoffe 595

6

5

1 2 3

8

7

9 10 11 9

4

OH

OO

OH

OH

H

O

H

O

OH

SG

HOS

OH

O

HO

O

OH

OH

OH

GSH

OSO3-

NIH-shift

OH

OOH

OHO

COOH

SULT UDP-GT

EPHX1

O

OO

O

OH

OH

OH

OHOH

OH

Cys – NHAc

[Ox][Ox]

[Red] [Red]

Umlagerung

CYP

CYP CYP

AKR

Abb. 25.2: Biotransformation von Benzol in der Leber des S�ugetiers einschließlich reaktiver Intermedi�rprodukte und identifizierterMetaboliten. Wie am Beispiel des Phenols selbst gezeigt, werden phenolische Metaboliten in ausscheidbare Glucurons�ure- *11 undSchwefels�urekonjugate � umgewandelt. Benzol wird besonders durch CYP2E1 zum Arenoxid � oxidiert, das im tautomeren Gleichge-wicht mit dem Oxepin ` steht und nichtenzymatisch in Phenol oder durch mikrosomale Epoxidhydrolase (EPHX1) in das trans-Dihydro-diol ´ umgewandelt wird. Die Metaboliten 2 und 3 sowie Katechol ergeben nach Ringçffnung den trans,trans-Muconaldehyd ˆ, derzur trans,trans-Mucons�ure oxidiert wird. Das Arenoxid wird außerdem durch Glutathion S-Transferasen mit Glutathion konjugiert ˜.Aus dem Glutathionkonjugat (Pr�-Merkapturs�ure) entsteht Phenylmerkapturs�ure ¯. Die aus Phenol entstehenden Metaboliten 1,4-Hydrochinon und Katechol gehen durch schrittweise Oxidation in p- ˘ und o-Benzochinon ˙ �ber und bilden durch weitere Oxidationgemeinsam das 1,2,4-Trihydroxybenzol ¨. In der Maus zeigen sich nach Inhalation von 16 mg Benzol/m3 Luft unverh�ltnism�ßig hoheKonzentrationen an Hydrochinonkonjugaten und Mucons�ure, w�hrend nach Inhalation von 1900 mg Benzol/m3 vermehrt GSH- undPhenylsulfatkonjugate nachweisbar sind.

Page 20: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Konzentration beider Aromaten im ZNS. Die be-obachtete Neurotoxizit�t wird auf die Muttersubs-tanzen zur�ckgef�hrt. Die gleichzeitige Zufuhr vonBenzol und Blei oder Alkohol f�hrt zu einer Beein-tr�chtigung der H�m- und Proteinsynthese bei denVorstufen der roten Blutzellen.Die Eliminationskinetik des Benzols wird durch

die hohe Biotransformationsrate und durch den ho-hen Dampfdruck (157,8 mbar bei 30 �C) bestimmt.Die Eliminationshalbwertszeit der unver�ndertenSubstanz in den Geweben der Ratte liegt zwischen0,4–0,8 h (Blut, Knochenmark, Leber, Lunge, Nie-re, Milz und ZNS) und 1,6 h (Fettgewebe). Die Eli-minationshalbwertszeit des Hauptmetaboliten Phe-nol im Blut betr�gt rund 1h. Im Gegensatz dazubleiben die Konzentrationen von Catechol und Hyd-rochinon im Blut �ber einen weiten Zeitbereichnach Expositionsende (9 h) nahezu unver�ndert.Die Ausscheidung des unver�nderten Benzols (ca.50%) erfolgt haupts�chlich �ber die Lunge (Exhala-tion). Im Tierexperiment zeigen sich mehrere Pha-sen mit zunehmender Halbwertszeit (Abb. 25.3).Die Halbwertszeit der initialen pulmonalen Elimi-nation entspricht derjenigen der Benzoleliminationim Blut. Sp�tere Eliminationsphasen haben deutlichl�ngere Halbwertszeiten. Ursache kçnnte ein nichtn�her charakterisiertes tiefes Kompartiment sein.

Mit dem Urin werden haupts�chlich Phenol und invergleichsweise geringerer Menge Hydrochinon,Catechol, Trihydroxychinon, Mucons�ure in freierwie auch in konjugierter Form sowie Phenylmer-kapturs�ure ausgeschieden. Spuren des retiniertenBenzols erscheinen als CO2 in der abgeatmeten Luftund in metabolisierter Form in der Galle.

Akute und chronische Toxizit�t

EineBenzolkonzentration von rund2300 mg/m3Luftf�hrt nach 30–60 min zur Bewusstlosigkeit.65 000 mg/m3Luftkçnnenbereitsnach5–10mintçd-lich sein.ZentraldepressorischeWirkungenstehen imVordergrundderVergiftung.LeichtereFormenderIn-toxikation sind durch subjektive Befindlichkeitsstç-rungen (Schwindel, Benommenheit, Kopfschmerz,Brechreiz, Trunkenheitsgef�hl sowie Rauschzust�n-de und euphorische Gef�hle) gekennzeichnet. Bei la-biler Persçnlichkeitsstruktur kann aufgrund der eu-phorischenWirkungdieGefahr einerBenzolsuchtge-gebensein.SchwereFormenderVergiftungsind�ber-wiegend durch objektivierbare Stçrungen charakte-risiert (Tab. 25.2). In deren Verlauf kann ein Blutge-halt von 1–20 mg Benzol/l auftreten. Mikroskopischerkennbare Ver�nderungen des Blutbildes sind dabeinicht zu erwarten (kurze Expositionsdauer). Bei Auf-nahme großer Benzolmengen sind Sch�digungen vonLeberundNierenichtauszuschließen.Die chronische Exposition gegen�ber Benzol

f�hrt zu einer Beeinflussung des h�matopoetischenSystems auf drei Ebenen, der Erythropoese, Leuko-poese und Thrombopoese (Tab. 25.3).Kasuistiken aus dem gewerblichen Bereich bele-

gen bei l�ngerfristiger Exposition benzolinduzierteH�mopathien mit unterschiedlichem Schweregradund Verlauf. Die diagnostischen Kriterien �berlap-pen sich und kçnnen zeitbedingten faktischen �n-

596 Kohlenwasserstoffe

Ver

ble

iben

der

%-A

nte

il d

es r

etin

iert

en B

enzo

ls100

10

1,0

0,1

t1/2 = 0,7 h

5 10 15 20 25 30 35

Zeit in Stunden

t1/2 =13,1 h

Abb. 25.3: Abnahme der von Ratten nach Beendigung der Expo-sition gegen�ber Benzol (6 h, 1,62 g/m3) retinierten Benzolmengedurch Abatmung (nach Rickert et al. 1979).Der biphasische Verlauf der Benzolelimination ist mathematischals 2-Kompartiment-Modell anzusehen. Das 1. Kompartiment ausBlut, Knochenmark, Leber, Lunge, Niere, Milz und ZNS eliminiertBenzol mit einer Halbwertszeit von t1=2 ¼ 0,7 h. Das 2., so ge-nannte tiefe Kompartiment aus Fettgewebe und Lipiden in ver-schiedenen Organen eliminiert Benzol mit einer Halbwertszeitvon t1=2 ¼ 13,1 h.

Tab. 25.2: Symptomatik einer schweren Benzolvergiftung.

Schwindel

Schweißausbruch

Kammerflimmern

Absolute Arrhythmie

Erbrechen

Kr�mpfe

Pupillenstarre

L�hmungserscheinungen

Kreislaufversagen (Todesursache)

Page 21: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

derungen unterliegen. Als folgenschwere Zeichender Benzolvergiftung werden Panmyelophthise(Aplastisches Syndrom), Panmyelopathie und Pan-zytopenie sowie isolierte Zytopenien der drei h�ma-topoetischen Teilbereiche beschrieben. Die Unter-funktion des erythro-, leuko- oder thrombopoeti-schen Systems kann mit der �berfunktion eines an-deren Systems einhergehen. Andererseits kann dieBenzolexposition als erste Reaktion eine Prolifera-tionszunahme („initialer Reizzustand“) im erythro-poetischen oder leukopoetischen System auslçsen,der eine Unterfunktion folgt. Jedoch ist weder einebestimmte Reihenfolge noch eine Kombination derKnochenmarksch�digungen regelhaft zu erkennen.Myeloproliferative Ver�nderungen, denen gelegent-lich eine chronische Panzytopenie vorangeht, kçn-nen zur malignen Erkrankung, d. h. zu eine Leuk�-mie vom akuten myelogenen Typ f�hren. Bereits1977 wurde Benzol aufgrund seiner leuk�mogenenWirkung als Kanzerogen eingestuft.Expositionsdauer und -dosis sowie die Latenzpe-

rioden bis zum Auftreten h�matotoxischer Effektesind nicht eindeutig zu quantifizieren. Eine Depres-sion der Blut bildenden Systeme kann sich bereitsinnerhalb weniger Monate manifestieren. Dabeikann die auslçsende Benzoldosis dem w�hrend derArbeitsschicht auftretenden Konzentrationsbereichvon 6,5 bis 81 mg/m3 entsprechen. Leukosen (Leu-k�mien) traten nach einer Expositionsdauer von 1,5bis 15 Jahren und einer Latenz von bis zu 12 Jahrennach Expositionsende auf. Die damit im urs�chli-chen Zusammenhang stehenden Benzolkonzentra-tionen erstreckten sich �ber den Bereich von durch-schnittlich 513 bis 1594 mg/m3. In einem Fall(chronische Leukose) wurde der untere Konzentra-tionsbereich mit 52 mg/m3 angegeben.

Bei ausreichend hoher Benzolexposition vonVersuchstieren (Ratte, Maus) zeigen sich Verzçge-rungen im Zellzyklus und Ver�nderungen der mito-tischen Indizes im Knochenmark, Untergang vonStammzellen in spezifischen Phasen des Zellzyklus,Hemmung der zellul�ren Funktionen und Sch�denim funktionalen Aufbau des Knochenmarks, wo-durch Stammzellenproliferation und -differenzie-rung gestçrt werden. Die hemmende Wirkung vonBenzolmetaboliten auf die Zellteilung von Promye-lozyten, Myelozyten, Erythroblasten und Pronor-moblasten f�hrt zur Abnahme der Zellzahl. Hier-durch werden Stammzellen �ber Signalmechanis-men zur Differenzierung angeregt, was l�ngerfristigzu einer Verminderung des multipotenten Stamm-zellenpools (colony forming unit stem cell) f�hrenkann. Knochenmarkmakrophagen, die durch Pro-duktion h�matopoetischer Wachstumsfaktoren (In-terleukin 1 und 6, Erythropoetin) Stammzellenproli-feration auslçsen kçnnen, werden als Zielzellenmyelotoxischer Effekte des Hydrochinons und an-derer Benzolmetaboliten angesehen.In-vitro-Studien an Knochenmarkzellen von

M�usest�mmen unterschiedlicher Empfindlichkeitgegen�ber Benzol (Atemluft) belegen eine hohe zy-totoxische Wirksamkeit von Benzochinon und Hyd-rochinon gegen�ber einer fr�hen Vorstufe derErythrozyten (colony forming unit-erythroid [CFU-e]). Deutlich geringer ist die Wirksamkeit des Cate-chols, der Mucons�ure und des Phenols. Die zytoto-xischen Effekte manifestieren sich besonders in dersp�ten DNA-Synthese (S) oder in der pr�mitoti-schen Ruhephase (G2) des Zellzyklus.

Spezielle Toxikologie

Reproduktionstoxizit�t

Die subkutane Applikation von 3 ml Benzol/kg am13. Tag der Schwangerschaft f�hrt bei M�usen zuGaumenspalten und Kiefermissbildungen. Sechs-st�ndige Expositionen vom 6. bis zum 15. Tag derSchwangerschaft gegen�ber 950 bzw. 6900 mg/m3

Luft verursachen bei Ratten eine verzçgerte Ossifi-kation, wovon weibliche Feten in grçßerem Aus-maß betroffen sind als m�nnliche Feten. Diese Ef-fekte wurden nicht beobachtet, wenn die Tiere ge-gen�ber etwa 320 mg/m3 exponiert waren. In denKeimzellen m�nnlicher Tiere ruft Benzol nach ein-maliger oraler Dosis (1 ml/kg) clastogene Ver�nde-rungen hervor. Trotz teratogener Eigenschaft gibtes keinen Hinweis auf einen Einfluss des Benzols

Aromatische Kohlenwasserstoffe 597

Tab. 25.3: H�matopoetische Stçrungen nach chronischer Ben-zol-Exposition.

Benzol-induzierte Ver�nderungen des

ErythropoetischenSystems

LeukopoetischenSystems

Thrombopoeti-schen Systems

An�mie (aplast.) Neutropenie Thrombozyto-penie

ErythroblastischeMyelose,akute Erythr�mie

LeukopenieLeukozytoseLeukose (akute myelo-gene, akute myelo-blastische, chronischemyeloische, chroni-sche lymphatische)Lymphozytose

Granulothrombopenien

Page 22: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

auf die Zahl der Implantationen und Lebendgebur-ten.Bei Exposition gegen�ber 6900 mg/m3 (6 Stun-

den t�glich vom 6. bis zum 15. Tag der Schwanger-schaft) sind Gewicht und L�nge der Feten stark be-eintr�chtigt. Diese Beeintr�chtigungen treten nichtbei Konzentrationen von 950 mg/m3 Luft und weni-ger auf. Es ist ungekl�rt, ob die fetotoxischen Effek-te durch eine reduzierte Futteraufnahme bei denMuttertieren verursacht werden.

Mutagenit�t

Durch kovalente Bindung reaktiver Benzolmetabo-liten (Hydrochinon, p-Benzochinon) an Zellkern-DNA (Deoxyguanosin) kçnnen biologisch stabileSch�den in somatischen Zellen gesetzt werden.Punktmutationen sowie chromosomale Deletionen,Inversionen oder Translokationen kçnnen ebenfallsbei Benzolexposition auftreten und zur Tumorent-stehung beitragen. Chromosomale Ver�nderungen,in die DNA-Segmente einbezogen sind, die grçßerals ein Gen sind, kçnnen Proto-Onkogene aktivierenoder Tumorsuppressorgene deaktivieren. Genotoxi-sche Sch�den, vermutlich ohne urs�chlichen Zu-sammenhang mit der Auslçsung von Krebs, schlie-ßen die Induktion von Mikronuklei in peripherennormochromatischen und polychromatischen Eryth-rozyten und Schwesterchromatidaustausch (SCE) inperipheren Lymphozyten und in Knochenmarkzel-len ein. Das Auftreten von Mikronuklei spiegelt ei-ne Chromosomenfragmentierung durch einen ku-mulativen clastogenen Effekt wider. Zytotoxischeund genotoxische Effekte sind in ihrem Ausmaßvon Geschlecht, Alter und Stamm der Versuchstiere(Maus) abh�ngig. Gegen�ber clastogenen Effektensind m�nnliche Tiere sehr empfindlich, w�hrendweibliche Tiere (einschließlich schwangerer Tiere)eher resistent sind. Menschliche periphere Lympho-zyten reagieren in vivo und in vitro mit Schwester-chromatidaustausch (SCE) und anderen Chromoso-menaberrationen auf eine Benzolexposition. So-wohl Phenol, Katechol, Hydrochinon und 1,2,4-Tri-hydroxybenzol sowie p-Benzochinon induzieren inisolierten peripheren menschlichen Lymphozytendas Auftreten von Schwesterchromatidaustausch(SCE). Dieser Effekt wird durch Zugabe von GSHverhindert.

Kanzerogenit�t

Aus Beobachtungen am Menschen ergaben sich ers-te Hinweise auf leuk�mogene Eigenschaften. Erste

umfassende klinische Studien in den 1970er Jahrenan Arbeitern der t�rkischen Schuhindustrie belegtendie Humankanzerogenit�t von Benzol. Studien amVersuchstier best�tigen die am Menschen gemach-ten Beobachtungen, dass Benzol-induzierte Tumo-ren abh�ngig von Spezies, Geschlecht und Applika-tionsart (s. c., oral, inhalativ) in verschiedenen Be-reichen des Organismus auftreten kçnnen (Tab.25.4). Die Beziehung zwischen der applizierten Do-sis und der Tumorinzidenz ist vermutlich nichtli-near. Im Gegensatz dazu scheint es eine lineare Ab-h�ngigkeit der Tumorentstehung von der Zahl dergenotoxischen Ver�nderungen (DNA-Addukte) imZielorgan zu geben. Die Komplexit�t der Biotrans-formation und der Wirkungen des Benzols spiegeltsich in den verschiedenen Mechanismen wider, dieden malignen Ver�nderungen zugrunde liegen kçn-nen.Denkbar ist die kompetitive Bindung von Benzol

oder eines Metaboliten an Zellmembranrezeptoren.Dadurch kçnnte der Zugang normaler wachstumsre-gulierender Botenstoffe zum Rezeptor blockiertwerden. Ebenfalls denkbar ist die durch Benzoloder seine Umwandlungsprodukte stimulierte �ber-tragung intrazellul�rer Botenstoffe auf den Zell-kern, wodurch Proliferation statt der normalerweiseauftretenden Zelldifferenzierung ausgelçst wird. Inbeiden F�llen w�re Benzol als Promotor einzustu-fen. Als Rezeptor wird die Proteinkinase C angese-hen, die durch Benzol in vitro aktiviert wird. Einweiterer epigenetischer Mechanismus kçnnte dieHemmung der gap junction-Bildung in Zielzellendurch Phenol sein, das Promotor-Eigenschaften be-sitzt. Benzol-induzierte Effekte sind in Tabelle 25.5dargestellt.Der urs�chliche Zusammenhang bleibt jedoch ei-

ner weiteren Pr�fung vorbehalten. Eine Gef�hr-dungsabsch�tzung auf der Basis von Dosis-H�ufig-keitsbeziehungen und Dosis-Wirkungsbeziehungenist daher mit großer Unsicherheit verbunden. Ausden Ergebnissen der amerikanischen National-Toxi-cology-Program-Studie an Ratten und M�usen wirdeine nichtlineare Dosis-H�ufigkeitsbeziehung f�rdie verschiedenen Tumortypen abgleitet. So steigtdie Inzidenz des Zymbaldr�sentumors um das 3-bis 5-Fache an, obwohl die t�gliche Dosis sich nurum das Doppelte (25 bzw. 50 mg/kg) unterscheidet.Andererseits zeigt sich eine Inzidenz von 28% beiNeoplasien des Uterus, wenn 100 mg/kg und Tagverabfolgt werden, und von lediglich 15%, wenndie t�gliche Dosis 25 bzw. 50 mg/kg betr�gt. Ausepidemiologischen Untersuchungen am Arbeits-platz geht hervor, dass bei einer Exposition gegen�ber 32,5 bis 325 mg/m3 Benzol w�hrend des Ar-

598 Kohlenwasserstoffe

Page 23: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

beitslebens zwischen 140 und 170 Leuk�mief�lleauf 1000 Arbeiter auftreten kçnnen. Im Hinblickauf die Gef�hrdung der Allgemeinbevçlkerungdurch Benzol in der Umwelt wird das zus�tzlicheLebenszeitrisiko bei einer Exposition gegen�ber1 mg/m3 mit 1–32 Leuk�mief�llen pro 1 MillionPersonen angegeben.

Immuntoxizit�t

Im Tierexperiment zeigen sich eine Hemmung derReifung und Proliferation von B-Lymphozytenvor-stufen und eine Abnahme der Leukozyten sowie derB- und T-Lymphozytenzahl in Knochenmark, Milzund Thymus. Die Abnahme der B-Lymphozyten istdosisabh�ngig und drastischer als die Abnahme derT-Lymphozyten. Ebenfalls dosisabh�ngig wird dasrelative Gewicht von Thymus und Milz reduziert.Vermutlich blockiert p-Benzochinon durch seineReaktion mit SH-Gruppen des Tubulins die Mitoseder Lymphozyten. Ferner hemmt es die Bildungvon Interleukin 2 und die RNA-Synthese. Hydrochi-non, p-Benzochinon und Catechol hemmen dieWasserstoffperoxidfreisetzung aus stimuliertenMakrophagen. p-Benzochinon mindert die phagozy-tische und zytolytische Aktivit�t von Makrophagengegen�ber Tumorzellen. Die humorale Immunant-wort wird durch Benzol beeintr�chtigt, w�hrend diezellvermittelte Immunantwort unver�ndert bleibtoder bei hçherer Exposition durch Beeintr�chtigungder Suppressor-T-Zellen stimuliert wird.

25.1.2 Toluol

Kohle und Mineralçl sind wesentliche Ausgangs-materialien der industriellen Toluolgewinnung. Da-bei ebenfalls anfallende weitere Alkylbenzole sowieBenzol werden durch Destillation, Waschen mitSchwefels�ure und Redestillation abgetrennt. Hoch-gereinigtes Toluol enth�lt weniger als 0,01% Ben-zol, w�hrend industriell weiterverwendetes Toluol10–20% Benzol und andere Kohlenwasserstoffeenthalten kann. In der Bundesrepublik wurden imJahr 2009 etwa 0,69 Mio. t Toluol produziert. Es istAusgangsstoff bei der Synthese zahlreicher organi-scher Verbindungen. Hauptemittenten sind Kraft-fahrzeuge, Farb- und Deckanstriche (auch Innen-raum), großfl�chig aufgebrachte Klebstoffe (auchInnenraum), Mineralçlindustrie, industrielle Toluol-verwendung und Holzfeuer.Zunehmende Bedeutung hat Toluol in den letzten

Jahren aufgrund seiner Funktion als Benzolersatz(z. B. Lçsemittel) erhalten. Immissionskonzentratio-nen in Ballungsgebieten liegen bei 0,08 mg/m3 undin Reinluftgebieten bei 0,01 mg/m3 und geringerenWerten. Im Innenraumbereich kçnnen Konzentra-tionen von 0,1 bis 0,2 mg/m3 und mehr auftreten.F�r die Allgemeinbevçlkerung wird die t�glicheAufnahme mit 0,2 mg pro Einwohner angenommen,wovon ca. 60% aus der Luft und ca. 40% aus denLebensmitteln stammen. Eine im Einzelfall grçßere

Aromatische Kohlenwasserstoffe 599

Tab. 25.4: Tumoren in Organen und Dr�sen von Ratte undMaus, die auf die langfristige Aufnahme von Benzol zur�ckge-f�hrt werden.Die Zusammenstellung beruht auf der „Carcinogenetic Potency“Datenbank, die allgemein zug�ngliche Fachliteratur sowie die NCI/NTP-Technical Reports des amerikanischen National ToxicologyProgram (NTP) ber�cksichtigt (NCI=National Cancer Institute).

Benzol-induzierte Tumoren in

Ohr/Zymbaldr�se

Harder�scher Dr�se

H�matopoetischem System

Brustdr�se

Nasenhçhle

Ovar

Pr�putialdr�sen

Haut

Magen

Gef�ßsystem

Tab. 25.5: Effekte und Folgeerscheinungen im benzolexponier-ten Organismus.

Benzol-induzierte Kanzerogenese und Leuk�mogenese –Hypothetisch

Effekt Folgeerscheinungen

DNA-Adduktbildung Initiation

Zytotoxischer Schadenan teildifferenziertenKnochenmarkzellen

KompensatorischeStammzellenproliferation

Zytotoxischer Schaden anKnochenmarkstroma undMakrophagen

Beeintr�chtigung derStammzellenproliferationund -differenzierung.(Leuk�mie durch verminderteProduktion von Botenstoffenf�r die Differenzierung)

Immuntoxizit�t �berleben und Proliferationvon Tumorzellen

Deletion oderTranslokation vonChromosomenbruchst�cken

Aktivierung von Onkogenendurch ihre �bertragung aufeinen aktiven Chromosomen-abschnitt oder Inaktivierungvon Antionkogenen

Page 24: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Zufuhr kann sich durch die Kontamination fetthalti-ger Lebensmittel durch Toluol aus der Umgebungs-luft (Innenraum) und durch Tabakrauchen ergeben.Bei der Aufbewahrung von Lebensmitteln undDruckerzeugnissen wie Zeitungen und Zeitschriftenim gleichen Raum nimmt der Toluolgehalt in lipo-philen Lebensmitteln zu.

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung

Der Mensch resorbiert 40 bis 60% des eingeatmetenToluols. Die dermale Resorptionsquote betr�gt 14bis 23 mg Toluol/cm2/h , wenn Toluol in einem li-pophilen Lçsemittel aufgetragen wird und lediglich0,16 bis 0,6 mg/cm2, wenn die Substanz in ges�ttig-ter w�ssriger Lçsung appliziert wird. Die dermaleAufnahme von Toluol aus der Luft bel�uft sich aufmaximal 1% der inhalativen Aufnahme. Die orale

600 Kohlenwasserstoffe

CH3CH2OH

CH2OSO3-

CHO

COOH

CH3

CH3

CH3

OH

OH

OH

SULT

GSH

ALDH

CH2SG

Glucuronid- undSulfatesterbildung

CONHCH2COOH CH2SCH2NAcCOOHGlycin

Hippursäure Benzylmerkaptursäure

CYP

ADH

CYP

Abb. 25.4: Biotransformation von Toluol im S�ugetier. Die Oxidation der Methylgruppe und des Ringes erfolgt durch mikrosomaleCytochrom-P450-abh�ngige Monooxygenasen (CYP). Die Bildung der Benzoes�ure erfolgt stufenweise an der Alkoholdehydrogenase(ADH) und der Aldehyddehydrogenase (ALDH). Die Konjugation mit Glucurons�ure findet erst nach S�ttigung der Konjugationsreaktionmit Glycin zur Hippurs�ure statt. Die Bildung der Benzylmerkapturs�ure erkl�rt sich durch GSH-Konjugation des reaktiven Benzylsulfatsnach dessen Entstehung durch Sulfotransferase(SULT)-Konjugation des Benzylalkohols. Rund 80 % des resorbierten Toluols werdennach Oxidation der Methylgruppe mit Glycin konjugiert und nur rund 1% wird am Ring zu Kresol hydroxyliert. 19 % des resorbiertenToluols werden in unver�nderter Form abgeatmet (nach Dean 1978).

Page 25: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Resorption von Toluol ist nahezu vollst�ndig, aller-dings ist die Resorptionsgeschwindigkeit geringerals nach inhalativer Aufnahme.Die Verteilung von Toluol im Organismus wird

durch den Lipidgehalt in den Geweben und Orga-nen bestimmt. Das Konzentrationsverh�ltnis zwi-schen Blut, Organen (Leber, Lunge, Nieren, ZNS)und Fettgewebe ist 1:1–3:80. Das ZNS von Menschund Ratte weist eine uneinheitliche Verteilung auf.In der Stammregion mit den regulatorischen Zent-ren der Herzt�tigkeit, Vasomotorik und Atmung istder Toluolgehalt nahezu doppelt so hoch wie imHippocampus (endokrine und vegetativ nervçse Re-gulation) und zerebralen Kortex. Bei erhçhter Blut-zirkulation durch kçrperliche Aktivit�t kommt eszur vermehrten Aufnahme in die Skelettmuskulatur,das Herz, das ZNS und das Fettgewebe. Daraus er-gibt sich, dass die Toluolkonzentration in Leber,Niere und Gastrointestinaltrakt vergleichsweise ge-ring ist.Die metabolische Umwandlung (Abb. 25.4) er-

folgt haupts�chlich in der Leber. Toluol interferiertmit der Biotransformation anderer Fremdstoffe. Sohemmt es die metabolische Umwandlung von Ben-zol, Styrol, Xylol und Trichlorethan. Außerdem er-hçht es ebenso wie m- und p-Xylol den Quotientenaus Giftung und Entgiftung der Benzo[a]pyrenme-tabolisierung bei Ratten, wodurch es zu einer Stei-gerung der Benzo[a]pyrentoxizit�t kommt. Ande-rerseits hemmt Ethanol die metabolische Umwand-lung von Toluol, wie Untersuchungen an Druckernzeigen.

Rund 20% des aufgenommenen Toluols wirdvom Menschen wieder abgeatmet und 80% nachMetabolisierung �ber die Niere eliminiert. Die Eli-minationshalbwertszeit von Toluol im subkutanenFettgewebe des Menschen liegt zwischen 0,5 und2,7 Tagen, im Blut zwischen 6 und 8 Stunden (Abb.25.5). Beim Menschen zeigt sich eine Korrelationzwischen der Eliminationshalbwertszeit und demindividuellen Anteil des Kçrperfetts am Gesamtge-wicht. Das bedeutet, dass Toluol umso langsamerausgeschieden wird, je hçher der Fettgewebsanteilam Kçrpergewicht ist.

Akute und chronische Toxizit�t

Reizungen der Schleimh�ute sowie narkotische undneurotoxische Effekte bestimmen das akute Vergif-tungsbild (Tab. 25.6).Nach inhalativer Aufnahme kçnnen Leber- und

Herzfunktionsstçrungen sowie Knochenmarksch�-digung und Ver�nderungen des Blutbildes auftreten.Aufgrund der Datenlage ist es jedoch nicht mçglich,den Einfluss von Benzol zu quantifizieren, das alsVerunreinigung in Toluol vorkommt. In besonderer

Aromatische Kohlenwasserstoffe 601

Tab. 25.6: Wirkung verschiedener Toluolkonzentrationen aufden Menschen bei einmaliger 8-st�ndiger Exposition.Die Effekte sind reversibel. Sie kçnnen bei hohen Konzentrationenjedoch �ber Tage anhalten (nach Fishbein 1985a).

Toluolkonzentrationin der Luft

Wirkung

9,4 mg/m3 Geruchsschwelle(bei kurzfristiger Exposition)

118–375 mg/m3 Schl�frigkeit, Erschçpfung, milde Kopf-schmerzen

750 mg/m3 Milde Rachen- und Augenreizung,verl�ngerte Reaktionsgeschwindigkeit,beeintr�chtigte Wahrnehmung,Kopfschmerzen, Schwindelanfall

1125 mg/m3 Beeintr�chtigung der Koordination(Finger-Versuch, Finger-Nase-Versuch)

1500 mg/m3 Rachen- und Augenreizung,Tr�nenfluss, Par�sthesie, Verwirrtheit

1875–2250 mg/m3 Anorexie, taumelnder Gang, �belkeit,Nervosit�t (h�lt bis zu 24 h nachExpositionsstopp an), Verlust desErinnerungsvermçgens

3000 mg/m3 Mangel an Selbstkontrolle, extremeNervosit�t, motorische Erschçpfung,Schlaflosigkeit (h�lt �ber mehrere Tagenach Expositionsstopp an)

15000 mg/m3 Narkose, kann zum Tod f�hren

45

40

35

30

25

20

15

10

5

01 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Stunden

Tolu

olk

on

zen

trat

ion

(μg

/g)

oral

inhalativ

Abb. 25.5: Ver�nderung der Toluolkonzentration im Blut vonRatten nach einer halbst�ndigen Inhalation von 7600 mg/m3

Toluol in der Luft und einmaliger oraler Gabe von 400 mg/kgKçrpergewicht (Ameno et al. 1992).

Page 26: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Weise bekannt wurde Toluol als Agens f�r Schn�ff-ler („sniffing histories“). Die festgestellten Sympto-me sind motorische Schw�chen, Intentionstremor,Ataxie und seltener zerebrale Atrophie. Mit Aus-nahme des morphologischen Schadens ist nach we-nigen Monaten des Entzugs eine Heilung zumeistmçglich. Zur Vermeidung chronischer gesundheitli-cher Beeintr�chtigung schl�gt die WHO einen Leit-wert von 7,5 mg Toluol/m3 Luft f�r die Allgemein-bevçlkerung vor.

Spezielle Toxikologie

Reproduktionstoxizit�t

Es wurden F�lle beschrieben, in denen Kinder mitZNS-Dysfunktion, Anomalien des Gesichtssch�delsund der Gliedmaßen sowie Wachstumsverzçgerun-gen geboren wurden. Die M�tter hatten w�hrendder Schwangerschaft sowie in den vorausgegange-nen vier bis f�nf Jahren w�hrend des Abbeizensvon Farbanstrichen Toluol eingeatmet. Allerdingsist weder etwas �ber die Toluolkonzentration in derLuft noch �ber die Aufnahme weiterer Lçsemittelbekannt. Bei Ratten, die t�glich vom 1. bis 21. Tagder Schwangerschaft gegen�ber 6000 mg Toluol/m3

Luft exponiert wurden, ergaben sich keine Anhalts-punkte f�r teratogene Eigenschaften des Toluols.Bei 6000 mg Toluol/m3 t�glich w�hrend der ge-

samten Schwangerschaft sterben bei Ratten ca 20%der Embryonen ab. Bei Kaninchen, die w�hrend des6. bis 20. Tages der Schwangerschaft gegen�ber1000 mg/m3 Luft exponiert sind, kommt es zuSpontanaborten.Bei Ratten, die 8 Stunden t�glich vom 1. bis zum

21. Tag der Schwangerschaft gegen�ber 1000 mg/m3 Toluol in der Luft exponiert sind, ist das Fetal-gewicht um 13% reduziert. Toxische Effekte beiden Muttertieren treten bei dieser Konzentrationnicht auf. Bei M�usen, denen t�glich vom 6. bis 15.Tag der Schwangerschaft Dosen zwischen 260 und870 mg/kg KG verabreicht wurden, zeigte sich eineZunahme der embryonalen Letalit�t �ber den ge-samten Dosisbereich und eine Abnahme des Fetal-gewichtes bei Dosen von 430 und 870 mg/kg KG.Bei Kaninchen, die vom 6. bis zum 18. Tag nachder Insemination 6 h t�glich einer Dosis von 113bis 1875 mg/m3 Toluol in der Luft ausgesetzt sind,zeigen sich keine fetalen Ver�nderungen (Weichtei-le, Skelettver�nderungen), die nicht auch in Tierenauftreten, die gegen�ber Toluol nicht exponiertsind. Daraus ist zu schließen, dass Toluol beim Ka-ninchen weder embryotoxische, fetotoxische noch

teratogene Eigenschaften bis zu einer Konzentrationvon 1875 mg/m3 Toluol in der Luft hat. DieserWert wird daher als NOAEL (No Observed Adver-se Effect Level) f�r erwachsene Kaninchen und Ka-ninchen im Fetalstadium angesehen.Bei gleichzeitiger Zufuhr von Toluol und Aspirin

ist das Ausmaß der durch Aspirin induzierten ma-ternalen und embryotoxischen Effekte drastisch er-hçht. Ursache scheint die durch beide Substanzenherbeigef�hrte Minderung des Glycinpools und einedarauf zur�ckzuf�hrende Zunahme des Salicyls�u-regehaltes im Plasma zu sein.

Mutagenit�t und Kanzerogenit�t

Tests an verschiedenen Salmonellatyphimurium-St�mmen und an Escherichia coli ergeben keinenHinweis auf genotoxische und mutagene Eigen-schaften des Toluols.Die kanzerogenen Eigenschaften inhalierten To-

luols wurden in Ratten bis zu einer Konzentrationvon 1125 mg/m3 Luft untersucht. Eine Zunahmeneoplastischer Ver�nderungen wurde weder in denm�nnlichen noch in den weiblichen Versuchstierenbeobachtet. Nach oraler Zufuhr von 500 mg Toluol/kg KG an vier bis f�nf Tagen pro Woche �ber einenZeitraum von 2 Jahren ergab sich bei den Rattenkein Anhalt f�r eine Zunahme der Tumoren. Wider-spr�chlich sind die Ergebnisse nach Auftragen vonToluol auf die Haut von M�usen. In einer Kanzero-genit�tsstudie ergab sich kein Hinweis auf Kanzero-genit�t; in einer anderen Studie (72-wçchige Appli-kation) zeigten sich Karzinome und Papillome derHaut.

25.1.3 Ethylbenzol

Ebenso wie Benzol, Toluol und Xylol wird Ethyl-benzol (BTEX) aufgrund seiner Antiklopf-Eigen-schaften dem Ottokraftstoff zugesetzt. Weitere Ver-wendung findet Ethylbenzol als Ausgangsstoff inder Styrolsynthese und als Lçsemittel (Benzoler-satz). Obwohl es sich neben den anderen Alkyl-benzolen im Mineralçl findet, wird es daraus nichtisoliert, sondern durch Alkylierung von Benzol mitEthylen synthetisiert. Im Jahr 2009 wurden in derBundesrepublik etwa 0,81 Mio. t Ethylbenzol pro-duziert. Der Hauptanteil der Immission stammt ausdem Kfz-Verkehr und dem Gebrauch als Lçsemit-tel. Bei der Pyrolyse von Ethylbenzol entstehenBenzol, Toluol, Phenanthren, Styrol, Biphenyl undverschiedene andere polyzyklische aromatischeKohlenwasserstoffe. In der Gasphase wird Ethyl-

602 Kohlenwasserstoffe

Page 27: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

benzol in Ethylphenole, Benzaldehyd, Acetophenonsowie m- und p-Nitroethylbenzol umgewandelt,wenn es mit OH-Radikalen reagiert, die bei derphotolytischen Umsetzung von Stickstoffoxidenentstehen.Haupteintragspfad f�r den Menschen ist die Luft,

die in Ballungsgebieten bis zu 40 mg//m3 und imInnenraum bis zu 100 mg/m3 enthalten kann. Einebesondere Kontaminationsquelle ist der Tabak-rauch. Als nat�rliche Komponente kann Ethylben-zol in Honig, Jasmin, Papaya, Olivençl und K�sevorkommen.

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung

Die pulmonale und enterale Resorptionsquote beimMenschen ist ungekl�rt. Sie hat aber vermutlich dengleichen Wert wie die anderer Alkylbenzole. Beider Ratte werden pulmonal ca. 60% resorbiert. �berdie Haut wird fl�ssiges Ethylbenzol mit der Ge-schwindigkeit von 22–33 mg/cm2/h aufgenommen.Die Verteilung der resorbierten Substanz ist nichtbekannt. Ihre Elimination erfolgt zum großen Teil�ber die Nieren in Form von Metaboliten. Die meta-bolische Umwandlung betrifft haupts�chlich dieSeitenkette (Abb. 25.6). Ringoxidation hat mit 4%der Biotransformation eine geringere Bedeutung.Die Ausscheidung der Ethylbenzol-Metaboliten er-folgt langsamer als die der Umwandlungsproduktevon m-Xylol. Die gleichzeitige Aufnahme vonEthylbenzol und m-Xylol f�hrt zur gegenseitigenStoffwechselhemmung. Dadurch kommt es zu einerdeutlichen Verzçgerung bei der Ausscheidung ihrerMetaboliten.

Akute und chronische Toxizit�t

Die kurzfristige Exposition gegen�ber 4400 mg/m3

Luft f�hrt zur Reizung der Augen, wobei sich eineToleranz relativ rasch entwickelt. Bei 8800 mg/m3

ist mit Tr�nenfluss, Reizung der Nasenschleimhautund Schwindel und bei 22 000 mg/m3 mit nicht to-lerabler Augen- und Nasenreizung zu rechnen. Sys-temische Vergiftungsbilder sind nicht bekannt.44 000 mg/m3 Luft sind nach wenigen Minuten

und 22 000 mg/m3 nach 30–60 min tçdlich f�rMeerschweinchen. Zeichen der Vergiftung sind pul-monales �dem und generalisierte viszerale Hyper-�mie als Reaktion auf Entz�ndungsreize. Chroni-sche Aufnahme von 1760–2640 mg/m3 Atemluftf�hrte zu einer geringf�gigen Gewichtszunahmevon Leber, Nieren und Testes in der Ratte. Hinwei-se auf h�matotoxische Effekte existieren nicht.

Studien zur Reproduktionstoxizit�t, Mutagenit�tund Kanzerogenit�t liegen nicht vor. Ames-Testsmit den Metaboliten Mandels�ure, Phenylglyoxyl-und Hippurs�ure waren negativ.

25.1.4 Xylol

In Handelsprodukten sind alle drei Isomere (Abb.25.7), die auch Dimethylbenzol genannt werden,enthalten, wovon das meta-Xylol einen Anteil von60–70% haben kann. Außerdem kann es kleinereAnteile an Toluol, Benzol, Trimethylbenzol (Pseu-documen), Phenol, Thiophen, Pyridin und aliphati-schen Kohlenwasserstoffen enthalten. Das techni-sche Produkt, das haupts�chlich aus Mineralçl undKohle gewonnen wird, enth�lt 10–20% ortho-, 44–70% meta- und 20% para-Xylol sowie ca. 10%Ethylbenzol. In der Bundesrepublik wurden im Jahr2009 etwa 0,54 Mio. t Xylole produziert. Das Iso-meren-Gemisch wird haupts�chlich als Teil derBTX (Benzol-Toluol-Xylol)-Komponenten im Ben-zin verwendet. Außerdem finden die Xylole An-wendung als Lçsemittel in Farben und im Drucker-eigewerbe. Wesentliche Emissionsquellen sind Raf-finerien und Kraftfahrzeuge. Im Innenraumbereichsind es zumeist frische Farbanstriche, aber auchKlebstoffe. In Gegenwart von NOx und UV-Lichtwerden 80–90% der von Kraftfahrzeugen emittier-ten Xylole (sowie 30% des Benzols, 68% des To-luols) innerhalb von 6 Stunden chemisch umgewan-delt. Die Luft in Ballungsgebieten (Kfz-Verkehr)kann 15 mg/m3 ortho- und 14–55 mg/m3 meta- undpara-Xylol (Jahresmittelwerte) enthalten. Im Innen-raumbereich kann die Luft aufgrund von baulichenMaßnahmen (Hydrophobisierung der Außenw�nde)bis zu 300 mg/m3 meta- und para-Xylol sowie biszu 40 mg/m3 ortho-Xylol enthalten. Die Geruchs-schwelle liegt bei etwa 4 mg/m3 Xylol.

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung

Haupteintragspfad beim Menschen ist die Atemluft.Die pulmonale Resorptionsquote f�r die drei Isome-re liegt zwischen 60 und 65% bei normaler kçrper-licher Aktivit�t und bei 50% unter dem Einflussschwerer kçrperlicher Arbeit. Das Verteilungsver-h�ltnis zwischen Blut und Gasphase ist 29:1. DieResorption aus dem Intestinaltrakt ist nahezu voll-st�ndig. Die dermale Resorption liegt zwischen 0,7und 4,3 mg/cm2/min. Die perkutane Aufnahme vonXylol aus der Gasphase ist vernachl�ssigbar gering.Die Verteilung in die Organe und Gewebe gleicht

Aromatische Kohlenwasserstoffe 603

Page 28: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

der von anderen Alkylbenzolen. Nebennieren, Kno-chenmark, ZNS, Milz und Fettgewebe weisen ver-gleichsweise hohe Konzentrationen auf.Wesentlicher Stoffwechselweg in Mensch und

Tier ist die Oxidation einer Methylgruppe und die

sich anschließende Konjugation mit Glycin (Me-thylhippurs�ure). Auf diese Weise werden nahezu95% aller drei Isomeren metabolisiert. Ringhydro-xylierung und Konjugation mit Glucurons�ure ha-ben einen Anteil von ca. 2%. Der Nachweis von o-

604

CH2-CH3

CH2-CH3 CH

OH

CH3

OH

CCH3

-Hydroxyacetophenon

O

CCH3O

OH

C

Ethylbenzol

CH2OHO

CYP2E1,CYP2B6

CCH3O

CH

OH

CH2OH

CCOOHO

C

1-Phenylethanol

H

OH

Acetophenon

p-Hydroxyacetophenon

COOH

4-Ethylphenol

Mandelsäure Phenylglyoxylsäure

1-Phenyl-1,2-ethandiol

OH

m-Hydroxyacetophenon

ADH

CYP

CYP

CYP

CYP

Abb. 25.6: Biotransformation von Ethylbenzol im S�ugetier. Die aus den Metaboliten entstehenden Konjugate (Glucuronide, Sulfate,Hippurs�ure) sind nicht dargestellt; CYP = Cytochrome P450-abh�ngige Monooxygenase; ADH = Alkoholdehydrogenase. Urinanalysenergeben, dass 90 % des Ethylbenzols in Mandels�ure und Phenylglyoxyls�ure und 4 % in ringhydroxylierte Metaboliten umgewandeltwerden. Rund 6 % sind nicht bekannte Glutathionkonjugate und unver�ndertes Ethylbenzol (Fishbein 1985).

Page 29: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Methylbenzylmerkapturs�ure in der Ratte sprichtf�r eine Konjugationsreaktion von o-Xylol mitGSH. Die Elimination erfolgt �ber die Lunge (un-ver�ndertes Xylol) und die Nieren (Metaboliten).Sie hat einen zweiphasigen Verlauf mit einer an-f�nglichen Halbwertszeit von 1–2 h und einer sichanschließenden Halbwertszeit von ca. 20 h.

Akute und chronische Toxizit�t

Bei akuter, hçchstens 1–2 h anhaltender Expositiongegen�ber einigen hundert Milligramm Xylol prom3 Luft kommt es zu Schl�frigkeit, Benommen-heit, Kopfschmerzen, Konzentrationseinbuße undSchwindel. Bei chronischer Exposition gegen�berXylol-Konzentrationen in der Luft von 1300 mg/m3

machen sich Anzeichen einer Narkose sowie Funk-tionsstçrungen der Leber, Nieren und der Herzt�tig-keit bemerkbar. Bei Arbeitern der Gummiindustrie,in der verschiedene aromatische Lçsemittel verwen-det wurden, zeigte sich ein geh�uftes Auftreten vonlymphozyt�rer Leuk�mie. Ob dieser Effekt auf Xy-lol zur�ckgef�hrt werden kann, ist zweifelhaft, daneben Xylol auch Benzol Verwendung fand.Bei Ratten, denen 0,5 ml/kg ortho-Xylol i. p. inji-

ziert worden ist, wurde ein signifikant hçherer An-teil an abnormen Spermatozoen beobachtet, wennsie bei erhçhter Raumtemperatur (30 �C) gehaltenwurden.

Spezielle Toxikologie

Reproduktionstoxizit�t

Die Exposition gegen�ber 1500 mg/m3 ortho-Xylolin der Luft vom 7. bis 14. Tag der Schwangerschaftf�hrt bei Ratten zu verminderter Futteraufnahmemit der Folge einer verzçgerten Entwicklung derFeten. Unter gleichen Bedingungen induzieren me-ta- und para-Xylol bei einer Konzentration von3000 mg/m3 das Auftreten �berz�hliger Rippen undortho-Xylol Ossifikationsstçrungen der Feten. BeiM�usen zeigt sich eine Beeintr�chtigung der fetalen

Entwicklung bereits bei 500 mg/m3 von ortho-, me-ta- bzw. para-Xylol.

Mutagenit�t, Kanzerogenit�t

Weder im Knochenmarkzelltest noch im Ames-Testmit und ohne metabolische Aktivierung ergabensich Hinweise auf genotoxische Effekte. In-vitro-Untersuchungen an menschlichen Lymphozyten er-gaben keinen Anhaltspunkt f�r Xylol-induziertechromosomale Aberrationen. Die Pr�fung auf clas-togene Effekte bei Ratten, die bis zu 18 Wochen ge-gen�ber 1320 mg/m3 Luft exponiert wurden, warnegativ.Untersuchungen zur Kanzerogenit�t sind nur be-

grenzt aussagekr�ftig, da nur das Isomerengemischgepr�ft wurde und die chemische Reinheit nichtausreichend belegt ist.

25.1.5 Ethenylbenzol/Styrol

Die Substanz ist auch unter den Bezeichnungen Vi-nylbenzol, Phenylethen und Cinnamol bekannt. Sieist bei Raumtemperatur eine Fl�ssigkeit mit s�ß-lichem Geruch. Die Geruchsschwelle liegt bei0,21–0,33 mg/m3. In Gegenwart von Luftsauerstoffreagiert in die Gasphase �bergegangenes Styrol zuAldehyden, Ketonen und Benzoes�ure, deren ge-meinsames Vorkommen als unangenehmer Geruchwahrgenommen werden kann. Die hohe Reaktivit�tder Seitenkette wird bei der Polymerisation in derKunststoffherstellung genutzt. Weitere Reaktionensind Oxidation, Addition und Dimerisierung. Styrol(Abb. 25.8) wird ausschließlich zur Herstellung po-lymerer Produkte verwendet (Polystyrol, „Styro-por“, Styrol-Butadienkautschuk SBR).Durch Polymerisation von Styrol mit Butadien

entsteht ein Latex, der zur R�ckenbeschichtung vonTeppichbçden verwandt wird. Außerdem entstehen4-Phenylcyclohexen und 4-Vinylcyclohexen als ge-ruchsintensive Nebenprodukte, die den Neugeruchvon Teppichbçden mitbestimmen. Im Jahr 2009wurden in der Bundesrepublik etwa 0,85 Mio. t Sty-rol produziert. Das gemeinsam mit Ethylbenzol

Aromatische Kohlenwasserstoffe 605

CH

CH2

Abb. 25.8: Strukturformel von Styrol.

CH3

CH3

CH3

CH3

CH3

CH3

para-Xylolmeta-Xylolortho-Xylol

Abb. 25.7: Isomere des Xylols.

Page 30: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

beim Cracken von Naphtha zu Pyrolysebenzin ent-stehende Styrol wird nicht isoliert, sondern in wei-teren Prozessen umgesetzt. Im handels�blichen Ot-tokraftstoff ist Styrol nicht enthalten. Emissions-quellen sind Anlagen der Produktion, Lagerung unddes Vertriebs, Dieselmotoren, Flugzeugtriebwerke,Großfeuerungsanlagen und h�usliche Heizungsanla-gen (fossile Brennstoffe). In Ballungsgebieten fest-gestellte Immissionskonzentrationen liegen zwi-schen 0,5 und knapp �ber 100 mg/m3. Im Innen-raumbereich kçnnen die zum Zweck der W�rmeiso-lation verwendeten Baustoffe aus Polystyrol (Rest-monomeren) zur Kontamination der Luft mit Styrolbeitragen. Die Monomerenfreisetzung wird durcherhçhte Luftfeuchtigkeit, nicht aber durch Tempera-tur gefçrdert. Styrolkonzentrationen im Innenraumkçnnen zwischen 1 und 40 mg/m3 Luft liegen. Hç-here Werte kçnnen w�hrend des Tabakrauchensauftreten. Die Verwendung von Verpackungsmate-rial aus polymerisiertem Styrol kann zur Lebensmit-telkontamination f�hren. Verrottung styrolhaltigerPolymere wird als Ursache der Styrolfreisetzungaus M�lldeponien gesehen.

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus,Ausscheidung

Der Mensch nimmt Styrol haupts�chlich mit derAtemluft auf. Dabei werden zwischen 60 und 90%resorbiert. Im Tierexperiment ist die intestinale Re-sorption nahezu vollst�ndig. Aufgrund seiner Lipo-philie wird Styrol bevorzugt in Geweben mit hohemLipidgehalt angereichert. Es wurden Halbwertszei-ten im Blut des Menschen von initial 2 und an-schließend von 41 min gemessen. Von zentraler Be-deutung ist die Oxidation von Styrol zum Epoxid(Styroloxid) durch das mikrosomale CytochromP450-abh�ngige Monooxygenasesystem. Dabei ent-stehen L(+)-7,8-Styroloxid und D(–)-7,8-Styrol-oxid. Aus beiden Oxiden entstehen in Gegenwartder Epoxidhydrolase, Glycoldehydrogenase und Al-dehyddehydrogenase die weiteren Metaboliten ein-schließlich der Mandels�ure als L- und D-Enantio-mere. Die Elimination erfolgt haupts�chlich �berdie Nieren. Ihre Halbwertszeit betr�gt 4–6 h. DerMensch scheidet im Urin 90% des resorbierten Sty-rols in Form der Metaboliten Mandels�ure und Phe-nylglyoxyls�ure aus. Weitere Metaboliten im Urinsind 1- und 2-Phenylethanol.

Akute und chronische Toxizit�t

Bei akuter 1–3-st�ndiger Exposition gegen�ber215,5–850 mg/m3 kçnnen Schleimhautreizungen an

Augen, Nase und Lippen sowie Schwindel, Kopf-schmerzen, M�digkeit, Verwirrung und Konzentra-tionsschw�che als Zeichen zentralnervçser Stçrun-gen auftreten. Wie auch bei anderen Lçsemittelnwurden dar�ber hinaus abnehmende Reizleitungsge-schwindigkeit, Ver�nderungen im EEG und in derOkulomotorik festgestellt. Die ebenfalls beobachteteVerl�ngerung der Reaktionszeit korreliert mit derMenge an Mandels�ure im Urin, nicht jedoch mitder Konzentration an Styrol in der Atemluft.Hepatotoxische Effekte zeigen sich lediglich

nach extrem hoher Exposition. Pulmonale Effekte(chronische Bronchitis) bei chronisch exponiertenArbeitern wurden beobachtet, wenn durchschnitt-lich 800 mg Mandels�ure/l Urin ausgeschiedenwurden. Die daraus berechnete Luftkonzentrationan Styrol lag zwischen 850 und 2215 mg/m3.Die orale LD50 bei der Ratte liegt zwischen 2000

und 5000 mg/kg. Der entsprechende Wert ist bei in-halativer Aufnahme 11 900 mg/kg (LC50).Zeichen der Vergiftung sind Ataxie, Tremor,

Kr�mpfe und Bewusstlosigkeit. Nach subchroni-scher i. p. Zufuhr von 300 mg/kg zeigen sich bei derRatte Nierenfunktionsstçrungen. Derartige Stçrun-gen wurden nach chronischer inhalativer Zufuhr(565 mg/m3, 7 h/d und 5 Tage/Woche �ber 13 Wo-chen) nicht festgestellt.

Spezielle Toxikologie

Reproduktionstoxizit�t

Nach 60-t�giger oraler Zufuhr von 200 mg/kg tretenbei der Ratte degenerative Ver�nderungen der testi-kul�ren Tubuli und eine Verminderung der Sper-mienzahl auf. Die Exposition gegen�ber hohenLuftkonzentrationen (2550 mg/m3) beeintr�chtigtdie Kçrpergewichtsentwicklung und induziert eineGewichtszunahme einzelner Organe bei der Ratte.Das Blutbild ver�ndert sich nur geringf�gig. Terato-gene Eigenschaften sind nicht bekannt.

Mutagenit�t

Genotoxische Effekte (chromosomale Aberration,Schwesterchromatidaustausch, Mikronuklei) wur-den an Lymphozyten von Arbeitern beobachtet, dieein halbes bis ein Jahr und l�nger Konzentrationenin einem Bereich von 23 mg/m3 bis �ber 3000 mg/m3 ausgesetzt waren. Wegen des gleichzeitigenVorkommens anderer Chemikalien ist die Zuord-nung der Effekte zur alleinigen Styrolwirkung je-doch unsicher. Im Ames-Test ohne metabolischeAktivierung ist Styrol nicht mutagen. Dagegen zei-

606 Kohlenwasserstoffe

Page 31: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

gen sich genotoxische Effekte bei Verwendung vonStyrol-7,8-oxid. In S�ugetierzellsystemen in vitrowie in vivo verursachen sowohl Styrol als auch Sty-rol-7,8-oxid DNA-Einzelstrangbr�che.

Kanzerogenit�t

In Studien zur Kanzerogenit�t bei Arbeitern derStyrolproduktion wurde kein Anstieg der allgemei-nen Krebsh�ufigkeit festgestellt. Allerdings wird indiesen Studien auf eine erhçhte Inzidenz lymphati-scher Leuk�mien hingewiesen. In Untersuchungenan Arbeitern der Styrolverarbeitung wurden wider-spr�chliche Ergebnisse ermittelt. Die vorliegendentierexperimentellen Untersuchungen geben Hinwei-se auf eine Zunahme von Mammatumoren bei derRatte bei inhalativer und oraler Styrolzufuhr. Dieseund weitere bereits vorliegende Studien geben der-zeit keine ausreichende Grundlage f�r eine Bewer-tung der kanzerogenen Eigenschaften des Styrols.Im Gegensatz zur unver�nderten Substanz lçst Sty-rol-7,8-oxid nach oraler Zufuhr bei Ratte und MausTumoren im Vormagen aus. Die �ußerst geringeDNA-Addukt-Bildung nach Zufuhr von Styrol-7,8-oxid f�hrte zu einem Schluss, dass dessen tumorige-ne Potenz im Vormagen das Resultat einer Tumor-promotion durch regenerative Hyperplasie ist.

25.2 Polyzyklischearomatische Kohlen-wasserstoffe (PAK)

Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe(PAK) entstehen haupts�chlich durch unvollst�ndigeVerbrennung organischen Materials, insbesonderevon Holz, Kohle und Mineralçl. W�hrend der Pyro-lyse entstehen vermutlich freie Kohlenstoff-, Was-serstoff- und Kohlenwasserstoffradikale, die �ber„naszierendes Acetylen“ zu PAK polymerisieren.PAK sind in Verkehrsmittel-Abgasen aus Ottokraft-stoff, Diesel und Kerosin sowie in Mineralçl (Roh-çl), Teer, Kreosot, Bitumen, Asphalt und in verwen-detem Motorençl („Altçl“) enthalten. Sie entstehenbei der Pyrolyse von Aminos�uren, Fetts�uren, Koh-lenhydraten, Lçsemitteln und Wachs sowie beimRçsten von Kaffee. Von besonderer toxikologischerBedeutung ist das Vorkommen der PAK im Haupt-und Nebenstrom des Tabakrauches sowie in gebrate-nen, gegrillten und ger�ucherten Lebensmitteln.

Quellen der PAK-Entstehung sind nicht nurmenschliche Aktivit�ten, sondern auch nat�rlicheProzesse, wie Wald- und Steppenbr�nde (durchBlitzschlag, Selbstentz�ndung), Vorg�nge, die zurBildung fossiler Brennstoffe f�hrten, Vulkanaktivi-t�t sowie die Biosynthese in Pflanzen (z. B. dasPhenanthrenderivat Aristolochias�ure) und Mikro-organismen.PAK werden haupts�chlich mit der Luft verteilt.

Aufgrund ihrer außerordentlich geringen Fl�chtig-keit (außer zweikernigen Aromaten) ist ihre Ver-breitung an das Vorkommen von Partikeln (Staub,Ruß, Pollen) gekoppelt. Messungen der Luftkon-zentration beschr�nken sich zumeist auf Benzo[a]-pyren als Leitsubstanz, obwohl bislang rund 500PAK in der Luft nachgewiesen wurden (Abb. 25.9).Im st�dtischen Bereich kçnnen Konzentrationen anBenzo[a]pyren zwischen 1 und 10 ng/m3 Luft lie-gen. F�r PAK liegen bisher noch keine verbindli-chen Immissionsgrenzwerte vor. Die vierte Luft-qualit�ts-Tochterrichtlinie der Europ�ischen Unionenth�lt einen Zielwert f�r Benzo[a]pyren von 1 ng/m3 als Jahresmittelwert. Dieser Zielwert soll abdem Jahr 2012 eingehalten werden.In Reinluftge-bieten wurden 1 ng/m3 und weniger festgestellt. ImInnenraum von Wohnungen mit offener Feuerstelle(Kamin) werden hçhere Werte als in der st�dtischenAußenluft gemessen, und an hochbelasteten Ar-beitspl�tzen kçnnen bis zu 100 mg/m3 auftreten.Eine weitere Verteilung ergibt sich �ber Abwas-

ser (Altlasten, Industrie und Gewerbeanlagen) undOberfl�chenwasser. Auch hier sind PAK vornehm-lich an Partikel adsorbiert, da die Wasserlçslichkeitvon drei- und mehrkernigen PAK außerordentlichgering ist. In Trinkwasser sind die PAK-Gehalte ge-setzlich geregelt. So gilt f�r Benzo[a]pyren einGrenzwert von 10 ng/l und die Summe aus vierPAK (Benzo[b]fluoranthen, Benzo[k]fluoranthen,Indeno[1,2,3-cd]pyren, Benzo[ghi]perylen) darf100 ng/l nicht �berschreiten.Bodenproben kçnnen unabh�ngig vom geologi-

schen Alter allein an Benzo[a]pyren 0,8–4,3 mg/kgBoden (Trockengewicht) enthalten. In 74% der un-tersuchten landwirtschaftlich genutzten Bçden(Bundesrepublik, alte L�nder) wurden zwischen 50und 500 mg/kg erfasst (sechs PAK: Tab. 25.7). ImBereich von Altlasten und Altstandorten (Deponien,Metallh�tten, Eisenbahnanlagen, Kokereien), vonVerkehrswegen (Abgase, Asphalt-, Teer- und Rei-fenabrieb) sowie in Gebieten mit landwirtschaftli-cher und g�rtnerischer Nutzung nach Aufbringenvon Kl�rschlamm, M�llkompost, nat�rlichem D�n-ger und Torf kçnnen Bçden zwischen 1300 mg/kg(Landwirtschaft) und 650 000 mg/kg (Kokerei)

Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) 607

Page 32: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

34 Fasern und Nanopartikel

Harald F. Krug, G�nter Oberdçrster und Hartwig Muhle

Die Erkenntnis, dass umweltrelevante St�ube ausVerbrennungsprozessen �ber eine Exposition desMenschen zu Erkrankungen f�hren kçnnen, hat zurerhçhten Sensibilit�t gegen�ber jeglicher Belastungder Lunge durch partikul�re luftgetragene Ver-schmutzungen bzw. Schadstoffe gef�hrt. Eingeat-mete Partikel und Fasern spielen daher bei der all-gemeinen Diskussion um gesundheitliche Sch�deneine große Rolle. Dabei steht zwar nach wie vor dieBelastung am Arbeitsplatz im Vordergrund, aberdie mçglichen Folgen f�r den Anwender oder Ver-braucher von Produkten, die Partikel oder Fasernenthalten, sind von �hnlich großer Bedeutung. Seitder gezielten Synthese von Nanostrukturen in gro-ßem Maßstab wird vermehrt �ber die besondereRolle der Nanoobjekte spekuliert, die in diesem Ka-pitel betrachtet werden sollen. Obwohl verschiede-ne Produkte mit Nanopartikeln bereits seit vielenJahrzehnten auf dem Markt sind (Tab. 34.1), ist mitder Nanotechnologie als neuer Schl�sseltechnologiedes 21sten Jahrhunderts eine neue Qualit�t in die to-xikologische Beurteilung von Partikeln und Faserngekommen.Die WHO hat 1999 eine klare Definition luftge-

tragener St�ube publiziert. Dabei wird zwischenPartikeln und Fasern unterschieden und auf die be-sondere Bedeutung der Sedimentation hingewiesen.So werden Staubpartikel mit einer Grçße > 100 mmallgemein als nicht-luftgetragen eingestuft, da diesein der Regel sehr schnell sedimentieren. Partikel

kleiner als 1 mm nehmen ebenfalls eine Sonderstel-lung ein, da diese so gut wie gar nicht sedimentie-ren und daher relativ lange in der Luft verbleibenkçnnen. Als „mçglicherweise luftgetragen“ werdenSt�ube und Partikel definiert, die einen aerodynami-schen Durchmesser von wenigen Nanometern bis100 mm besitzen, aus unterschiedlichen Quellenstammen und sehr verschiedene physikalische Ei-genschaften haben kçnnen.Beispiele f�r verschiedene Typen von St�uben:

n Mineralischer Staub: kristallines Silikat (z. B.Quarz), Kohlestaub, Zementstaub

n Metallischer Staub: Blei-, Kadmium-, Nickel-oder Beryllium-St�ube

n Andere chemische St�ube: verschiedene großeChemikalienmolek�le oder Pestizide

n Organischer oder pflanzlicher Staub: Mehl,Holzstaub, Baumwolle, Tee, Pollen

n Biologische Risikost�ube: Humuspartikel, Spo-ren, Pollen, Allergene

Fasern sind dagegen von der WHO bereits 1997 ge-sondert definiert, um ihrer besonderen Rolle in derWirkung auf die Atemwege gerecht zu werden. Fa-serst�ube, wie zum Beispiel Asbestfasern, sind mitBezug auf Beeintr�chtigung der Gesundheit defi-niert als Partikel mit einem Durchmesser von

885

Tab. 34.1: Verschiedene Produkte mit Nanopartikeln.

Nanomaterial Zeitraum der Einf�hrung Verwendungsbeispiele

Aerosil (SiO2) 1940er Jahre Additiv zu einer Vielzahl von Anwendungen wieFarben, Lacke, Kosmetika, Kleber, Lebensmittel u.v.m.

Carbon Black 1920er Jahre Additiv zu einer Vielzahl von Anwendungen wieAutoreifen, Farben, Kosmetika, Leder und Textilien u.v.m.

Titandioxid 1950er Jahre Additiv zu einer Vielzahl von Anwendungen wieSonnenschutzcreme, Lebensmittel, Solarzellen, Textilien, Far-ben, Photokatalyse

Nanosilber & 1900Mittelalter und fr�her

Algizid, BakterizidGlasfarbe Gr�n, Textilien

Nanogold Mittelalter und fr�her Glasfarbe Rot, Schwangerschaftstest, Schnelldiagnostika u.�.

Page 33: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

< 3mm, einer L�nge von > 5mm und einem Form-verh�ltnis von mind. 3 : 1 (L�nge : Breite)Wiederum eine neue Materialklasse nehmen seit

kurzem die „Nanomaterialien“ ein, die aufgrund ih-rer Kleinheit unter besonderer Beobachtung stehen.Nach ISO (2008) und der Europ�ischen Kommis-

sion (2011) sind Nanomaterialien nun, wie in derAbbildung dargestellt, definiert (Abb. 34.1).

34.1 Mineralische Fasern

Eine Exposition gegen�ber mineralischen Fasernkann spezifische Erkrankungen verursachen, soferndie Fasern bestimmte Eigenschaften wie eine langgestreckte Form und die Persistenz im Organismusbesitzen.Es gibt eine Vielzahl faseriger St�ube und an-

organischer Fasern, die inhalierbare Faserst�ube bil-den kçnnen (Tab. 34.2). Dar�ber hinaus gibt es Fa-sertypen, die in Form faseriger Bruchst�cke bei derBearbeitung von Materialien entstehen kçnnen oderals Mineralien faserfçrmig vorkommen. Minerali-sche Fasern kçnnen nach ihrer Entstehung (nat�r-lich oder k�nstlich) und ihrer physikalischen Struk-tur (kristallin oder amorph) unterschieden werden.K�nstliche anorganische Fasern liegen in der Regelals glasiges Material vor und werden daher in derenglischsprachigen Fachliteratur als „man-madevitreous fibers“ (MMVF) bezeichnet. Dieser Aus-druck ist pr�ziser als der im Deutschen verwendeteBegriff „k�nstliche Mineralfaser“ (KMF).

886 Fasern und Nanopartikel

Nanotechnologie

Nanomaterialien(äußere oder innere Dimensionen nanoskalig*)

Nanoobjekte(eine oder mehrere äußere Dimensionen nanoskalig*)

Nanopartikel(3 äußere

Dimensionennanoskalig*)

Nanofasern(mind. 2 äußere

Dimensionennanoskalig*)

Nanoplättchen(mind. 1 äußere

Dimensionnanoskalig*)

Nanostrukturierte Materialien(interne oder Oberflächenstruktur nanoskalig*)

Verbund-systeme

Agglo-merate

Aggregate

nano-poröse

SystemeSchäume …………

*: nanoskalig = < 100nm

100

nm

100

nm

100 nm

100

nm

100 nm100 nm

Abb. 34.1: Definition von Nanomaterialien und Nanoobjekten (aus: Krug & Wick, 2011).

Tab. 34.2: �bersicht �ber die bekanntesten anorganischen Fa-sern mit inhalierbaren Anteilen.

Nat�rliche Fasern K�nstliche Fasern

Asbeste

ChrysotilKrokydolithAmositAnthophyllitAktinolithTremolit

„Klassische“ k�nstlicheMineralfasern aus:

GlasSteinSchlackeAl-Silikat („Keramikfasern“)

Erionit (Al-Silikat)

TonmineraleAttapulgit(Mg-Al-Silikat)Sepiolith(Mg-Silikat)

Wollastonit(Ca-Silikat)

Andere anorganische Fasern aus:Al-OxidQuarzGips

Siliciumcarbid

Siliciumnitrid

Eisenoxidhydrat

Page 34: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

34.1.1 Asbest: Vorkommenund Exposition

Asbest ist die Sammelbezeichnung f�r eine Gruppekommerziell verwertbarer, nat�rlicher silikatischerMinerale mit charakteristischer feinfaseriger Struk-tur. Der am h�ufigsten verwendete Typ ist der zuden Serpentinen gehçrende Weißasbest (Chrysotil).Die chemische Formel kann n�herungsweise mitðMgÞ6ðOHÞ8Si4O10 angegeben werden. Der Weiß-asbest nahm mit etwa 90% des Asbestverbrauchs ei-ne Spitzenstellung ein und wurde z.B. als Kompo-nente in Asbestzement verwendet. Chrysotil ist imKçrper weniger persistent als die zur Gruppe derAmphibolasbeste gehçrenden Typen: Blauasbest(Krokydolith), Amosit, Anthophyllit, Aktinolithund Tremolit. Diese Gruppe der Asbeste ist sehrpersistent und Fasern kçnnen noch Jahrzehnte nachder Exposition im Kçrper nachgewiesen werden.Tremolit tritt h�ufig als Nebenkomponente inChrysotil-Lagerst�tten auf. F�r die bekannt gewor-denen Gesundheitssch�den haben Chrysotil undKrokydolith die grçßte Bedeutung. Die chemischeFormel von Krokydolith lautet n�herungsweiseNa2ðFe3þÞ2ðFe2þÞ3ðOHÞ2Si8O22 .Typisch f�r Asbeste ist deren leichte Zerfaserbar-

keit und Spaltbarkeit in der L�ngsachse zu feinstenFasern, die eingeatmet werden kçnnen. Das Ver-staubungsverhalten bei der Verarbeitung ist wesent-lich ausgepr�gter als bei den k�nstlichen Mineralfa-sern.Einatembarer Asbestfaserstaub entsteht bei me-

chanischer und chemischer Beanspruchung asbest-haltiger Materialien. Hierzu gehçren die Bearbei-tung, der Verschleiß und die Abwitterung. Als kriti-sche Faserabmessungen werden eine L�nge >5 mm,ein Durchmesser <3 mm und ein Verh�ltnis vonL�nge zu Durchmesser >3 :1 bezeichnet. Viele die-ser kritischen Fasern sind so d�nn, dass sie imLichtmikroskop nicht sichtbar sind. Expositions-messungen sind relativ aufw�ndig, da die Faser-aerosole mit spezifischen Sammeleinrichtungen ausder Luft gefiltert werden m�ssen und mithilfe einesElektronenmikroskops identifiziert, gez�hlt und dieGrçßenverteilung bestimmt werden muss.Die vor einigen Jahrzehnten an hoch belasteten

Arbeitspl�tzen aufgetretenen Asbestkonzentratio-nen lagen bei 107 kritischen Fasern pro m3 und teil-weise noch hçher. Die Kenntnis �ber die Gef�hr-dung des Menschen beruht im Wesentlichen aufdiesen hohen Expositionen. Messungen der Immis-sionskonzentrationen von Asbestfasern ergaben inst�dtischen Ballungszentren etwa 100 kritische Fa-sern pro m3. Dieser Wert liegt an der Nachweis-

grenze des elektronenmikroskopischen Nachweis-verfahrens.In vielen L�ndern wurde Asbest im Baubereich

verwendet (ca. 70–90% in westeurop�ischen L�n-dern). Wegen seiner spezifischen technischen Ei-genschaften wurde dieses Material in einem sehrbreiten Bereich von Anwendungen eingesetzt. Mitder Erkenntnis �ber die kanzerogene Wirkung vonAsbest wurde in den achtziger Jahren des letztenJahrhunderts in Deutschland der Asbesteinsatz zu-n�chst auf der Basis einer Selbstbeschr�nkung derIndustrie verringert und zu Beginn der neunzigerJahre verboten. In einer Vielzahl von Geb�udensind Asbestprodukte vorhanden.Am weitaus h�ufigsten liegen Produkte aus As-

bestzement vor, die vor allem als Dachabdeckungverwendet wurden. Das Verstaubungsverhalten vonAsbest aus Asbestzement durch Verwitterung derZementmatrix ist gering. Aus diesem Grunde wurdein der Bundesrepublik Deutschland von einer gene-rellen Entfernung von Asbestzement Abstand ge-nommen.Im Innenraumbereich kçnnen hçhere Faserkon-

zentrationen auftreten als im Außenbereich, wennBaumaterialien verwendet wurden, die Fasern leichtfreisetzen. Saniert werden muss in der Regel, wennSpritzasbest z.B. auf Stahltr�gern eingesetzt wurde.Bei Ersch�tterungen kçnnen aus diesen BauteilenAsbestfasern freigesetzt werden. Diese Sanierungenfanden vor allem in den 1990er-Jahren statt z.B. beiTurnhallen in Schulbereich.Bei Abriss und Sanierungsarbeiten sind spezifi-

sche Vorkehrungen erforderlich, um eine Exposi-tion bei der Bearbeitung zu verhindern.

34.1.2 K�nstliche Mineralfasern:Vorkommen und Exposition

Der Begriff „k�nstliche Mineralfasern“ stellt eineSammelbezeichnung f�r eine Vielzahl verschieden-artigster Fasern dar. Den am meisten verbreitetenEinsatz haben silikatische Fasern wie Glas-, Stein-,Schlacken- und Keramikwollen. F�r das Jahr 2001wurde die Weltproduktion von k�nstlichen Mineral-fasern auf �ber 9 Millionen Tonnen gesch�tzt. DerHauptanwendungsbereich liegt in der thermischenund akustischen Isolierung.Auff�llig ist das breite Spektrum der Zusammen-

setzungen von Fasern (Tab. 34.3), die z.B. unterdem Namen „Glaswolle“ firmieren. Daher kçnnenk�nstliche Mineralfasern im Hinblick auf ihre bio-logische Wirkung nicht pauschal beurteilt werden,

Mineralische Fasern 887

Page 35: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

sondern es ist eine Differenzierung mit genauer An-gabe der chemischen Zusammensetzung notwendig.Damit der Verbraucher eine einfache Mçglichkeithat, die Eigenschaften der Mineralwollen als mçgli-chen Gefahrstoff zu beurteilen, hat die Mineral-faserindustrie seit 1999 ein „G�tezeichen Mineral-wolle“ entwickelt und kennzeichnet ihre Produktedamit. Danach spielt eine geringe Biobest�ndigkeitdieser Fasern eine wesentliche Rolle.Die Konzentrationen von k�nstlichen Mineralfa-

sern am Arbeitsplatz sind um mehrere Grçßenord-nungen niedriger als bei Asbest. Bei der Herstellungund beim Umgang mit Glas-, Stein- oder Schla-ckenwollen (Baubereich) liegen die Konzentratio-nen im Bereich von 105 bis 106 kritischen Fasernpro m3. In Einzelf�llen wurden jedoch auch mehrals 107 Fasern pro m3 gemessen, beispielsweise

beim Abriss einer Ofenwandisolierung, die Kera-mikfasern enthielt. Durchschnittliche Werte f�r dieExposition bei einem 8-st�ndigen Arbeitstag liegenbei Glas- und Steinwollen bei weniger als 0,5�106

Fasern pro m3.In Innenr�umen, deren Decken lose Glaswollen

zur akustischen D�mmung enthalten, liegen die Fa-serkonzentrationen in der Regel unter der Nach-weisgrenze von 100 Fasern pro m3. Bei handwerk-lichen Arbeiten an diesen Decken, wie etwa dasVerlegen von elektrischen Kabeln, kçnnen jedochFaserkonzentrationen von etwa 1000 pro m3 auftre-ten.Der Grund f�r das niedrigere Verstaubungsver-

halten ist unter anderem dadurch bedingt, dass orga-nische Harze oder �le auf der Faseroberfl�che eineStaubbildung verringern. Weiterhin spalten k�nst-

888 Fasern und Nanopartikel

Tab. 34.3: Typische chemische Zusammensetzung von Gruppen k�nstlicher Mineralfasern, ausgedr�ckt als Massenprozent an Oxiden(nach IARC 2002).

TextileGlasfasern

Glaswollef�r ther-mischeIsolierung

Glasfasernf�rspezielleZwecke

Steinwolle Schlacken-wolle

Keramik-fasern

GlasigeWollenaus Erdal-kali-Silicat

Wollen mit ho-hem Aluminium-und niedrigemSiliciumgehalt

SiO2 52–75 55–70 54–69 43–50 38–52 47–54 50–82 33–43

Al2O3 0–30 0–7 3–15 6–15 5–15 35–51 18–24

CaO 0–25 0–21 10–25 20–43 <1

MgO 0–10 0–3 6–16 4–14 <1

MgO+CaO 5–18 24–57 18–43 23–33

BaO 0–1 0–3 0–5,5

ZnO 2–5 0–4,5

Na2O 0–16 1–3,5 0–1 <1

K2O 0–15 0,5–2 0,3–2 <1

Na2O+K2O 0–21 12–20,5 0,3–3 1–10

B2O3 0–24 0–12 4–11 <1 <1 <1

Fe2O3*) 0–5 0–5 0–0,4 0–5 0–1 <1

TiO2 0–12 <1 0–8 0,5–3,5 0,3–1 0–2 0,5–3

ZrO2 1–18 0–4 0–17

Al2O3+TiO2+ZnO2 <6

P2O5 <1 0–0,5

F2 0–5 0–1,5 0–2

S 0–2

SO3 0–0,5

Li2O 0–0,5

FeO 3–8 3–9

*) Gesamter Eisengehalt berechnet als Fe2O3 .

Page 36: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

liche Mineralfasern nicht wie Asbest in ihrer L�ngs-achse auf, sondern brechen quer zur Achse. Außer-dem ist der Durchmesser der f�r thermische Isolie-rung verwendeten Mineralwollen wesentlich dicker,sodass nur ein geringer Anteil lungeng�ngig ist.Nichtsilikatische Fasern werden aus Kohlenstoff,

Aluminiumoxid, Siliciumnitrid und Siliciumcarbidund anderen Werkstoffen hergestellt. GemeinsamesMerkmal all dieser Stoffe ist, dass sie faserfçrmigsind und in der Natur nicht vorkommen. Diese Fa-sern kçnnen im Kçrper sehr biobest�ndig sein. BeiSiliciumcarbid liegt eine epidemiologische Studievor, die einen statistisch signifikanten Anstieg vonLungentumoren zeigt.

34.1.3 Toxikokinetik von Fasern

Der f�r das Depositionsverhalten wichtige aerodyna-mische Durchmesser wird bei Fasern im Wesentli-chen durch den Faserdurchmesser bestimmt. Dies istdadurch begr�ndet, dass sich Fasern im strçmendenMedium vorzugsweise in L�ngsrichtung orientieren.Bei Turbulenzen drehen sich die Fasern jedoch umihre L�ngsachse und kçnnen dann durch die so ge-nannte Interzeption – bedingt durch Rotation um dieL�ngsachse – und andere Mechanismen im Respira-tionstrakt abgeschieden werden (vgl. Kap. 16.5.2).Die Biopersistenz von Fasern, die im Respira-

tionstrakt deponiert wurden, resultiert aus einerKombination von physiologischen Clearance-Pro-zessen (mechanische Translokation und Elimina-tion) und physikalisch-chemischen Prozessen (Auf-lçsung und mechanisches Brechen). Lange undkurze Fasern verhalten sich unterschiedlich bez�g-lich der Mechanismen, die f�r den Abtransportwichtig sind. Kurze Fasern werden durch Makro-phagen aufgenommen und kçnnen im sauren Milieuder Phagolysosomen aufgelçst werden oder werdenaktiv durch die Makrophagen aus dem Respirations-trakt entfernt. Im Gegensatz dazu werden lange Fa-sern nur unvollst�ndig phagozytiert (frustrierte Pha-gozyten) und kçnnen nicht aus der Lunge abtrans-portiert werden.Lange Fasern sind im Hinblick auf eine mçgliche

Kanzerogenit�t von besonderer Bedeutung, daherwird in Untersuchungen der Biopersistenz auf langeFasern ein besonderer Wert gelegt. Allerdings istder Begriff „lange Faser“ nicht eindeutig definiert.In einem Testprotokoll, das im Rahmen der Kenn-zeichnung von Chemikalien innerhalb der Europ�-ischen Union anzuwenden ist, wird die Biopersis-tenz von Fasern mit einer L�nge >20 mm gepr�ft(Deutschland >5 mm).

Eine Reihe von Studien legt eine Korrelationzwischen der Biopersistenz langer Fasern (>20 mm)und der Pathogenit�t bez�glich Lungenfibrose undthorakaler Tumoren nahe.Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass sich be-

stimmte Mineralfasern mçglicherweise viel schnel-ler als Asbest auflçsen kçnnen. Dieses Konzept istplausibel, da bekanntlich die Dosis f�r eine toxischeWirkung verantwortlich ist. Die kumulative Dosisist bei lçslichen Fasern viel niedriger als bei sehrpersistenten Amphibolasbesten: Lçsliche Fasernhaben in der Lunge z.B. eine Halbwertszeit von20 Tagen, persistente Amphibolasbeste dagegenvon 500 Tagen (Abb. 34.2). Relativ best�ndige Mi-neralfasern haben in entsprechender Zahl und Grç-ße regelm�ßig im Tierexperiment nach intratrachea-ler Applikation zu Tumoren gef�hrt, wenig best�n-dige Fasern dagegen nicht. In Testprotokollen f�rdie Kennzeichnung von Stoffen verwendet die Eu-rop�ische Union zurzeit f�r Fasern >20 mm eineHalbwertszeit von 40 Tagen. F�r Arbeitsschutz-maßnahmen beziehen deutsche Behçrden die Halb-wertszeit auf Fasern >5 mm, was ein strengeresKriterium darstellt. Als Testmethode wird bei bei-den Untersuchungsprotokollen die intratracheale In-stillation verwendet.Amphibolfasern (z.B. Krokydolith) sind im Lun-

gengewebe wesentlicher best�ndiger als Chrysotil-fasern. Die hohe Biopersistenz von Krokydolith istdurch seine geringe Lçslichkeit bedingt. Der �blicheClearancemechanismus bei unlçslichen Partikeln,n�mlich die Phagozytose durch alveol�re Makropha-

Mineralische Fasern 889

Relative Faserzahl (L > 5 μm) pro Rattenlunge

Monate nach intratrachealer Instillation

Fasern mit kurzer Verweildauersind nicht kanzerogen

Fasern mit langerVerweildauersind kanzerogen

Sind diese Fasernkanzerogen?

100

25

6

0 6 12 18 24

Abb. 34.2: Veranschaulichung des Verh�ltnisses von der Ver-weildauer der Fasern in der Lunge zu ihrer Kanzerogenit�t. DieVerweildauer ist abh�ngig von der Biobest�ndigkeit des Mate-rials, L�nge, Durchmesser, Zellkontakt und der retinierten Faser-zahl.

Page 37: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

gen und der Transport zu den ziliierten Atemwegen,nimmt mit einer Faserl�nge >10 mm stark ab. Diemucozili�re Clearance wird durch Zigarettenrau-chen vermindert. Dies kçnnte der Grund daf�r sein,dass ein �beradditiver Effekt einer Expositionmit As-bestfasern und Zigarettenrauch beschrieben wurde.Aus dieser Betrachtung wird deutlich, warum Fa-

sern mit einer geringen Lçslichkeit in der Lunge ak-kumulieren: die Deposition im Respirationstrakt istprim�r vom Durchmesser, der Abtransport jedochvon der L�nge der Fasern abh�ngig. Diese gegen-s�tzliche Abh�ngigkeit bez�glich Aufnahme undAbtransport, bedingt durch die Fasergeometrie,macht die Lunge zu einer „Faserfalle“.Durch Verwendung von neutronenaktivierten Kro-kydolithfasern konnte eine gezielte Wanderung zurPeripherie der Lunge festgestellt werden. DieseWanderung von Fasern zur Pleura ist f�r dieMesotheliomentstehung von besonderer Bedeutung.Eine subpleurale Akkumulation von Partikeln wur-de auch nach Exposition gegen�ber isometrischenPartikeln beschrieben. Weiterhin werden Faserndurch lymphatische Clearance aus der Lunge trans-portiert. Da Mesotheliome nach inhalativer Faser-exposition auch im Peritoneum beschrieben wur-den, geht man von einer Penetration durch dieLymphkoten aus.An den Lungen verstorbener Asbestarbeiter sind

viele Untersuchungen �ber die Zahl, Lokalisationund Grçßenverteilung von Asbestfasern durchge-f�hrt worden. Bei Chrysotilasbest wurde eine erheb-

liche Abnahme festgestellt, wenn seit der letztenExposition mehrere Jahre vergangen waren. BeiAmphibolasbesten wurde jedoch noch viele Jahrenach Expositionsende eine hohe Faserretentionbeobachtet.Gesundheitliche Wirkungen beim Menschen auf-

grund einer Asbestexposition wurden bei Inhalationbeobachtet. Aufgrund von epidemiologischen Un-tersuchungen wird davon ausgegangen, dass derorale Aufnahmepfad im Vergleich zur Inhalationkeine wesentliche Rolle spielt.Es liegen nur wenige Studien zur Retention von

k�nstlichen Mineralfasern in der Lunge von Men-schen vor. Diese Studien deuten darauf hin, dass beiArbeitern, die in der Produktion von Glas- undSteinwollen besch�ftigt waren, nach einer etwazehnj�hrigen Pause seit der letzten Exposition dieFaserretentionswerte im Vergleich zu einem Kon-trollkollektiv gleich sind.

34.1.4 Mechanismen der Fasertoxizit�t– das Faserparadigma

Eingeatmete Fasern kçnnen fibrogene und kanzero-gene Wirkungen entfalten. Die Abbildung 34.3zeigt eine schematische �bersicht �ber die Mecha-nismen der faserinduzierten Lungenerkrankungen.Dazu gehçren die Lungenfibrose, das Bronchialkar-zinom (beachte: im Versuchstier Ratte findet man

890 Fasern und Nanopartikel

DepositionClearanceTranslokationAuflösung

• VeränderteClearance

• VeränderteFasereigen-schaften

• Interaktionmit Zielzellen

ExpositiongegenüberFaseraerosol

Deposition Pathogenese Erkrankung

Makrophagen

Fibroblasten

BronchialesEpithel

Mesothelzellen

• ChromosomaleÄnderungen

• VeränderteGenexpression

• VeränderteZellkinetik

• Zytokine, Mediatoren• Reaktive Sauerstoffspezies

• Fibrose• Neoplasien

– Bronchial-karzinome

• Mesotheliom

Abb. 34.3: Schematische Darstellung der Mechanismen f�r faserinduzierte Erkrankungen (nach McCleilan und Hesterberg 1994).

Page 38: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

faser-induzierte Lungentumore eher peripher als inden bronchialen Atemwegen) und das pleurale Me-sotheliom: Schl�sselfaktoren f�r die pathogene Po-tenz der Fasern sind die Dosis, die Dimensionenund die Dauerhaftigkeit der Fasern (Biopersistenz),die drei „Ds“.Die Dosis ist die Menge der inhalierten Fasern,

die auch die Zielzellen erreichen. Sie wird durchdie Depositionseffizienz in den verschiedenen Re-gionen im Respirationstrakt bestimmt (siehe vorhe-riges Kapitel), wobei der Durchmesser der luftge-tragenen Faser das Hauptkriterium f�r das aerody-namische Verhalten darstellt. Die Pathogenit�t istwesentlich von der Dimension (L�nge) der Faserabh�ngig (siehe Definitionen am Beginn dieses Ka-pitels). Dieser Faktor bestimmt die Mçglichkeit,dass die Fasern von Makrophagen – den haupts�ch-lichen Zielzellen der Eliminierung von deponiertemMaterial aus der Lunge – vollkommen aufgenom-men werden kçnnen, da zu lange Fasern die Grçßeder Zelle �berragen. Bei zu langen Fasern ist dieClearance beeintr�chtigt und dies f�hrt zur soge-nannten „frustrierten Phagozytose“, die zur Aktivie-rung der Makrophagen und zur Aussch�ttung vonchemotaktischen und fibrogenen Mediatoren sowieSauerstoff- und Stickstoffradikalen (ROS; RNS)f�hrt, was letztlich eine Entz�ndung hervorruft(Abb. 34.4).Die Dauerhaftigkeit bezieht sich auf die Bioper-

sistenz der Fasern im Atemtrakt. Der Zusammen-hang zwischen einer hohen Biopersistenz und derInduktion von Tumoren konnte klar nachgewiesenwerden. Zielzellen sind hierbei insbesondere Mak-

rophagen, Fibroblasten, bronchiale und alveol�reEpithelzellen und das Mesothel, das in Form der Se-rosazellen die viszerale und die parietale Seite desPleuralspaltes auskleidet. Die viszerale Pleura – dasLungenfell, das die Lunge bedeckt – und die parie-tale Pleura – das Brustfell, das den Brustraum aus-kleidet – sind sehr unterschiedlich in die mesothe-liale Antwort auf Fasern eingebunden. Der Mecha-nismus der Induktion eines Mesothelioms ist dabeiabh�ngig von der einzigartigen Lymphdrainage despleuralen Spaltes zwischen Lungen- und Brustfell.Eine sehr kleine Fraktion der Fasern erreicht dabeinach ihrer Deposition in der Lunge diesen Pleural-spalt �ber das Interstitium. Der Mechanismus dieserTranslokation ist nach wie vor nicht bekannt, je-doch ist die rhythmische Atembewegung bei diesemVorgang sicher beteiligt, ebenso wie die subpleura-len Lymphgef�ße und die Mikrogef�ße des Blutge-f�ßsystems. Die Lymphe kçnnte diese Bewegung�ber Lymphkan�le passiv unterst�tzen, da derLymphfluss im Falle einer Entz�ndung auch erhçhtist. Zus�tzlich werden sehr feine Fasern �hnlich wiesehr kleine Partikel im peripheren Lungengeweberelativ benachbart zur Pleura deponiert, was eineTranslokation in jedem Fall erleichtert. Ebenfallsspielt die L�nge der Fasern eine Rolle, da die k�rz-eren Fasern leichter den Pleuralspalt erreichen alszu lange Fasern.Sobald der Pleuralspalt erreicht wurde, werden

k�rzere Fasern schnell durch offene Lymphkan�le(Stomata) in Richtung der parietalen Pleura abtrans-portiert. Diese �ffnungen, die ca. 8m–10 mm großsind, wurden von N.S. Wang in 1975 erstmals be-

Mineralische Fasern 891

Asbest Kohlenstoffnanoröhrchen

EntzündungClearance EntzündungClearance

Abb. 34.4: Schematische Darstellung der „frustrierten Phagozytose“ (nach Donaldson et al., 2010)

Page 39: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

schrieben. Ebenfalls recht fr�h wurde die Akkumu-lation von langen Asbestfasern an diesen Stomatabeschrieben, die eine nachfolgende Entz�ndung mitZellwachstum und Granulomabildung hervorriefen.In Abbildung 34.5 wird schematisch die Transloka-tion der Fasern aufgezeigt. Es wird deutlich, dassvon der Pleura die Lymphe Richtung der mediasti-nalen Lymphknoten abfließt, w�hrend die in derLunge deponierten Fasern lymphatisch �ber die hi-l�ren Lymphknoten abtransportiert werden. Auchneuere Studien belegen dies eindr�cklich unter an-derem auch f�r Kohlenstoffnanorçhrchen (CNT),wobei insbesondere die langen und nicht die kurzenmehrwandigen CNT, die l�nger sind als der Durch-messer der Stomata, nicht abtransportiert werdenkçnnen. Nach intraperitonealer Injektion verbliebendiese langen CNT im Pleuralspalt und induziertendort eine Asbest-�hnliche Pathologie.Auf der Basis dieser Ergebnisse hat ein Experten-

kreis im Jahre 2003 die Bedeutung der Faserl�ngef�r das kanzerogene Potenzial hervorgehoben. Da-mals wurde ebenfalls festgehalten, dass sowohl As-bestfasern als auch andere synthetische Mineralfa-sern, die k�rzer als 5 mm sind, keine Bedeutung beieiner mçglichen Krebsentstehung haben (Abb.34.6). Die weitergehenden Diskussionen zu diesemThemenkreis ergaben zus�tzlich das wichtige Re-sultat, dass es l�ngenabh�ngig bei den biopersisten-ten Fasern mit Bezug zur mesothelialen Tumorin-duktion zwei L�ngenkategorien f�r unterschiedlicheMechanismen gibt:

n Fasern mit einer L�nge > 15–20 mm haben eingrçßeres Potenzial f�r pulmon�re Karzinogenit�t,

da sie weniger gut von Makrophagen aus derLunge transportiert werden kçnnen und

n Fasern mit einer L�nge um 10 mm und l�nger ha-ben eine hçhere mesotheliale Karzinogenit�t, dasie zuerst mit der Lymphe abtransportiert werdenkçnnen, dann aber an den parietalen pleuralenStomata h�ngenbleiben und dort zu Entz�ndungs-prozessen f�hren.

Die Induktion von Tumoren durch persistente Fa-sern wird auf einige wichtige molekulare Mechanis-men zur�ckgef�hrt, die auf vielen in vitro und in vi-vo Studien basieren:

n Bildung von freien Radikalen, die eine DNA-Sch�digung hervorrufen

n Interaktion der Fasern mit der Zellteilung

n induziertes Zellwachstum der Zielzellen

n Induktion einer chronischen Entz�ndung mit l�n-gerer Freisetzung von ROS, RNS, Zytokinen,Chemokinen und Wachstumsfaktoren

n Transport von kanzerogenen Substanzen (z. B.aus Zigarettenrauch) auf der Oberfl�che der Fa-sern zu bestimmten Zielzellen oder die direkteWirkung als Ko-Kanzerogen

n Aktivierung von zellul�ren Signalwegen, insbe-sondere der extrazellul�r regulierten Rezeptorki-nasen

n Aktivierung von mitochondrialen und p53-abh�n-gigen Apoptosewegen

n Sekretion von Komponenten der extrazellul�renMatrix als auch Matrixmetalloproteinasen durchLungenepithelzellen und Fibroblasten

An dieser Stelle sollen einige �berlegungen zurmçglichen Testung dieser Materialien angestelltwerden. So ist es nicht immer mçglich auf der Basisvon mechanistischen in vitro Studien auch eine va-lide Absch�tzung einer Wirkung durchf�hren zukçnnen. Dazu sind auch Tierversuche unter gutkontrollierten Bedingungen unumg�nglich. Hierseien insbesondere die folgenden wichtigen Proble-me und Vorbehalte aufgef�hrt: f�r in vitro Studienwerden h�ufig ultrahohe Konzentrationen bençtigt,um einen Effekt zu erzielen, die aber unter realenBedingungen in der Umwelt nie erreicht werden;außerdem kçnnen in Zellkulturen oder anderen invitro Systemen keine Langzeitversuche durchge-f�hrt werden, so dass chronische Effekte, die aufdie Biopersistenz der Fasern zur�ckzuf�hren sind,nicht erfasst werden; Clearance-Ph�nomene bleibeng�nzlich unber�cksichtigt; die fehlende Interaktion

892 Fasern und Nanopartikel

Trachea-Bronchial-Trakt

HiläreLymphknoten

Alveoli

InterstitiumMediastinaleLymphknoten

Blut, Leber, Milz, Knochenmark

Lunge

Deponierte Dosis

Fäzes

Pleura

Magen-Darm-Trakt

Abb. 34.5: Biokinetik von Fasern in der Lunge (nach K�mpel,2000 und M�hlfeld et al., 2008).

Page 40: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

zwischen verschiedenen Zelltypen, die im Gewebevorhanden sind; zus�tzlich werden h�ufig Zelllinienoder transformierte Zellen f�r in vitro Versuche ein-gesetzt. Zwar werden die in vitro Modelle auch wei-terentwickelt und inzwischen bestehen gute Unter-suchungssysteme mit unterschiedlichen Zelltypenin einer Kultur, um die Interaktion gewebe�hnlichabbilden zu kçnnen, aber dennoch wird es auch inder Zukunft extrem schwierig bleiben, einfachere invitro Experimente mit den zeitaufwendigen in vivoStudien zu vergleichen. Daher ist es notwendig, Pround Kontra der in vitro und der in vivo Studien ab-zuw�gen und auf der Basis aller vorhandenen Re-sultate eine angemessene Interpretation durchzuf�h-ren.Detaillierte Informationen zum gegenw�rtigen

Kenntnisstand der Mechanismen einer Wirkungvon Asbest- und Mineralfasern betreffend der Toxi-zit�t, Mutagenit�t, Karzinogenit�t im Respirations-trakt und auch in sekund�ren, nicht-pulmonalen Or-ganen sind im Jahr 2011 bei einem Workshop erar-beitet worden. So wurde deutlich, dass es bei derAnnahme, dass Fasern unter 5 mm L�nge unkritischseien, keinen Konsens gibt. Außerdem wurde fest-gestellt, dass das mechanistische Verst�ndnis derVorg�nge, wie die Faserzusammensetzung, die Di-mensionen, die Oberfl�chenreaktivit�t und die Bio-

persistenz an der Pathologie der asbest-�hnlichenErkrankungen beteiligt sind, unzureichend ist. Da-her wurde dringend empfohlen, in vitro und in vivoStudien zu diesem Themenkomplex anzustoßen.

34.1.5 Erkrankungen nachAsbeststaubexposition

Es existiert eine umfangreiche epidemiologische Li-teratur, die eine Verkn�pfung einer Asbeststaub-exposition und die Entstehung einer Asbestose, vonLungenkrebs und von Mesotheliomen dokumen-tiert.Eine Asbestose ist eine sich langsam entwickeln-

de Fibrose der Lunge oder der Pleura, bedingt durchlang andauernde, hohe Exposition gegen�ber As-beststaub. Eine Asbestose wurde in der Allgemein-bevçlkerung ohne berufliche Exposition nicht be-obachtet.Die Induktion eines Bronchialkarzinoms sowie

eines Mesothelioms des Brust- oder Bauchfells istein gesicherter Befund. Die Latenzzeit des durchAsbest induzierten Bronchialkarzinoms betr�gtmindestens 10 Jahre. Das Rauchen von Zigarettenund eine Asbestexposition zeigen nach Beobachtun-gen am Arbeitsplatz einen ausgepr�gten synergisti-

Mineralische Fasern 893

niedrig

mittel

hochPa

tho

gen

ität

kurz< 10 μmTage

mittel10-20 μmMonate

lang> 20 μmJahre

Persistenz [Tag

e bis Jah

re]Län

ge [μ

m]

Verhältnis Länge : Dicke

< 3:1 3:1 3:1> 3:1

Abb. 34.6: Schematische Darstellung der aktuellen Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Pathogenit�t der Fasern und ihren phy-siko-chemischen Eigenschaften

Page 41: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

schen Effekt. Eine quantitative Verkn�pfung zwi-schen einer Asbeststaubexposition und der Lungen-tumorentstehung sind schwierig, da aus fr�herenJahrzehnten nur sp�rliche Informationen �ber dieFaserzahlen vorliegen. Daneben spielt die Faser-l�nge eine erhebliche Bedeutung. Hohe Lungen-tumorraten traten bei der textilen Verarbeitung vonChrysotil auf. In Schiffen wurden fr�her h�ufigAmphibolasbeste zur W�rmeisolierung von Rohr-leitungen verwendet. Auch in diesem Bereich sindviele Exponierte an Tumoren der Lunge und desRippenfells erkrankt und verstorben.Das Mesotheliom ist eine in der Allgemeinbevçl-

kerung seltene Tumorform (< 0,04% aller Toten inder Allgemeinbevçlkerung der USA). Als Ursachekommt zuerst eine berufliche Faserexposition in-frage. Die Latenzzeit betr�gt mindestens 10 Jahre,h�ufig jedoch mehr als 30 Jahre. Einige epidemiolo-gische Studien zeigen, dass eine Mesothelioment-stehung prim�r mit der Exposition durch Amphibol-asbeste verkn�pft ist. Bei einer Chrysotilexpositionist die unmittelbare Kausalit�t zwischen Chrysotilund einem Mesotheliom nicht eindeutig. Einer derGr�nde ist, dass eine Reihe von Chrysotil-Lager-st�tten mit Tremolit, einem Amphibolasbest, kon-taminiert sind. Die Zahl der durch Asbest beding-ten und von Berufsgenossenschaften anerkanntenKrebstodesf�lle in Deutschland lag im Jahr 1999bei etwa 1400. Die Anzahl der Mesotheliome be-trug etwa 600 und die Anzahl der asbestbedingtenLungentumoren etwa 800.

34.1.6 Erkrankungen nachExposition gegen�berk�nstlichen Mineralfasern

Einige Studien zeigen, dass nach Umgang mitk�nstlichen Mineralfasern mechanische Irritationender Haut, der Augen und des oberen Respirations-traktes auftraten. Aus diesem Grunde schreibt dasGefahrstoffrecht der Europ�ischen Union vor,k�nstliche Mineralfasern generell als „reizend“ zukennzeichnen.Es existieren große Kohortenstudien und ver-

schiedene Fall-Kontrollstudien �ber Besch�ftigte inder Mineralfaserindustrie in Europa und den USA.In Glasfaserherstellungsbetrieben wurden etwa16000 Besch�ftigte untersucht, die l�nger als einJahr t�tig waren. Bei Besch�ftigten der Steinwolle-und Schlackenwolleindustrie wurden �ber 10000Personen �ber mehrere Jahrzehnte erfasst. Eine Ge-samtbewertung dieser Ergebnisse zeigte kein erhçh-

tes Risiko f�r eine Induktion von Bronchialkarzino-men oder Mesotheliomen.Eine epidemiologische Nachweismçglichkeit bei

Bronchialkarzinomen ist generell schwierig. Diesliegt unter anderem an der hohen Mortalit�tsratevon etwa 5 bis 7% durch diese Tumorart bei derm�nnlichen Bevçlkerung. Die morphologische Aus-pr�gung eines Bronchialkarzinoms l�sst in der Re-gel keinen R�ckschluss auf das induzierende Agenszu. Eine signifikante Erhçhung eines Risikos um1%, an einem Lungenkrebs zu sterben, verursachtdurch berufsbedingte Faserexposition, l�sst sich sta-tistisch nur bei sehr großen Kollektiven nachwei-sen. Ein Risiko dieser Grçße wird arbeitsmedizi-nisch jedoch nicht als akzeptabel angesehen. Wegender langen Latenzzeit und wegen der schwierigenstatistischen Absicherung muss deshalb f�r eine to-xikologische Bewertung auf tierexperimentelle Stu-dien zur�ckgegriffen werden.

34.1.7 Tierexperimentelle Ergebnissenach einer Faserexposition

Der Kanzerogenit�tsnachweis in Inhalationsversu-chen hat sich aus verschiedenen Gr�nden als prob-lematisch herausgestellt. Es gibt bei Ratten mehrerefalsch negative oder nur schwach positive Ergeb-nisse bei Krokydolith-Asbest, was wegen der star-ken kanzerogenen Wirkung beim Menschen nichtzu erwarten war. Eine Schwierigkeit besteht darin,dass in der Zeit vor 1990 in Inhalationsstudien Fa-sern verwendet wurden, die zu kurz waren, d. h. derAnteil an Fasern mit einer L�nge >10 mm war rela-tiv klein.Bei Nagetieren, die in experimentellen Studien

in der Regel verwendet werden, findet eine weit-gehende Vorabscheidung in der Nase statt, wennFasern dicker als 1,5 mm und l�nger als 10 mm sind.Die in der Lunge deponierten Fasern bei Ratten ha-ben deshalb grçßtenteils einen Durchmesser <1 mm(Tab. 34.4).Wegen der kritischen Bedeutung der Faserabmes-

sungen f�r Inhalationsstudien sind in dieser Tabelledie Formfaktoren der Fasern angegeben. Der Faser-durchmesser, der wesentlich den aerodynamischenDurchmesser der Fasern bestimmt, ist als geometri-scher Mittelwert mit Standardabweichung (GMD€SD) ausgewiesen. Weiterhin ist die Zahl der Fasernim Aerosol aufgef�hrt, sowohl f�r Fasern mit einerL�nge >5 mm als auch f�r Fasern mit einer L�nge>20 mm. Die in der Lunge retinierte Faserzahl nachExpositionsende ist ebenfalls angegeben. Als patho-logische Thoraxbefunde sind das Auftreten einer

894 Fasern und Nanopartikel

Page 42: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Lungenfibrose und der Prozentsatz der Lungentu-moren und der Mesotheliome aufgelistet.Bei Glasfasern hat man bei einer speziellen, sehr

d�nnen und biopersistenten Faser (so genanntes E-Glas) im Inhalationsversuch bei Ratten eine erhçhte

Inzidenz an Lungentumoren gefunden. Bei Glasfa-sern und Steinwollfasern einer Zusammensetzung,wie sie in �hnlicher Zusammensetzung auch fr�herin Deutschland verwendet wurde (Benennung derPr�fsubstanzen MMVF11 und MMVF21) wurden

Mineralische Fasern 895

Tab. 34.4: Zusammenfassung wichtiger chronischer Inhalationsstudien mit Mineralfasern (nach Hesterberg und Hart 2001).

Faser Aerosol Fasern/Lunge�106 Pathologische Thoraxbefunde

Test-Faser Faser-Typ Faser-durch-messerGMD€SD,mm

Faserzahl/ml (Faser>5 mm)

Faserzahl/ml (Faser>20 mm)

Faser>5 mm

Faser>20 mm

Lungen-fibrosea

%Lungen-tumorenb

%Meso-theliome

Ratten-RCCc Nach 24 Mo. Exposition

Kontrolle Gefilterte Luft – 0 0 0 0 – 1–3,7 0

Krokydolith d Asbest 0,28 (1,54) 1610€989 236€145 nichtbestimmt

nichtbestimmt

+ (3) 13,2*) 0,9*)

RCF1 Keramik-Faser 0,86 (1,96) 187€53 101€15 143€23 25€7 + (3) 13,0*) 1,6*)

MMVF10 901 Glasfaser e 1,13 (1,77) 232€56 73€19 82€11 5€2 – 5,8 0

MMVF11 CT Glasfaser e 0,76 (1,92) 246€76 92€25 182€65 6€3 – 2,6 0

MMVF21 Steinwolle 0,98 (1,74) 243€67 114€32 88€25 14€5 + (3) 4,4 0

MMVF22 Schlackenwolle 0,87 (1,75) 213€62 99€31 62€9 4€2 – 2,6 0

MMVF34ag HT Steinwolle 0,87 (1,87) 288 86 60 3 – –g 0

X607 Neuer Fasertyp 0,9 (0,3) 170€74 47€23 58€14 1€1 – 0 0

Ratten-IOMh Nach 12 Mo. Exposition

Kontrolle Luft – 0 0 – 5 0

Amosit (LF) Asbest <1 981 91 Nicht bestimmt + 38*) 5

E Mikrofaser E Glasfaser f <1 975 109 + 23*) 4,7

475 Mikro-faser

475 Glasfaser f 0,32 1066 137 – 11h 0

Hamster-RCCc Nach 18 Mo. Exposition

Kontrolle Gefilterte Luft – 0 0 0 0 – 0 0

Amosit Asbest „ 263€90 69€24 612€15 144€54 + (3) 0 19,5*)

MMVF10a 901 Glasfaser e 0,95 (0,46) 323€57 151€22 77€2 5€2 – 0 0

MMVF33 475 Glasfaser f 0,91 (0,75) 283€42 106€20 234€5 30€6 + (6) 0 1,2*)

RCF1 Keramikfaser 0,78 (1,93) 215€56 �100 37€13 8€3 + (6) 0 41,0*)

a In Klammern, Monat w�hrend der Inhalation, bei der die Fibrose zuerst beobachtet wurde.b Inzidenz der Karzinome und Adenome.c RCC (Research and Consulting Co., Geneva, Schweiz) Studien: Inhalative Exposition (nose-only) f�r 24 Mo. (Ratten)oder 18 Mo. (Hamster) gefolgt von einer mehrwçchigen Beobachtungsperiode ohne Exposition.

d Exposition gegen�ber Krokydolith (lange Fasern) wurde nach 44 Wochen wegen erhçhter Mortalit�t beendet.e Glasfaser zur thermischen Isolierung im Hochbau.f Glasfaser zu Spezialzwecken.g Kamstrup et al. 1998 und 2001.h IOM (Institute of Occupational Medicine, Edinburgh, Scotland) Studie: Ganzkçrperexposition f�r ein Jahr,gefolgt von einem Jahr Nachbeobachtungsperiode. Die getesteten Fasern entsprechen denen der RCC Studie.Die Tumorinzidenz in der 475-Gruppe entsprach derjenigen der Kontrolle.

*)MMVF33-Gruppe, 1 Mesotheliom bei 83 Hamstern in der Behandlungsgruppe. F�r alle Fasern zeigt*)

eine erhçhte Tumorinzidenz mit einer statistischen Signifikanz von P<0,05.

Page 43: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

in Multidosisexperimenten keine erhçhte Lungentu-morraten beobachtet.Auff�llig ist der Vergleich von Krokydolith- und

RCF1-(Keramikfaser)-Exposition (Tab. 34.4). DieZahl der Krokydolithfasern im Aerosol mit einerL�nge >20 mm war etwa doppelt so hoch wie dieder Keramikfasern. Die Zahl der Lungentumorenwar jedoch bei beiden Expositionsgruppen mit ca.13% etwa gleich. Mçglicherweise ist f�r die uner-wartet hohe Inzidenz an Lungentumoren nachKeramikfaserexposition eine relativ hohe Kontami-nation an Faserbruchst�cken der Keramikfaser ver-antwortlich, die von sich aus schon zu starken chro-nisch-entz�ndlichen Reaktionen in der Rattenlungegef�hrt hat. Weiterhin ist aus der Tabelle zu ersehen,dass der Hamster wesentlich st�rker bez�glich einerMesotheliomentwicklung reagiert als die Ratte. Um-gekehrt zeigt der Hamster nicht einmal nach Amosit-exposition (einem biopersistenten Amphibolasbest)eine erhçhte Inzidenz an Lungentumoren.Es gibt zurzeit keine Inhalationsstudie an Ver-

suchstieren, bei der verschiedene Expositionskon-zentrationen d�nner und gleichzeitig langer Asbest-fasern untersucht wurden. Dieses Experiment w�rejedoch notwendig, um die chronischen Inhalations-studien mit k�nstlichen Mineralfasern mit ausreich-ender Sicherheit bewerten zu kçnnen. Ein Multido-sis-Inhalationsexperiment mit Asbest an Ratten istdeshalb sinnvoll, da bez�glich Asbest Daten �berLungentumoren bei Menschen vorliegen. Mit dieserDatenbasis ließen sich dann die Kanzerogenit�ts-experimente bei Ratten nach Exposition gegen�berk�nstlichen Mineralfasern sicherer bewerten.Da Fasern zur Pleura wandern und dort Mesothe-

liome induzieren kçnnen, l�sst sich bei Versuchstie-ren eine direkte Applikation an den serçsen H�utendurchf�hren.Versuche dieser Art hatten zu der Erkenntnis ge-

f�hrt, dass die Fasergestalt eine wesentliche Vo-raussetzung f�r eine kanzerogene Wirkung ist. Beizahlreichen k�nstlichen Mineralfasern sind nachintrapleuraler oder intraperitonealer VerabreichungTumoren gefunden worden. Dieses Versuchsmodellist wesentlich empfindlicher als der chronische In-halationstest, es stellt sich aber die Frage nach derRelevanz. Dies wird allein dadurch offensichtlich,dass die IP-Verabreichung in USA nicht als Krite-rium anerkannt ist. Verschiedene Untersuchungenhaben ergeben, dass nach IP-Verabreichung die Re-sultate signifikant waren, w�hrend die Inhalationkeine positiven Befunde ergab. So finden sich nachintraperitonealer Injektion von biopersistentenGlasfasern und Steinwollfasern Lungentumoren,wie beispielsweise bei den Fasertypen MMVFll und

MMVF21 (Tab. 34.4). Ebenso haben die im Inhala-tionstest positiven Mineralfasern, E-Glas und Kera-mikfasern im Intraperitonealtest Tumoren induziert.Da Tumoren nach intraperitonealer Injektion bei

den mineralogisch unterschiedlichen AsbestspeziesChrysotil, Krokydolith und Amosit sowie bei Erionitund Keramikfasern gefunden wurden und außerdemalle diese Fasern auch in der Lunge Tumoren indu-zieren (Tab. 34.5), erscheint die Annahme plausibel,dass das Modell der intraperitonealen Injektion auchf�r die Lunge eine pr�diktive Aussage erlaubt.Allerdings sind Angaben �ber ein mçgliches Ri-

siko nicht mçglich, da es sich bei der intraperito-nealen Injektion nicht um einen f�r den Menschenrelevanten Aufnahmeweg handelt und auch nur einbiologischer Effekt nachgewiesen werden kann. DieExposition sowie die Zeit, die eine Wanderung ei-ner Faser von der Lunge zur Pleura bençtigt, um andie Zielzellen f�r ein Mesotheliom zu gelangen,sind hierbei vçllig unber�cksichtigt.Auch bei relativ biolçslichen Glasfasern ließen

sich bei einer Dosierung von > 1010 Fasern mit ei-ner L�nge >5 mm nach intraperitonealer Injektionbei Ratten Mesotheliome induzieren. Da die Faser-zahl offensichtlich kritisch bei der Verwendung die-ses Kanzerogenit�tstests ist, wurde auf der Basis ei-nes Vergleichs mit Asbestfasern und k�nstlichenMineralfasern eine maximale Dosierung zwischen109 und 5�109 Fasern (Faserl�nge >5 mm) vorge-schlagen. Tumoren, die bei hçherer Dosierung indiesem Versuchsmodell auftreten, werden nicht alsrelevant f�r den Menschen angesehen. Dieses istunter toxikologischen Gesichtspunkten vertretbar,da relativ biolçsliche Fasern sich auf der Wande-rung zum pleuralem Gewebe auflçsen.Die Annahme, dass persistente Glas- und Stein-

wollfasern nach Inhalation in der Lunge �ber einenanalogen Wirkungsmechanismus zur Tumorbildungf�hren kçnnen wie nach Verabreichung an dasBrust- oder Bauchfell, ist mittlerweile nicht mehrzu halten. Wegen der „unphysiologischen“ Applika-tion bei intraperitonealer und intratrachealer Injek-tion und wegen fehlender Hinweise aus der Epide-miologie und tierexperimentellen Inhalationsstu-dien ist eine solche Extrapolation sehr umstritten,wegen der niedrigen Dosiswerte und der deutlichgeringeren Induktionsrate im Tierversuch ist ehervon einem sehr niedrigen Risiko f�r diese Fasernauszugehen.Die International Agency for Research on Can-

cer“ (IARC) hat im Jahr 2001 dem chronischen In-halationstest f�r die Charakterisierung des Krebs er-zeugenden Potenzials von Fasern ein relativ hohesGewicht beigemessen. Die fr�her verwendeten

896 Fasern und Nanopartikel

Page 44: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Glas- und Steinwollfasern vom Typ MMVF11 undMMVF21 d�rfen f�r Isolationszwecke im Hochbaunicht eingesetzt werden. Inzwischen liegen erheb-lich sicherere „biolçsliche“ Mineralwollen vor, dieetwa seit 1998 in Deutschland verwendet werden.

34.1.8 Bewertung

Zusammenfassend l�sst sich feststellen, dass As-bestfasern und Nicht-Asbestfasern wahrscheinlich�ber den gleichen Mechanismus zu Tumoren f�h-ren. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie f�r denMenschen ein gleich hohes Krebsrisiko darstellen.F�r ein im Allgemeinen niedrigeres oder mçglicher-weise nicht erhçhtes Risiko durch die Expositiondurch k�nstliche Mineralfasern sprechen folgendeErkenntnisse:

n Inhalierbare k�nstliche Mineralfasern sind in Mi-neralwollen meist nur zu einem kleinen Anteilvorhanden. Die Konzentrationen in der Atemluftsind normalerweise sehr viel niedriger als bei ei-ner gleichartigen Verwendung von Asbest. Tex-tile Glasfasern werden in der Regel mit einemDurchmesser >5 mm produziert. Insofern fallensie von vornherein nicht unter den Verdacht einerKrebs erzeugenden Wirkung.

n K�nstliche Mineralfasern kçnnen nicht wie As-bestfaserb�ndel in extrem feine Elementarfibril-len aufspalten.

n Die Best�ndigkeit der heute in Deutschland herge-stellten D�mmstofffasern f�r Bauzwecke ist we-sentlich k�rzer als f�r Asbest. Die neuen „biolçsli-chen“ Mineralwollen sind nach deutschem Ge-fahrstoffrecht nicht alsKrebs erzeugendeingestuft.

Mineralische Fasern 897

Tab. 34.5: �bersicht �ber chronische Gesundheitseffekte verschiedener Faserarten im Tierversuch und beim Menschen.

Faserart Biobest�ndigkeitvon Fasernin der Lunge++=hoch+=mittel–=gering

Tumorennachintra-peritonealerInjektionbei Ratten

Inhalation bei Versuchstieren ThorakaleTumoren beimMenschen(IARC)

Lungenfibrose Lungentumoren Mesotheliome

Amphibolasbest ++ + + + + +

Erionit ++ + + + + +

Keramikfasern ++ + + + + – *)

PersistenteSpezialglasfasern

++ + + + + ?

Steinwolle(hçhereBiobest�ndigkeit)

+ + + – – – *)

Steinwolle(geringereBiobest�ndigkeit)

– teilweise – – – nichtuntersucht**)

Glaswolle(hçhereBiobest�ndigkeit)

+ + – – – – *)

Glaswolle(geringereBiobest�ndigkeit)

– teilweise – – – nichtuntersucht**)

Erdalkali-Silicatfasern(z. B. X607)

– /+ nichtuntersucht

– / ? – / ? – / ? nichtuntersucht**)

Schlackenwolle – – – – – – *)

*) Es liegen keine Hinweise vor; der sichere Nachweis, dass kein Lungenkrebs induziert wird, ist schwer zu f�hren (siehe Text).**) Diese Mineralfasern sind erst seit wenigen Jahren auf dem Markt, deshalb sind noch keine epidemiologischen

Untersuchungen �ber chronische Gesundheitseffekte mçglich.IARC: International Agency for Research on Cancer, Lyon

Page 45: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Die Angabe, ob eine signifikante Erhçhung vonthorakalen Tumoren (Lungentumoren und Mesothe-liome) beim Menschen nach Exposition gegen�berMineralfasern aufgetreten sind, folgt der Bewertungder „International Agency for Research on Cancer,IARC“. Weiterhin sind in der Tabelle 34.5 qualitati-ve Angaben zur Biobest�ndigkeit von Mineralfa-sern aufgef�hrt. F�r die biopersistenten Fasern Am-phibolasbest, Erionit, Keramikfasern und persisten-te Spezialglasfasern ergibt sich ein konsistentesBild. Bei letzteren beiden Fasertypen liegen jedochkeine aussagekr�ftigen epidemiologischen Untersu-chungen vor. Ebenso liegt bei den neu entwickeltenGlas- und Steinwollen mit geringer Biobest�ndig-keit keine Epidemiologie �ber chronische Effektevor.Bei k�nstlichen Mineralfasern variiert die chemi-

sche Zusammensetzung stark. Damit verkn�pft sindunterschiedliche physikalisch-chemische Eigen-schaften, sodass ein breites Spektrum bez�glichBiopersistenz im Kçrper vorliegen kann. In Abh�n-gigkeit von der Zusammensetzung kann das Spekt-rum der toxischen Wirkung von Krebs erzeugendbis zu „nicht eingestuft im Hinblick auf eine Krebserzeugende Wirkung“ reichen. Als kritische Halb-

wertszeit ist von den Behçrden der EU zun�chstvorl�ufig eine Halbwertszeit von 40 Tagen nachintratrachealer Applikation beziehungsweise 10 Ta-gen nach inhalativer Behandlung von Ratten an-gegeben worden. Diese Werte beziehen sich aufFasern einer L�nge >20 mm. Die unterschiedlichenHalbwertszeiten je nach Applikationsart wurdenwegen der unterschiedlichen Faserdosis eingef�hrt,denn die Halbwertszeit h�ngt von der retiniertenMasse ab.Dabei ist es ganz wichtig zu beachten, dass die

intratracheale Applikation meist zu einem lokalen„Overload“ f�hrt, was die Aussagekraft dieser Ver-abreichung im Tierexperiment stark mindert bzw.ganz in Frage stellt.Nach vorliegenden Erkenntnissen weist einatem-

barer Staub von k�nstlichen Mineralfasern einegrçßere mittlere Faserl�nge auf als arbeitsplatztypi-scher Asbeststaub. Kritisch sind biopersistente Mi-neralfasern wie bestimmte Keramikfasern f�r Hoch-temperaturapplikationen anzusehen. Bei biopersis-tenten k�nstlichen Mineralfasern wurde in tier-experimentellen Studien eine st�rkere kanzerogenePotenz pro Faser im Vergleich zu den k�rzeren As-bestfasern beobachtet.

34.2 Organische Fasern

34.2.1 Zusammensetzung und Struktur

Zur Herstellung organischer Fasern werden eineReihe synthetischer und halbsynthetischer Polyme-re verwendet (Tab. 34.6). Mit Oberbegriffen wie„Nylon“ oder „Acryl“ bezeichnet man Gruppen vonPolymeren, die alle eine bestimmte Art chemischerVerbindung zwischen den Monomeren aufweisen.Dabei ist es jedoch wichtig, dass verschiedene Sub-typen einer Gruppe wie „Nylon“ sehr unterschiedli-che physikalische und chemische Eigenschaften be-sitzen kçnnen. Halb synthetische Fasern auf Cellu-losebasis unterscheiden sich hinsichtlich Struktur,Molekulargewicht des (wiederhergestellten) Cellu-losepolymers und der an die Cellulosemolek�le ge-bundenen funktionalen Endgruppen.Lungeng�ngige faserfçrmige Partikel (LFP) von

Polymeren aus synthetischen organischen Mole-k�len werden oft als Mikrofibrillen bezeichnet. Sieweisen einen Durchmesser von 0,1–1,0 mm undL�ngen von mehreren mm auf und bestehen imgeordneten Zustand aus Dom�nen von flexiblen

898 Fasern und Nanopartikel

Tab. 34.6: Beispiele f�r organische Fasern.

Nat�rliche pflanzliche Fasern

Cellulose

Halb synthetische Fasern (erhalten von nat�rlicher Cellulose)

Regenerierte CelluloseViscose ReyonCelluloseacetatCellulosetriacetat

Synthetische Fasernaus Polymeren

PolymerMonomer

PolyolefinePolyethylenPolypropylen

–CH2–CH2––CH(CH3)–CH2–

PolyvinylePolyacrylonitrilPolyvinylchlorid

–CH(CN)–CH2––CH(Cl)–CH2–

PolyamideAliphatische (Nylon)Aromatische(para-Aramid)

–NH–CO–(CH2)4–CO–NH–(CH2)5––NH–R–NH–CO–R–CO–

PolyesterAnderePolyimidPolyurethanElastomere

–O–CO–R–CO–O(CH2)n–

R=Benzolring

Page 46: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

46 Lebensmitteltoxikologie

Mathias Baum und Elke Richling

46.1 Einf�hrung

Die „Lebensmitteltoxikologie“ besch�ftigt sich mitder Sicherheitsbewertung von Lebensmitteln, derenInhaltsstoffen oder Bestandteilen. Der Begriff „Le-bensmitteltoxikologie“ ist dabei eher historisch zubetrachten. Lebensmittel d�rfen nach der Definitiondes Lebensmittel-, Bedarfsgegenst�nde- und Futter-mittelgesetzbuches (LFBG) vom 01. September2005 und der Verordnung (EG) 178/2002 vom 28.Januar 2002, die unter anderem Grunds�tze und An-forderungen des Lebensmittelrechts und der Le-bensmittelsicherheit definieren, gar nicht toxischsein. Der Begriff bezieht sich insbesondere auf dieklassische Sicherheitsbewertung von Lebensmittel-zusatzstoffen, die im Rahmen eines Zulassungsver-fahrens umfassend gepr�ft werden, sodass sie wohlzu den am besten toxikologisch charakterisiertenStoffen �berhaupt z�hlen, sowie auf andere Begleit-stoffe, die h�ufig unerw�nscht und unvermeidbarsind, aber auch wertbestimmend f�r ein Lebensmit-tel sein kçnnen, sodass sie letztlich einer Risiko/Nutzen-Analyse unterzogen werden m�ssen. F�r al-le Inhaltsstoffe mit einer Schwellenwert-Toxizit�twird das Konzept des Acceptable bzw. TolerableDaily Intake (ADI bzw. TDI) angewendet. F�r Stof-fe ohne Schwellenwert-Toxizit�t wie genotoxischeKanzerogene wird das Minimierungs- bzw. Marginof Exposure (MOE)-Konzept angewendet. Nebensolchen Stoffbewertungen kommt der „ganzheitli-chen“ Betrachtung und Bewertung von Lebensmit-teln, beispielsweise bei den sogenannten „Neuarti-gen Lebensmitteln“ bzw. „Novel Foods“ oder„funktionellen Lebensmitteln“ und damit verbunde-nen mçglichen Ern�hrungsrisiken, immer grçßereBedeutung zu. Insgesamt war die Qualit�t der in-dustriell hergestellten als auch der h�uslich zuberei-teten Lebensmittel in L�ndern mit einem ges�ttigtenAngebot an Nahrungsmitteln nie besser als heuteund die grçßten mit Ern�hrung verbundenen Risi-ken gehen von �ber- oder Fehlern�hrung aus.Die Belastung von Lebensmitteln mit Kontami-

nanten kann durch Verarbeitungs- oder Zuberei-

tungsprozesse bedingt sein. Unerw�nschte Stoffekçnnen aber auch bei unsachgem�ßer Lagerung inder Nahrung entstehen. Verpackungsmaterial f�rLebensmittel muss so beschaffen sein, dass keinnennenswerter �bergang (carry-over) unerw�nsch-ter Stoffe wie Restmonomere, Kunststoff- oder Pa-pier-Additive erfolgt. Zentrales Regelwerk f�rKunststoffe, die mit Lebensmitteln in Ber�hrungkommen (Stoffregelungen, Migration von Stoffenins Lebensmittel, Testverfahren) ist die „EU FoodContact Regulation for Plastics 10/2011“.�ber Massenvergiftungen, die durch kontami-

nierte Lebensmittel ausgelçst wurden, wird vor al-lem aus der Historie berichtet. So war beispielswei-se die Symptomatik ern�hrungsbedingter Bleiver-giftungen im Altertum („Saturnismus“) ein durch-aus gel�ufiges Krankheitsbild. Im Jahr 1696 hatHerzog Eberhard Ludwig das S�ßen von Wein mitBleiacteat („Bleizucker“) in W�rttemberg unter To-desstrafe gestellt. Heute haben ern�hrungsbedingteMassenvergiftungen eher geringe Bedeutung, je-doch kam es immer wieder zu endemisch auftreten-den Vergiftungen mit kriminellem Hintergrund wiedurch Cadmium (Itai-Itai-Disease), Quecksilber(Minamata-Disease) in Japan oder Arsen (Black-Foot-Disease) in China. Ein weiteres Beispiel istdas „toxic-oil syndrome (TOS)“, das durch Anilindenaturiertes R�bçl in Spanien im Jahr 1981 ausge-lçst wurde, sowie Methanolvergiftungen durch be-wusst verf�lschte oder unsachgem�ß gebrannte Spi-rituosen. Im Jahr 2008 f�hrte in China der Zusatzvon Melamin (2,4,6-Triamino-s-triazin, Abb. 46.1)zu Milchpulver zu Nierenerkrankungen von fast300.000 Kindern und zum Tod von sechs S�uglin-gen.Stoffe, die in der Kette der Lebensmittelproduk-

tion, insbesondere in der Landwirtschaft eingesetztwerden („from farm to fork“) und die in vielen F�l-len biologische Wirkstoffe wie Pestizide und Tier-arzneimittel darstellen, sind im Hinblick auf R�ck-st�nde in den Lebensmitteln so geregelt, dass vonihnen selbst unter „worst case“ Bedingungen keinsignifikantes gesundheitliches Risiko ausgehenkann. Dennoch f�hrt die Risikowahrnehmung derVerbraucher dazu, hier h�ufig die grçßten Risiken

Einf�hrung 1221

Page 47: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

zu erkennen, w�hrend mit nat�rlichen Quellen asso-ziierte Risiken h�ufig untersch�tzt werden. DerGlaube „nat�rlich gleich sicher“ trifft jedoch ehernicht zu. So gehçren bakterielle Lebensmittelintoxi-kationen zu jenen ern�hrungsbedingten Risiken, diequasi von jedem Einzelnen, beispielsweise als Ma-gen-Darm-Infektion im Laufe des Lebens erfahrenwerden und damit als Risiko im echten Sinne fass-bar sind.

46.2 Lebensmittelzusatz-stoffe, technische Hilfs-stoffe und Aromen

Laut EG-Richtlinie (89/107/EWG) ist der BegriffZusatzstoff definiert als „Stoff mit oder ohne N�hr-wert, der weder selbst als Lebensmittel verzehrtnoch als charakteristische Lebensmittelzutat ver-wendet wird und einem Lebensmittel aus technolo-gischen Gr�nden bei der Herstellung, Verarbeitung,Zubereitung, Behandlung, Befçrderung und Lage-rung zugesetzt wird, wodurch er selbst oder seineNebenprodukte, mittelbar oder unmittelbar, zu ei-nem Bestandteil des Lebensmittel wird oder werdenkann“. Das in Deutschland g�ltige Lebensmittel-,Bedarfsgegenst�nde- und Futtermittelgesetzbuch(LFBG) stellt noch andere Stoffe wie Mineralstoffeund Vitamine etc. den Zusatzstoffen gleich. Allge-mein gilt das sog. „Verbotsprinzip mit Erlaubnis-vorbehalt“, d. h. nur solche Stoffe d�rfen verwendetwerden, die zugelassen sind. Bei Zulassungsverfah-ren steht der Gesundheitsschutz des Verbrauchersan erster Stelle, gefolgt vom Verbot der Vort�u-schung einer hçheren Qualit�t durch die Verwen-dung von Zus�tzen und schließlich dem Nachweisder technologischen Notwendigkeit. Die Rechtsvor-schriften der Gemeinschaft �ber Lebensmittelzu-satzstoffe basieren auf dem Grundsatz, dass nurjene Zusatzstoffe, die ausdr�cklich zugelassen sind,verwendet werden d�rfen.

Lebensmittelzusatzstoffe d�rfen nur zugelassenwerden,

n wenn sie f�r Verbraucher gesundheitlich unbe-denklich sind,

n wenn eine hinreichende technologische Notwen-digkeit nachgewiesen werden kann,

n wenn Verbraucher durch ihre Verwendung nichtirregef�hrt werden.

Zusatzstoffe werden in Deutschland durch die Zu-satzstoffzulassungsverordnung (ZZulVO) geregelt.Sofern keine Hçchstmengen vorgeschrieben sind,gelten die Regeln der „Guten Herstellungspraxis“(„Good Manufacturing Practice“, GMP), d. h. „soviel wie nçtig, so wenig wie mçglich“ („quantumsatis“, „qs“). Es besteht eine weitgehende Kenn-zeichnungspflicht („labeling“): Eine Sonderstellungnehmen die �ber 3.000 Aromastoffe ein, die nichtals Zusatzstoffe gelten und aufgrund der geringenAufnahme von t�glich meist weniger als 0,01 mg/Person weniger toxikologisch relevant sind. Ende2010 waren in Deutschland 305 Zusatzstoffe mit E-Nummern zugelassen, hinzu kommen etwa 100Stoffe ohne E-Nummern wie Stoffe, die der Kau-masse von Kaugummi zugesetzt werden d�rfen(u. a.: Gutta, Kautschuk, Kolophonium) oder Ami-nos�uren wie L-Alanin, L-Cystein, L-Cystin.Es sei nochmals betont, dass Zusatzstoffe einem

Zulassungsverfahren unterliegen, bei dem die Stoffeeiner umfassenden Sicherheitsbewertung unterzo-gen werden und auch deren grunds�tzliche Notwen-digkeiten gepr�ft werden. Alle zugelassenen Zu-satzstoffe sind daher im Rahmen ihrer zugelassenenVerwendung als sicher anzusehen, wenngleich imFolgenden f�r einzelne Stoffe toxische Wirkungenbeschrieben werden, die aber in den h�ufigsten F�l-len nur bei hohen Dosen im Tierversuch beobachtetwerden und bei den zu erwartenden Aufnahmemen-gen kein signifikantes Risiko f�r den Menschen mitsich bringen.

46.2.1 Farbstoffe

Die 40 zugelassenen Farbstoffe (E 100–E 180) las-sen sich aufgrund ihres Ursprungs in „synthetische“und „nat�rliche“ Farbstoffe unterteilen, wobei auchLetztere heute grçßtenteils synthetisch oder bio-technologisch hergestellt werden kçnnen.

Synthetische Farbstoffe

Von den synthetischen Farbstoffen standen vor al-lem jene im Fokus der Sicherheitsbewertungen, die

1222 Lebensmitteltoxikologie

N

NH2

H2N

N

N NH2

Abb. 46.1: Melamin (2,4,6-Triamino-s-triazin)

Page 48: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

durch die Azogruppierung – N=N – charakterisiertsind und deswegen als Azofarbstoffe bezeichnetwerden. Durch reduktive Spaltung dieser Gruppie-rung durch Darmbakterien oder Azoreduktasen derLeber u. a. Gewebe kçnnen Spaltprodukte entstehen,die dann mçglicherweise kanzerogenes Potenzialzeigen, wenn sie eine Arylaminkomponente enthal-ten (z. B. Benzidin und daraus abgeleitete Kompo-nenten). Die zugelassenen Lebensmittelfarbstoffeenthalten aber in allen entsprechenden Spaltproduk-ten SO3-Gruppen, die eine gute Wasserlçslichkeitund rasche Ausscheidung sicherstellen. MancheFarbstoffe scheinen jedoch Unvertr�glichkeiten her-vorzurufen bzw. besitzen sensibilisierendes Poten-tial. Die Verwendung ist jedoch so geregelt, dass dieAufnahmemengen vernachl�ssigbar sind.Braun FK (E 154) ist eine Mischung aus sechs

Azo-Stoffen. Wegen seines sensibilisierenden Po-tentials ist dieser Farbstoff in der Anwendung aus-schließlich auf F�rben von Kippers (gesalzener,kaltger�ucherter Hering beschr�nkt. In einer ak-tuellen Stellungnahme der EFSA aus dem Jahr2010 wird Braun FK als bedenklicher Farbstoff be-urteilt.Bei Tartrazin (E 102) sind F�lle von Idiosynkra-

sie („Pseudoallergie“) in der Literatur beschrieben,gepaart mit einer �berempfindlichkeit gegen Sali-cylat (z. B. Acetylsalicyls�ure). In einer Stellung-nahme der EFSA (2010) wird von einer Intoleranzf�r Tartrazin von <1% der Personen ausgegangen.Schon 2009 kam ein AFC-Gremium (Gremium f�rLebensmittelzusatzstoffe, Aromastoffe, Verarbei-tungshilfsstoffe und Materialien, die mit Lebens-mitteln in Ber�hrung kommen) zu dem Schluss,dass nach aktuellen Studien Tartrazin und Natrium-benzoat zusammen unerw�nschte Wirkungen beiKindern hervorrufen kçnnen, wie geringf�gige Ve-r�nderungen der Aufmerksamkeit und Aktivit�t.Tartrazin wird zum F�rben von Spirituosen, Brau-sen, Knabberartikeln oder Backwaren verwendet.Erythrosin (E 127, Tetraiodfluorescein), ein Xan-

then-Derivat mit vier Iodatomen im Molek�l, istaufgrund seiner Eigenschaft, in Lçsungen von pH3–4 die schwer lçsliche Erythrosins�ure zu bilden,der einzige Farbstoff zum F�rben von Kirschen inFruchtsalat ohne gleichzeitiges Anf�rben andererFr�chte. Erythrosin ist zum F�rben von Cocktailkir-schen und kandierten Kirschen zugelassen und inF�rbetabletten zum Anf�rben von Plaques aufZahnfl�chen. Das im Erythrosin enthaltene Iod istteilweise bioverf�gbar. Bei hohen Expositionen ge-fundene Schilddr�sentumoren bei Ratten wurdenals nicht humanrelevant beurteilt. Toxische Effekteauf die Spermatogenese bei der Maus bed�rfen ei-

ner weiteren Kl�rung. Eine Beeinflussung derSchilddr�senfunktion durch Erythrosin wird disku-tiert.Canthaxanthin (E 161 g), das in Krabben oder

Pfifferlingen vorkommt, wurde hoch dosiert angew-endet und hat bei Patienten kristalline Ablagerun-gen in der Retina hervorgerufen. Eine 2011 verçf-fentlichte Langzeitstudie konnte diesen Befundnicht best�tigen. Die Verwendung ist nur noch in ei-ner franzçsischen Wurstspezialit�t („Saucisses deStrasbourg“) gestattet und wird als Mastzusatz f�rLachsforellen verwendet.Zuckerkulçr wird zum F�rben von Getr�nken wie

Whiskey, Cola, Fertigsoßen oder Essig verwendet.Er wird aus R�ben-, Trauben- oder Invertzucker mitTemperaturen von 120 bis 150 �C und Reaktionsbe-schleunigern hergestellt. Bei Zuckerkulçr („Kara-mel“, E 150) unterscheidet man vier Klassen(E150a–d). Die Klasse 3 „Ammoniak-Zuckerkulçr“(E 150c) ist das am weitesten verbreitete F�rbungs-mittel, das aus Saccharose unter Zusatz von Ammo-niumverbindungen hergestellt wird. Es enth�lt zweitechnologisch unvermeidbare, toxische Komponen-ten f�r die Hçchstmengen abgeleitet wurden: 4-Me-thylimidazol lçst hoch dosiert bei Hunden, Ratten,Kaninchen und M�usen Kr�mpfe aus; 2-Acetyl-4(5)tetrahydroxybutylimidazol verursachte bei Rat-ten eine Lymphozytopenie, wenn gleichzeitig einPyridoxin-(Vitamin B6)-Mangel bestand. Dieserimmunsuppressive Effekt fand sich auch bei M�u-sen, nicht aber bei freiwilligen j�ngeren und �lterenProbanden. Daher legte der wissenschaftliche Le-bensmittelausschuss der EU einen ADI-Wert von0–300 mg/kg KG f�r E150a, b, d, aber f�r E150c 0–100 mg/kg KG fest.Betont werden muss, dass den fr�her als

„Grundnahrungsmittel“ bezeichneten Lebensmit-teln wie Mehl, Teigwaren, Obst, Gem�se, Honigkeine Farbstoffe zugesetzt werden d�rfen. EineFarbgebung kann dennoch erfolgen, z. B. bei Kalb-fleisch durch Erzeugung einer Eisenmangelan�mieoder durch Verf�tterung von Carotinoiden an Nutz-tiere und H�hner, deren Eigelb wiederum Teigwa-ren anf�rbt.

46.2.2 S�ßungsmittel

„S�ßungsmittel“ ist die Sammelbezeichnung f�r„Zuckeraustauschstoffe“ und „S�ßstoffe“. Sofernein Lebensmittel S�ßungsmittel enth�lt, muss derHinweis „mit S�ßungsmittel“ oder bei mehrerenStoffen „mit S�ßungsmitteln“ in Verbindung mitder Verkehrsbezeichung erfolgen.

Lebensmittelzusatzstoffe, technische Hilfsstoffe und Aromen 1223

Page 49: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

Die zugelassenen Zuckeraustauschstoffe werdendurch Reduktion der entsprechenden Hexosen bzw.Pentosen gewonnen: Sorbit (E 420) aus Glucose,Mannit (E 421) aus Fructose, Isomalt (E 953) aus Pa-latinose, Maltit (E 965) aus Maltose, Laktit (E 966)aus Lactose und Xylit (E 967) aus Xylose. Die Poly-ole sind zahnfreundlich und f�r Diabetiker geeignet,sie sind jedoch nicht s�ßer als Saccharose, nicht kalo-rienfrei und besitzen eine laxierende Wirkung bei Ta-gesdosen > 20 g/Tag. In F�tterungsversuchen an Na-gern wurden zwar hohe Zus�tze zum Futter (20% undmehr) toleriert, es fanden sich dann aber f�r Makro-komponenten typische unspezifische Ver�nderungenim Sinne von Mangeldi�ten wie Caecum-Vergrçße-rung, Nephrokalzinosen und gelegentlich Ph�ochro-mozytome. Bei Neueinf�hrung w�rde man diese Stof-fe wahrscheinlich den „Novel Foods“ zuordnen.Derzeitig sind acht S�ßstoffe zugelassen, die

kaum (Aspartam, Thaumatin) oder keinen kalori-schen N�hrwert besitzen. Im Vergleich zu Saccha-rose weisen diese Stoffe eine erhebliche S�ßkraftauf (Faktoren von 30 bis 3000). Sie werden deshalbin „kalorienarmen Lebensmitteln“ (< 50 kcal/100 gLebensmittel) oder „kalorienreduzierten Produkten“(30% weniger Kalorien als das entsprechende her-kçmmliche Lebensmittel) eingesetzt. Die Bezeich-nung „light“ ist nicht gesetzlich definiert. Die Fra-ge, ob S�ßstoffe den sogenannten „cephalischen In-sulinreflex“ auslçsen, d. h. ob durch den s�ßen Ge-schmack reflektorisch Insulin ausgesch�ttet wird,das �ber eine Blutzuckersenkung Hungergef�hlehervorruft, wird verneint. Dennoch stimuliert Sac-charin die Futteraufnahme bei Ferkeln und ist alsZusatz im Futter gestattet.

Saccharin (E 954) wird seit seiner erstmaligen Her-stellung durch Fahlberg (1879) kontrovers disku-tiert. Saccharin erzeugt Blasentumoren in Ratten(ab 5–7,5% im Futter). Saccharin ist nicht genoto-xisch, die kanzerogene Wirkung wird auf einen rei-nen Promotoreffekt zur�ckgef�hrt, der auf Stçrungder Osmolarit�t, der Produktion von alpha2-Mic-roglobulin und damit assoziierte Sch�den im Uroge-nitaltrakt der Tiere zur�ckgef�hrt wird. Der kanze-rogene Effekt stellt daher ein Paradebeispiel f�r ei-nen kanzerogenen Mechanismus dar, welcher nichtpr�diktiv ist f�r den Menschen und der erst bei ext-rem hohen Dosen im Tierversuch auftritt und aufden daher das ADI-Konzept angewendet werdenkann. In den USA wird Saccharin jedoch erst seitdem Jahr 2000 nicht mehr den Humankarzinogenenzugerechnet; der wissenschaftliche Lebensmittel-ausschuss der EU hat einen ADI-Wert von 0–5 mg/kg KG abgeleitet.

Cyclamat (E 952) erzeugt ebenso wie Saccharin inhohen Dosen gegeben im Versuchstier Tumoren,was in den USA zum Verbot f�hrte, sp�ter aber alsnicht pr�diktiv f�r die Situation beim Menschen an-gesehen wurde. Cyclohexylamin, das durch Hydro-lyse und durch die intestinale Mikroflora aus Cycla-mat gebildet werden kann, ist ein indirektes Sympa-thomimetikum, das bei Ratten und Affen eine testi-kul�re Atrophie hervorruft. Ausgehend von einemNOAEL von 100 mg Cyclohexylamin/kg KG einermaximalen Umwandlungsrate f�r Cyclamat von85% und einem Sicherheitsfaktor legte der wissen-schaftliche Lebensmittelausschuss der EU im Jahr2000 einen ADI-Wert von 0–7 mg Cyclamat/kg KGfest.

Acesulfam-K (E 950) ist gut untersucht. Es wirdunmetabolisiert �ber den Urin ausgeschieden. DerADI-Wert betr�gt 0–15 mg/kg KG (JECFA, SCF).

Aspartam (E 951) ist ein Dipeptidester aus Pheny-lalanin und Asparagins�ure, verestert mit Methanol,der 4 kcal/g an Energie liefert. Der ADI-Wert be-tr�gt 0–40 mg/kg KG. Hçchstgehalte an Diketopi-perazin, einem bei der Herstellung anfallenden Um-wandlungsprodukt, sind geregelt. F�r Patienten mitPhenylketonurie muss ein Hinweis auf Phenylalaningegeben werden, da dies bei der Aspartamhydrolysegebildet wird. Da die freie Carboxylgruppe des Phe-nylalanins mit Methanol verestert ist, wird im Orga-nismus ebenfalls Methanol freigesetzt. Die Mengensind jedoch auch vor dem Hintergrund anderer Me-thanolquellen, wie eine endogene Bildung oderdurch Freisetzung aus verestertem Pektin bei Kern-obstprodukten, zu vernachl�ssigen. NeurotoxischeEffekte der exzitatorischen Aminos�uren Aspara-gins�ure und Glutamins�ure (Geschmacksverst�r-ker, E 620), die an Babym�usen nach exzessiverZufuhr beschrieben worden sind, sind bei oraler Ga-be �blicher Mengen auszuschließen. Eine Reeva-luation von Aspartam 2006 ergab, dass kein Grundbesteht, den derzeit g�ltigen ADI-Wert von 40 mg/kg KG zu �ndern. Zur Zeit gibt es keine Anzeichenf�r ein genotoxisches oder kanzerogenes Potentialvon Aspartam, und der ADI hat somit weiterhin Be-stand.

Thaumatin (E 957) ist ein kalorienarmer Protein-s�ßstoff, der vollst�ndig metabolisiert wird und f�rden kein ADI festgelegt wurde.

Neohesperidin Dihydrochalkon (NHDC, E 959)ist ein kalorienfreier S�ßstoff, der urspr�nglich ausdem bitter schmeckenden Flavonoid Neohesperidin

1224 Lebensmitteltoxikologie

Page 50: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

aus Zitrusschalen hergestellt wurde. Er besitzt ein400- bis 600-fach st�rkere S�ßkraft als Saccharose.Ein ADI-Wert von 5 mg/kg KG wurde abgeleitet.

Neotam (E 961) wird aus Aspartam und 3,3-Dime-thylbutyraldehyd synthetisiert. Seine S�ßkraft ist7.000 bis 13.000 mal st�rker als die von Saccharose.Nach einem Gutachten der EFSA ist Neotam als un-bedenklich einzustufen. Der ADI liegt bei 0,2 mg/kg KG.

Sucralose (Trichlorgalactosesaccharose, INS-No.955) wurde erstmals 1976 synthetisiert, indem 3Hydroxylgruppen der Sucrose durch Chloratome er-setzt wurden. F�r den Menschen besitzt Sucraloseungef�hr die 500- bis 600-fache S�ßkraft von Zu-cker ohne Neben- und Nachgeschmack. Der S�ßge-schmack ist sehr nachhaltig. Sucralose ist sehr stabilbei der Verarbeitung bei hohen Temperaturen (Ba-cken, Pasteurisieren) und bei Langzeitlagerung.Nach oraler Zufuhr werden 8-22% resorbiert undohne Energiegewinn metabolisiert oder im Urinausgeschieden. Der S�ßstoff besitzt keinen physio-logischen Brennwert. �berraschenderweise wirktSucralose bei Ratten appetithemmend; aufgrundverminderter Futteraufnahme fand sich eine verzç-gerte Gewichtsentwicklung, wodurch die toxikolo-gische Bewertung erschwert wurde. UmfangreicheStudien an gesunden Probanden und an Diabetikernergaben jedoch keine bedenklichen Befunde. Daherhat der wissenschaftliche Lebensmittelausschussder EU im Jahr 2002 einen ADI-Wert von 0–15 mg/kg KG festgelegt.

Aspartam-Acesulfamsalz ist, wie der Name erken-nen l�sst, ein Salz aus den beiden zugelassenenS�ßungsmitteln Aspartam und Acesulfam-K. Eswird aus den beiden Stoffen hergestellt, indem dasKalium-Ion des Acesulfam-K durch Aspartam er-setzt wird. Das Produkt bietet technologische Vor-teile. Die gesundheitliche Beurteilung entspricht ei-ner entsprechenden Mischung aus Aspartam undAcesulfam-K.

Steviosid ist seit Dezember 2011 als ein Pulver, dasaus der s�damerikanischen Pflanze Stevia Rebau-diana (S�ßkraut) gewonnen wird, zugelassen. Die-ses enth�lt Stevioside, das Diterpenglykosid Stevio-sid, Rebaudiosid-A und 7–10 weitere Stevioglycosi-de. Stevia hat eine bis zu 300-fach st�rkere S�ßkraftals Zucker und ist hitzebest�ndig.

46.2.3 Konservierungsmittel

Konservierungsstoffe sch�tzen Lebensmitteln vormikrobiellem Verderb.Sorbins�ure und Sorbate (E 200, 202, 203) wir-

ken in saurem pH gegen Hefen und Schimmelpilze.Nach oraler Gabe werden die Sorbate metabolisiertund sind toxikologisch unbedenklich. Der ADI-Wert betr�gt 0–25 mg/kg KG.Die Benzoes�ure und ihre Salze (E 210–213) wir-

ken ebenfalls nur in sauren pH-Bereichen (pH<4,5). Benzoes�ure ist ein Intermedi�rprodukt imPhenylalanin-Tyrosin-Stoffwechsel. Der Hauptent-giftungsweg ist die Bildung eines Glycinkonjugates(Hippurs�ure), d. h. Glycin ist der begrenzende Fak-tor f�r die Ausscheidung und damit f�r die akuteToxizit�t. Da die Versorgung mit Glycin in derWachstumsphase des Organismus als kritische Grç-ße gilt, wurden Teratogenit�tsstudien durchgef�hrt,die keine bedenklichen Befunde ergaben. Der Sum-men-ADI von 0–5 mg Benzoat/kg KG wurde best�-tigt.Die Ethyl-, Propyl- und Methylester der p-Hydro-

xybenzoes�ure und ihrer Salze (E 214–219), abge-k�rzt PHB-Ester, wirken weitgehend pH-unabh�n-gig und werden deshalb auch zur Konservierungvon Fertigarzneien und Kosmetika eingesetzt. DiePHB-Ester werden enteral resorbiert und in Leberund Niere hydroxyliert. Die gebildete p-Hydroxy-benzoes�ure wird als solche, als p-Hydroxyhippur-s�ure, Glucuronid oder Sulfat im Urin ausgeschie-den. Bei Applikation auf die Haut sind die PHB-Es-ter potente Allergene; wobei nicht bewiesen ist, oballergische Reaktionen durch orale Provokationausgelçst werden kçnnen.Die schweflige S�ure (E 220–228) ist ein multi-

funktioneller Zusatzstoff mit antimikrobieller undantioxidativer Wirkung. Die in F�tterungsversuchenbeobachteten Sch�den an Nervensystem, Knochen-gewebe und Fortpflanzungsorganen sind auf einenaliment�ren Thiaminmangel zur�ckzuf�hren: Die-ses Vitamin wird durch SO2 inaktiviert. Nach oralerGabe von schwefliger S�ure sind in subakuten Stu-dien Magenl�sionen bei verschiedenen Tierspeziesbeobachtet worden; der NOAEL betr�gt beiSchwein und Ratte 70 mg SO2/kg KG; hieraus leitetsich ein ADI-Wert von 0–0,7 mg SO2/kg KG ab.�berempfindlichkeitsreaktionen sollen bei 5–10%aller Asthmatiker auftreten („Sulfit-Asthma“); le-bensbedrohliche Reaktionen sind selten. Trotzdemsollte der Einsatz eingeschr�nkt und zugesetzte Sul-fite deklariert werden. Die Kennzeichnung „enth�ltSulfite“ bzw. „enth�lt Schwefeldioxid“ ist nach Art.3 Abs. 3 der Wein-Marktorganisations-Durchf�h-

Lebensmittelzusatzstoffe, technische Hilfsstoffe und Aromen 1225

Page 51: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

rungsverordnung – VO (EG) 753/2002 – bei Kon-zentrationen von mehr als 10 mg/l verbindlich vor-geschrieben.

46.2.4 Antioxidantien

Antioxidantien dienen dem Schutz vor oxidativemVerderb. Ihre Wirkung beruht auf ihrer F�higkeit,Radikale abzufangen, wobei sie selbst inaktiviertwerden. Synergisten wie Ascorbins�ure kçnnendurch Wasserstoff�bertragung eine Reaktivierungbewirken oder wirken als Komplexbildner (Citro-nens�ure, EDTA, Weins�ure, Phosphors�ure) undfangen katalytisch aktive Radikalstarter (z. B. Me-tallionen) ab. Zu den nat�rlichen Antioxidantienz�hlen Ascorbins�ure, Carotinoide und Tocophero-le. Die synthetischen Antioxidantien wie Gallate,BHT und BHA kommen in der Natur nicht vor undwerden industriell hergestellt.Die Salze der Galluss�ure (Gallate) (E 310–312)

sind toxikologisch unbedenklich und haben einenSummen-ADI-Wert von 0–0,5 mg/kg KG.Butylhydroxyanisol (BHA, E 320) ist eine Mi-

schung aus 3-terti�rem BHA (ca. 90%) und 2-terti�-rem BHA. BHA ist ein in der EU zugelassener Zu-satzstoff. BHA galt zun�chst als ein wirksames„Antimutagen“ bzw. „Antikanzerogen“, wenn es imTierversuch den Tieren vor dem eigentlichen Kan-zerogen gegeben wurde. In sp�teren Studien wurdenjedoch Vormagenhyperplasien und bei hçherer Do-sierung Vormagentumoren bei Ratten, M�usen undHamstern beobachtet. Tiere ohne Vormagen –Meerschweinchen, Hund, Schwein, Affe – zeigenweder Magentumoren noch Schadeffekte der Spei-serçhre nach Belastung mit BHA. BHA besitzt keingenotoxisches Potenzial. Aufgrund dieser Daten istdas Risiko einer Gef�hrdung des Verbrauchersdurch BHA gering. Sein Nutzen, n�mlich die Ver-meidung einer Belastung mit Lipidperoxidations-produkten, ist hoch. Di-Butylhydroxytoluol (BHT,E 321) wird nur in wenigen Lebensmitteln einge-setzt, da fr�hzeitig eine Tendenz zur Kumulation inFettgewebe beschrieben wurde. Ein ADI-Wert von0–0,05 mg/kg KG wird bei �blichen Verzehrge-wohnheiten nicht ausgeschçpft.

46.2.5 Nanopartikel

Als Nanopartikel bzw. Nanomaterialien bezeichnetman solche Stoffe, deren Partikelgrçße < 100 nmbetr�gt. Sie kçnnen unterschiedliche Strukturen auf-weisen, wie kugel-, faserfçrmig oder aus d�nnen

Schichten bestehen. �ber diese Systeme ist es mçg-lich, neue physikalische und chemische Eigenschaf-ten von Materialien zu entwickeln. Auf nat�rlichemWeg entstehen Nanopartikel z. B. durch Verbren-nungsprozesse (z. B. Zigarettenrauch). Nanomate-rialien werden f�r den Einsatz in Kosmetika, Texti-lien oder Verpackungen definiert hergestellt. Dieh�ufigsten Nanomaterialien sind nano-Titandioxid,nano-Zinkoxid, nano-Silber, Kohlenstoffnanorçhr-chen oder Fullerene. Konzepte zur Risikobewertungvon Nanomaterialien werden derzeit entwickelt. In-formationen zum Stoffwechsel oder Interaktionen

1226 Lebensmitteltoxikologie

Tab. 46.1: Zusammenfassung der einzelnen ADI-Werte f�r Zu-satzstoffe

Stoffklasse E-Nummern ADI-Werte[mg/kg KG/Tag]

Quelle

Farbstoffe

Tatrazin 102 7,5 EFSA 2009

Braun FK 127 0,1 EFSA 2011

Erythrosin 154 20 EFSA 2010

Zuckerkulçr 150a–d 300 EFSA 2011

Ammoniak-Zu-ckerkulçr

150c 100 EFSA 2011

Canthaxanthin 161 g 0,03 EFSA 2010

Konservie-rungsstoffe

Sorbate 200–203 25* EFSA 2004

Benzoate 210–213 5* EFSA 2004

Ethyl-PHB 214–215** 10* EFSA 2004

Methyl-PHB 218–219** 10 EFSA 2004

SchwefligeS�ure

220–228 0,7 EFSA 2004

Antioxidantien

Gallate 310–312 0,5 EFSA 2004

BHA 320 0,5 EFSA 2004

BHT 321 0,05 EFSA 2004

S�ßstoffe

Aspartam 950 40 EFSA 2006/2009/2012

Saccharin 954 0–5 SCF 1995/2001BfR 2003

*als Summe berechnet** ausgenommen PHB-Propylester (E 216 und E 217) kein ADI-Wert

Page 52: 1 Grundzge der Toxikologie - media.dav-medien.demedia.dav-medien.de/sample/9783804728769_p.pdf · genannten GLP-(Good Laboratory Practice-)Richt-linien fr toxikologische Studien aufgrund

im Kçrper liegen nicht in ausreichendem Maße vor.Als bedenklich wird beispielsweise die große, kata-lytisch aktive Oberfl�che einzelner Nanomaterialienangesehen.

46.3 Nat�rlich vorkommendeLebensmitteltoxine

46.3.1 Glykosidalkaloide

In Nachtschattengew�chsen, vornehmlich Kartof-feln oder Tomaten, kommen die Glykosidalkaloidea-Solanin (Anteil 40% am Gesamtsaponin) unda-Chaconin (60%) vor; ihr nat�rlicher Gehalt liegtje nach Sorte bei 20–150 mg/kg ungesch�lte, reifeKnolle. In diesen Mengen sind sie eine Geschmacks-komponente. Ein Bittergeschmack wird bei Kon-zentrationen ab 200 mg/kg wahrgenommen. Akuttoxische Symptome (Erbrechen, Durchfall Spasmen,Apathie) wurden ab Dosen von 2–5 mg/kg KG be-schrieben. In Bl�ttern, Bl�ten und Keimen findensich die hçchsten Konzentrationen, gefolgt von derSchale: Solanin-haltige Bezirke sind durch Gr�nver-f�rbung erkennbar und kçnnen vor dem Verzehr ent-fernt werden. Die Alkaloide sind hitzestabil, jedochgut wasserlçslich und gehen daher in das Kochwas-ser �ber, das deswegen verworfen werden soll.Die Glycoside von Steroidalkaloiden, auch Sapo-

nine genannt, besitzen tensidartige Eigenschaftenund neigen zur Schaumbildung in Wasser. Diese Ei-genschaft wird bei Verwendung von sogenanntenWaschn�ssen genutzt. Saponine kommen auch inTomaten, Erbsen und Spinat vor. Durch ihren Ten-sidcharakter beeinflussen sie biologische Membra-nen und besitzen h�molytische Aktivit�t.

46.3.2 Cyanogene Glycoside

Blaus�urehaltige Glykoside, aus denen enzymatischBlaus�ure freigesetzt werden kann (Amygdalin,

Dhurrin, Phaseolunatin, Sambunigrin) kommen inBittermandeln und Kernen von Steinobst sowie ineinigen tropischen Lebensmitteln (Maniok, Hirse,Limabohne) vor. Die cyanogenen Glycoside selbstsind nicht toxisch. Durch die Wirkung des EnzymsMyrosinase (b-Glucosidase) erfolgt die Freisetzungvon Blaus�ure (HCN) �ber ein Cyanhydrin und des-sen anschließender Zerfall oder durch Hydroxynit-rillyase (Abb. 46.2). F�nf bis zehn Bittermandelnkçnnen tçdliche Cyanid-Intoxikationen bei Klein-kindern auslçsen. Erbsen und Gem�sebohnen ent-halten nur Spuren (ca. 2 mg/100 g). In Steinobsts�f-ten aus entsteinten Fr�chten fanden sich Blaus�ure-gehalte bis 1,5 mg/100 ml – Werte, die bis um dasDoppelte anstiegen, wenn die Kerne mitverarbeitetwurden. Entsprechend betrugen die Cyanidgehaltein Steinobstbranntwein aus Aprikosen, Kirschenund Zwetschgen 3,5, 1,7 bzw. 1 mg/100 ml. DieseCyanide werden als Precursor f�r die Bildung vonUrethan (Ethylcarbamat, Abb. 46.3) in Lebensmit-teln diskutiert. Urethan ist kanzerogen. Es wurde inSprituosen und anderen alkoholischen Getr�nkennachgewiesen. Bei unsachgem�ßer Herstellungkann Urethan insbesondere in Br�nden aus Stein-obst (Zwetschgen- oder Kirschwasser, Mirabellen-brand) in hçheren Konzentrationen (50–480 mg/l)vorkommen.

46.3.3 Hormonell wirksameSubstanzen

Hormonell aktive Substanzen in Lebensmitteln ha-ben im Zusammenhang mit der Diskussion von „en-docrine disruptors“ weltweites Interesse erregt. Eshandelt sich um Stoffe synthetischer oder nat�rli-cher Herkunft, die wie kçrpereigene Hormone wir-ken oder deren Wirkung antagonisieren kçnnen.

Nat�rlich vorkommende Lebensmitteltoxine 1227

Glukosidase

– Zucker

Cyanhydrin

+

Keton Cyanwasserstoff

RC

R1 C

O

N

Zucker RC

CR1

OH

N

RC

R1

O CH N

Abb. 46.2: Cyanwasserstoff-Freisetzung aus cyanogenen Glykosiden (Linamarin R/R1= -CH3, Amygdalin R= -CH3, R1= -Phenyl)

OH2N

O

Abb. 46.3: Ethylcarbamat (Urethan)