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1 - jüdisches Schweinfurt 1 Vergebliche Spurensuche: Nur der Name erinnert noch an das mittelalterliche jüdische Wohnviertel 1) Die erste jüdische Ära: Mittelalter: 1200 - 1555 1212: Älteste Erwähnung von Juden in SW: Der Jude Abraham aus Schweinfurt unterzeichnet in Würzburg eine Urkunde als Zeuge. 1243: Marquard, der Butigler [Reichsbeamter] von Nürnberg, weist von dem Geld, das er von Heinrich dem Erwählten von Bamberg erhalten soll, 50 Mark Silber für die Juden von SW an. 1298: Vorwurf der Hostienschändung: Im Rahmen der Judenverfolgung durch die Banden des fränkischen Ritters Rindfleisch aus Röttingen werden über 100.000 Juden in 140 Gemeinden Frankens, Bayerns und Österreichs getötet. Anno 1298 wurden durch gantz Frankenland allenthalben die Juden obel behandelt, geschlagen, gefangen, vertrieben und an etlichen Orten wohl gar verbrand oder sonst getödtet. Und solches auff ahntreiben eines losen Fischers und schlechten Bawersmannes N. Rindfleisch genand: welcher vorgegeben: Er were sonderlich von Gott dazu beruffen und ausgesand, alle Juden ausszurotten (Hennebergsche Chronik). 1348/49: Vorwurf der Brunnenvergiftung: Judenverfolgung in der Zeit des Schwarzen Todes (Pest-Epidemie) 1368: Privilegium von Kaiser Karl IV. (1347-78): Die Stadt SW darf bis auf Widerruf „wieder“ Juden (des Kaisers„Kammerknechte“) ansiedeln. 1420: Erneutes Privilegium von Kaiser Siegmund/Sigismund (1410-37):Stadt SW darf Juden aufnehmen (Juden als Steuerobjekte; „Judenzins“). 1429: Diese Erlaubnis wird auf 20 Jahre begrenzt. Dafür erhalten Juden Steuerbefreiung. Sie sollen unbekumert,ungedrungen und unangelanget sein von jedermann. Diese Befreiung wurde schon 1433 wieder aufgehoben. 1436: Erste Erwähnung der Judengasse: Sie wird gepflastert. 1437: Juden müssen sich steuerlich am teutschen Hauskauf beteiligen (Die Stadt kauft die Besitzungen des Deutschherrn-Ordens um SW). Bild und Textquelle ZWISCHEN DULDUNG UND VERFOLGUNG ( I – III ) Juden in Schweinfurt: Streiflichter aus der Geschichte (Zusammenstellung und Fotos: Siegfried Bergler; Beratung und Durchsicht: Elisabeth Böhrer) http://www.dekanat-schweinfurt-evangelisch.de/442.php

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Page 1: 1 - jüdisches Schweinfurt 1€¦ · Gemeindehaus) der jüdischen Gemeinde mit dahinter liegender Synagoge. Im Hof befestigt man einen Strick am Kastanienbaum und gröhlt: „Daran

1 - jüdisches Schweinfurt 1

Vergebliche Spurensuche: Nur der Name erinnert noch an das mittelalterliche jüdische Wohnviertel

1) Die erste jüdische Ära: Mittelalter: 1200 - 15551212: Älteste Erwähnung von Juden in SW: Der Jude Abraham aus Schweinfurt unterzeichnet in Würzburg eine

Urkunde als Zeuge.

1243: Marquard, der Butigler [Reichsbeamter] von Nürnberg, weist von dem Geld, das er von Heinrich dem Erwählten von Bamberg erhalten soll, 50 Mark Silber für die Juden von SW an.

1298: Vorwurf der Hostienschändung: Im Rahmen der Judenverfolgung durch die Banden des fränkischen Ritters Rindfleisch aus Röttingen werden über 100.000 Juden in 140 Gemeinden Frankens, Bayerns und Österreichs getötet.

Anno 1298 wurden durch gantz Frankenland allenthalben die Juden obel behandelt, geschlagen, gefangen, vertrieben und an etlichen Orten wohl gar verbrand oder sonst getödtet. Und solches auffahntreiben eines losen Fischers und schlechten Bawersmannes N. Rindfleisch genand: welcher vorgegeben: Er were sonderlich von Gott dazu beruffen und ausgesand, alle Juden ausszurotten(Hennebergsche Chronik).

1348/49: Vorwurf der Brunnenvergiftung: Judenverfolgung in der Zeit des Schwarzen Todes (Pest-Epidemie)

1368: Privilegium von Kaiser Karl IV. (1347-78): Die Stadt SW darf bis auf Widerruf „wieder“ Juden (des Kaisers„Kammerknechte“) ansiedeln.

1420: Erneutes Privilegium von Kaiser Siegmund/Sigismund (1410-37):Stadt SW darf Juden aufnehmen (Juden als Steuerobjekte; „Judenzins“).

1429: Diese Erlaubnis wird auf 20 Jahre begrenzt. Dafür erhalten Juden Steuerbefreiung. Sie sollen unbekumert,ungedrungen und unangelanget sein von jedermann. Diese Befreiung wurde schon 1433 wieder aufgehoben.

1436: Erste Erwähnung der Judengasse: Sie wird gepflastert.

1437: Juden müssen sich steuerlich am teutschen Hauskauf beteiligen (Die Stadt kauft die Besitzungen des Deutschherrn-Ordens um SW).

Bild und Textquelle

ZWISCHEN DULDUNG UND VERFOLGUNG ( I – III )

Juden in Schweinfurt: Streiflichter aus der Geschichte

(Zusammenstellung und Fotos: Siegfried Bergler;

Beratung und Durchsicht: Elisabeth Böhrer)

http://www.dekanat-schweinfurt-evangelisch.de/442.php

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jüdisches Schweinfurt 21444: Zwecks Krönung Kaiser Friedrichs III. (1440-93) müssen die Juden ein Drittel ihres Vermögens

als„Krönungssteuer“ bezahlen.

1479: Erster (literarischer) Nachweis einer Synagoge in Schweinfurt, wohl mit Mikwe („Judentauche“) –vermutlicher Standort: das heutige Friederike-Schäfer-Heim, Judengasse

1492/93: Schweinfurter Juden müssen Leibzoll (Geleitschutz bei Reisen) entrichten.

1500: Kaiser Maximilian I. bestätigt der Stadt den Besitz einer Judenschule/Synagoge und eines Judenfriedhofes. Das „Judengärtlein“/“Judenkirchhof“ ist „in einem kleinen Gärtchen an der Stadtmauer zwischen dem Spital-und Obertor gelegen unfern des Brauhauses“ – heute: Straße „Am Jägersbrunnen“ Die jüdische Gemeinde dürfte einen Vorsteher, Judenrat und wohl auch einen Rabbiner gehabt haben. Juden lebten von Geldleihe, Waren- und Weinhandel.

1525: Im Bauernkrieg müssen sich auch Schweinfurter Juden am Widerstand gegen die aufständischen Bauern beteiligen:

Da wardt gehandelt, dass Priester, Juden, Mönch, Spithalpfrundtnere all sollen mit den andern Bürgern wachen, graben, Thor hueten undt gleich Beschwernus tragen.

1542: Privilegium von König Ferdinand I. (Kaiser: 1556-64) für SW: Kein Jude darf sich in der Stadt ohne Bewilligunniederlassen.

Zahl der Juden: 56 (6 Familien und 10 einzelne Juden - bei 826 Bürgern und 6 Pfarrherren)

1544: Beschwerde der Schweinfurter Juden über Versperrung ihrer Schule am 1. Mai und Androhung einer Klagebeim Kammergericht.

1553/54: Der Markgräfler Krieg („Zweites Stadtverderben“) wütet in SW; Markgraf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach und Bayreuth wählt die Stadt als Stützpunkt seines Kampfes gegen die bundesständischen Truppen; die Belagerer brennen die Stadt nieder.

Und es verfuhren mit ihnen (den Juden) die (markgräflichen) Soldaten viel besser, als mit dem armen christlichen Volk. Und es baten die Juden, dass er einen Teil der Frauen zur Stadt hinauslasse und so thatensie auch; aber noch blieben mehr als 100 Seelen zurück. …

Und es wurde kein Jude an seiner Person geschädigt, nur eine Frau, die ihre Wunden selbst verschuldet hat; man schlug sie nämlich des Geldes wegen, das sie bei sich hatte; wenn sie es ihnen aber gegeben hätte, so hätten sie ihr nicht das Geringste gethan.

1555: 03.09.: Privilegium von Kaiser Karl V. (1519-56): Die Stadt SW darf die Juden, die vor dem StadtverderbeninSW wohnten und ihre abgebrannten Häuser wieder aufbauen wollen, daran hindern. Sie braucht künftig keinen Juden mehr aufzunehmen („offizielle“ Begründung: wegen des jüdischen Wuchers).

„Schweinfurt ist von diesem Jahre an von Juden frei“ (Distriktsrabbiner Salomon Stein).

Zwischen 1555 und 1817: In SW gibt es keine ansässigen Juden, sondern nur „vorübergehend längere Zeit sich hier aufhaltende Juden" (Sal. Stein)

08.06. 1573: Laut Ratsprotokoll haben Juden bei Eintritt in die Stadt Vortorzoll zu entrichten.

1635 u. 1636: Dekrete: Androhung von 10 Talern Strafgeld, wer einem Juden Herberge oder Unterschleif in SW gewährt.

1651: Eine Polizei-Ordnung spricht den Schweinfurter Bürgern ihr Missfallen aus, dass sie wieder Gemeinschaft mit den Juden suchen und Geldgeschäfte mit ihnen betreiben.

Der jüdische Friedhof beiEuerbach:1171 Grabsteine zeugen voneiner langen jüdischenGeschichte: Nach ihrerVertreibung aus Schweinfurt(1553/54) siedelten sich Juden u.a. in Euerbach an. Es war auchder Begräbnisort jüdischerBürger aus Obbach undNiederwerrn. Bis 1940 erfolgten hier Beisetzungen.

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2) Die zweite jüdische Ära: Neuzeit: 1813-1942

1813 10.06.: Edikt „die Verhältnisse der Juden im Königreich Baiern betreffend“ („Juden-Edikt“, Dez. 1816 für Unterfranken in Kraft getreten): Juden werden fast die gleichen Rechte wie ihrem christlichen Umfeld zugebilligt. Sie dürfen jetzt Grund und Boden erwerben und erhalten Zugang zu den Universitäten des Landes. Geistige und gesellschaftliche Integration wird ermöglicht.

1817: Michel Joseph aus Schonungen und sein Sohn Kusel erhalten durch kgl. Entschließung die Bewilligung zur Übersiedlung nach Schweinfurt

1863: In Schweinfurt sind 12 jüdische Familien ansässig und 7 Fam. wohnhaft.

1864: 08.08: Genehmigung der Kgl. Regierung zur Gründung der (neuen) Israelitischen Kultusgemeinde Schweinfurt

01.11: Verlegung des bisher in Niederwerrnbefindlichen Sitzes des Distriktsrabbinates nach SW

1864-1890:

Erster Rabbiner:Mayer Lebrecht (1808-1890),

bereits seit 1840 Distriktsrabbiner in Niederwerrn

Niederwerrn: wo bis 1864 der Distriktsrabbiner amtierte; heute: Gemeindebücherei in der Schweinfurter Straße.

Korrekt sollte auf der Tafel "Kultus-" und nicht "Kulturgemeinde" stehen!

Niederwerrn: das ehemalige jüdische Schul-/Gemeindehaus, ebenfalls Schweinfurter Str.; heute: Altes Rathaus

Zwischen Duldung und Verfolgung

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1874: 04.09.: Einweihung der neuen Synagoge (im Innenhof des Grundstückes Siebenbrückleinsgasse 14) –zunächst: liberale reform-jüdische RichtungEinweihung des (neuen) Israelitischen Friedhofes in SW als gesonderte Abt. X des Städtischen Hauptfriedhofs; zuvor wurden verstorbene Juden hauptsächlich in Euerbach und Schwanfeld bestattet.

Lageplan des Städtischen Friedhofs; Abt. X befindet sich vom Südeingang aus links -oberhalb des äußersten westlichen Ecks

Rund 200 Grabsteine illustrieren dort die wechselvolle Geschichte der Schweinfurter Juden

- - -

Sie starben im I. Weltkrieg für ihr deutsches Vaterland Sie starben während des II. Weltkrieges durch deutsche Hand.

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Emigrantenschicksal: Frau Stein fand ihre letzte Ruhe in Jerusalem.

Bronze-Gedenktafel auf dem Friedhof (Text s. u. bei 1991)

1875: In Schweinfurt leben 380 Juden bei einer Gesamteinwohnerzahl von 11233.

1888: Bau des jüdischen Gemeindehauses (Schul- und Wohnhaus des Rabbiners)vor der Synagoge

1890-1934:

- 1897: In SW gefundene menschliche Überreste vom mittelalterlichen Friedhof werden auf dem israelitischen Friedhof in Euerbach bestattet.

Grabdenkmal: „Hier liegen beerdigt die Knochenreste, die im Jahre 5657 (nach jüd. Zählung) in derGemeinde Schweinfurt gefunden worden sind, als man den Friedhof aufdeckte, der vormals dagewesen zur Zeit, als Söhne Israels da wohnten, bis zur Zeit, da sie von dort vertrieben worden sind, wie dies sich vorfindet in den Büchern der Chronik.“

1912: In Schweinfurt leben 468 Juden bei einer Gesamteinwohnerzahl von 25125.

1914-18: 113 Schweinfurter Juden leisten für das Deutsche Reich Kriegsdienst, darunter 92 im Felde. 68 erhalten eine Auszeichnung, u. a. 5 Offiziere.

„Israels Söhne und Töchter befanden sich in ihren Gotteshäusern am Vortag vor dem 9. (des jüd. Monats) Ab, dem traurigen Gedenktage der jüdischen Gemeinschaft und der jüdischen Geschichte. Da wurde die Kriegsbereitschaft erklärt und verkündet. Israels Söhne und Töchter fasteten und trauerten an jenem denkwürdigen Sonntag des 2. August in den Gotteshäusern um ihr Heiligtum. In den Schmerz und in die Trauer mischte sich nunmehr die Sorge und die Angst um des deutschen Vaterlandes Schicksal“ (Rabbiner Dr. Salomon Stein).

Zweiter Rabbiner:Dr. Salomon Stein

(1866-1938)als Vorsitzender des Bundes gesetzestreuer israelitischer Gemeinden Bayerns prägt er die Gemeinde in traditionell orthodoxer Richtung

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9./10.11.: „Reichskristallnacht“: Am Nachmittag des 9. Nov. (Mi.) sind SA-Leute der Standarte 27 aus den Betrieben zusammengerufen worden. „Heut’ geht’s drauf, heut’ zeigen wir’s den Juden!“

Am Abend des 9. Nov., 19.45 Uhr, veranstaltet die Nazipartei, aus Anlass des 20. Jahrestages der Novemberrevolution von 1918 und des 15. Jahrestages des Hitlerputsches 1923, eine Gedenkfeier. Die fünf Ortsgruppen der NSDAP marschieren vom Gaswerk zum Marktplatz, wo sich 2800 Mann der NS-Formationen versammeln. Danach findet ein Fackelzug statt.

1935: 25.07.: Stadtratsbeschluss: Juden wird der Besuch der Schwimmbäder verboten.Heraus mit den Juden aus den städtischen Bädern! Unsere Bäder sind judenfrei.

Oberbürgermeister Pösl: „Die Juden haben selber Schuld daran, daß ihnen das Baden verboten worden ist. Ein Gast, der sich nicht anständig betragen kann, muß immer gewärtig sein, daß er hinausgeworfen wird.“

15.09.: „Nürnberger Gesetze“: Am 15.11. werden in Schweinfurt die ersten Opfer des „Rasseschutzgesetzes“ festgenommen („Schutzhaft“). Es folgen „freiwillige“ Verkäufe jüdischer Geschäfte unter Wert, Geschäftsaufgaben oder –übernahmen (Arisierung).

1937: Oktober: Noch 265 Juden leben in Schweinfurt.

1938: Oktober: Noch 167 Juden leben in Schweinfurt.

1920: Enthüllung einer Ehrentafel in der Synagoge für 9 im Krieg gefallene und 3 vermisste Schweinfurter Juden. Im gesamten Rabbinatsdistrikt SW beklagen die zirka 1300 Juden 49 Opfer.

Erweiterung der Synagoge um 50 Plätze

1933: 05. März: Wahltag mit hoher Beteiligung (96,2%); zum ersten Mal wird die NSDAP stärkste Partei der Stadt (33,9%).

1933: 01.04.: Tag des Boykottes jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte; bereits tags zuvorbesetzt die SA in Schweinfurt die Eingänge jüdischer Läden:Wer hier kauft, begeht Landesverrat! Raus mit den Juden!

Parteizeitung „Fränkisches Volk“, 09. Sept. 1933: „Seit dem großen Boykott vermißt man bei den jüdischen Geschäften den großen Aufdruck auf Karton, Einwickelpapier und Huttüten. … Wir kennen aber doch die Leute, die bei Juden kaufen, denn gerade das neutralste Mäntelchen stempelt sie zum Volksverräter. Besonders an Samstagnachmittagen sind die weißen und blauen Einschlagpapiere leicht festzustellen, geschämig werden die Pakete unter den Arm geklemmt. Auch betreten die Käufer erst dann das Haus, wenn sie sich durch stetes Umblicken vergewissert haben, daß sie nicht beobachtet werden.“

In Schweinfurt leben 363 Juden (ca. 0,9% der Gesamteinwohnerzahl von 40058). Sie gehörenüberwiegend dem bürgerlichen Mittelstand an, sind Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Ärzte,Direktoren etc.: Waren-Haus Tietz, Schuhfabrik Emil Heimann, Schuhfabrik Silberstein &Neumann, Kleiderladen Firma M. Silbermann, Textil- und Kurzwaren Firma Schloss

1934-1939:

Dritter Rabbiner:Dr. Max Köhler,

ein Urenkel des Rabbiners Mayer Lebrecht

(1899-1987; 1939 nach England emigriert)

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In den Morgenstunden des 10. Nov. (Do.) beginnen SA-Männer, Schaufenster einzuschlagen, das Inventar zu zertrümmern, die Waren zu zertrampeln und auf die Straße zu werden. Die Wohnungen bekannter Juden werden heimgesucht und verwüstet hinterlassen. Gegen 7 Uhr am Morgen verhaftet die Stadtpolizei 45 jüdische Männer und nimmt sie in der Hadergasse in „Schutzhaft“. Andere werden zum Viehhof getrieben, wo fanatische und aufgehetzte HJ-ler johlend und scherzend mit Steinen auf die verängstigten Menschen werfen. Etwa 30 Personen kommen in das Konzentrationslager Dachau, unter ihnen Rabbiner Dr. Max Köhler, der erst Ende Dez. (laut E. Böhrers Recherchen: 10. Dez.) wieder freigelassen wird und 1939 emigriert.

In der Siebenbrückleinsgasse versammeln sich die „anständigen“ Bürger vor dem Lehrerwohnheim (= Gemeindehaus) der jüdischen Gemeinde mit dahinter liegender Synagoge. Im Hof befestigt man einen Strick am Kastanienbaum und gröhlt: „Daran wollen wir den Rabbi hängen.“ Alsdann geht man daran, das Innere der Synagoge zu verwüsten, die Tora-Rollen zu verbrennen und die Kultgegenstände zu entehren. Im Gemeindehaus werden die Schulräume, das Büro und die Rabbiner-Wohnung verwüstet. Auch das Ritualbad wird zerstört. Allein die Tatsache, dass das Feuer auf die umstehenden Fachwerkhäuser übergegriffen hätte, bewahrt die Synagoge davor, angezündet zu werden. Der Oberbürgermeister der Stadt, Pösl, lässt es sich nicht nehmen, die Aktion persönlich zu leiten.

Die nichtjüdischen Schweinfurter sind über diese Ereignisse großenteils entsetzt - obgleich nicht immer aus Sympathie oder Mitleid mit den Verfolgten, sondern aus Bedauern über die Zerstörungen. Niemand kann sich darauf berufen, er habe von alledem nichts gewusst. Auch die Kirchen in Schweinfurt haben keinerlei Stellungnahme für die bedrängten Juden abgegeben oder sich irgendwie öffentlich für sie eingesetzt.

Es gab allerdings auch Solidarität mit den Juden am Ort. Einige nahmen jüdische Nachbarn, die keine intakten Fenster mehr hatten, auf. Andere unterstützten sie mit warmem Essen und Lebensmitteln. Unter großen Gefahren wurden Wertgegenstände versteckt, damit sie nicht von den Schlägerbanden zerstört oder gestohlen werden konnten.

(Darstellung nach: DGB-Bildungswerk e.V. (Hrsg.), „Verschickt und verschollen …. 1942“. Reichspogromnacht 1938 und Judenverfolgung in Schweinfurt, Schweinfurt 1989)

Schweinfurter Tagblatt, 11.11.1938: „Wie im ganzen Reich kam es gestern auch in Schweinfurt aus Anlaß des von feiger jüdischer Mörderhand getöteten Gesandtschaftsrats vom Rath zu Kundgebungen der empörten Bevölkerung gegen das Judentum, wobei Aktionen gegen jüdischen Besitz durchgeführt wurden. Eine Anzahl Juden mußte in Schutzhaft genommen werden.“

1939: 02. Jan.: Oberbürgermeister Pösl: „Sämtliche, in Schweinfurt vorhandengewesenen, jüdischen Geschäfte sind erloschen.“

März: Die jüd. Gemeinde wird gezwungen, Synagoge und Gemeindehaus zu einemSpottpreis an die Stadtverwaltung zu verkaufen. Die Synagoge wird in ein Feuerwehrdepot umfunktioniert. Ein religiöses Zentrum existiert nun nicht mehr.

Oktober: Noch 77 Juden leben in Schweinfurt.

1940: Oktober: Noch 72 Juden leben in Schweinfurt.

1942: Seit 1933 sind auch Juden aus dem Umland in die Anonymität der Stadt SW gezogen: Bis1942 ziehen 221 in andere deutsche Städte um, 225 emigrieren ins Ausland (davon 110 in die USA, 31 nach Palästina), 39 sterben in SW.

Endgültige Auflösung der Jüdischen Gemeinde. Juden werden in wenigen Häusern (sog. „Judenhäusern“), etwa in der Rückertstraße 17, zusammengepfercht. Augenzeugenberichten von nächtlichen Anlieferungen.

22./25.04.: Deportation von 30 Schweinfurter Juden über den Güterbahnhof Aumühle beiWürzburg ins Durchgangslager Izbica bei Lublin/Ostpolen. Dort verliert sich ihre Spur wie die von 51 Prozent aller mainfränkischen Juden. Umgebracht in Belzec und Sobibor?

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1943/44: Vernichtung der Synagoge durch Fliegerbomben; das beschädigte Gemeindehaus lässt sich wiederfür Wohnzwecke herrichten.

Immer noch (über)leben jene drei Juden in Schweinfurt.

Ausstellung "BlickWechsel":

Zwei alte Koffer als Symbol für Deportation und Vernichtung der Juden

Das Innere der Synagoge vor ihrer Zerstörung

09.09.: Deportation von 54 Schweinfurter Juden ins Ghetto Theresienstadt

21.09.: Deportation von weiteren 6 Schweinfurter Juden nach Theresienstadt

Oktober: Es leben noch drei Juden in „Mischehe“ in Schweinfurt

Ein großer freier Platz an der Siebenbrückleinsgasse:

Wer hier parkt, denkt wohl kaum daran, dass er sich auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Gemeinde Schweinfurts befindet.

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Neubesinnung über das christlich-jüdische Verhältnis nach dem Krieg.

Viele Synodalerklärungen (z. B. der Bayerischen Landeskirche vom 24.11.1998) versuchen neue Wege in der Theologie und in der christlichen Praxis aufzuzeigen.

Blick in die Ausstellung: Litfasssäule mit markanten Zitaten zum christlich-jüdischen Dialog

Das Synagogengrundstück wird der Jüdischen Vermögensverwaltung JRSO übertragen, die es später an die Städtische Sparkasse verkauft. Das jüdische Gemeindehaus wird in den 70-er Jahren abgebrochen.

Heute befindet sich auf dem Gelände der Parkplatz der Sparkasse.

Keiner der ehemaligen jüdischen Mitbürger kehrt, außer zu Besuchszwecken, nach Schweinfurt zurück. Eine jüdische Bürgerin zieht Jahrzehnte später wieder zu.

3) Eine neue jüdische Ära: heute?

Ab 1945:

1973: 18.04.: Errichtung eines Gedenksteines am Standort der zerstörten Synagoge in der Siebenbrückleinsgasse:

Hier stand die Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde unserer Stadt. Sie wurde am 9. November 1938 ein Opfer des Rassenwahns – Den Toten zum ehrenden Gedenken –Den Lebenden zur Erinnerung u. Mahnung.“

1991: Anlässlich der 1200-Jahr-Feier Schweinfurts werden die noch lebenden jüdischen Bürger von der Stadt eingeladen.

Aufstellung eines Gedenksteines auf dem Friedhof Schweinfurt mit Davidstern und Inschrift:„Shalom – Friede: In den Jahren von 1933-1945 wurde den jüdischen Menschen auch inSchweinfurt viel Leid und Unheil zugefügt. Viele mussten als Opfer der Naziherrschaft inKonzentrationslagern ihr Leben lassen. Wir werden ihnen ein ehrendes Andenken bewahren. T’N’Z’B’H („Möge ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens“). Schweinfurt den 21. Juli 1991. Shalom – Friede“

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November 2006: Neugestaltung der Gedenkstätte Teilansicht der Inschrift (s. o.) zur Erinnerung an die Reichspogromnacht.

2006: 09.11.: 68 Jahre nach der Reichspogromnacht: Kranzniederlegung an der neu gestaltetenGedenkstätte am ehemaligen Standort der jüdischen Gemeinde

Heute leben einige wenige Juden anonym in Schweinfurt. Sie gehören zur jüdischenGemeinde Würzburg mit 1.100 Gemeindegliedern.

LINK: www.shalomeuropa.de

Literatur:

DGB-Bildungswerk e. V. Kreis Schweinfurt (Hrsg.), Verschickt und verschollen …. 1942“. Reichspogromnacht 1938 und Judenverfolgung in Schweinfurt, Schweinfurt 1989.

Müller, Uwe (Hrsg.), Dokumente jüdischen Lebens in Schweinfurt (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schweinfurt 4), Schweinfurt 1990.

Schwierz, Israel, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, München 1988.

Stein, Salomon, Geschichte der Juden in Schweinfurt (Zwei Vorträge), Frankfurt a/M 1899.

Ders., Die israelitische Kultusgemeinde zu Schweinfurt am Main seit ihrer Neugründung 1864-1914. Schweinfurt 1914.Ders., Die israelitische Kultusgemeinde Schweinfurt. II. Teil 1914-1930. Eine Jubiläums-Widmung beim Ablauf des 40. Dienstjahres von Bezirksrabbiner Dr. Salomon Stein, Würzburg 1931.

(Dank auch meiner Schülerin Roxane Scherbaum/Celtis-Gymnasium für Referat über die Reichspogromnacht in SW)

Grabstein auf dem Schweinfurter Hauptfriedhof: Segnende "Priester"-Hände, die in der Synagoge den Aaronidischen-Segen (4. Mose 6,24-26) spenden.

"Möge die jüdische Gemeinde Schweinfurt blühen, wachsen und gedeihen, Gott zu Ehren, dem Vaterlande zum Heil, ihr selbst und allen ihren Mitgliedern zum Ruhm

und zur Genugthuung!" (Rabbiner Stein 1899 [!])

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4 - Reichspogromnacht 11

9./10. November 2008: 70. Jahrestag der Reichspogromnacht

Am 9./10. November 2008 jährte sich zum 70. Mal das Gedenken an die Nacht, in der im Deutschen Reich die Synagogen brannten. Wir drucken in Auszügen zwei Presseberichte von Hannes Helferich ab, die diesem Jahrestag des Pogroms in Schweinfurt gewidmet sind:

„Wüten der Nazis eine Schande“ (Schweinfurter Tagblatt, 10.10.08)

[…] Rund 300 Bürger wohnten am gestrigen 9. November einer beeindruckenden Gedenkfeier bei. Schon der von Josef Krug (Bad Brückenau) geschriebene und von Laura Reusch (IG-Metall-Jugend) vorgetragene Text „Fahrpläne, Dienstpläne“ ging unter die Haut. Krug beschrieb darin die Todeszüge in die Konzentrationslager, das „Herausprügeln aus den Waggons“ und das „Aussortieren“ an den Bahnrampen, wo Mädchen die „Puppen entrissen“ wurden.

Beeindruckend auch Rabbiner Jakov Ebert (Würzburg). […] Die Opfer, die auch in Schweinfurt in ihrer Synagoge geweint und gebetet hätten, „die werden wir nicht vergessen“, sagte er. Der 9. November sei Gedenktag, an dem „wir daran denken müssen, dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt“, warnte der Rabbiner vor aktuellem Rechtsradikalismus durch „Banditen“, die „den Kopf heben“ und Fremdenhass schürten. […]

Der katholische Dekan Reiner Fries drückte seine Hoffnung aus, dass die Geschehnisse die Bereitschaft erhöht haben, „etwas gegen fehlgeleitete Menschen zu tun“. Sein evangelischer Kollege Oliver Bruckmann bedauerte, dass unsere Vorfahren das „wahnsinnige Rasen der Nationalsozialisten“ nicht verhindert und millionenfachen Tod unschuldiger, besonders der jüdischen Menschen, nicht aufgehalten hätten. Auch die Kirchen hätten sich schuldig gemacht, geschwiegen und seien nicht unerheblich an der Hetze gegen das Judentum beteiligt gewesen. Sie hätten die Kirchenbücher verweigern und den Irrsinn „arischer Rassennachweise“ damit zumindest sehr erschweren können, sagte er.

Bruckmann erinnerte an den Berliner Rabbiner Leo Baeck, der den Holocaust als einziger seiner Familie überlebte und sich trotzdem nach dem Krieg um Versöhnung und Dialog zwischen Juden und Christen bemühte. „Baeck hat auch mich beeindruckt, sein Denken war der Grund, dass ich zurückgekommen bin“, sagte Margarita Calvary am Rand der Veranstaltung. Sie wurde vor 86 Jahren als Gretl Silberstein in Schweinfurt geboren und wohnte der Gedenkfeier tief gerührt bei. Sie war vor den Nazis geflohen und 2004 nach Jahrzehnten im Ausland nach Schweinfurt zurückgekehrt. […]

Gedenkredner: Rabbiner Ebert und die beiden Dekane Fries und Bruckmann

4) 2008: 70. Jahrestag der Reichspogromnacht

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2008: 70. Jahrestag der Reichspogromnacht 12

„Zu wenige haben ihre Stimme erhoben“ (Schweinfurter Tagblatt, 11.11.08)

[…] „Reichskristallnacht“ haben die Nazis ihre Gräueltaten „verharmlosend und verniedlichend“ genannt, „so als sei nur etwas Glas zu Bruch gegangen“. Zitiert ist Pfarrer Siegfried Bergler, der anlässlich des 70. Jahrestages am Sonntagabend einen gut besuchten Gedenk-Gottesdienst bewusst provokant unter den Titel „Kristallnacht“stellte. […]

An den Anfang stellte Bergler eine im Sonntagsblatt des Jahres 1933 veröffentlichte fiktive Szene, als ein Pfarrer die „Nichtarier zum sofortigen Verlassen der Kirche“ aufforderte. Sofort danach stieg Christus vom Kreuz, verließdie Kirche. Die Szene sei, so Bergler, als Appell an die Christen gedacht gewesen, sich an ihre Verbundenheit mit den Juden zu erinnern. „Denn Jesus, an den wir glauben, war zeitlebens Jude, Jesus war kein Christ, aber offenbar war es da schon zu spät“, sagte Bergler.

Kirchliches Gedenken an den 9. und 10. November 1938 komme an Martin Luther nicht vorbei, der, geboren am 10. November 1483, etliche schwer antijüdische Schriften verfasste. Darunter die berühmteste aus dem Jahr 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“, in der der Reformator die Landesherren aufruft, ihre (der Juden) Synagogen oder Schulen anzustecken. „Fast könnte man meinen, Hitler habe nur das ausführen müssen, was Luther 400 Jahre zuvor gefordert hatte“, sagte Bergler. […]

Bergler blieb kritisch. Das Gedenken sieben Jahrzehnte danach sei ihm zu viel, fast zu einem „inflationären Wortgeklingel geworden“. Vergangenheitsbewältigung dürfe nicht „bloß mit Reden“ geschehen, man müsse vielmehr auf die Opfer und Liedtragenden von damals hören, solange sie noch lebten. „Nur echte, ungeschminkte Erinnerung kann zur Buße, zur Umkehr heute führen“, sagte Bergler. Wichtigste Konsequenz aus „unserer Vergangenheit“ sei mehr Mut, Zivilcourage, Rückgrat, die Schärfung der Augen für all jene, die heute von einem „Schicksal bedroht sind, wie es den Juden damals widerfuhr“.