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Mathematik f¨ ur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5 $Id: komplex.tex,v 1.5 2016/05/04 17:41:24 hk Exp $ §1 Komplexe Zahlen 1.5 Die komplexen Grundfunktionen Wir besch¨ aftigen uns gerade mit den komplexen Grundfunktionen, d.h. der Ausdeh- nung der reellen Grundfunktionen auf komplexe Argumente. Begonnen hatten wir mit der Exponentialfunktion die wir als Potenzreihe e z = n=0 z n /n! schreiben konnten, mittels der Exponentialfunktion konnten wir dann die Hyperbelfunktionen sinh z = (e z - e -z )/2 und cosh z =(e z + e -z )/2 einf¨ uhren, und durch eine Umskalierung lie- ßen sich schließlich auch die trigonometrischen Funktionen sin z = -i sinh(iz ) und cos z = cosh(iz ) definieren. Der Kreis schloss sich dann mit der eulerschen Formel e iz = cos z + i sin z die uns insbesondere zeigte das die komplexe Exponentialfunktion periodisch mit der Periode 2πi ist. Diese Periode ¨ ubertr¨ agt sich auf die aus der Exponentialfunktion ab- geleiteten Hyperbelfunktionen, d.h. f¨ ur jedes z C sind auch sinh(z +2πi) = e z+2πi - e -z-2πi 2 = e z - e -z 2 = sinh z, cosh(z +2πi) = e z+2πi + e -z-2πi 2 = e z + e -z 2 = cosh z, sinh(z + πi) = e z+πi - e -z-πi 2 = -e z + e -z 2 = - sinh z, cosh(z + πi) = e z+πi + e -z-πi 2 = -e z - e -z 2 = - cosh z. Die trigonometrischen Funktionen waren umskalierte Versionen der Hyperbelfunktio- nen, und entsprechend ¨ ubertragen sich die Perioden der Hyperbelfunktionen mit einer kleinen Umskalierung auf Sinus und Cosinus, d.h. f¨ ur alle z C haben wir sin(z +2π) = 1 i sinh(iz +2πi)= 1 i sinh(iz ) = sin z, cos(z +2π) = cosh(iz +2πi) = cosh(iz ) = cos z, sin(z + π) = 1 i sinh(iz + πi)= - 1 i sinh(iz )= - sin z, cos(z + π) = cosh(iz + πi)= - cosh(iz )= - cos z. Die aus dem Reellen vertrauten Perioden bestehen also auch in der komplexen Situation weiter. Weitere Eigenschaften dieses Typs lassen sich dann wie gewohnt mittels der 4-1

1 Komplexe Zahlen - Mathematisches Seminar · Mathematik f¨ur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5 Additionstheoreme herleiten, damit erh¨alt man dann beispielsweise Formeln wie

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Mathematik fur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5

$Id: komplex.tex,v 1.5 2016/05/04 17:41:24 hk Exp $

§1 Komplexe Zahlen

1.5 Die komplexen Grundfunktionen

Wir beschaftigen uns gerade mit den komplexen Grundfunktionen, d.h. der Ausdeh-nung der reellen Grundfunktionen auf komplexe Argumente. Begonnen hatten wir mitder Exponentialfunktion die wir als Potenzreihe ez =

∑∞n=0 z

n/n! schreiben konnten,mittels der Exponentialfunktion konnten wir dann die Hyperbelfunktionen sinh z =(ez − e−z)/2 und cosh z = (ez + e−z)/2 einfuhren, und durch eine Umskalierung lie-ßen sich schließlich auch die trigonometrischen Funktionen sin z = −i sinh(iz) undcos z = cosh(iz) definieren. Der Kreis schloss sich dann mit der eulerschen Formel

eiz = cos z + i sin z

die uns insbesondere zeigte das die komplexe Exponentialfunktion periodisch mit derPeriode 2πi ist. Diese Periode ubertragt sich auf die aus der Exponentialfunktion ab-geleiteten Hyperbelfunktionen, d.h. fur jedes z ∈ C sind auch

sinh(z + 2πi) =ez+2πi − e−z−2πi

2=ez − e−z

2= sinh z,

cosh(z + 2πi) =ez+2πi + e−z−2πi

2=ez + e−z

2= cosh z,

sinh(z + πi) =ez+πi − e−z−πi

2=−ez + e−z

2= − sinh z,

cosh(z + πi) =ez+πi + e−z−πi

2=−ez − e−z

2= − cosh z.

Die trigonometrischen Funktionen waren umskalierte Versionen der Hyperbelfunktio-nen, und entsprechend ubertragen sich die Perioden der Hyperbelfunktionen mit einerkleinen Umskalierung auf Sinus und Cosinus, d.h. fur alle z ∈ C haben wir

sin(z + 2π) =1

isinh(iz + 2πi) =

1

isinh(iz) = sin z,

cos(z + 2π) = cosh(iz + 2πi) = cosh(iz) = cos z,

sin(z + π) =1

isinh(iz + πi) = −1

isinh(iz) = − sin z,

cos(z + π) = cosh(iz + πi) = − cosh(iz) = − cos z.

Die aus dem Reellen vertrauten Perioden bestehen also auch in der komplexen Situationweiter. Weitere Eigenschaften dieses Typs lassen sich dann wie gewohnt mittels der

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Mathematik fur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5

Additionstheoreme herleiten, damit erhalt man dann beispielsweise Formeln wie

sin(z +

π

2

)= sin z cos

π

2+ cos z sin

π

2= cos z

fur alle z ∈ C. Die Periodizitatseigenschaften hatten wir naturlich ebenso aus den Ad-ditionstheoremen herleiten konnen. Wir kommen jetzt wieder zur Exponentialfunktionzuruck, und wir wollen ihre Abbildungseigenschaften in einem kleinen Satz zusam-menfassen. Zur Formulierung dieses Satzes benotigen wir die schon fruher eingefuhrtegeschlitzte komplexe Ebene

C− := C\R≤0 = {z ∈ C| Im(z) 6= 0 ∨ Re(z) > 0}

und haben:

Satz 1.6 (Die komplexe Exponentialfunktion)Die Funktion exp : C → C\{0} ist surjektiv und fur z, w ∈ C ist genau dann ez = ew

wenn es ein n ∈ Z mit w = z+2πin gibt. Insbesondere ist fur z ∈ C genau dann ez = 1wenn z ∈ 2πiZ gilt. Ist weiter

U := R× (−π, π) = {z ∈ C : | Im z| < π},

so ist U ⊆ C offen und exp : U → C− ist bijektiv.

Beweis: Wegen e2πi = 1 gilt fur jedes n ∈ Z stets

e2πin = (e2πi)n = 1.

Nun sei umgekehrt ein z ∈ C mit ez = 1 gegeben. Dann ist auch 1 = |ez| = eRe z, alsoRe z = 0. Somit ist z = it mit einem t ∈ R, und es folgt weiter cos t+ i sin t = eit = 1,also sin t = 0 und cos t = 1. Insbesondere ist t = nπ fur ein n ∈ Z und 1 = cos t =cos(nπ) = (−1)n, also ist n gerade, d.h. n ∈ 2Z und somit z = πin ∈ 2πiZ. Zusammenmit der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion folgt jetzt die erste Behauptungdes Satzes, sind namlich z, w ∈ C, so haben wir

ez = ew ⇐⇒ eze−w = 1 ⇐⇒ ez−w = 1 ⇐⇒ z − w ∈ 2πiZ.

Es verbleibt die Aussagen uber die Menge U sowie die Surjektivitat von exp als Abbil-dung nach C\{0} einzusehen. Dass U offen ist, ist dabei klar. Wir betrachten weiterdie etwas großere Menge

U ′ := R× (−π, π] = {z ∈ C| − π < Im z ≤ π}

mit U ⊆ U ′. Ist z ∈ U ′, so gilt fur jedes n ∈ N\{0} stets

Im(z + 2πin) = Im z + 2πn ≥ Im z + 2π > π

undIm(z − 2πin) = Im z − 2πn ≤ Im z − 2π ≤ −π,

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d.h. es ist z+2πin /∈ U ′. Damit ist U ′∩ (z+2πiZ) = {z} und exp |U ′ : U ′ → C\{0} istinjektiv. Weiter behaupten wir das auch exp(U ′) = C\{0} gilt. Sei namlich w ∈ C\{0}gegeben. Setze dann r := |w| > 0 und schreibe w/r = x + iy mit x, y ∈ R. Wegen|w/r| = |w|/r = 1 ist x2 + y2 = 1, also insbesondere |x| ≤ 1 und somit existiert eint ∈ [0, π] mit x = cos t. Weiter haben wir dann auch y2 = 1− x2 = 1− cos2 t = sin2 t,und es konnen zwei verschiedene Falle auftreten.

Fall 1. Es ist sin t = y. Dann haben wir die komplexe Zahl z := ln r + it ∈ U ′ mitez = eln r(cos t+ i sin t) = r(x+ iy) = w.

Fall 2. Es ist sin t 6= y und dann haben wir sin t = −y 6= 0, also auch 0 < t < π dasin 0 = sin π = 0 ist. Folglich ist −π < −t < 0 und wir erhalten die komplexe Zahlz := ln r − it ∈ U ′ mit

ez = eln r(cos(−t) + i sin(−t)) = r(cos t− i sin t) = r(x+ iy) = w.

Damit haben wir exp(U ′) = C\{0} bewiesen, und insbesondere ist exp : C → C\{0}surjektiv und exp |U ′ : U ′ → C\{0} bijektiv. Wegen U ′\U = {t+ iπ|t ∈ R} und et+iπ =eteiπ = −et fur alle t ∈ R ist exp(U ′\U) = R<0 und somit exp(U) = (C\{0})\R<0 =C\R≤0 = C−.

Unser Beweis der Surjektivitat ist naturlich im wesentlichen die Beschreibung derkomplexen Zahlen durch Polarkoordinaten. Tatsachlich sind die komplexe Exponenial-funktion und die Polarkoordinaten bis auf eine Skalarierung genau dasselbe, bezeichnetϕ : R2 → R2 die Polarkoordinaten, so ist exp(r + iφ) = ϕ(er, φ) fur alle r, φ ∈ R.

Nun kommen wir zu den beiden noch fehlenden trigonometrischen beziehungs-weise Hyperbelfunktionen, also den Tangens- beziehungsweise Cotangensfunktionen.Zunachst einmal bestimmen wir die Nullstellen von Sinus Hyperbolicus und CosinusHyperbolicus. Fur jedes z ∈ C ist

sinh z = 0 ⇐⇒ ez − e−z

2= 0 ⇐⇒ e2z = 1 ⇐⇒ z ∈ iπZ,

nach Satz 6, die Nullstellen des Sinus Hyperbolicus sind also genau die Vielfachen vonπi. Die Nullstellen des Cosinus Hyperbolicus konnen wir hierauf zuruckfuhren, fur jedesz ∈ C gilt ja

cosh z = cosh(−z) = cosh(i2z) = cos(iz) = sin(iz +

π

2

)=

1

isinh

(i2z +

2

)=

1

isinh

(iπ

2− z

),

also ist auch

cosh z = 0 ⇐⇒ sinh

(iπ

2− z

)= 0 ⇐⇒ z ∈ iπ

2+ iπZ.

4-3

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Damit konnen wir jetzt den Tangens Hyperbolicus und den Cotangens Hyperbolicuseinfuhren als

tanh : C\iπ ·(

1

2+ Z

)→ C; z 7→ sinh z

cosh zund coth : C\iπZ → C; z 7→ cosh z

sinh z.

Auch diese beiden Funktionen sind als Quotienten holomorpher Funktionen wiederholomorph, und mit der Quotientenregel ergeben sich ihre Ableitungen fur alle z ∈ Cdie im jeweiligen Definitionsbereich liegen als

tanh′ z =cosh2 z − sinh2 z

cosh2 z= 1− tanh2 z =

1

cosh2 z

und

coth′ z =sinh2 z − cosh2 z

sinh2 z= 1− coth2 z = − 1

sinh2 z.

Fur alle z ∈ C\iπ ·(

12

+ Z)

haben wir weiter

tanh z =

(sinh z

cosh z

)=

sinh z

cosh z=

sinh z

cosh z= tanh z,

tanh(−z) =sinh(−z)cosh(−z)

= − sinh z

cosh z= − tanh z,

tanh(z + iπ) =sinh(z + iπ)

cosh(z + iπ)=

sinh z

cosh z= tanh z

und analog sind fur z ∈ C\iπZ auch

coth z = coth z, coth(−z) = − coth z und coth(z + iπ) = coth(z).

Schließlich ergeben sich auch wieder die Additionstheoreme, sind z, w ∈ C\iπ ·(

12

+ Z)

mit z + w /∈ iπ ·(

12

+ Z), so haben wir

tanh(z + w) =sinh(z + w)

cosh(z + w)=

sinh z coshw + cosh z sinhw

cosh z coshw + sinh z sinhw=

tanh z + tanhw

1 + tanh z tanhw

und sind z, w ∈ C\iπZ mit z + w /∈ iπZ, so folgt analog

coth(z + w) =1 + coth z cothw

coth z + cothw.

Schließlich wollen wir zu Tangens und Cotangens kommen. Fur alle z ∈ C sind sin z =sinh(iz)/i und cos z = cosh(iz), also

sin z = 0 ⇐⇒ sinh(iz) = 0 ⇐⇒ z ∈ Zπ

undcos z = 0 ⇐⇒ cosh(iz) = 0 ⇐⇒ z ∈ π

2+ Zπ.

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Damit haben Sinus und Cosinus genau die schon aus dem Reellen bekannten Nullstellen,es kommen keine weiteren komplexen Nullstellen hinzu und somit sind auch Tangensund Cotangens außerhalb der reellen Nullstellen von Cosinus beziehungsweise Sinusdefiniert

tan : C\π(

1

2+ Z

)→ C; z 7→ sin z

cos zund cot : C\πZ → C; z 7→ cos z

sin z.

Wir konnen diese beiden Funktionen auch direkt auf die entsprechenden Hyperbelfunk-tionen zuruckfuhren, fur z ∈ C\π ·

(12

+ Z)

ist

tan z =sin z

cos z=

sinh(iz)

i cosh(iz)=

1

itanh(iz)

und fur z ∈ C\πZ ist ebenso

cot z =cos z

sin z=i cosh(iz)

sinh(iz)= i coth(iz).

Aus den entsprechenden Eigenschaften der Hyperbelfunktionen folgen dann auch

tan′ z = tanh′(iz) = 1− tanh2(iz) = 1 +1

i2tanh2(iz)

= 1 +

(1

itanh(iz)

)2

= 1 + tan2 z oder

tan′ z =1

cosh2(iz)=

1

cos2 z,

tan z =1

itanh(iz) = −1

itanh(−iz) =

1

itanh(iz) = tan z,

tan(−z) =1

itanh(−iz) = −1

itanh(iz) = − tan z,

tan(z + π) =1

itanh(iz + iπ) =

1

itanh(iz) = tan z

fur alle z ∈ C\π ·(

12

+ Z)

und analog

cot′ z = − coth′(iz) = −(1− coth2(iz)) = −(1 + i2 coth2(iz))

= −(1 + (i coth(iz))2) = −(1 + cot2 z),

cot′ z =1

sinh2(iz)= − i2

sinh2(iz)= − 1

sin2 z,

cot z = cot z,

cot(−z) = − cot(z),

cot(z + π) = cot z

4-5

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fur alle z ∈ C\πZ. Fur z, w ∈ C\π ·(

12

+ Z)

mit z+w /∈ π ·(

12

+ Z)

ist schließlich auch

tan(z + w) =1

itanh(iz + iw) =

1

i

tanh(iz) + tanh(iw)

1 + tanh(iz) tanh(iw)

=1itanh(iz) + 1

itanh(iw)

1− 1i2

tanh(iz) tanh(iw)=

tan z + tanw

1− tan z tanw

und ebenso gilt fur z, w ∈ C\πZ mit z + w /∈ πZ auch

cot(z + w) = i coth(iz + iw) = i1 + coth(iz) coth(iw)

coth(iz) + coth(iw)

= −1− i2 coth(iz) coth(iw)

i coth(iz) + i coth(iw)=

cot z cotw − 1

cot z + cotw.

Damit haben wir die”direkt definierten“ Grundfunktionen eingefuhrt. Die noch fehlen-

den Grundfunktionen, also der Logarithmus, die Arcus- und die Areafunktionen sinddagegen als Umkehrfunktionen definiert, und genau wie sich all die bisher behandeltenGrundfunktionen auf die Exponentialfunktion zuruckfuhren ließen, kann man die nochausstehenden Grundfunktionen alle in Termen des komplexen Logarithmus ausdrucken.In Satz 6 haben wir gesehen das exp : U → C− auf der offenen Menge U := R×(−π, π)bijektiv ist. Damit haben wir auch eine Umkehrabbildung

ln := (exp |U)−1 : C− → U,

die als komplexer Logarithmus, oder genauer als der sogenannte Hauptzweig des kom-plexen Logarithmus, bezeichnet wird. Andere

”Zweige des Logarithmus“ erhalt man

indem die Einschrankungen von exp auf geeigneten anderen offenen Mengen umgekehrtwerden. Der Hauptzweig hat die angenehme Eigenschaft das seine Einschrankung aufR>0 ⊆ C− der gewohnliche reelle Logarithmus ist. Wir wollen einsehen das auch derkomplexe Logarithmus holomorph ist und seine Ableitung berechnen. Zur Differen-zierbarkeit von Umkehrfunktionen erinnern wir uns zunachst an den entsprechendenreellen Satz, sind I, J ⊆ R zwei Intervalle und f : I → J eine bijektive, differenzierbareFunktion mit f ′(x) 6= 0 fur alle x ∈ I, so ist auch die Umkehrabbildung f−1 : J → Idifferenzierbar mit der Ableitung (f−1)′(x) = 1/f ′(f−1(x)) fur alle x ∈ J . Das Beispielf(x) = x3 zeigte dabei das die Bedingung

”f ′(x) 6= 0“ tatsachlich benotigt wird. Fur

holomorphe Funktionen gilt derselbe Satz, man kann diesen etwa uber die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen auf die Umkehrregel fur reelle Funktionen inmehreren Variablen zuruckfuhren, wir wollen hier aber keinen Beweis angeben.

Lemma 1.7 (Umkehrfunktionen holomorpher Funktionen)Seien U, V ⊆ C offen und f : U → V eine bijektive holomorphe Funktion mit f ′(z) 6= 0fur alle z ∈ U . Dann ist auch die Umkehrabbildung f : V → U holomorph und furjedes z ∈ V gilt die Ableitungsregel

(f−1)′(z) =1

f ′(f−1(z)).

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Wegen exp′ z = ez 6= 0 fur jedes z ∈ C ist dieser Satz auf die Exponentialfunktionanwendbar und es ergibt sich:

Satz 1.8 (Der Hauptzweig des komplexen Logarithmus)Sei U := {z ∈ C : | Im z| < π}. Dann ist der Hauptzweig des komplexen Logarithmusln : C− → U holomorph und fur jedes z ∈ C− gilt

ln′ z =1

z.

Wir kommen noch einmal auf den Zusammenhang zwischen Polarkoordinaten und derkomplexen Exponentialfunktion zuruck. Bezeichnet ϕ : R2 → R2 die Polarkoordinaten,so hatten wir schon gesehen das fur alle r, φ ∈ R die Gleichung exp(r + iφ) = ϕ(er, φ)gilt. Wir wissen auch das die Polarkoordinaten

ϕ : R>0 × (−π, π) → C−

bijektiv sind. Ist z ∈ C−, so konnen wir also z = r cosφ+ ir sinφ = reiφ mit eindeutigbestimmten r > 0 und φ ∈ (−π, π) schreiben. Dabei ist r = |z| der Betrag undφ = arg z wurde als das Argument der komplexen Zahl z bezeichnet. Wir erhalten diekomplexe Zahl ln r + iφ ∈ U mit

exp(ln r + iφ) = reiφ = z,

d.h. es giltln z = ln r + iφ = ln |z|+ i arg z.

Insbesondere haben wir damit eine oft nutzliche Formel fur das Argument, namlicharg z = Im(ln z). Die Funktionalgleichung des Logarithmus ist etwas diffiziler als wirdies aus dem reellen Fall gewohnt sind, wie wir uns nun an einem Beispiel anschauenwollen. Wir betrachten einmal die komplexe Zahl

z := e34iπ =

1√2(i− 1).

Dann istz2 = e

32iπ = −i = e−

12iπ,

also sind

ln(z · z) = ln(−i) = −1

2iπ aber ln z + ln z =

3

2iπ,

d.h. wir haben ln(z · z) 6= ln z+ln z. Die Funktionalgleichung des Logarithmus gilt alsonicht uneingeschrankt. In vielen Fallen ist sie trotzdem wahr, wir haben:

Lemma 1.9 (Funktionalgleichung des Logarithmus)Fur alle z, w ∈ C− mit | arg z + argw| < π ist zw ∈ C− und ln(zw) = ln z + lnw.

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Beweis: Schreibe z = reiφ und w = seiψ mit r = |z|, s = |w|, φ = arg z und ψ = argw.Dann sind |φ| < π, |ψ| < π und |φ+ ψ| < π, also ist auch

u := ln z + lnw = ln r + ln s+ i(φ+ ψ) ∈ R× (−π, π)

mitexp(u) = eln r+ln seiφ+iψ = reiφ · seiψ = zw.

Hieraus folgen zw ∈ C− und ln(zw) = u = ln z + lnw.

Haben wir erst einmal Logarithmen, so konnen wir auch Potenzen einfuhren. Furz ∈ C− und w ∈ C definieren wir die komplexe Potenz zw als

zw := ew ln z.

Genauer spricht man hier auch wieder vom Hauptzweig der Potenzfunktion, nehmen wirandere Zweige des Logarithmus so erhalt man auch andere Potenzen. Als ein Beispielnehmen wir ln i = iπ/2 und berechnen

ii = ei ln i = ei2 π

2 = e−π/2.

Da die Funktionalgleichung des Logarithmus nur eingeschrankt gilt, sind auch diePotenzrechenregeln nur unter einer kleinen Einschrankung gultig. Fur alle z ∈ C−,w,w′ ∈ C gilt sofort

zw · zw′= ew ln zew

′ ln z = e(w+w′) ln z = zw+w′

diese Regel ist also unkritisch. Die Regel fur (zz′)w ist problematischer. Haben wirz, z′ ∈ C− mit | arg z + arg z′| < π, so gilt nach Lemma 9 auch zz′ ∈ C− und ln(zz′) =ln z + ln z′, also folgt fur alle w ∈ C auch

(zz′)w = ew ln(zz′) = ew(ln z+ln z′) = ew ln zew ln z′= zw · z′w.

Schließlich ergeben sich uber die Kettenregel die Ableitungen der komplexen Potenzennach Basis und Exponent als

d

dzzw =

d

dzew ln z =

w

zew ln z = wz−1zw = wzw−1

undd

dwzw =

d

dwew ln z = ln(z) · zw.

Hat man erst einmal Potenzen, so hat man auch Wurzeln, fur jedes n ∈ N mit n ≥ 1konnen wir den Hauptzweig der n-ten Wurzel als die holomorphe Funktion

n√

: C− → C; z 7→ z1/n = e1n

ln z

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definieren. Fur jedes z ∈ C− gilt dann mit der Funktionalgleichung der Exponential-funktion

( n√z)n =

(e

1n

ln z)n

= eln z = z,

es handelt sich bei n√z wirklich um eine n-te Wurzel von z. Der Hauptzweig der n-

ten Wurzel wahlt unter den n komplexen Wurzeln von z ∈ C− in holomorpher Weiseeine spezielle Wurzel aus. Die Rechenregeln fur diese Wurzeln unterliegen denselbenEinschrankungen wie diejenigen fur allgemeine Potenzen. Sind z, z′ ∈ C− mit | arg z +arg z′| < π, so erhalten wir

n√zz′ = (zz′)1/n = z1/n · z′1/n = n

√z · n√z′.

Nachdem wir den Logarithmus als die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion defi-niert haben wollen wir als nachstes die Arcus- und die Areafunktionen fur komplexeArgumente einfuhren. Fur jedes z ∈ C sind

sin(z +

π

2

)= cos z und cos

(z +

π

2

)= sin(z + π) = − sin z,

also ist im Fall z /∈ πZ auch

tan(z +

π

2

)=

sin(z + π

2

)cos

(z + π

2

) = −cos z

sin z= − cot z.

Fur die Hyperbelfunktionen erhalten wir ebenso

cosh z = cos(iz) = sin(iz +

π

2

)=

1

isinh

(iπ

2− z

)= i · sinh

(z − iπ

2

)fur jedes z ∈ C und im Fall z /∈ C\iπZ ist weiter

coth z = i · cot(iz) = −i · tan(iz +

π

2

)= − tanh

(iπ

2− z

)= tanh

(z − iπ

2

).

Mit diesen Formeln konnen der Arcus Cosinus auf den Arcus Sinus, der Arcus Co-tangens auf den Arcus Tangens, der Area Cosinus Hyperbolicus auf den Area SinusHyperbolicus und schließlich der Area Cotangens Hyperbolicus auf den Area TangensHyperbolicus zuruckgefuhrt werden. Da weiter die trigonometrischen und die Hyper-belfunktionen nur Umskalierungen voneinander sind, trifft dies auch auf die entspre-chenden Arcus und Area Funktionen zu. Es sind also effektiv nur der Arcus Sinus undder Arcus Tangens zu behandeln.

Gehen wir an die Arbeit und beginnen mit dem Arcus Tangens. Fur jedes z ∈C\iπ ·

(12

+ Z)

haben wir

tanh z =sinh z

cosh z=ez − e−z

ez + e−z=e2z − 1

e2z + 1.

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Mathematik fur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5

Schreiben wir w = e2z, so wird dies zu (w− 1)/(w+ 1). Fuhren wir also die Hilfsfunk-tionen

h : C → C; z 7→ 2z und M : C\{−1} → C;w 7→ w − 1

w + 1

ein, so schreibt sich der Tangens Hyperbolicus als eine Hintereinanderausfuhrung

tanh = M ◦ exp ◦h|C\iπ ·(

1

2+ Z

).

Da jetzt die Umkehrabbildung einer Hintereinanderausfuhrung die Hintereinander-ausfuhrung der einzelnen Umkehrabbildungen nur in der umgekehrten Reihenfolgeist, mussen wir also die Umkehrfunktion von M bestimmen. Dies ist leicht getan,fur z ∈ C\{−1} und w ∈ C gilt

w =z − 1

z + 1⇐⇒ wz + w = z − 1 ⇐⇒ (1− w)z = 1 + w,

also ist

M : C\{−1} → C\{1}; z 7→ z − 1

z + 1

bijektiv mit der Umkehrabbildung

M−1 : C\{1} → C\{−1};w 7→ 1 + w

1− w.

Wegen M(R≤0\{−1}) = (−∞,−1] ∪ (1,∞) haben wir

M(C−) = C\((−∞,−1] ∪ [1,∞)) =: W.

Ist V := R×(−π/2, π/2) und U := R×(−π, π), so betrachten wir noch die Hilfsfunktionh : V → U ; z 7→ 2z, und damit ist insgesamt

tanh |V = (M |C−) ◦ (exp |U) ◦ h : V → W

bijektiv. Wir definieren den Area Tangens Hyperbolicus als die Umkehrfunktion

artanh := (tanh |V )−1 : W → V.

Explizit ist artanh = h−1 ◦ ln ◦(M−1|W ), d.h. fur jedes z ∈ W gilt

artanh z =1

2ln

1 + z

1− z.

Fur jedes z ∈ W folgt mit Lemma 7 auch

artanh′z =1

tanh′(artanhz)=

1

1− z2.

4-10

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Mathematik fur Ingenieure IV, SS 2016 Mittwoch 4.5

Verwenden wir die Gleichung

tan z =1

itanh(iz)

fur alle z ∈ C\π(

12

+ Z)

und beachten

V ′ :=1

iV =

(−π

2,π

2

)× R,

W ′ :=1

iW = C\i · ((−∞,−1] ∪ [1,∞))

so folgt das auch der Tangens tan : V ′ → W ′ biholomorph ist. Die Umkehrfunktion

arctan := (tan |V ′)−1 : W ′ → V ′

bezeichnen wir als den Arcustangens. Konkret ist fur alle z ∈ W ′ dann

arctan z =1

iartanh(iz) =

1

2iln

1 + iz

1− iz.

Als Ableitung ergibt sich fur alle z ∈ W ′ mit Lemma 7 die Gleichung

arctan′ z =1

tan′(arctan z)=

1

1 + tan2(arctan z)=

1

1 + z2.

Die Rechnung fur den Arcus Sinus wollen wir hier nicht vollstandig vorfuhren, dieGrundidee ist es fur z ∈ C mit |Re z| < π die Formel

sin z = sin(2 · z

2

)= 2 sin

z

2cos

z

2= 2 tan

z

2cos2 z

2=

2 tan z2

1 + tan2 z2

zu verwenden um den Arcus Sinus auf den Arcustangens zuruckzufuhren. Schreibenwir dann w = tan(z/2) so mussen wir die Gleichung

u =2w

1 + w2⇐⇒ wz2 − 2z + w = 0

nach w auflosen, mit der pq-Formel wird dann fur w 6= 0

w =1±

√1− u2

u.

Um zu entscheiden welches Vorzeichen wir nehmen mussen setze etwa den speziellenWert

z =2

3π, w = tan

π

3=√

3, u =2w

1 + w2=

√3

2

ein, und wegen1±

√1− u2

u=

1± 12

12

√3

=2± 1√

3

!= w =

√3

4-11

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benotigen wir das”+“, also

w =1 +

√1− u2

u.

Um sin z = u zu losen, haben wir also

z

2= w =

1 +√

1− u2

u

nach z aufzulosen und dies geschieht mit

z = 2 arctan1 +

√1− u2

u=

1

ilnu+ i(1 +

√1− u2)

u− i(1 +√

1− u2)

=1

iln

(u+ i√

1− u2 + i) · (u+ i√

1− u2 − i)

(u− i− i√

1− u2) · (u− i+ i√

1− u2)

=1

iln

(u+ i√

1− u2)2 − i2

(u− i)2 − i2(1− u2)=

1

iln(iu+

√1− u2).

Sind also

V := {z ∈ C : |Re z| < π} und W := C\([1,∞) ∪ (−∞,−1])

so ist sin : V → W bijektiv mit der holomorphen Umkehrabbildung

arcsin : W → V ; z 7→ 1

iln(iz +

√1− z2).

Die Ableitung ergibt sich dann mit Lemma 7 als

arcsin′ z =1

cos(arcsin z)=

1√1− sin2(arcsin z)

=1√

1− z2.

1.6 Konforme Abbildungen

In diesem kurzen Abschnitt wollen wir eine weitere, eher geometrische, Interpretationholomorpher Funktionen besprechen. Wir orientieren uns dabei am Beispiel der Expo-nentialfunktion. In Satz 6 hatten wir eingesehen das exp : C → C\{0} den StreifenR × (−π, π) bijektiv auf die geschlitzte Ebene abbildet. Um die Exponentialfunktionbesser zu verstehen stellen wir uns nun die Menge vor die entsteht indem im StreifenR × [−π, π] die obere und untere Begrenzung miteinander verklebt werden, auf dieseWeise entsteht ein Zylinder und da die Exponentialfunktion auf den beiden Randlini-en von R × [−π, π] dieselben Werte annimmt konnen wir sie uns als eine auf diesemZylinder definierte Funktion denken. Die waagerechten Geraden Im z = const entspre-chen dabei den Mantellinien des Zylinders und die Vertikalen Re z = const werden zuKreisen.

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Re=const

Im=const

Re=const

Im=const

–6

–4

–2

0

2

4

6

–6 –4 –2 2 4 6

Fur jedes t ∈ R ist exp(t + iπ) = −et, also werden auch die negativen reellen Zahlenals Werte angenommen und wir konnen uns die Exponentialfunktion als eine bijektiveAbbildung von unserem Zylinders auf die punktierte Ebene C\{0} denken. Um sich zuveranschaulichen wie diese Bijektion funktioniert, denkt man sich zunachst den oberenDeckel des Zylinders im Unendlichen zu einem Punkt zusammengezogen, dabei ent-steht ein Kegel dessen Spitze nicht zur Menge gehort, und dieser Kegel wird dann zurpunktierten Ebene aufgebogen. Die Waagerechten Im z = const entsprechen im Kegelweiterhin den Mantellinien und die Vertikalen sind weiterhin waagerechte Kreise. BeimAufbiegen zur Ebene werden die Mantellinien dann zu den vom Nullpunkt ausgehen-den Halbgeraden und die waagerechten Kreise werden zu Kreisen in der Ebene mitMittelpunkt im Nullpunkt.

Dieses”Aufbiegen“ ist tatsachlich genau das was die Exponentialabbildung tut, ist

c ∈ R, so ist fur alle t ∈ R stets exp(t + ci) = et · exp(ic), d.h. die Menge exp(R + ic)ist die von Null ausgehende Halbgerade die zur x-Achse den Winkel c hat, und ebensoist fur alle t ∈ R auch exp(c + it) = ec · (cos t + i sin t), d.h. exp(c + iR) ist der Kreismit Mittelpunkt Null und Radius ec.

Beachte das die Bilder der Waagerechten und der Vertikalen im Zylinder, im Kegelund dann auch in C\{0} immer senkrecht aufeinander stehen. Dies ist kein Zufallsondern eine allgemeine Eigenschaft holomorpher Funktionen. Um genauer zu sagenwas hiermit gemeint ist, benotigen wir ein paar kleine Definitionen. Zunachst definierenwir den Winkel ](z, w) zwischen zwei Vektoren z, w ∈ C\{0} = R2\{0} durch dieFormel

cos ](z, w) =〈z|w〉

||z||2 · ||w||2.

Haben wir weiter zwei differenzierbare Kurven γ : [a, b] → C, δ : [a′, b′] → C mita, b, a′, b′ ∈ R, a < b, a′ < b′ und schneiden sich die beiden Kurven in einem Punktp, also p = γ(t) = δ(s) mit t ∈ [a, b], s ∈ [a′, b′] und sind zusatzlich die beidenTangentenvektoren γ′(t) 6= 0 und δ′(s) 6= 0 nicht Null, so sagen wir das die beidenKurven sich im Punkt p mit dem Winkel ](γ′(t), δ′(s)) schneiden.

Sind jetzt weiter U ⊆ C eine offene Menge, f : U → R2 eine stetig differenzier-bare Funktion mit det f ′(p) 6= 0 und verlaufen die beiden Kurven γ, δ ganz in U , so

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schneiden sich die Bildkurven f ◦ γ und f ◦ δ in f(p) = f(γ(t)) = f(δ(s)) mit denTangentialvektoren

(f ◦ γ)′(t) = f ′(p)γ′(t) und (f ◦ δ)′(s) = f ′(p)δ′(s).

Nun ist f ′(p) invertierbar und damit sind auch diese beiden Vektoren von Null ver-schieden. Der Schnittwinkel der beiden Bildkurven ist damit

](f ′(p)γ′(t), f ′(p)δ′(s)).

Wir nennen die Abbildung f jetzt eine konforme oder winkeltreue Abbildung, wenn sieSchnittwinkel erhalt, wenn also in der obigen Situation immer

](f ′(p)γ′(t), f ′(p)δ′(s)) = ](γ′(t), δ′(s))

gilt. Da alle Vektoren als Tangentialvektoren vorkommen gilt

f ist konform ⇐⇒ Fur jedes p ∈ U ist f ′(p) invertierbar und winkeltreu.

Wie konnen also definieren:

Definition 1.6 (S)eien U ⊆ C eine offene Menge und f : U → C eine reell differenzierbare Funktion mitdet f ′(p) 6= 0 fur jedes p ∈ U . Dann heißt die Abbildung f konform oder winkelerhal-tend wenn die Ableitung f ′(p) fur p ∈ U winkelerhaltend ist, also die Form f ′(p) = c ·Afur ein c > 0 und eine orthogonale 2× 2-Matrix A hat.

Ein gibt nun zwei Sorten winkelerhaltender linearer Abbildungen T = cA, wobeiwieder c > 0 und A ∈ O2R seien. Im ersten Fall hat A die Determinante 1, ist also eineDrehung und T = cA ist damit eine Drehstreckung und hat die Form

T =

(a −bb a

)fur geeignete reelle Zahlen a, b ∈ R. Ist f holomorph so sagen die Cauchy-RiemannschenDifferentialgleichungen Satz 5 das diese Bedingung erfullt ist, holomorphe Funktionensind also immer winkelerhaltend. Damit haben wir auch unsere obige Beobachtung uberdie Exponentialfunktion als ein allgemeines Phanomen erkannt. Es gibt aber auch nocheine zweite Sorte winkelerhaltender linearer Abbildungen, namlich diejenigen bei denender orthogonale Teil A die Determinante −1 hat, also eine Geradenspiegelung ist. Diesehaben als Matrizen die Form

T =

(a bb −a

)wieder mit reellen a, b ∈ R. Dass f(x+ iy) = u(x, y) + iv(x, y) Ableitungen von dieser

Form hat bedeutet gerade das f(x+ iy) = u(x, y)− iv(x, y) die Cauchy-RiemannschenDifferentialgleichungen erfullt, also holomorph ist. Dies fuhrt uns auf den Begriff einersogenannten antiholomorphen Funktion.

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Definition 1.7 (Antiholomorphe Funktionen)Sei U ⊆ C eine offene Menge. Eine Funktion f : U → C heißt dann antiholomorphwenn die Funktion

f : U → C; z 7→ f(z)

holomorph ist.

Unsere obige Uberlegung zeigt das auch jede antiholomorphe Funktion winkelerhal-tend ist, die komplexe Konjugation f(z) = z ist beispielsweise eine solche Funktion.Die holomorphen und die antiholomorphen Funktionen sind nun genau die konformenAbbildungen.

Satz 1.10 (Bestimmung der konformen Abbildungen)Seien U ⊆ C offen und zusammenhangend und f : U → C eine reell stetig differenzier-bare Funktion mit det f ′(z) 6= 0 fur alle z ∈ U . Dann ist f genau dann konform wennf holomorph oder antiholomorph ist.

Auf einen vollstandigen Beweis dieses Satzes wollen wir hier verzichten, den Hauptteildes Satzes haben wir ja bereits eingesehen. Es ist tatsachlich notig die Menge U alszusammenhangend anzunehmen, sonst konnten wir U = U1 ∪ U2 disjunkt in zweioffene Teilmengen zerlegen und eine konforme Abbildung f : U → C ist eventuell aufU1 holomorph aber auf U2 antiholomorph.

0

1

2

3

4

5

6

x

–1.5

–1

–0.5

0

0.5

1

1.5

y

0

1

2

–2

–1

1

2

–2 –1 1 2

Plot von | sin z| Konformer Plot des Sinus

Zum Abschluß dieses Abschnitts wollen wir noch zwei der moglichen graphischen Dar-stellungen holomorpher Funktionen erwahnen. Konkret wollen wir uns diese am Bei-spiel der komplexen Sinus Funktion anschauen. Die erste Moglichkeit ist es das soge-nannte

”analytische Gebirge“ zu zeichnen, dies meint einfach den Graphen des Betrags

der Funktion. Wie dies fur den Sinus aussieht ist oben links gezeigt, das Tal entsprichtdabei einer Nullstelle des Sinus. Die zweite Moglichkeit ist die konforme Darstellung.

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Hier werden die Bilder der waagerechten Geraden zu konstanten Imaginarteil und dervertikalen Geraden zu konstanten Realteil gezeichnet, da holomorphe Funktionen win-kelerhaltend sind, stehen diese senkrecht aufeinander. Fur den Sinus ist dies oben rechtsgezeigt. Sei namlich c ∈ R. Um zu sehen wie die waagerechten Geraden abgebildet wer-den, rechnen wir

sin(t+ ic) = sin t cos(ic) + cos t sin(ic) = cosh(c) · sin t+ i sinh(c) · sin t,

d.h. die waagerechten Geraden werden auf Ellipsen mit Halbachsen der Lange cosh(c)und | sinh(c)| abgebildet. Fur die vertikalen Geraden haben wir dagegen

sin(c+ it) = sin(c) cosh t+ i sin(c) sinh t,

diese werden also auf Hyperbelaste abgebildet.

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